Das Mädchen auf der Wiesn - Julia Freidank - E-Book

Das Mädchen auf der Wiesn E-Book

Julia Freidank

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Beschreibung

München im September 1901: Dass auf dem Oktoberfest Bier gestohlen wird, ist keine Seltenheit. Als die Besitzerin des Brauereihauses Brucknerbräu jedoch Zeugin wird, wie ein Bauernmädchen ein heruntergekommenes Brauereipferd vom skrupellosen Brauer Hopf von der Wiesn führen will, ist ihre Neugierde geweckt – und nicht nur, weil sie Hopf noch nie leiden konnte. Antonia hilft der kleinen Mina, und ehe sie sich's versieht stecken die beiden in einem Abenteuer, das sie die Freundschaft zwischen Mensch und Tier mit neuen Augen sehen lässt. Und den Zauber des einzigartigen Volksfestes mit seinen Schaubuden, duftenden Süßigkeiten und unzähligen Vergnügungen. Mit Kranz und Löwe blickt die riesige Bronzefigur der Bavaria über die Wiesn – ob sie wohl den Diebstahl mit Wohlwollen sieht? Für alle Fans des traditionellen Oktoberfests: Zum Verschenken und Selberlesen in attraktiver Ausstattung.

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Seitenzahl: 178

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Julia Freidank

Das Mädchen auf der Wiesn

Eine Geschichte vom Oktoberfest

Über dieses Buch

Der Zauber des Oktoberfests der Jahrhundertwende

 

September 1901: Dass auf dem Oktoberfest Bier gestohlen wird, ist keine Seltenheit. Als Antonia, die Besitzerin des Brauhauses Brucknerbräu, jedoch Zeugin wird, wie ein Bauernmädchen ein heruntergekommenes Brauereipferd vom skrupellosen Brauer Hopf von der Wiesn führen will, ist ihre Neugierde geweckt – und nicht nur, weil sie Hopf noch nie leiden konnte. Antonia hilft der kleinen Mina, und ehe sie sich’s versieht, stecken die beiden in einem Abenteuer, das sie die Freundschaft zwischen Mensch und Tier mit neuen Augen sehen lässt. Und natürlich den Zauber des einzigartigen Volksfestes mit seinen Schaubuden, duftenden Süßigkeiten und unzähligen Vergnügungen.

Mit Kranz und Löwe blickt die riesige Bronzefigur der Bavaria über die Wiesn – ob sie den Diebstahl mit Wohlwollen sieht?

Vita

Julia Freidank ist das Pseudonym einer vielfach veröffentlichten Autorin von Romanen und Sachbüchern. Als gebürtige Münchnerin hat sie die aufregende Geschichte ihrer Heimatstadt immer schon sehr fasziniert. Da München ohne das Brauereiwesen nicht zu denken ist, lag es nahe, irgendwann einmal über ein Münchner Brauhaus zu schreiben. Das Ergebnis ist die mehrbändige große Familiensaga «Das Brauhaus an der Isar».

Eins

September 1901

Antonia Bruckner stand, noch im seidenen taillierten Nachthemd, mit dem Rücken zu dem Standspiegel und band ihrem Mann das Plastron aus schwarzem Satin. Hinten in ihrem Schlafzimmer in der Gründerzeitvilla an der Isar stand das Bett, wo der zweijährige Thomas mit seinem Holzpferdchen spielte. Er war bereits nach fünf Monaten Ehe zur Welt gekommen, aber zum Glück interessierte das niemanden, sobald man einen Ring am Finger trug. Seit Antonia und Melchior Bruckner verheiratet waren, hatte sie es sich angewöhnt, ihm die Krawatte zu binden. Wo die Kragen so hochgeschlossen, die Unterhosen so lang und die Korsetts so straffgeschnürt waren, musste man jede Gelegenheit nutzen, sich berühren zu können. Heute allerdings war sie abgelenkt. Mal lächelte sie verstohlen, dann presste sie die Lippen aufeinander.

«Fertig. Das wird unser drittes gemeinsames Oktoberfest», meinte sie. Das erste Mal war so schön gewesen, dass der zweite Besuch zwangsläufig ein wenig abgefallen war. Seit Melchior die Brauerei seiner Familie übernommen hatte, war für sie beide der Arbeitsalltag auf der Wiesn eingekehrt. Aber dieses Mal hatte er versprochen, sich wieder mehr freie Zeit zu nehmen. Antonia zog den Krawattenschal fest und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Mann zu küssen.

Melchior nahm sie in die Arme, dann ächzte er: «Seejungfräulein, wenn du weiterziehst, schaffst du es doch noch, mich zu Tode zu küssen. Nicht dass es kein schöner Tod wäre.»

Sie lachte und ließ ihn los. «Wenn es den Todeskuss der Nixen tatsächlich gäbe, hättest du längst irgendetwas dagegen erfunden.»

«Zweifellos. Ich bin jetzt Geschäftsmann, und Liebhaber, die man nur einmal verwenden kann, sind unrentabel.» Er kontrollierte den Sitz des Plastrons im Spiegel, ehe er den Hemdkragen mit dem schrecklichen Namen «Vatermörder» herunterklappte und die brokatverzierte Weste aus schwarzem Atlas zuknöpfte. Es war die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen, ihn zu heiraten, dachte Antonia, als sie ihm zusah. So ironisch er sich nach außen geben konnte, sie hatte er immer mit einem Respekt behandelt, den sie von Männern nicht gekannt hatte. Mit seinem schmalen Gesicht, den geraden Brauen und den großen eisblauen Augen, mit dem glatt zurückgekämmten hellbraunen Haar hätte keiner in ihren Augen besser ausgesehen. Schon gar nicht in dieser eng geschnittenen Weste, die seine undurchsichtige Eleganz betonte. Die meisten anderen Brauereibesitzer hielten ihn für zynisch und berechnend. Der eine oder andere hätte sogar geschworen, dass Melchior Bruckner unter seinem Zylinder ein paar Hörner und in den modischen Lackschuhen behaarte Bocksbeine versteckte – ein Ruf, den er genüsslich kultivierte.

«Schon gut, Dorian Gray», zog sie ihn auf. Vormittags würde Melchior im Königszelt seine Geschäfte machen. Aber wenn er nach dem Pferderennen gegen vier Uhr frei wäre, würden sie eine Runde mit dem Riesenrad fahren. Nachmittags war das Licht so schön, wenn die ersten Bierhallen die elektrische Beleuchtung einschalteten und sich langsam wie ein funkelnder Schleier ein Leuchten über die Festwiese legte. Dort würde sie ihm sagen, dass sie wieder ein Kind erwartete – erst dort. Bei ihrer ersten Schwangerschaft war er so aufgeregt gewesen, dass er sie am liebsten die ganze Zeit unter eine Glasglocke gestellt hätte. Für jemanden, der so begeistert die Entwicklung der neuen Technik verfolgte, war es nicht leicht gewesen, einzusehen, dass manche Dinge noch immer der Natur überlassen werden mussten.

«Es ist schön, sich einmal im Jahr außerhalb von Zucht und Ordnung bewegen zu dürfen», meinte sie. «Nicht ständig darauf achten zu müssen, wen man wie berührt, mit wem man wann und wie reden kann.» Das Fest war eine Auszeit davon wie die Saturnalien im alten Rom – eine Zeit, in der die normalen Regeln nicht galten, in der nichts, was man tat, Folgen für die Wirklichkeit hatte. Eine verwunschene Realität, in der man Irrwege gehen, Luftschlössern nachjagen und Dummheiten machen durfte. Wenn sie verpufften, hatte sich nichts verändert.

«Ohne Frage», bestätigte Melchior mit dem vertrauten ironischen Zucken seines Mundwinkels. «Ich sehe jetzt schon die Schlägereien vor mir und all die gebrochenen Nasen und von berstenden Bierkrügen aufgeschnittenen Lippen. So wie letztes Jahr. Hinreißend romantisch.»

Antonia musste lachen, als sie sich erinnerte, wie sie damals beinahe in so eine Schlägerei hineingeraten wären. «Das war doch amüsant», meinte sie. «Vielleicht hätte ich den Burschen nicht am Kragen packen und zusammenstauchen, sondern zusehen sollen, wie du dich im Zweikampf mit Maßkrügen und Stuhlbeinen machst!»

«Unterschätz mich nicht. Ich war auch einmal fünf Jahre alt und habe mich geprügelt.» Melchior griff nach seinem Gehrock, den er achtlos über einen Stuhl geworfen hatte, und bemerkte mit seinem üblichen Sarkasmus: «Allerdings fürchte ich, du hast recht. Es fällt mir schwer, die Philosophie einer Kneipenschlägerei unter erwachsenen Männern nachzuvollziehen.»

«Schon gut, Mylord.» Antonia wollte an ihm vorbei und hätte dabei fast die Lampe von seinem Schreibtisch gerissen. Es war ein wunderschönes, ziemlich teures Art-nouveau-Stück: eine schwarzhaarige nackte Nymphe, die den Arm um einen Pfau gelegt hatte. Das Pfauenrad stabilisierte den Fuß, der Schirm hatte die Form einer Blüte – laszives Gegenstück zu einer Welt, in der Körper und Seelen von Walknochen in Schnürbrüsten zurechtgepresst wurden. Gerade noch rechtzeitig bewahrte sie das Kunstwerk vor dem Sturz. «Ich bin spät dran. Wenn ich mit dir fahren will, muss ich mich anziehen.»

Ihr dichtes dunkelbraunes Haar hatte sie schon über Nacht mit Papillotten aufgedreht und gleich nach dem Aufstehen zu einer Lockenfrisur gesteckt und ein rotes Seidenband hineingeflochten. Darüber würde der breitkrempige Strohhut mit den blassroten Kunstrosen und eine passende Schärpe aus Atlas kommen. Das Wetter war so schön, dass sie sich gegen das förmliche Damenkostüm aus schwarzem Jackett und langem Rock entschieden hatte. Das helle Sommerkleid lag schon auf das Bett gebreitet: hochgeschlossen, aber mit Seidenrüschen, angedeuteten Puffärmeln aus Spitze und verzierten Knöpfen. Unter diesen Reformkleidern musste man kein einschnürendes Korsett tragen, das einen aussehen ließ wie eine gequetschte Weißwurst: den Bauch nach innen, Brüste und Hinterteil nach außen gepresst, sodass Sitzen überhaupt nur in vorgebeugter Haltung möglich war. Bestenfalls kam ein lockeres Reformkorsett darunter, das die Taille nicht einschnürte und das Gewicht der Brust auf die Schultern statt nach unten verteilte. Antonia hatte nicht die geringste Lust, sich die Organe einzuschnüren oder gar die Rippen zu brechen für eine Wespentaille. Von Korsetts wurde man ohnmächtig, kurzatmig und krank. Außerdem klemmten sie ständig beim Ausziehen, kurz: Es war der Keuschheitsgürtel des Industriezeitalters. In diesem Kleid konnte sie Düfte tief einatmen, konnte das Flattern des Saums um ihre Knöchel fühlen, den weichen Stoff auf ihrer Haut.

Melchior schien ihre plötzliche leichte Verstimmung zu spüren, er hielt sie an der Hand zurück und küsste sie noch einmal. Da er dieses Mal dabei nicht gewürgt wurde, dauerte es etwas länger, und Antonia genoss das Prickeln, das sie dabei durchlief. Dann allerdings hörte sie das Geräusch vom Bett her.

«Tommy, nein! Meine Perlen!»

Der kleine Thomas hatte die Kette auf dem Bett gefunden und angefangen, daran zu nagen. Dabei hatte er wohl zu fest zugebissen. Schleunigst brachte Antonia das Hochzeitsgeschenk ihres Mannes auf der Kommode in Sicherheit und nahm ihren Sohn auf den Arm. Von Geburt an hatte er alle verzaubert mit seinem dunklen Lockenköpfchen. Aber auch zauberhafte Kinder bekamen Zähne.

Lachend ließ sich Melchior in den im historischen Stil geschnitzten Sessel fallen. Antonia beruhigte den Kleinen, trocknete ihm das Gesicht mit seinem Lätzchen und setzte ihn dann in sein Bettchen neben ihrem eigenen. Sie streichelte das Köpfchen und gab ihm wieder das Pferd. Zufrieden biss er in das Holz und strahlte sie mit seinen riesengroßen Augen an. Das Kindermädchen war noch in der Kirche, aber nachher auf der Wiesn würden sie Zeit für sich haben.

«Es wird leider nichts mit dem Riesenrad», sagte Melchior auf einmal.

Überrascht blickte Antonia auf.

Es war ihm sichtlich unangenehm. Sie kannte diesen nachdenklichen Blick, wenn er eine Braue hob. «Carl von Linde hat kurzfristig noch einen Termin für mich einrichten können. Die Drahtnachricht kam gestern Abend. Es geht um die Kühlanlage, über die wir gesprochen hatten. Ich will, dass er die neueste Generation bei uns in der Brauerei testet. Er hätte auch dich gern dabei, du hast schließlich die Kalkulation erstellt.» Langsam ging sie zu ihm hinüber, und er zog sie auf seinen Schoß. «Ich weiß, du hattest dich gefreut.»

Antonia legte die Arme um ihn. Sie hätte ihm nie gezeigt, wie enttäuscht sie war. Natürlich freute sie sich für ihn, dass er seinen Weg gefunden und damit Erfolg hatte. Aber was einmal Freiheit und Ausgelassenheit bedeutet hatte, wurde nun durch Termine und Verpflichtungen von Jahr zu Jahr stärker in geradezu preußische Disziplin gepresst. Würde ihr Leben am Ende doch von der Enge beherrscht werden, vor der sie damals hierher in die Stadt geflohen war? Die Tochter eines armen Bauern und der reiche Patrizier: Konnte das gutgehen, wenn dieses strenge Regelkorsett wieder Macht über sie bekam? Vielleicht waren Fragen wie diese der Grund, warum Märchen immer mit der Hochzeit endeten. «Warum hast du nichts gesagt? Es ist das erste Mal, dass es nicht einmal dafür reicht.»

«Es tut mir leid. Du weißt, wie wichtig es ist.» Melchior sah sie an, und der angespannte Zug um seine Lippen lockerte sich ein wenig. «Wenn du darauf bestehst, sage ich den Termin ab und treffe Linde nächste Woche in der Universität.» Aber zu gefallen schien ihm der Gedanke nicht. In den letzten drei Jahren hatte er Feuer für die Brauerei gefangen und schon erste Erfolge gehabt. Ihm dabei im Weg zu stehen war das Letzte, was Antonia wollte.

«Nein», sagte sie. «Wenn, dann muss es heute sein, sonst kommt dir ein anderer zuvor.»

Melchior wirkte erleichtert. Er zog sie an sich und küsste sie noch einmal. «Ich mache es wieder gut.»

Vielleicht sollte sie es ihm gleich sagen. Antonia gab sich einen Ruck.

«Melchior, ich …»

«Melchior! Antonia! Seid ihr fertig? Zum Herumbusseln ist keine Zeit, ihr habt Termine!»

Antonia seufzte. Allen ärztlichen Vorhersagen zum Trotz lebte ihre Schwiegermutter Franziska noch immer – vor allem, um zu beweisen, dass alle Ärzte Quacksalber waren. Und auch wenn sie bei jedem Schritt ächzte wie eine ungeölte Turbine, sie legte größten Wert auf Pünktlichkeit.

Melchior sah seine Frau fragend an, doch Antonia schüttelte den Kopf. Es würde einen besseren Moment geben als ausgerechnet dann, wenn die Schwiegermutter vor der Tür stand. «Nicht so wichtig», meinte sie und stand auf. «Verschieben wir es.»

Zwei

Als Antonia eine Stunde später an Melchiors Arm über die Theresienwiese schlenderte, suchte sie den Zauber der letzten Jahre. Es war der erste Sonntag des Festes, und die feierliche Eröffnung stand bevor. Das Wetter spielte mit, der Himmel war strahlend blau, mit einigen weißen Wolken – ein bayerisches Oktoberfest, wie es im Buche stand. Es duftete nach Hendl und heißem Zucker. Männer im Gehrock, Frauen in langen Kostümen und Kinder in hellen kurzen Kleidchen liefen über das Festgelände. Schwarze und farbige Spitzensonnenschirme wurden dem noch sommerlichen Himmel entgegengehalten. An langen Girlanden waren an den Bierhallen die Glühbirnen befestigt, die am Abend das Fest in ein zauberhaftes Licht tauchen würden. Das hatte Antonia bei ihrem ersten Besuch unglaublich fasziniert. Die erste Wiesn mit Melchior war so wunderschön gewesen, damals vor drei Jahren, als Verlobte. Wohin war das Leuchten von damals verflogen?

Ein milchiger Schleier aus Gewohnheit und dummen, alltäglichen Sorgen schien zwischen ihr und dem Fest zu hängen, unsichtbar wie feiner Nebel, aber dennoch präsent. Nachdenklich sah sie ihren Mann von der Seite an.

«Ist etwas?», fragte Melchior.

Es wäre der denkbar schlechteste Zeitpunkt, ihm ausgerechnet jetzt von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. In weniger als fünf Minuten würde er im Königszelt sitzen, zum ersten Mal. Die anderen Brauereibesitzer würden da sein, vielleicht würde ihn nachher der Prinzregent nach seinen Plänen fragen. Er würde sich nicht konzentrieren können und womöglich Fehler machen, die er sich nicht leisten konnte.

«Nein», erwiderte sie.

«Wirklich nicht?» Melchior runzelte die Stirn. «Du schwindelst, Seejungfräulein.»

«Nichts von Belang. Lass uns später reden. Ich soll also zu dem Termin mit Linde dazukommen?»

«Auf jeden Fall. Die anderen Brauer haben auch gute Argumente, aber du bist meine Geheimwaffe. Ganz besonders in diesem Kleid. Ich werde deine Reize eiskalt zu meinem Vorteil einzusetzen wissen, verlass dich darauf.»

Trotz allem schaffte er es, sie zum Lachen zu bringen. Sollte er nur den Teufel spielen, sie kannte ihn zu gut.

Sie hatten das riesige Königszelt erreicht, ein aus weißem Stoff mit blauen Streifen gespanntes Dach über einer aus Holz gezimmerten Bierhalle. Darum verlief die Bahn für das traditionelle Pferderennen. Seitlich schob sich ein Baldachin weit nach vorn, damit die königliche Familie das Rennen beobachten konnte, ohne das Zelt zu verlassen. Es war höher als die umliegenden Buden, sodass es weithin sichtbar als Orientierungspunkt diente, eine Burg aus Tuch über dem Jahrmarkt.

Noch war es ruhig, aber um Punkt zwei Uhr würde Kanonendonner den Einzug der königlichen Familie verkünden. Danach würde das Rennen beginnen. Schon jetzt liefen Pferde mit kleinwüchsigen Jockeys hoch oben im Sattel im Kreis und wärmten sich auf. Tiergeruch hing in der Luft, und auf der Seite zur Festwiese hin drängten sich kleine hölzerne Buden, in denen auch Bier ausgeschenkt wurde. Vor allem aber handelte es sich um Wettbüros, denn dort hingen Tafeln mit den Quoten, und risikofreudige Zuschauer drängten sich mit Geldscheinen in der Hand nach vorn. Blaue und weiße Fahnen flatterten im Wind. Zur Landwirtschaftsschau in den nächsten Tagen würde es nicht so elegant hergehen. Glanz und Natur, Hochadel und Bauern, Goldkutschen und Kuhmist auf der Straße – man konnte wirklich nicht sagen, dass es der Wiesn an Extremen fehlte. Während die einen gedankenlos Summen verspielten, von denen ein Arbeiter seine Familie vier Wochen lang ernähren konnte, versuchten andere, um jeden Pfennig für eine Breze zu feilschen.

«Sehen wir uns zum Rennen?» Melchior zog seine Frau an sich, ohne sich um die entsetzten Blicke der alten Weiber zu kümmern, die ihnen unter schwarzen Spitzensonnenschirmen böse Blicke zuwarfen.

«Natürlich. Wann kommt Linde?»

«Um vier.»

Antonia zog die goldene Taschenuhr aus seiner Weste. «Jetzt ist es elf, das Rennen beginnt gegen halb drei. Gut.» Sie steckte ihm die Uhr wieder in die Tasche. So lange würde sie warten müssen.

«Lass die Finger von mir, sonst lasse ich dich womöglich nicht gehen», lächelte er und hielt ihre Hand auf seiner Brust fest. Und küsste sie noch einmal lange, wobei Antonia ziemlich sicher war, dass er dabei einen provozierenden Seitenblick zu der älteren Dame warf, die sie besonders missbilligend beäugt hatte. Genau sah sie es nicht, sie musste wegen des Huts den Kopf weit zurückneigen. Vermutlich waren die Krempen genau deshalb so breit, damit man niemanden auf der Straße küsste. Aber mit etwas Übung ging es dennoch.

«Bis nachher.» Melchior ließ ihre Hand aus seiner gleiten und steuerte auf das Königszelt zu. Antonia sah ihm nach. Er hatte immer viel Wert auf sein Äußeres gelegt. Das elegante Auftreten passte zu seinen aristokratischen Gesichtszügen und der kühlen, ironischen Ausstrahlung, die sie von Anfang an fasziniert hatte.

«Der wird Eana ned heiraten», bemerkte die Alte süffisant, die sie offenbar für seine Geliebte hielt.

«Natürlich nicht», erwiderte Antonia. Und ehe die Alte sich entsetzt bekreuzigen konnte, hob sie die Hand. Ihr Ehering, eine wunderschöne Art-nouveau-Arbeit aus geschwungenen Goldranken mit einem großen Brillanten, blitzte in der Sonne auf: «Weil er es längst getan hat.»

 

Sie begann ziellos über die Festwiese zu schlendern. In den ersten Jahren hier war ihr das alles wie ein Märchen erschienen. Hier hatte sie zum ersten Mal so viele Glühbirnen auf einmal leuchten sehen. Als armes Bauernkind in der Hallertau hatte sie davon nur träumen können, und jetzt war sie seit fast zwei Jahren die Gattin eines aufstrebenden jungen Brauereibesitzers. Eigentlich hatte sie sich so auf den heutigen Tag gefreut. Hatten die Worte der alten Frau sie vielleicht doch mehr gekränkt, als sie gedacht hatte? Weil sie auf andere nicht wirkte wie Melchiors Frau, sondern wie seine Geliebte?

Lächerlich. Melchior hatte sie geheiratet, ob es den Leuten passte oder nicht. Die lockere Kleidung hatte ihr der Arzt sogar zur Vorbeugung gegen die Hysterie empfohlen. Und selbst im Reformkorsett hatte sie noch mehr Taille als der Weißwurstfriedhof vorhin. Dennoch schien ihr Melchior auf einmal fern, als hätten die Worte der Alten eine sonderbare Macht gehabt. Als würde sie ewig das Bauernmädchen bleiben, das in die adrett geschnürte Welt des reichen Bürgertums eingedrungen war. An einen Platz, der ihr nicht gebührte.

Antonia passierte ein paar Breznverkäuferinnen, die mit ihren riesigen Körben seitlich am Weg standen, Buden mit Fähnchen und duftenden Hendln und einen Stand, wo Männer mit einem Hammer auf eine Scheibe schlugen und der stärkste Schlag mit einem Preis belohnt wurde. Die jungen Burschen mit ihren abgewetzten Hosen und Mützen drängten sich und krempelten die Ärmel hoch. Wenn ein Schlag den Bolzen ganz nach oben bis zu der Glocke trieb, johlten sie genauso, wie wenn einer nur einen halben Meter schaffte.

Sie versuchte sich zu zerstreuen. Das Wachsfigurenkabinett von Carl Gabriel kannte sie bereits. Eine Scheune voller lebensecht nachgebildeter Gestalten, starr und steif in ihren Uniformen und Galakleidern: der alte Bismarck, der verstorbene König Ludwig II., die österreichische Kaiserin Sisi, die vor ein paar Jahren ermordet worden war, und natürlich der Kaiser, der Prinzregent und viele andere. Etwas gelangweilt lief sie durch die soldatisch starren Reihen.

Danach versuchte sie es im Menagerie Circus des Dompteurs Charles. Carl Krone, der Inhaber, bot immerhin ein angeblich fast hundert Jahre altes Krokodil als Attraktion und einen Löwen, der auf einem Pferd reiten sollte. Aber bis zu dieser Vorführung hätte sie eine halbe Stunde warten müssen, und irgendwie bedrückten sie die gefangenen Wildtiere, selbst das Krokodil.

Erleichtert trat sie wieder ans Tageslicht und schlenderte weiter zu den Bierhallen. Die ausgesägten Fassaden erinnerten an echte Wirtshäuser und waren mit großen Lettern beschildert. Hier lockten Bier und Schweinsbraten, aber Antonia hatte spät gefrühstückt und noch keinen Hunger. Ein Brauereiwagen hatte vor einem der Stände angehalten, und die Mannschaft verschwand an den Tischen. Es war ein einfacher Kastenwagen, aber so wie alle hier geschmückt mit Blumengirlanden und dem bunt bemalten Wappen der Brauerei. Auf der Ladefläche waren die schweren Fässer zu einer Pyramide aufgetürmt. Vermutlich war es das Wappen, das Antonia auffiel. Es gehörte der Brauerei Hopf – ihrem Rivalen.

Alois Hopf schien nicht gerade gut dazustehen, zumindest wenn man die Pferde vor seinem Vierspänner betrachtete. Es waren schwere Arbeitstiere, vermutlich Noriker, wie viele Brauereipferde, mit weiß-blau karierten Fliegenhauben über Ohren und Stirn. Das eine der beiden vorderen war ein ruhiger, ergebener Rappe. Aber das andere war so abgemagert, dass die Rippen hervortraten. Der Kopf mit der dünnen Blesse hing schwer herab, und die Augen starrten teilnahmslos vor sich hin. Das braune Fell, über das eine hellere, fast weiße Mähne fiel, war struppig und stumpf, wie aus Draht. Die Ohren hingen schlaff wie Blütenblätter, die zu welken begannen. Immer wieder erschütterte ein hohler Husten den ganzen Körper.

Antonia hatte noch nie gut andere Lebewesen leiden sehen können, und seit Thomas auf der Welt war, noch viel weniger. Sie fühlte die Traurigkeit und Verlorenheit des kranken Tiers, ausgeliefert an einen mitleidlosen Herrn, gespannt in Riemen und starres Eichenholz. Es tat weh, es anzusehen, und gleichzeitig konnte sie den Blick nicht abwenden.

So kam es, dass sie das Mädchen bemerkte.

Sie war vielleicht zehn Jahre alt, ein Bauernkind oder das eines Arbeiters, in einem schlichten, aber sauberen Tageskleid aus Leinen. Vermutlich war es das beste, das sie besaß. Das hellbraune Haar war nur locker am Oberkopf aus dem Gesicht gebunden, die Wangen kindlich rund, die Brauen gerade. Nichts an diesem Kind war künstlich aufgeputzt, und das berührte Antonia umso mehr. Vielleicht war es die Entschlossenheit in dem Gesichtchen, eine Entschlossenheit, für die es viel zu jung war.

Unwillkürlich legte Antonia die Hand auf ihren Bauch. Wenn es ein Mädchen würde, könnte es eines Tages so aussehen?

Das Kind war an das kranke Pferd herangetreten, flüsterte etwas und berührte den Hals des Tieres. Der teilnahmslose Ausdruck verschwand, als das Pferd die Stimme hörte. Die Ohren zuckten wie ungläubig und stellten sich aufrecht wie zwei Lilienblätter. Es hob den Kopf zu dem Mädchen und schnaubte leise.