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Das Brauhaus an der Isar: Spiel des Schicksals E-Book

Julia Freidank

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Beschreibung

Ein aufstrebendes Münchner Brauhaus. Eine Zeit voller Intrigen. Eine junge Frau, die sich beweisen will – die große mitreißende Familiensaga von Julia Freidank Bayern 1897. Antonia Pacher verlässt den verarmten Hof ihrer Familie, um in München Geld zu verdienen – und entdeckt die schillernde Welt der Schwabinger Boheme. Als die junge Frau schließlich Arbeit in einer Brauerei erhält, muss sie von Anfang an um ihren Platz im Unternehmen kämpfen. Denn unter den Angestellten – Schankmädchen, Brauburschen und Brauknechten – findet Antonia nicht nur Freunde, sondern auch Gegner, die ihr bei jeder Gelegenheit Steine in den Weg legen. Dass es zwischen ihr und dem Erben der Brauerei, dem unberechenbaren Melchior Bruckner, gewaltig knistert, macht das Ganze nicht eben leichter. Melchiors ehrgeizige Mutter Franziska kämpft ebenfalls. Sie will endlich den großen Erfolg und auf dem Oktoberfest ausschenken. Doch auch sie hat Feinde, konkurrierende Bierbrauer, die bereits eine vernichtende Intrige in Gang gesetzt haben …

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Julia Freidank

Das Brauhaus an der Isar – Spiel des Schicksals

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein aufstrebendes Münchner Brauhaus. Eine Zeit voller Intrigen. Eine junge Frau, die sich beweisen will – die große, mitreißende Familiensaga von Julia Freidank

 

Bayern, 1897. Antonia Pacher verlässt den verarmten Hof ihrer Familie, um in München Geld zu verdienen – und entdeckt die schillernde Welt der Schwabinger Boheme. Als die junge Frau schließlich Arbeit in einer Brauerei erhält, muss sie von Anfang an um ihren Platz im Unternehmen kämpfen. Denn unter den Angestellten – Schankmädchen, Brauburschen und Brauknechten – findet Antonia nicht nur Freunde, sondern auch Gegner, die ihr bei jeder Gelegenheit Steine in den Weg legen. Dass es zwischen ihr und dem Erben der Brauerei, dem unberechenbaren Melchior Bruckner, gewaltig knistert, macht das Ganze nicht eben leichter.

Melchiors ehrgeizige Mutter Franziska kämpft ebenfalls. Sie will endlich den großen Erfolg und auf dem Oktoberfest ausschenken. Doch auch sie hat Feinde, konkurrierende Bierbrauer, die bereits eine vernichtende Intrige in Gang gesetzt haben …

Vita

Julia Freidank ist das Pseudonym einer vielfach veröffentlichten Autorin von Romanen und Sachbüchern. Als gebürtige Münchnerin fasziniert sie die aufregende Geschichte ihrer Heimatstadt, das München Thomas Manns und der Schwabinger Boheme. Da München zur selben Zeit auch zur Stadt des Biers wird, lag es nahe, die Geschichte eines Münchner Brauhauses mit der der Boheme zu verbinden. Das Ergebnis ist der vorliegende Roman, «Das Brauhaus an der Isar – Spiel des Schicksals», der farbenprächtige Auftakt einer großen Familiensaga.

Dramatis Personae

Antonia, Muse aus der Hallertau, die in der Stadt ihr Glück machen will und nicht viel für Seejungfrauen übrighat

Franziska Bruckner, gestrenge Braumeisterswitwe mit großen Ambitionen

Melchior Bruckner, ihr Sohn, der die Langweile zu einer Kunst entwickelt hat

Vinzenz und Resi, seine Geschwister, immer auf der Suche nach einem Honigplätzchen

Quirin, Maler, der nach dem großen Wurf strebt

Benedikt, Zeichner, stets für einen Absinth zu haben

Pater Florian, Priester in Schwabing, Exorzist mit gelenkigen Händen

Franz Stuck, Malerfürst, um ein Modell verlegen

Sebastian, ehrgeiziger Brauknecht aus dem Chiemgau, der gegen die Entfremdung der Arbeit ankämpft

Vevi, seine Verlobte, die vor der Entfremdung ihrer Familie flieht

Sir William und Lady Hortensia Shelton, Geschwisterpaar aus England, dessen Absichten im Dunkeln liegen

Kreszenz, Hausdrache und selbsternannte Herrin des Hauses Bruckner

Albert Einstein, Technikersohn auf physikalischen und anderen Abwegen

Josephine Strauss, geborene Pschorr, Braumeisterstochter mit komponierendem Nachwuchs

Marei, Köchin, die alles weiß, außer, wie man nein sagt

Xaver, Brauknecht mit beeindruckendem Körperbau

Franziska Gräfin zu Reventlow, Malweib und Gesamtkunstwerk

Alois Hopf, Braumeister, der seine Tochter unter der Haube sehen will

Franz Salzmeier, Hopfenbauer und Nabel der Welt

 

Münchner Brauer, Händler, Schülerinnen und Künstler sowie Kater Fleckerl, die Braurösser Bazi und Schorsch und jede Menge Ölfarbe

Vorbemerkung

Das Fin de siècle, die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, ist in Bayern geprägt von Armut und Landflucht einerseits sowie von explodierenden Massen in den Städten auf der anderen Seite. Die Schwabinger Boheme entsteht, aber auch das Arbeiter- und Tagelöhnermilieu, das Brecht besingen sollte. Die Industrie, zu der auch die Bierbrauerei gehört, blüht auf. München wird zur Stadt des Biers und des technischen Fortschritts: Kanalisation mit Wasserklosetts, bahnbrechende Erfindungen, Elektrizität. Heute ein Lifestyleprodukt, war Bier damals eng mit den neuesten Entwicklungen der Technik verknüpft: 1883 war es E. C. Hansen in Dänemark erstmals gelungen, reinsortige Kulturhefe herzustellen. Das ermöglichte die Herstellung rein untergäriger Biersorten. Carl von Linde, damals Professor an der Münchner Technischen Universität, erfand den Kühlschrank, der die Gärung dieser Hefen auch im Sommer ermöglichte, und entwickelte seine Ideen gemeinsam mit zwei Münchner Brauern. Und 1897 gelang Eduard Buchner der Nachweis, dass auch mit Hefeextrakt eine alkoholische Gärung möglich ist. Er widerlegte damit Louis Pasteur und erhielt für seine Arbeit 1907 den Nobelpreis für Chemie. Bier war nobelpreiswürdig.

Es ist eine Zeit der Dekadenz, des Symbolismus, des ästhetischen Lebensgenusses, und gleichzeitig eine Zeit, in der sich Gesellschaft und Politik zunehmend polarisieren, die geprägt ist von Untergangsstimmung und Lebensüberdruss. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den politischen Extremen, zwischen den Ländern wird tiefer. All das wird im unvorstellbaren Grauen des Ersten Weltkriegs münden.

Drei Typen tauchen in der Kultur und der Lebenswelt des Fin de siècle leitmotivartig auf: der Bohèmien, die Femme fatale und der Dandy. Der Bohèmien, das ist der in Armut lebende Künstler wie Rodolfo in Puccinis La Bohème. Die Femme fatale, die kalte Verführerin, findet sich in Bizets Carmen, oft – wie auch hier – als Mischtyp mit der Femme fragile, der zerbrechlichen Frau, wie zum Beispiel Violetta in Verdis La Traviata nach Dumas’ Kameliendame. Die von Männern geschriebene Literatur macht sie zur kalten Verführerin, die starke Gefühle erzeugt, ohne selbst welche zu haben. Ich stelle die Frage, warum, und versehe sie – sozusagen komplementär – mit dem zeittypischen «Frauenleiden» der sogenannten Hysterie. Stolze 75% der Frauen sollen daran gelitten haben. Vermutlich war es nichts weiter als eine Reaktion auf die traumatische Erfahrung der Unterdrückung weiblicher Intelligenz, eigener sexueller oder generell starker Gefühle, kurz: Persönlichkeit, in einer patriarchalischen Gesellschaft. Die wilhelminisch-viktorianische Prüderie machte Menschen buchstäblich krank. Aber es gab auch Wege, sich dem zu entziehen, wenngleich primär für Männer: Der erotisch aufgeladene Symbolismus eines Franz von Stuck gab all dem Raum, was in der Gesellschaft verdrängt wurde. Der Dandy schließlich, der zynische, amoralische und gleichzeitig ästhetische Mann besserer Gesellschaft, gelangweilt und gleichzeitig fasziniert vom Leben, tritt in all seiner Doppelbödigkeit bei Oscar Wilde als Dorian Gray auf, ein Buch, das in der Schwabinger Boheme begeistert rezipiert wurde. Es dürfte offensichtlich sein, welche Figuren auf diese Typen anspielen und wie ich sie verändert habe. Neugierige finden außerdem im Nachwort noch Hinweise zu intertextuellen Anspielungen.

Das leuchtende München – für Thomas Mann war es ein ironisches Spiel. Ist seine Novelle Gladius Dei eine Hommage an dieses leuchtende München? Ist der Don Quijote ein Ritterroman? Wenn ein Genre anfängt, gleichförmig zu werden, muss man es auflockern, es ironisieren. Wie Oscar Wilde sagen würde: Alle Kunst ist Symbol. Oder, wie es im Roman mit Bezug auf Wilde heißt: ein Spiegel. Seht darin, was ihr wollt, es werdet immer ihr selbst sein.

München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulentempeln, den antikisierenden Monumenten und Barockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gartenanlagen der Residenz spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide, und ihre breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven lagen in dem Sonnendunst eines ersten, schönen Junitags.

THOMAS MANN

– 1 –

Flechting, Hallertau, 1897.

Das Leuchten erfasste das silbrige Band des Flusses, auf dem glitzernde Schaumkronen elfenfunkengleich tanzten. Aus geometrischen Fassaden schienen sich blumenumrankte Säulen zu lösen und mit den strengen Formen zu spielen. Mysteriöse Fabelwesen bewachten Fenster und Türen, aus denen das Licht unzähliger Kristallleuchter strahlte wie aus einem allsehenden goldglänzenden Auge …

«Schläfst du?»

Antonia schreckte aus ihren Tagträumen hoch. Ein schmerzhaftes Pochen in ihren Rippen, da, wo sie der Ellbogen ihrer jüngeren Schwester Theres getroffen hatte, belehrte sie, dass sie den Rest der Totenmesse verträumt hatte. Sie riss sich von den bunten Kirchenfenstern los, schlug hastig das Kreuz und stand von der harten Bank aus Eichenholz auf. Gemeinsam mit der Mutter und ihren jüngeren Geschwistern Theres und Max reihte sie sich hinter dem Pfarrer in seiner purpurfarbenen Trauertracht und dem Sarg ein.

«Zu viel g’soffn …» Ein Tuscheln in Antonias Rücken holte sie unsanft, aber endgültig zurück in die Wirklichkeit. Elfen, Blumenranken und goldene Tore verblassten, wichen der unbezwingbaren Erdhaftigkeit tratschender Stimmen: «Der Hofer macht’s auch nimmer lang, wirst sehen!»

«Ach wo! Das war die lange Krankheit im Sommer, der Pacher konnt doch kaum noch schnaufen.»

Doch im Grunde waren sich alle einig, dass es das Bier gewesen war, welches das vorzeitige Ende von Nepomuk Pacher herbeigeführt hatte.

Der Trauerzug war länger, als es dem Ansehen oder gar dem Reichtum des Vaters angemessen gewesen wäre. Auch wenn sie nicht zur Beerdigung kamen, um ihn zu ehren, wollten die meisten doch sehen, wie es nun mit seiner Familie weiterging.

«Das schafft die Pacherin nicht allein mit den Kindern», tratschten die Stimmen in Antonias Rücken weiter, als sie auf den winzigen Kirchhof hinaustraten. In der Nacht hatte es geregnet, und die gekiesten Wege waren noch feucht. Die Dorfkapelle spielte blechern und immer wieder schief, und die Stola des Pfarrers wurde genauso vom leichten Wind erfasst wie die Töne. «Mit einem achtzehnjährigen Mädel kann sie keinen Hof führen, und der Bub ist zu jung. Sie wird verkaufen müssen.»

Das hätten sie wohl gern, die Tratschweiber!, dachte Antonia. Am liebsten wäre sie ihnen übers Maul gefahren, doch von Kindheit an hatte sie gelernt, dass es meistens mit Prügeln endete, wenn man Gefühlen nachgab. Das eintönige Geräusch der vertrauten Gebete half ihr, Trauer, Wut und Hilflosigkeit zurückzudrängen, während der Sarg in die Erde gesenkt wurde. Nepomuk Pacher war kein liebevoller Vater gewesen. Aber nun, da er tot war, dachte Antonia mit Trauer an ihn. Sie erinnerte sich an den Tag, als er ihr unter dem vorspringenden Dach ein Holzpüppchen geschnitzt hatte, während der Regen über ihnen von den Schindeln troff, funkelnd aufleuchtend im Schein der durch die Wolken brechenden Sonne. An die Winterabende, wenn er ihnen am Kamin aus der Bibel vorlas. Das meiste davon war ihr kaum je aufgefallen, aber jetzt, da sie es nie wiederhaben sollte, spürte sie den Verlust.

Wenigstens bleibt uns der Hof, dachte sie. Das kleine windschiefe Häuschen mit Scheunen, Schweinekoben, Pferdestall und Gemüsegarten an der Dorfstraße war ihr Zuhause. Die winzige Kammer unter dem Dach, die sie mit Theres teilte, war zugig und ihr Bett nicht mehr als eine Strohmatratze. Doch seit sie denken konnte, war es ihr Reich. Durch ein winziges Dachfenster blickte man auf die Zufahrt, und wenn es stürmte, rüttelte der Wind am wurmzerfressenen Gebälk. Aber das Geräusch war ihr so vertraut, dass sie sich kaum vorstellen konnte, ohne es einzuschlafen.

 

Nach der Trauerfeier strömten die Gäste ins Wirtshaus gegenüber, ebenjenes, in dem Nepomuk Pacher seinen letzten fatalen Schluck genommen hatte. Von Jahr zu Jahr schienen mehr Leute stolz die neumodischen Gewänder und Hüte auszuführen, die man in der Stadt trug. Bauer Salzmeier, der reichste Hopfenbauer am Ort, trug natürlich auch schon so eines, mit Gehrock und Weste samt Uhrenkette. Aber man sah auch immer weniger Frauen in der Hallertauer Tracht, in langen seidenen Kleidern mit gerüschten Schürzen, schwarzen Miedern mit Silbertalern und Amuletten, Schultertuch, Kropfkette und Fellmütze.

Antonia blickte seufzend an ihrem altmodischen Gewand hinab, das sie von der Mutter geerbt hatte.

Sie ließ die anderen vorausgehen und streifte das Kopftuch von dem dunkelbraunen Zopf. Für ein neues Festtagskleid hatte sie ohnehin keine Verwendung mehr. Ihre Träume von einer Ausbildung in der Stadt konnte sie mit dem Vater begraben. Außer ihr gab es niemanden, der ihn auf dem Hof ersetzen konnte. Vielleicht war es besser so. Onkel Marius waren diese Träume nicht gut bekommen. Ihr Vater hatte seinen zehn Jahre jüngeren Bruder mehr als ein Mal verprügelt, wenn er von stuckverzierten Fassaden faselte, während der Hopfen von den Stangen gerissen werden musste. Dann, eines Tages nach der Ernte, war Marius verschwunden gewesen. Was seit letztem Jahr aus ihm geworden war, wusste niemand.

«Mein Beileid», riss sie die Stimme der alten Erna aus ihren Gedanken. Verhüllt in Berge von schwarzem Stoff, wuselte die winzige Gestalt heran und bekreuzigte sich mit gichtigen Händen. «Magst nicht rüberkommen zu den Lebenden? Du bist doch so schon ernsthaft genug. Immer beim Arbeiten, nie auf dem Tanzboden.»

«Ach, da versuchen die Burschen bloß, einen zu küssen», erwiderte Antonia abfällig. «Ruinieren einem den Ruf, nur um damit anzugeben, so wie der Ferdi es mit der Annamirl gemacht hat. Ich habe zu tun.»

Vorsorglich verschwieg sie der redseligen Alten, dass sie eigentlich ganz gern turtelte. Man musste nur aufpassen, sich nicht zu verlieben, und sobald einer anfing, sie als seinen Besitz zu betrachten, setzte es eine Watschn. Antonia hatte kein Mitleid mit Burschen, die zwar gerne auf Kosten anderer spielten, aber selbst ungern verloren.

«War ein hartes Jahr für euch», meinte die alte Bäuerin mitleidig.

«Der Salzmeier wollte uns schon wieder den Hof abluchsen», bestätigte Antonia und warf einen giftigen Blick in Richtung Wirtshaus, in dem der Bauer verschwunden war. «Zum Glück habe ich es den Eltern ausgeredet.»

«Gut g’macht, Dirndl, des is’ recht. Der alte Ruach, der alte.»

Das konnte sie laut sagen. Salzmeier war ein Geizkragen, wie er im Buche stand. Vor allem wenn es darum ging, den Lohn für seine zahlreichen Mägde und Knechte zu bezahlen.

«Arbeit bloß net für den. Der langt seine Taglöhnerinnen untern Rock, sagt die Katharina», lieferte Erna sofort einen umfangreichen Bericht. «Und den armen Deifi, den Abensberger drüben in Reichertshausen, den hat der Salzmeier aus dem G’schäft mit einer Münchner Brauerei g’schmissen. A so a dreckerter Saukerl, so a dreckerter. Aber in der Kirch’ schaut er allweil drein wie der Heilige Geist persönlich. Falt’ die Händ’ wie a’ Engerl und verdraht die Augen zum Himmel, dass d’ meinst, er tät gleich an Heiligenschein kriegen. Der verlog’ne Heuchler, der verlog’ne. – Aber …» Sie legte den Finger an die faltigen Lippen und grinste verschwörerisch. «Des bleibt unter uns.»

«Versprochen.» Antonia hatte für Franz Salzmeier auch nichts übrig. «Aber ich werde nicht für ihn arbeiten. Der Hopfen sieht gut aus, wenn kein größeres Unwetter kommt, kommen wir übers Jahr.»

Sie sagte es mit einem gewissen Stolz. Auch wenn sie den kranken Vater nicht hatte ersetzen können, dass sie den Hof überhaupt noch besaßen, war ihr Verdienst. Voll Wärme dachte sie an das Häuschen mit dem vorspringenden Dach, unter dem man bei Regen im Trocknen, bei Sonne im Schatten saß. Der Vater hatte eine Bank gezimmert, auf der die Kinder spielten oder die Mutter Handarbeiten erledigte. Den Sommer über mästeten sie Ferkel, ansonsten bewohnten nur der Hund Rudi und ein paar halbwilde Katzen die wenigen Gebäude. Das Zentrum bildete die Scheune, in der sie die Hopfendolden von den Schlingpflanzen zupften. Unterhalb des Kirchhügels, der von den wenigen Höfen umgeben war, erstreckten sich die Felder. Weite grüne Flächen voll meterhoher Stämme, an deren Drähten sich die Pflanzen hochrankten. Als Kind hatte sie darunter gespielt. Der herbe Duft der weiblichen Pflanzen mit ihren großen, hellgrünen Dolden begleitete sie schon ihr ganzes Leben.

«Weiß der Marius, dass der Nepomuk tot ist?», riss Erna sie erneut aus ihren Gedanken.

«Nein. Seit er nach München ist, haben die Eltern nicht mehr über ihn geredet.» Niemand ahnte, dass sie in ihrer Kammer unter getrockneten Hopfendolden Bilder ihres Onkels aufbewahrte: ungelenke Zeichnungen von Pferden und Höfen, von zerfurchten Gesichtern im Wirtshaus, von Männern in verschwitzter Arbeitskleidung mit Müdigkeit in den Augen, von Frauen mit Körben frischer Wäsche und von der Arbeit am Waschbrett aufgequollenen Händen. Auch ein Porträt der alten Erna war dabei. Von dem die natürlich nichts wusste.

«Ja, die Stadt, die Stadt!», raunzte die alte Erna. «Schön sauber soll’s da sein, sagt’ man. Koa Dreck net auf der Straß, aber so viel Leut’. G’schleckte feine Herrschaften, überall Droschken, die wo alles über’n Haufen fahr’n. Und des neumodische Zeug mit Elek… Elek…»

«Elektrizität?»

«Genau. Straßenlaternen und so. Naa, sag’ i’. Mich kriegst net weg in die große Stadt. Net mit zehn Rösser.»

Marius hatte ganz anders geredet. Für ihn war die Stadt ein strahlender Sehnsuchtsort gewesen, voll Glanz und Licht und Schönheit. Wo die Männer ihre Frauen wie Prinzessinnen verehrten, anstatt sie wie Sklavinnen vom Wochenbett aufs Feld und wieder zurück zu jagen. Wo die Menschen in großen Steinhäusern lebten, wo die Flure mit glänzenden Fliesen gekachelt waren und goldene Figuren über den Portalen thronten, wo man abends nicht zu Hause saß, sondern in Samt und Seide gekleidet in die Oper ging und Schaumwein trank. Wo der Prinzregent einfache Künstler an seinen Tisch holte und das Zepter der Kunst mit dem der Krone ging.

Antonia unterdrückte ein leises Seufzen. «Also gut. Gehen wir zu den anderen.» Doch als sie sich vom Grab ihres Vaters abwandte, fühlte es sich an, als würde sie dort auch ihre Träume zurücklassen.

 

Schwere Balken stützten die Decke in der «Alten Post», und die dunkel getäfelten Wände, die sonst behaglich wirkten, vermittelten Antonia heute den Eindruck ungewohnter Enge. Man hatte mehrere Tische zu einer langen Tafel zusammengeschoben. Antonia konnte sich nicht erinnern, dass der Vater so viele Freunde gehabt hatte, aber wo es einen Leichenschmaus für umsonst gab, entdeckte wohl so manch einer sein Herz für den Verstorbenen.

«Den Nepomuk kannst beneiden», meinte der dicke Xaver, als die beiden Frauen hereinkamen und sich einen Platz suchten. «Im Wirtshaus möchte ich auch mal sterben.»

«An dir täten die Engerl aber schwerer tragen als am Pacher», kicherte die alte Erna. Sie rückte sich einen freien Stuhl heran und verpasste ihm einen scherzhaften Rippenstoß. «Du solltest am Berg sterben. Da ham se’s ned so weit bis zum Himmel. Wannst überhaupt in Himmel kommst!»

Diese Witzeleien auf Beerdigungen hatten Antonia früher befremdet. Aber heute munterten sie sie ein wenig auf. Eine fröhliche Leich’, ein Leichenschmaus in guter Stimmung, erinnerte die Hinterbliebenen daran, dass der Tote nun begraben war und das Leben weitergehen musste.

Presssack und Brot standen schon auf dem Tisch, und die Gespräche verstummten einen Moment, als die saure Lunge mit Knödeln serviert wurde. Der Duft breitete sich aus, und einige Männer bestellten bereits das zweite Bier. Normalerweise liebte Antonia dieses Gericht: den sauren Geschmack des lang gekochten Fleisches und die Semmelknödel, die groß und weich darin schwammen, ganz leicht mit Petersilie abgeschmeckt. Aber heute hatte sie keinen Hunger und stocherte lustlos auf ihrem Teller herum. Bei einem solchen Essen war immer die ganze Familie beisammen gewesen. Der Vater fehlte.

«Die Krise hat ihm zu schaffen gemacht», meinte Nachbar Hinter. «Vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahr’ war der Pacherhof ein schöner Hof. Aber es wird immer schwieriger. Die Brauereien werden größer, ein kleiner Hof kann sich da kaum halten. Und die Qualität, die muss halt heutzutag auch besser sein als wie früher.»

«So is’», erwiderte Franz Salzmeier. Selbst seine besten Kleider ändern nichts an seinem dummen Gesicht, dachte Antonia. Er sieht immer noch aus, als wäre er mit seinen Kühen verwandt.

In seliger Unwissenheit über derlei respektlose Gedanken nahm Salzmeier einen weiteren tiefen Schluck, mit einer Bedeutsamkeit, als wollte er gleich den nächsten Beschluss des Prinzregenten verkünden. «Die Brauereien in der Stadt wollen aus einer Hand kaufen. So a kleiner Hof kann des net leisten, des rentiert sich nimmer. Deswegen hab ich den Pacherhof übernommen.»

Antonia zuckte zusammen.

Sie starrte in das grobe Gesicht, das nicht einmal zu merken schien, dass er ihr gerade den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Seine schaufelartigen Hände klopften auf den Tisch, als er weitersprach. Die Geräusche verschwammen, flossen mit den anderen Stimmen zusammen, dem Kratzen der Stühle auf dem Boden, dem Klirren von Glaskrügen und Geschirr. Als hätte ihr Verstand plötzlich die Fähigkeit verloren, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es dauerte Sekunden, bis Antonia sich wieder so weit in der Gewalt hatte, dass sie sprechen konnte. Langsam wandte sie sich zu ihrer Mutter.

«Du hast den Hof verkauft?»

Anastasia Pacher zupfte ungeduldig an ihrem ergrauten Haarkranz. Früher hatte Antonia gedacht, dass sie die schönste Frau der Welt sein musste, mit ihrem dunklen Haar und den hellen Augen. Jetzt erschien sie ihr wie ein altes Kind, das von einem Moment auf den anderen Entscheidungen treffen sollte, die bisher andere für es gefällt hatten.

«Ich weiß, du denkst anders darüber», erwiderte sie ungeduldig. «Aber ohne den Vater geht es eben nicht.» Sie zögerte, dann fuhr sie fort: «Du kannst beim Salzmeier arbeiten, sagt er. Stimmt’s, Salzmeier?»

Der Bauer bejahte und setzte sein Gespräch mit Nachbar Ramsauer fort. Antonia hatte das unangenehme Gefühl, dass er sie trotzdem aus dem Augenwinkel anschielte und bei dem Versuch, dabei nicht aufzufallen, erneut besorgniserregend nach Wiederkäuer aussah. Was die alte Erna gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf.

«Antonia!», bat die Mutter. «Der Salzmeier will uns doch nur helfen. Schau, wir können den Hof nicht allein bewirtschaften. Das Geld hilft uns.»

«Und weil ein reicher Mann das sagt, ist es auch richtig? Wer sind wir denn, seine Sklaven? Das ist erbärmlich! Was hat er denn bezahlt?», zischte Antonia. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihre Mutter angeschrien. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um sich zu beherrschen. «Doch sicher nicht annähernd das, was der Hof wert ist. Mit Hopfen kann man jetzt Geld machen, das hat er doch gerade gesagt!»

Die Trauergäste unterbrachen ihre Gespräche. Der Essensdunst hing schwer über dem Tisch, und Antonia hatte das Gefühl, als würden sie alle auf einmal anstarren.

«Halt den Mund!», zischte die Mutter. «Du bringst uns ins Gerede.»

«Da sind wir doch schon!», erwiderte Antonia schnippisch. «Weil sich meine Mutter von einem reichen Gauner hat über den Tisch ziehen lassen.»

Salzmeier wollte aufspringen, aber Xaver hielt ihn fest. «Jetzt lass doch, das Madl ist in Trauer.»

Heuchler!, hätte Antonia sie alle am liebsten angeschrien und auf Salzmeiers scheinheiliges Gesicht eingeschlagen. Die Wut ließ glühende Wellen durch ihren Leib jagen. Wenn in der Kirche die Kollekte kam, ließ sich keiner lumpen, aber auf ein lukratives Geschäft verzichten für eine Witwe mit drei Kindern, so weit ging die christliche Nächstenliebe nicht. Der Hof war Antonias Zuhause, ihre Welt. Ihr ganzes Leben hatte sie dort verbracht. Selbst wenn Salzmeier sie weiter dort wohnen ließ, was keineswegs selbstverständlich war, es wäre nicht dasselbe. Für ihren eigenen Hof hätte sie sich die Hände wund gearbeitet, aber jetzt fühlte sie sich einfach nur schäbig verraten. Tränen schnürten ihr die Kehle zu, durften nicht geweint werden. Mit aller Gewalt kämpfte sie dagegen an, zwang sie zurück in ihr Inneres. Ihr Gesicht schmerzte von der Anspannung, sie zitterte am ganzen Körper vor verhaltener Wut. Doch dieser Pharisäer würde sie nicht weinen sehen.

Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

In diesem Moment kam das Prickeln.

Es durchlief ihren Leib wie ein Schauer von heißen Nadelstichen. Antonia stockte der Atem. Sie rang nach Luft, aber es fühlte sich an, als wären ihre Lungen plötzlich gelähmt.

Ihr linkes Bein zuckte, sie verlor das Gefühl darin. Taub knickte es nach unten weg. Sie hörte jemanden aufschreien. Ein Stoßgebet rufen.

Ich sterbe!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie versuchte, sich irgendwo festzuhalten, vergeblich. Ihre Gliedmaßen versagten den Dienst. Ihre Arme begannen zu zucken, schlugen wild und unkontrolliert um sich, trafen Stühle, die entsetzt aufspringenden Menschen, sich selbst.

Was passiert mit mir?

Ihr Oberkörper bog sich nach hinten und versteifte sich. Langsam rang sich ein Schrei über ihre Lippen.

Ich will nicht sterben!, dachte Antonia.

Dann verschwamm alles um sie herum. Das Letzte, was sie noch in der Gewalt hatte, war, die Augen zu schließen.

 

Irgendwo in der Dunkelheit waren Laute. Geräusche menschlicher Stimmen, doch ohne Bedeutung. Ihr Geist war orientierungslos in der Schwärze, verloren in Zeit und Raum. Ein kühler Tropfen im Nichts. Dann mehrere. Sie spürte ihre Lippen, ihre Augenlider wieder. Jemand spritzte ihr Wasser ins Gesicht.

Die verschwommenen Flecke wurden klarer, fügten sich wieder zu Bildern zusammen. Sie lag in ihrer Kammer auf dem Bett. Zwei schwarz gekleidete Männer blickten auf sie herab. Doktor Kaiser, der weißbärtige Arzt aus dem nahen Au, in seinem schwarzen Gehrock, an dem das Monokel baumelte, und der junge, braunhaarige Pfarrer Matthias, die Hände fromm gefaltet vor der Soutane. Die Mutter nahm die Wasserschüssel, mit deren Hilfe der Arzt die Patientin offenbar aus ihrer Benommenheit geweckt hatte, und stellte sie auf den Waschtisch. Es musste spät sein, draußen dämmerte es schon, und unten hörte Antonia ihre Geschwister.

«Es ist ein Dämon», sagte Pfarrer Matthias. «Ich weiß einen guten Exorzisten in München. Pater Florian von St. Ursula. Sie muss zu ihm, er kann ihn austreiben.»

Der Arzt schnaubte abfällig. «Es gibt keine Besessenheit. Das ist die Hysterie», widersprach er und griff nach Antonias Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Er überprüfte ihn, den Blick auf die goldene Taschenuhr in seiner anderen Hand gerichtet, dann steckte er die Uhr wieder in seine Weste. «Ein sehr verbreitetes Frauenleiden. Wenn der Gebärmutter ihre natürliche Bestimmung versagt wird, wandert sie durch den Körper und verursacht diese Anfälle. Drei Viertel der Frauen leiden in ihrem Leben irgendwann darunter. Das war nicht ihr erster Anfall, aber der schlimmste bisher. Antonia sollte heiraten, bei manchen Frauen wird es nach der Hochzeit besser.»

«Wer heiratet denn so eine?», fragte Anastasia Pacher und sah den Pfarrer an. «Ich will nicht, dass sie nach München geht. Können Sie den Dämon nicht austreiben?»

Pfarrer Matthias überlegte. «Ich kann es versuchen.» Er legte Antonia die Hand auf die Stirn. «Verzweifle nicht, Kind. Du musst beten und die weltlichen Begierden bekämpfen, dann besiegst du die Anfechtung. Vielleicht ist es ein Zeichen, und du bist zur Nonne oder Höherem bestimmt?»

Wohl eher nicht, dachte Antonia, aber sie traute sich nicht, es laut zu sagen. Wäre der Anfall nicht gekommen, hätte ich dem Salzmeier vielleicht doch noch das verlogene Grinsen aus dem Gesicht gewatscht.

«Sie braucht einen Arzt, der sich auf die Hysterie versteht», knurrte der Doktor. «In Paris und Wien und in anderen großen Städten gibt es solche Ärzte.»

«Ich hab doch kein Geld für einen Irrenarzt in Wien!», schnaubte Anastasia Pacher.

«Ein Exorzismus kann gefährlich sein. Versuchen Sie es lieber mit etwas, das beruhigt», schlug Kaiser vor. «Ein Krug Bier am Abend schadet ihr nicht und besänftigt die Nerven. Sie braucht jetzt Ruhe.»

Antonia wartete mit geschlossenen Augen, bis die Stimmen und die Schritte auf der engen Stiege verklungen waren. Eine der Katzen hatte es sich auf ihr bequem gemacht. Antonia richtete sich etwas auf und drückte sie an sich.

Das alles gehörte nun dem scheinheiligen Salzmeier. Das Gefühl der Ungerechtigkeit schnürte ihr die Kehle zu und machte sie fast verrückt. Wenigstens musste sie jetzt ihre Tränen nicht mehr verbergen. Maunzend befreite sich die getigerte Katze aus ihren Armen und stieß dabei das Kissen vom Bett.

Darunter lag der Karton mit den Bildern. Antonia musste durch die Tränen hindurch lächeln. Sie zog ihn heraus und legte ihn auf ihre Knie. Wie so oft, wenn sie allein war, öffnete sie ihn und strich vorsichtig über die Zeichnungen.

Das alte Pferd des Nachbarn, das längst gestorben war. Marius hatte es gezeichnet, wie es unter der Last des Pflugs gebeugt dastand. Er hatte nichts beschönigt: nicht die eingesunkenen Flanken, die hervorstehenden Rippen, das struppige Fell. Die Erna mit ihrem verschmitzten Blick. Sogar eine kleine Stadtansicht von München aus der Ferne war dabei, die Antonia immer mit Sehnsucht erfüllte.

Marius hatte es leichter gehabt. Der war einfach nach München gegangen, um sein Glück zu machen. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, wo sie ihn dort finden würde, hätte sie sofort ihr Bündel geschnürt und wäre ihm nachgereist. Aber so war sie hier gefangen, in einem Leben, in dem es nur Unterwerfung gab. In dem Gedanken und Gefühle in ein Korsett geschnürt und Träume in Salzmeiers Kuhstall begraben wurden.

Sie drehte die Bilder in der Hand. Und dabei fiel ihr auf, dass auf die Rückseite der Stadtansicht etwas gekritzelt war.

Sie sah genauer hin.

Quirin Riedleitner, Ainmillerstraße 24, München.

– 2 –

Als Antonia am Münchner Hauptbahnhof aus der keuchenden Dampfbahn stieg, stand sie zunächst orientierungslos auf dem Bahnsteig. Es war heiß und stank nach Öl und Rauch, und sie hatte das Gefühl, der schwarze Qualm, der während der Fahrt ins Abteil geweht war, habe sich direkt auf ihre Lungen gelegt. All die vielen elegant gekleideten Leute, die so zielstrebig an ihr vorbeirannten, schienen ganz genau zu wissen, wo sie hinwollten. Unschlüssig lief Antonia ein Stückchen in dieselbe Richtung. In diesem Moment stieß die Lokomotive einen gewaltigen Dampfstoß aus, der ihr heiß in die Röcke fuhr. Antonia machte einen Satz zur Seite. Der stinkende Dampf umwaberte sie, und von hinten rempelte sie ein Fußgänger im Vorbeigehen an.

Das ist verrückt, schoss es ihr nicht zum ersten Mal an diesem Tag durch den Kopf. Einfach heimlich nach Enzelhausen zu laufen und in den Zug nach München zu steigen! Was, wenn dieser Quirin Riedleitner ihr nichts über ihren Onkel sagen konnte? Dann saß sie hier fest und würde innerhalb weniger Tage ihr bisschen Geld aufgebraucht haben, das sie zur Firmung bekommen hatte und eigentlich in ihre Aussteuer hatte investieren sollen.

Aber wenn es die richtige Entscheidung war, könnte sie ihr Schicksal ändern, gurrte die lockende Stimme in ihrem Kopf. Der Pfarrer hatte sie ohnehin hierher zum Exorzisten schicken wollen. Sie würde geheilt werden. Mit Marius’ Hilfe würde sie Arbeit finden oder gar eine Ausbildung machen können. Sie würde Geld schicken können. Und die Mutter würde ihr verzeihen und sehen, dass sie hier mehr verdiente als bei dem Geizkragen Salzmeier, der seine Pranken nicht bei sich lassen konnte.

Antonia atmete mehrmals tief durch, um ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und trat auf einen der hastig vorbeieilenden Männer zu.

«Bitte, mein Herr … Ainmillerstraße?»

Der ältere Herr im Gehrock blieb tatsächlich stehen. Er zückte ein Monokel und klemmte es sich ins Auge, um die Adresse zu lesen.

«Ah. Das ist in Schwabing. Schlechte Gegend, sage ich Ihnen gleich. Voller Künstler und anderem Gesindel. Es ist weit zu laufen, nehmen Sie besser die Pferdebahn oder die neue Elektrische.»

«Oh», stammelte Antonia. Reiß dich zusammen!, sagte sie sich. Laut fragte sie: «Was kostet denn diese Elektrische?»

Die Frage schien ihn zu überraschen, denn das Monokel fiel aus seinem Auge und hing nun an der silbernen Kette. «Zehn Pfennig», meinte er und schüttelte den Kopf, als wäre es eine Frechheit, arm zu sein.

«Danke», seufzte Antonia. Zehn Pfennige waren zu viel, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie sich traute, mit einem elektrisch betriebenen Wagen zu fahren. Besser, sie ging zu Fuß, sie war es schließlich gewöhnt zu laufen.

Der Weg war tatsächlich weit, aber sie bekam Augen und Mund vor Staunen kaum noch zu. Die Straßen waren breit und voller Menschen, viel mehr, als Antonia je in ihrem Leben gesehen hatte. Die ganze Stadt surrte und wimmelte von Leben und ständiger Bewegung. Botenjungen brüllten die Nachrichten oder riefen Zeitungen aus. Karren ratterten in beängstigender Geschwindigkeit durch die Straßen, beladen mit stark riechendem Kohl, Rüben oder Bier. Es roch nach Malz, aber viel stärker als in der heimatlichen Küche, wenn die Mutter Bier braute. Überall rempelte und stieß einen jemand an. Zuerst entschuldigte sich Antonia ständig, aber nach einer Weile merkte sie, dass niemand das erwartete. Wer es sich leisten konnte, trug die elegante Mode der Städter. Die Röcke der Frauen waren schmal und lang, die Bärte der Herren gestutzt und gezwirbelt. Überall stürmten Geräusche und Gerüche auf sie ein: Brot aus den unzähligen Bäckereien, Tiergeruch, Seife. Die Glöckchen der Pferdebahn, Leute, die laut redeten oder sich beschimpften, das Rattern unzähliger Kutschen. Immer wieder musste Antonia nach dem Weg fragen, und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich ihr Ziel erreichte.

Die Ainmillerstraße war eine belebte Straße voller Baustellen. Antonia wäre mehrmals fast von einer Mietkutsche überfahren worden. Zum Glück hatte sie jemanden gefunden, der ihr das richtige Haus hatte zeigen können. Bei ihr zu Hause gab es zwar auch Hausnummern, aber niemand benutzte sie. Die meisten Höfe kannte man einfach nach ihrem Namen, und hier tat sie sich schwer, sich anhand der kleinen Schilder zu orientieren. Erleichtert, endlich am Ziel zu sein überquerte sie ein letztes Mal die Straße. Die Füße taten ihr weh, und in ihrem Magen bohrte der Hunger ein Loch. Als sie schnell vor einer Kutsche auf den Gehsteig sprang, scheuten die Pferde.

«Deppert’s Flitscherl!», schrie ihr der Kutscher hinterher. «Scher di zum Deifi!»

Scher dich zum Teufel, dummes Flittchen. Der Ton hier ist jedenfalls nicht sehr städtisch, dachte Antonia. Sie hatte erwartet, dass die Leute hier alle unglaublich höflich wären, aber das hier unterschied sich nicht sehr von dem, was sie gewöhnt war. Dafür waren die Straßen tatsächlich sehr sauber. Marius hatte erzählt, dass München eine moderne Kanalisation besaß, wie nur wenige Städte sie hatten. Wobei sie nicht so recht wusste, wozu man so etwas brauchte. Bei ihr zu Hause hatte jedes Haus sein Toilettenhäuschen im Hof, und die Hinterlassenschaften landeten wie alles, was nicht mehr gebraucht wurde, auf dem Misthaufen. Feines Benehmen wäre nützlicher als so ein Kanalsystem, dachte sie.

Während sie Quirin Riedleitners Namen an der Tür suchte, hatte sie das Gefühl, das Leben in ihren Adern prickeln zu spüren. Ein Gefühl der Freiheit, wie sie es nie gekannt hatte und das stärker war als ihre Sorgen. Es war Zeit, ein neues Leben anzufangen. Hopfen und Bier hatten ihr nur Unglück gebracht. Sie hatten ihre Familie verarmen lassen, die Gier der reicheren Nachbarn geweckt und schließlich zum Bruch mit ihrer Familie geführt. Es war gut, dass sie damit nichts mehr zu tun hatte.

Antonia entdeckte keinen Namen, also öffnete sie das große Tor.

«Herr Riedleitner?»

Ihre Stimme hallte in dem gemauerten Durchgang zu einem von hohen Mauern umschlossenen Innenhof. Niemand antwortete. Nur ein paar Kinder, die an der Kellertreppe in der hinteren Ecke des Hofs spielten, sahen sie mit großen Augen an. Schwarz verschmiert, wie sie waren, führte die Treppe wohl zum Kohlenkeller. Und der musste gut gefüllt sein, dachte sie mit einem Anflug von Neid.

«Ich will zu Quirin Riedleitner», wiederholte sie. «Könnt ihr mir sagen, wo er wohnt?»

Einer der älteren Jungen fasste sich ein Herz. Er zeigte stumm mit dem Finger auf eine schiefe Holztür neben der Kellertreppe. Sie schien zu einer Wohnung im Souterrain zu führen.

«Danke.»

Die Tür öffnete sich nicht sofort, obwohl Antonia mehrmals geklopft hatte. Das gab ihr mehr Zeit, als ihr lieb war, den Eingang zu betrachten: Verdorrte Blumen standen auf dem Mäuerchen, das den Eingang von der Treppe zum Kohlenkeller trennte. Zeichen- und Malutensilien, die offenbar nicht mehr gebraucht wurden, stapelten sich neben der Tür: eine zerbrochene Staffelei, Pinsel ohne oder mit verklebten Borsten, abgeknickte Bleistifte. Daneben leere Flaschen, die mit einiger Sicherheit alkoholische Getränke enthalten hatten. Sie klopfte noch einmal.

Irgendwo im Innern fiel etwas um. Eine Männerstimme fluchte. «Sakrament!»

Dann hörte man ungelenke Schritte, und wieder fiel etwas um.

Endlich ging die Tür auf.

Ein junger Mann mit wilden schwarzen Locken und dunkel geränderten Augen blinzelte ins Licht. Sein Hemd war locker und nur halb in die zu weiten Hosen gestopft, und ein Hosenträger hing herab.

Antonia räusperte sich. «Quirin Riedleitner?»

«Der schläft noch. Scheiß Absinth.»

Antonia hob die Brauen und begann sich zu fragen, ob das Bier wirklich das schlimmste aller Übel war.

«Haber», sagte der Mann und streckte ihr eine verschmierte Hand entgegen. Antonia zögerte. Er betrachtete seine Hand, zuckte die Schultern und wischte sie an der Hose ab. «Benedikt Haber. – Quirin!», brüllte er ins Innere.

Ein dumpfer Laut.

«Geh her, Quirin, du hast Besuch. Ein Weibsbild.» Er fuhr sich durch die Locken. «Tschuldigung. Wir sind keinen Damenbesuch gewöhnt. Wir sind einfache Künstler. Also, ich bin Zeichner, genau genommen. Der Quirin malt.»

Antonia wollte gerade sagen, dass sie ein anderes Mal wiederkommen würde. Allein mit zwei Männern in einer höhlenartigen Wohnung, das war vermutlich keine gute Idee. Aber da kam der Gerufene schon an die Tür.

«Wie spät ist es?», fragte er und gähnte. Dann bemerkte er Antonia.

«Nix für ungut. Wir hatten gestern einen lohnenden Auftrag. Da haben wir es wohl ein bisschen übertrieben. Ich bin Quirin Riedleitner.»

Antonia betrachtete ihn zögernd. Blondes Haar und helle Augen, welche Farbe, war im schlechten Licht nicht zu sehen. Eigentlich ein ansehnlicher junger Mann, allerdings war er ebenfalls sehr einfach gekleidet: mehrfach geflickte Hosen und ein fleckiges Hemd, die Weste trug er noch in der Hand. Er hatte keine Schuhe, nicht einmal Strümpfe an den Füßen. Und die Höhle hinter ihm sah nicht gerade einladend aus.

Es war das offene, freundliche Lächeln von Benedikt Haber, das ihr endlich Mut einflößte.

Sie atmete tief durch. «Antonia Pacher. Ich suche meinen Onkel Marius. Marius Pacher.»

Die Wohnung war fast leer, fiel Antonia auf, als sie den Männern hinein folgte. Abgebrannte Kerzen, eine Staffelei, Papier und jede Menge Pinsel und Stifte. Das meiste davon war dicht an die beiden kleinen Fenster gerückt, die zur Straße hin Licht einfallen ließen. Ansonsten gab es nur noch ein großes Bett, in dem offenbar beide Bewohner schliefen, und einen Kohleofen, auf dem man auch kochen konnte. Sie setzten sich an einen grobgezimmerten Tisch.

«Hat er Ihnen nichts gesagt? Marius Pacher ist ausgezogen», erklärte Riedleitner.

«Ausgezogen?», fragte Antonia erschrocken.

Er schenkte ihr Wasser in einen Becher, der aussah, als wäre es schon einige Zeit her, seit er zuletzt gereinigt worden war.

«Im letzten Herbst bekam er einen Auftrag. Es klang wirklich gut, er sollte wohl in einem Privathaus die neue Herrschaft malen und konnte auch dort wohnen. Ich habe leider vergessen, wo das war …»

Scheiß Absinth?

Der andere, Benedikt Haber, musste ihre Miene richtig gedeutet haben. «Also, vielleicht können wir Ihnen trotzdem helfen. Es lässt sich doch rausfinden, wo das war.» Er versetzte seinem Bettgenossen einen Rippenstoß. «Oder nicht?»

«Sicher», beeilte sich Quirin Riedleitner zu sagen. «Ich frage im Stefanie. Die wissen alles, jeder Künstler in Schwabing geht dorthin.»

Antonia schüttelte den Kopf. «Sie müssen sich nicht bemühen. Ich kann selbst dort fragen.»

«Nein!», riefen beide wie aus einem Mund.

Benedikt fuhr sich verlegen durch seine Locken. «Also, das ist kein Ort für so ein hübsches Mädchen.»

Jetzt war es Quirin, der ihm einen Rippenstoß verpasste. «Also so ist es auch wieder nicht. Na ja, der Absinth oder das Bier kann schon mal dafür sorgen, dass sich eine Hand wohin verirrt, wo sie nichts zu suchen hat. Lassen Sie uns das besser machen.»

Diese Ritterlichkeit kannte Antonia von zu Hause nicht. Sie gefiel ihr.

«Woher hatten Sie eigentlich die Adresse?», fragte Benedikt Haber. «Der Marius hat nie viel über sein Dorf geredet. Nur, dass sein Bruder ihm den Hals umdrehen würde, wenn er wüsste, wo er jetzt ist.»

Antonia legte ihre abgegriffene Ledertasche auf den Tisch und öffnete sie. Quirin riss die Augen auf, als sie ihm Marius’ Bilder reichte.

«Ich dachte es mir gleich, als ich Sie an der Tür gesehen habe.» Er betrachtete die einfachen Zeichnungen, schüttelte den Kopf. Dann schob er seinen Hocker zurück und holte aus einer Truhe ein weiteres Bild. Eine Kohlezeichnung, aus dem Gedächtnis gezeichnet, aber ganz offensichtlich: Antonias Gesicht, mit Zöpfen und Kopftuch.

Benedikt stand mit einem vernehmlichen Kratzen der Stuhlbeine auf. «Und wo schlafen Sie heute? Es wird bald dunkel.»

Antonia riss die Augen auf. Darüber hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht. Sie hatte fest gehofft, Marius zu finden.

«Pater Florian von St. Ursula ist mir empfohlen worden. Man hat mir gesagt, er kann mir auch gegen ein Leiden helfen.»

«Ein Leiden?», wiederholte Quirin aufmerksam. Das schien sein Interesse zu wecken. «Brauchen Sie Hilfe? Ich rufe Ihnen einen Arzt, wenn Sie möchten.»

Antonia verneinte lächelnd. «Wenn Sie mir nur den Weg nach St. Ursula sagen könnten? Dort werde ich Unterkunft finden.»

Die Männer wechselten einen ratlosen Blick. Vermutlich gingen sie nicht zu oft zur Kirche. «Also, Sie könnten …», setzte Quirin an.

Antonia lachte. «Oh nein. Auf gar keinen Fall!»

Dieser Quirin hatte etwas Beunruhigendes. Und das Beunruhigendste daran war, dass es ihr gefiel.

– 3 –

Zum Glück hatte Schwabing auch Bewohner, die wussten, wo sich ihre Pfarrkirche befand. Sie lag gar nicht weit von der Ainmillerstraße hinter dem Großwirt, einem Gasthaus, an dem auch die Pferdebahn hielt. Dahinter duckte sich ein altes Pfarrhaus mit windschiefem Zaun. Der Pfarrer würde bald umziehen, es hieß, eine neue Kirche für die schnell wachsende Gemeinde würde bald geweiht werden. Offenbar trieb die Armut noch mehr Bauern in die Stadt.

Pater Florian, erfuhr Antonia von der Haushälterin, die sie ins Sprechzimmer des Pfarrhauses führte, war nicht der reguläre Seelenhirte, sondern lebte in einem nahen Kloster. Aber da die Gemeinde inzwischen so groß war, half er bisweilen aus.

«Ich kann Ihnen eine vertrauenswürdige Familie in meiner Gemeinde nennen, die Schlafmieterinnen aufnimmt», sagte Florian, als sie ihm ihr Anliegen schilderte. Er war ein kleiner, hagerer Mann in einer schwarzen Kutte, mit seltsam fischartigen, hellen Augen. Als hätte er es schon oft getan, schrieb er Namen und Adresse auf ein Blatt und reichte es ihr über den zierlichen Sekretär. «Als Schlafmieterin haben Sie für eine vereinbarte Anzahl von Stunden ein Bett. Es ist nicht besonders komfortabel, müssen Sie wissen, aber günstig. Und für den Anfang wird es wohl genügen.»

«Danke, Vater. Da ist noch etwas …»

Antonia zögerte. Es fiel ihr schwer, die Worte vor dem fremden Mann auszusprechen. «Pfarrer Matthias zu Hause hat gesagt, Sie verstehen sich auf den Exorzismus.»

Pater Florians Fischaugen zeigten zum ersten Mal etwas wie Interesse.

«Sie sind besessen? Können Sie es beschreiben?»

Antonia presste nervös die Lippen aufeinander. «Es war eine Art … Anfall. Zuerst habe ich in den Beinen nichts mehr gespürt, dann verlor ich die Kontrolle über meine Gliedmaßen. Ich glaube, ich habe auch geschrien und mich gekrümmt. Irgendwann wurde ich … nicht ohnmächtig, aber es ist alles verschwommen. Als ob ich gar nicht mehr wirklich da gewesen wäre.»

Er legte den Kopf zur Seite und fixierte sie aufmerksam. «Die Brüste recken sich nach oben? Der Kopf fällt herab?»

Je länger er sie betrachtete, desto unwohler fühlte sie sich. Es war, als ob seine Augen sie abtasteten wie kleine Hände.

«So hat man es mir erzählt», gestand sie mit gesenktem Kopf. «Der Arzt sagt, es ist die Hysterie, aber Pfarrer Matthias meint, es ist ein Dämon.»

«Pfarrer Matthias hat recht. Sie müssen sich nicht schämen», meinte der Priester milde. «Es ist der Dämon, der seine Opfer in schamlose Posen treibt. Nun sagen Sie, haben Sie mit Männern geturtelt?»

«Nein!», stieß Antonia erschrocken hervor. Sie biss sich auf die Lippen. «Nichts Schamloses, Vater, ich schwöre es. Ich … bin mir nur nicht sicher, wo die Grenze ist.»

«Wie so oft.» Pater Florian verzog nachsichtig die breiten, vollen Lippen. «Durch das Turteln mit Männern haben Sie dem Dämon die Tür geöffnet, Ihren Leib zu besetzen. Kommen Sie zur Beichte und beten Sie. Und wenn Sie Buße getan haben, kommen Sie wieder. Ich werde ihn austreiben.»

«Danke, Vater.» Antonia erhob sich und steckte den Zettel ein. Sie hätte erleichtert sein sollen. Sie hatte eine Unterkunft und Aussicht, bald geheilt zu werden.

Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass der bohrende Blick des Paters ihr bis auf die Straße folgte.

 

Familie Eder nahm sie auf die Empfehlung des Pfarrers als Schlafmieterin auf. Das bedeutete, Antonia hatte von abends zehn bis morgens fünf ein Bett in einem winzigen Verschlag, mehr nicht. Das Gestell knarzte bei jeder Bewegung, die Bettwäsche war kratzig und roch muffig. Die erste Nacht fragte sich Antonia, ob es klug gewesen war herzukommen. Es war eiskalt. Wenn sie nicht gerade die Wanzen stachen, schrie irgendwo ein Kind, oder der Familienvater zankte sich mit seiner Frau. Und als sie endlich halbwegs eingeschlafen war, kam ihre Mitmieterin von der Nachtarbeit zurück und scheuchte sie aus den Federn.

Es überraschte Antonia, dass sie gleich am ersten Tag nach ihrer Ankunft in München eine Lohnarbeit fand. Sie hatte sich keine Illusionen gemacht, aber die ersten Tage waren öde und trist und führten sie in Fabriken, wo sie den ganzen Tag wieder und wieder denselben Handgriff tat.

Knapp zwei Wochen waren vergangen, und es war fast zehn, als Antonia in ihrer Unterkunft ankam. Müde stieg sie die engen Stufen in der Mietskaserne hinauf. Hinter der Wohnungstür hörte man das Geschrei der vier Kinder ihrer Vermieter. Als sie eingelassen wurde, bestätigte sich der Eindruck: Die Diele mit dem Kachelofen war ein Chaos aus Spielzeug, Kinderfüßen und Kleidern. Um Platz zu sparen, hatte man dort auch den Esstisch aufgestellt. Sie bahnte sich ihren Weg zu der winzigen, schmucklosen Kammer. Wie üblich war es kalt, denn das einzige schmale Fenster war undicht, und das Zimmer hatte keine eigene Heizung.

Und dann war das Bett auch noch belegt.

Antonia seufzte. «Rosi», sagte sie mitleidig und rüttelte die dritte Bettmieterin sacht an der Schulter. Es fiel ihnen allen schwer, aus den Federn zu kommen, niemand schlief hier gut. «Zeit zum Aufstehen. Es ist gleich zehn.»

Doch Rosi grunzte nur wütend und schubste sie weg.

«Ich bin dran mit Schlafen», sagte Antonia.

«Hau ab, du blöde Schnall’n!»

Das ging nun aber doch zu weit.

«Aufstehen!», schnauzte Antonia nun ihrerseits. Sie war weiß Gott nicht Jesus und bereit, alles Elend der Welt auf sich zu nehmen.

Rosi fuhr aus dem Bett hoch wie eine Furie. «Halt deine Bappn!» Und unversehens landete ihre Hand in Antonias Gesicht.

Antonia schnappte nach Luft. Sie hielt sich die schmerzende Wange, dann stürzte sie sich auf ihre Bettgenossin. Und sofort rollten sich die beiden auf dem Boden.

«Aufhören!», donnerte jemand.

«Weitermachen!», rief eine Kinderstimme. «Juhu!»

Keuchend kamen die beiden Mädchen auseinander. Rosis blonde Haare waren offen und hingen wild um ihr Gesicht, und sie war noch im Nachthemd. Antonia war zwar angezogen, hatte aber Staub überall auf ihrem einzigen guten Kleid, und aus ihrem Dutt hingen Strähnen. Wie zwei begossene Pudel blickten sie zur Tür des winzigen Raums. Der Vermieter stand breitbeinig im Zimmer, neben ihm sein kleiner Sohn. Der Vater im dunklen Anzug mit Taschenuhr und Weste, den Bart gezwirbelt wie ein feiner Herr, der Kleine eine kurzbehoste Kopie davon.

Na großartig, dachte Antonia, deren Herzschlag sich fast ebenso wild anfühlte wie ihr Haar. Das konnte ja eine Nacht werden.

 

Obwohl Rosi nach ihrem Temperamentsausbruch rasch wieder zu ihrem friedlicheren Selbst zurückgefunden hatte, wälzte sich Antonia im Bett unruhig von einer Seite auf die andere. Es war kalt und zog, und hin und wieder hörte sie unten auf der Straße das Grölen der Künstler, die ihre Eingebung in der Schänke gesucht hatten. Mitten in der Nacht stand sie auf, um ihr Kopftuch um die Ohren zu binden, aber der eisige Hauch schien sogar unter die dünne Decke in ihr Nachthemd zu kriechen. Ihre Zehen waren klamm und steif.

Am Morgen war sie fast ebenso schlecht gelaunt wie Rosi am Abend zuvor. Sie fand eine Lohnarbeit beim Diener der Universität, nicht weit von Schwabing. Den ganzen Tag lang half sie beim Aufräumen und Reinigen der Hörsäle. Als sie den Schreibtisch eines Professors entstauben wollte, wurde sie unter wüsten Beschimpfungen von dem winzigen, weißbärtigen Herrn verjagt, der die Ordnung seiner Papiere gefährdet sah und wie ein wild gewordener Teckel auf sie losging. Mit seinem eigenen Äußeren geht er weit weniger sorgsam um, dachte Antonia mit einem Blick auf das nach allen Seiten abstehende graue Haar und den fleckigen Gehrock. Während sie den Staubwedel im Hörsaal schwang und die Tafel wischte, schnalzten immer wieder vorbeikommende Studenten mit der Zunge. Die ersten beiden hielt sie noch mit zusammengepressten Zähnen aus, aber beim dritten verlor sie die Geduld. Sie wirbelte herum wie eine Furie und klatschte ihm die Hand ins Gesicht. Der Bengel starrte sie mit offenem Mund an und kämpfte mit den Tränen. Weinerlich war er auch noch.

Als sie endlich auf dem Platz vor dem Hauptgebäude an der Ludwigsstraße stand, fühlte sie sich wie gerädert. Dennoch war sie erleichtert, denn sie hatte immerhin keinen weiteren Anfall erlitten. Vielleicht würde es ja nicht wiederkommen, und sie brauchte gar keinen Exorzismus.

Auf dem Heimweg fand sie sich schon besser zurecht, obwohl ihr die hohen Häuser noch immer die Sicht versperrten und die Orientierung erschwerten. Die vielen Menschen und die schönen neuen Villen, zwischen deren kerzengeraden Fronten der Herbstwind ungehindert hindurchfegte, schüchterten sie nicht mehr so ein. Sie hatte sogar angefangen, das Klingeln der Pferdebahn und das Surren und Rattern der Elektrischen zu mögen. Bisweilen führte ihr Weg unter schattigen Kastanien hindurch, aus deren golden verfärbten Blätterkronen hie und da eine der sattbraunen Früchte auf ihr im Nacken geknotetes Kopftuch herabfiel. Trotzdem ging sie gern unter den Bäumen. Die Natur war ihr vertraut.

Wie beinahe jeden Abend schlug sie den Weg zu Quirin ein. Bei ihr gab es nichts zu essen, und ein Krug Bier würde ihr guttun. Außerdem hatte er versprochen, sich nach Marius umzuhören.

Im Innenhof wand sie sich an den Kindern vorbei, die am Kohlenkeller spielten. Heute hatten sie auf den Boden Linien gezeichnet und hüpften darüber. Antonia wäre fast von einem Jungen angesprungen worden, der genau die Linie ansteuerte, auf der sie stand.

«Auf d’ Seit’n!», schrie er sie an, und schleunigst machte sie Platz. Auch am Eingang zu Quirins Wohnung herrschte das übliche Chaos, als würden die Bewohner ihren Müll einfach vor der Tür abladen. Schwämme, Farbtöpfe und leere Flaschen bildeten ein bizarres, streng riechendes Durcheinander.

Antonia schob die Tür auf und brachte einen Schwall kalte Herbstluft mit herein.

Quirin sah von seiner Staffelei auf und legte dann ein altes Tuch darüber. Er warf einen Mantel über, der aussah wie von einem Brauereikutscher geerbt, um im Gasthaus schräg gegenüber zwei Krüge Bier füllen zu lassen. Sogar ein Stück Käse hatte er noch.

«Ich werde mir die Figur ruinieren», seufzte Antonia dankbar. «Du wirst mich bald nicht mehr malen können, wenn du mich so mästest.»

Quirin schob ihr Käse und Brot über den Tisch, ein schweres, malzduftendes Brot, das er in langen, schmalen Scheiben von dem Teilstück eines wagenradgroßen Laibs abgeschnitten hatte. «Greif zu. Ist ja nicht viel.» Er warf einen Blick nach dem verhüllten Bild auf der Staffelei.

«Darf ich es sehen?», fragte Antonia, die seinem Blick gefolgt war. «Sonst sitze ich ja immer nur vor der Rückseite.»

Quirin hatte sie gleich in den ersten Tagen gefragt, ob sie ihm Modell sitzen würde, aber das Gemälde hatte er ihr noch nie gezeigt. Zögernd schob er das fleckige Tuch beiseite und ließ sie ihr Bildnis betrachten.

«Du malst mich als Madonna?»

Antonia runzelte die Stirn. Es waren ihre Züge, ihr dunkles Haar, ihre Augen. Aber es war nicht sie. Irgendetwas war anders.

Beunruhigt sah sie ihr Bildnis an. Die Madonna schien völlig unberührt zu sein von menschlichen Ängsten, von Sorgen und Leid. Von Gefühlen. Die Hände gefaltet, blickte sie stumm und ergeben unter ihrem blauen Schleier zum Himmel. Oder zu dem Maler? Das Gesicht war makellos. Nicht einmal das kleine Muttermal, das Antonia über dem linken Wangenknochen hatte, war abgebildet.

«Das … bin ich nicht», sagte Antonia mehr zu sich selbst. Sie spürte, wie Quirin zusammenzuckte, und fügte schnell hinzu: «Ich meine … es ist so schön. So gut. Es ist viel besser als ich.»

Quirin stellte sich hinter sie. «Vielleicht sehe ich etwas, das niemand sonst sehen kann.»

«Vielleicht …» Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte gesagt, dass die Menschen eher ideale Madonnen kauften als menschliche. Am liebsten hätte Antonia Quirin gebeten, das Bildnis wieder abzudecken. Es war ihr unheimlich. Die Heilige auf dem Bildnis hatte nichts Weibliches. Sie war reiner Geist, und mehr als das, sie war reine Hingabe. Sie schien der Welt, diesem Ort, an dem es Kohlenstaub gab und Gestank und Grausamkeit, seltsam entrückt, aber auf eine Weise, als würde sie damit zugleich auch Freude und den Duft von Blumen und den Anblick schöner Dinge ablehnen. Auf seltsame Weise hatte ihre Entrücktheit etwas Brutales.

«Ich bin die reine Magd. Mir geschehe, wie du gesagt hast», zitierte Quirin und bewies damit zu Antonias Überraschung, dass er die Lehren der Kirche, die er kaum besuchte, sehr gut kannte. «Was für eine Hingabe.»

Verwirrt setzte sie sich wieder. Ohne das Bild anzusehen, stopfte sie sich den letzten Käse in den Mund und nahm sich noch Brot. «Und habt ihr etwas herausgefunden?», wechselte sie das Thema.

Quirin nickte zögernd.

Antonia legte das Brot ab. «Ihr habt ihn gefunden?»

Er antwortete nicht, biss sich nur auf die Lippe.

«Er ist tot», sagte sie leise.

«Grippe», bestätigte Quirin Antonias Befürchtung. «Letzten Winter. Er war beim Dramendichter Matthias untergekommen, zwei Straßen weiter. Der hat mir alles erzählt. Es fing harmlos an, aber dann wollte das Fieber nicht aufhören. Es war kein Geld für den Arzt mehr da. Und als dann endlich genug beisammen war, war es zu spät.» Er sah sie an. «Es tut mir leid. Matthias schwört, dass es nicht seine Schuld war.»

Antonia nickte langsam. Das war es nie. Es passierte so oft, dass jemand an einem verschleppten Infekt starb, weil kein Geld für den Arzt da war. Sie konnte niemandem einen Vorwurf machen. Trotzdem tat es weh. Zu wissen, dass Marius nicht mehr lebte, traf sie fast mehr als der Tod ihres eigenen Vaters. Marius war immer so fröhlich gewesen. Er hatte sie nie geschlagen. Beim Hopfenzupfen, wenn sie die Pflanzen von ihren Stangen rissen, hatte er früher oft gepfiffen oder gesungen. Er war es, der ihr Geschichten erzählt hatte, der Lieder für sie gesungen und ihr kleine Bildchen gezeichnet hatte.

Antonia stand auf. «Danke für das Essen», sagte sie. Obwohl es alles andere als üppig gewesen war, hatte sie keinen Hunger mehr. «Aber ich glaube, ich gehe jetzt besser. Ich möchte allein sein.»

Beim Hinausgehen warf sie noch einen letzten Blick zurück auf das Bild. Und unwillkürlich zog sie die Schultern zusammen und den Mantel fester um die Schultern.

– 4 –

«Und? Noch immer glücklich als Zeichner?»

Benedikt Haber grinste. «Freilich. Ich hab mehr Spaß als du, du dotscherter Lätschenbeni. Und selber? Glücklich als Braumeister?»

«Freilich. Ich hab mehr Geld als du, du fauler Lackl.»

Einträchtig stießen die Brüder an und tranken ihr Bier. Die gegenseitigen Frotzeleien gehörten dazu, und jeder wusste, dass der andere sie nicht krummnahm. Auch wenn Benedikt sich für eine ungewisse Zukunft als Zeichner entschieden und Peter als Braumeister im Brucknerbräu den Aufstieg zu einem angesehenen Handwerker geschafft hatte.

Sie saßen in dem kleinen Wirtshaus in Giesing auf dem anderen Ufer der Isar, wo der Vater als Brauknecht und die Mutter als Schankfrau gearbeitet hatte. Hier hatten sie beide ihre Kindheit verbracht. Die dunkel getäfelten Wände ließen den Schankraum noch kleiner wirken, aber es gab einen mit Kastanien bepflanzten Garten, von dem aus man einen schönen Blick auf die Isar hatte und in einiger Entfernung die Türme des Mariendoms erkennen konnte. Es roch nach Steckerlfisch, auf Stäben gegrillten Renken, und Feuer. Obwohl Benedikt sich unter den Schwabinger Künstlern wohlfühlte, kam er immer noch gern hierher, und das lag nicht nur daran, dass ihm sein Bruder das Bier ausgab. Das Brauhaus lag am Fuße des sanft ansteigenden Hanges. Hier traf sich vom Giesinger Arbeiter bis hin zum wohlhabenden Bürger alles. Jetzt, zu dieser frühen Nachmittagsstunde, waren nur ein paar Arbeiter hier, aber die ersten verzogen sich schon ins Haus. Dunkle Wolken über dem Silberband der Isar kündigten Regen an, und vom Giesinger Berg herab wehte ein kühler, böiger Wind, der Benedikts Haare zauste.

«Was macht der Quirin?», erkundigte sich Peter. Er sah seinem Bruder nicht sehr ähnlich. Während Benedikt eher schmal war und sein Gesicht von den wilden dunklen Locken und den lebhaften braunen Augen beherrscht wurde, war Peter ein kräftiger Mann mit hellbraunem Haar. Und er tat sein Bestes, die quirlige Art seines Bruders durch Ruhe auszugleichen. «Noch immer am Weltverbessern?»

Benedikt lachte. «Der hat seine Muse gefunden.»

Peter blickte ihn überrascht an.

«Gerade vom Land gekommen», erklärte Benedikt.

«Es kommen viele zurzeit», bestätigte Peter. «Auf den Dörfern reicht’s nicht mehr zum Leben. Die Krise.» Er trank einen bemerkenswerten Schluck Bier und grinste breit. «Und ihr helft ihr, verstehe … hübsch?»

«Oh ja. Dunkle Haare, große Augen, schlank.» Benedikts Gesichtsausdruck veränderte sich von schwärmerisch zu enttäuscht, und er seufzte.

Peter tätschelte seinem Bruder mitleidig die Schulter. «Wirst schon auch noch eine Muse finden.»

Das Wetter half, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Die dunkle Wolke, die vorhin schon tief und schwarz über Fluss und Stadt gehangen hatte, entledigte sich unversehens ihrer Last, und eine Sturzflut ergoss sich über den kleinen Biergarten. Fluchend brachten die Brüder ihre Krüge in Sicherheit. Im Innern des Wirtshauses war die Luft weit weniger frisch, aber der Geruch hier drinnen war der Geruch von Benedikts Kindheit: Bier, Schweinebraten, Rotkraut und der Qualm aus dem großen Ofenfeuer.

Beide sahen zur Tür, als sie hinter ihnen noch einmal zögerlich geöffnet wurde und jemand im Rahmen stehen blieb. Er trug sein bestes Gewand, und er war es sichtlich nicht gewöhnt. Ein hübscher Junge, dachte Benedikt, der sofort in Gedanken eine Zeichnung anfertigte, mit diesen hellen Augen und dem braunen Haar. Nur ein wenig ungelenk.

«Wieder einer vom Land», bemerkte Peter. Er setzte sich an einen freien Tisch und schüttelte sich wie ein Hund, der ins Trockene kommt. Benedikt war die kleine Abkühlung ganz gelegen gekommen, er ließ sich ihm gegenüber nieder, ohne sich um die Pfütze zu kümmern, die seine derben Schuhe hinterließen.

«Tür zu, es zieht!», rief jemand, und ein paar Männer lachten.

Der Ankömmling drückte die Tür hastig zu. Dann blickte er sich unsicher um, als würde er etwas suchen.

Peter seufzte. «Kann man dir helfen?»

Sichtlich erleichtert kam der junge Mann an den Tisch. «Ich suche den Wirt.»

«Ich bin der Braumeister.»

Der Ankömmling rang um Worte. Verlegen stand er vor den beiden Männern, die mit diesem Raum von Kindheit an vertraut waren, und sah sich immer wieder nervös um.

«Du suchst Arbeit?», half ihm Peter.

Der Junge nickte verschämt. «Ich wollte Braumeister werden, aber ich habe schon gemerkt, dass das schwierig ist. Aber vielleicht erst mal als Brauknecht?»

Peter musterte den jungen Mann, der nicht gerade wirkte, als könnte er schwere Bierfässer mit einer Hand balancieren.

«Ich kann noch jemanden brauchen», meinte er dann. «Ist aber keine leichte Arbeit.»

«Das macht nichts. Ich komme von einem kleinen Bauernhof, ich kann arbeiten.»

Peter zögerte.

«Ich hab meiner Mutter immer beim Bierbrauen geholfen. Einmal hab ich sogar schon mein eigenes Rezept erfunden.»

Benedikt zwinkerte seinem Bruder zu, und der wurde weich.

«Wie heißt du?», fragte er den Ankömmling seufzend.

«Sebastian.»

Benedikt nickte mit einem verstohlenen Lächeln, aber Peter gab sich dem Charme seines Bruders noch nicht geschlagen. «Bist du sicher, dass du in einer Brauerei arbeiten willst? Die Zeiten sind nicht leicht. Es ist ein aufstrebender Markt, aber geschenkt kriegst du nichts. Und hier schon gleich gar nicht.»

Für Sebastian war eine Brauerei vermutlich der Inbegriff des Reichtums. Dass er nicht verstand, worin die schweren Zeiten bestehen sollten, stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Benedikt schob ihm einen Stuhl hin. «Jetzt setz dich doch», sagte er und rief dem Schankmädel zu, noch ein Bier zu bringen – auf Peters Kosten, schließlich war der hier sozusagen zu Hause.

Sebastian setzte sich und nahm dankbar, wenn auch etwas ungeschickt das Bier entgegen. Bevor er es berührte, wischte er sich die großen Hände an der Hose ab. «Was ist denn mit der Brauerei?», fragte er.

«Ja, was ist damit?» Benedikt grinste frech. «Gerade hast du noch erzählt, dass du hier gutes Geld verdienst.»

Peter warf ihm einen finsteren Blick zu. «Der alte Meister ist tot», erklärte er. «Die Geschäfte führt jetzt die Witwe Franziska Bruckner. Sie hat es schwer, denn viele Brauer nehmen eine Frau nicht ernst. Schon gar nicht, wenn sie alleinstehend ist.»

«Hat sie nicht einen Sohn?», mischte sich Benedikt ein. «Da war doch der Melchior, und gab es nicht sogar noch einen zweiten?»

«Ja, schon. Aber der Jüngere, Vinzenz, ist noch ein Kind. Und Melchior, na ja …» Der Gedanke an Melchior Bruckner schien Peter nicht sehr zu erbauen, denn er runzelte die Stirn.

«Melchior ist zwar schon über zwanzig. Aber er hat kein wirkliches Interesse daran, das Geld zu verdienen, das er so gern ausgibt», erzählte er. «Spielt mit technischen Ideen, anstatt die Rechnungen zu machen. Die Mutter hatte ihn nach London geschickt, damit er was lernt. Aber seit er im Mai zurückgekommen ist, ist es eher schlimmer statt besser geworden. Wer es gut mit ihm meint, nennt ihn einen Feingeist. Wer es weniger gut meint, sagt arroganter Schmarotzer. Kein Wunder, dass er noch keine Frau gefunden hat. Dem ist keine gut genug, und letztlich hat er sowieso keine Lust, sein fröhliches Junggesellenleben aufzugeben. Dabei wäre das so wichtig! Die Konkurrenz schläft nicht, und wenn eine kleine Brauerei nicht mithalten kann, dann ist es ganz schnell vorbei mit dem großen Geld, und man ist wieder nichts weiter als eines von vielen Wirtshäusern, die um ihr Bestehen kämpfen.»

«Ach geh», beruhigte ihn Benedikt. Die Vorstellung, dass das Brauhaus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, diesen Weg gehen würde, erschien ihm absurd. «So übel ist der Melchior nicht. Der wird schon noch seinen Weg finden, und wenn er gar nicht will, sind die Jahre schnell um, bis der Vinzenz großjährig ist. Hat die Familie nicht das schöne neue Haus am Fluss gebaut? So schlecht können die nicht dastehen.»