Das Buch aller Bücher - Roberto Calasso - E-Book

Das Buch aller Bücher E-Book

Roberto Calasso

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Beschreibung

Das Buch aller Bücher ist der zehnte Teil eines monumentalen »work in progress«, dessen erster Teil, Der Untergang von Kasch, 1983 (deutsch 1997) erschienen ist. Es geht um die Bibel, hauptsächlich das Alte Testament. Nicht christlich, nicht jüdisch, nicht fachtheologisch, sondern um »die Bibel nach Calasso«.

Weder kritisch zerpflückend noch theoretisch vereinnahmend, sondern nüchtern und unter Kenntnisnahme der Forschung widmet sich Calassos Großessay in einer strukturierten Nacherzählung ausgewählten Teilen und Strängen der biblischen Geschichte – unter besonderer Berücksichtigung von Themen, denen der Autor von Anfang an auf der Spur gewesen ist. Vor allem dem des Opfers, dem er hier bis hin zu Jesu Tod nachgeht.

Es ist eine späte Einbeziehung der Tora, der »Kinder Israels«, Jahwes, des Monotheismus in Calassos Kosmos. Entsprechend nachdrücklich würdigt der Autor – Advokat des Polytheismus, der Welt der Mythen, des irreduzibel Vielgestaltigen – die Rolle, welche die Götter, Götzen, Idole Ägyptens und der Nachbarstämme immer wieder und über lange Zeit für das Volk Israel gespielt haben. Gerade diese Einfügung in die verwirrend vielfältig changierende Kultur- und Religionsgeschichte des Nahen Ostens erlaubt ihm, das Besondere und Einmalige Jahwes und der Geschichte Jahwes mit Israel zu identifizieren und, ausgreifend bis hin zu Freuds Der Mann Moses und Kafka, hervorzuheben.

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Seitenzahl: 716

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Titel

Roberto Calasso

Das Buch aller Bücher

Aus dem Italienischen von Marianne Schneider

Suhrkamp

Impressum

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Titel der Originalausgabe: Il libro di tutti i libri© 2019 Adelphi edizioni s. p. a. Milano

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Alle Rechte vorbehalten.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagabbildung: Ezra liest das Gesetz, Tempera auf Gips, Wandmalerei aus der Synagoge von Dura Europos, 2. Jahrhundert, Nationalmuseum Damaskus, Foto: Zev Radovan/Bridgeman Images

eISBN 978-3-518-77388-8

www.suhrkamp.de

Widmung

Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller Bücher dartun, dass es uns deshalb gegeben sei, damit wir uns daran wie an einer zweiten Welt versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.

Goethe

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

I Die Tora im Himmel

II Saul und Samuel

III David

IV Salomo

V Gottlose Höhen

VI Die weggingen

VII Mose

VIII Der unerlöste Geist

IX Die ersten Generationen

X Ezechiel sieht

XI Um den zerstörten Tempel

XII Der Messias

Quellen

Register

Informationen zum Buch

I

Die Tora im Himmel

Neunhundertvierundsiebzig Generationen vor der Erschaffung der Welt wurde die Tora geschrieben. Wie? Mit schwarzem Feuer auf weißes Feuer. Sie war Jahwes einzige Tochter. Nach dem Willen des Vaters sollte sie in fremdem Land leben. Die zelebrierenden Engel sagten zu ihm: »Warum bleibt sie nicht im Himmel?« Jahwe erwiderte: »Was geht euch das an?« Ein König kam und nahm die Tochter zur Frau. Jahwe sagte zu ihm: »Die Tochter, die ich dir gegeben habe, ist meine einzige. Ich kann mich nicht von ihr trennen. Doch kann ich auch nicht zu dir sagen, du sollst sie nicht nehmen, denn sie ist deine Frau. Gewähre mir nur das: Wohin ihr auch geht, soll ein Zimmer für mich da sein.«

In der Einsamkeit, die der Schöpfung vorausging, wurde Jahwe nur von seiner Tochter unterstützt. Sie war die Tora, das Gesetz, und sie war die Hokma, die Weisheit. Sie war die Ratgeberin, aber wirkte auch als Bildnerin: Sie berechnete die Maße, kümmerte sich darum, die Wasser zu versiegeln, zog die Grenzen im Sand, fügte die Himmel an den offenen Stellen zusammen. Manchmal war sie der aufgeschlagene Plan der Schöpfung. Und da betrachtete Jahwe sie schweigend.

Die Weisheit war die Bildnerin, war der Plan, war das Werkzeug. Aber noch häufiger stand sie Jahwe als Gehilfin zur Seite. Als sie geboren wurde, »gab es die Abgründe noch nicht«1. Die Wasser brachen noch nicht hervor. Und die Himmel mussten noch aufgehängt und zum Schweben gebracht werden. Jedes Mal, wenn etwas erschien und sich verwandelte, »war ich bei ihm und setzte alles zusammen«, »cum eo eram, cuncta componens«2, sagte die Weisheit. Niemand sollte je größeren Stolz noch größeres Staunen kennen. Während der Zyklus der Wunderwerke sich seinem Abschluss näherte, spielte die Weisheit die ganze Zeit auf dem Boden, immer vor Jahwe. Das waren die glücklichsten Momente der Schöpfung, eine ununterbrochene Freude (»delectabar per singulos dies«3), deren Ausstrahlung geschwächt und nachgeahmt die Menschenkinder erreichte.

Zusammen mit der Sühne, dem Eden, der Gehenna, dem Thron der Majestät, dem Tempel, dem Namen des Messias gehörte die Tora zu den sieben Dingen, die erschaffen wurden, bevor die Welt erschaffen wurde. Eden, das ein Garten war, schwebte an einem Ort, der dem Raum vorausging. Und so auch die Gehenna, die ein Tal war. Ihre Anwesenheit war unerlässlich, doch verstand man nicht, wie und wo sie einen Sitz haben konnten, bevor die Welt war. Während es für die Tora gleichgültig war, ob es die Welt gab oder nicht. Sie saß auf den Knien des Vaters und sang mit den zelebrierenden Engeln. Nach Hunderten von Generationen sahen einige von ihnen, als sie nach unten blickten, einen Mann, der unter Mühen einen Berg bestieg. Ein Stich Nostalgie, den Verlust vorausnehmend, ging ihnen durch und durch, und sie sagten zum Vater: »Warum willst du dieses wohl behütete Juwel einem Wesen aus Fleisch und Blut geben?« Aber es war schon zu spät.

Dass die Tora mit schwarzem Feuer auf weißes Feuer geschrieben war, bewirkte nach Nachmanides, einem Kabbalisten aus Girona, dass sie auf zwei verschiedene Weisen gelesen werden konnte: wie eine durchgehende, nicht in Worte unterteilte Schrift – das verlangt die Natur des Feuers –, oder auf die herkömmliche Weise: zusammengesetzt aus Vorschriften und Erzählungen. Im ersten Fall wurde aus der durchgehenden Schrift eine Folge von Namen. Vorschriften und Erzählungen verschwanden. Aber andere Kabbalisten von Girona gingen darüber hinaus. Warum sollte man diese Pluralität von Namen beibehalten? Die ganze Tora war als ein einziger Name zu lesen, als der Name des Heiligen. Azriel wagte zu sagen, dass die Nachkommenschaft Esaus, in der Genesis 36 aufgezählt, was im Allgemeinen für einen überflüssigen Schritt gehalten wurde, nicht grundlegend anders zu betrachten sei als die Zehn Gebote. Es handle sich um einzelne Teile desselben Baus, jeder in gleicher Weise unerlässlich.

Die Weisheit kam in Gestalt einer Wolke aus dem Mund des Vaters. »Wie eine Wolke bedeckte ich die Erde.«4 Bevor die Welt erschaffen wurde, hatte sie ihr Zelt in den Himmeln aufgeschlagen, und dort wartete sie. Sie erreichte den Vater in der »Wolkensäule«5, wo sein Thron war. Zelt und Wolkensäule sollten eines Tages zusammen erscheinen, als Mose sich vor den bestürzten Hebräern in das »Zelt der Begegnung«6 zurückzog und kurz darauf eine Wolke den Eingang versperrte. So hatte Jahwe mit Mose sprechen wollen, »von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Nachbarn spricht«7. Die Weisheit dagegen ging vom Inneren des Zeltes ins Innere der Wolkensäule. Das war der erste Schritt, der Beginn einer unaufhörlichen Reise. Von da an besuchte die Weisheit jeden Winkel des Kosmos: »Den Kreis des Himmels umschritt ich allein / und in der Tiefe der Abgründe ging ich umher. / Auf den Wogen des Meeres und auf der ganzen Erde, / in jedem Volk und in jeder Nation hatte ich Besitz.«8 Überall fand die Weisheit eine Substanz, mit der sie sich ernährte. Aber sie dachte immer an ihr Zelt. Sie wollte einen anderen Platz finden, wo sie es aufschlagen konnte. Eines Tages gab der Vater ihr ein Zeichen. »Und so ließ ich mich in Zion nieder«9, sagte die Weisheit, ihre Erzählung beendend. In demselben Land würde der Sohn, der ihr Bruder war, keinen Ort finden, »wo er sein Haupt hinlegen«10 konnte.

II

Saul und Samuel

Saul erschien, während er auf die Suche nach einigen Eselinnen ging, die sich verirrt hatten. In Begleitung eines Knechts legte er einen langen Weg zurück. Aber die Eselinnen waren nicht zu finden. Als sie nach Zuf kamen, sagte Saul zu seinem Knecht: »Mein Vater wird jetzt nicht mehr an die Eselinnen denken, sondern sich fragen, was aus uns geworden ist.«11 Wegen jener Eselinnen waren sie schon drei Tage unterwegs. Sie hatten das Efraim-Gebirge hinter sich gelassen, hatten das Gebiet von Sahalischa und dann das Gebiet von Schalim durchstreift. Von den Eselinnen keine Spur. Allmählich kannten sie sich nicht mehr aus, wussten nicht, auf welchem Weg sie zurückkehren sollten. Da sagte der Knecht, er habe von einem Seher gehört, der in Zuf wohnte. Vielleicht würde ihnen der helfen können. Saul war es recht, aber in ihren Mantelsäcken hatten sie kein einziges Stück Brot mehr. Was hätten sie dem Seher mitbringen können? Der Knecht sagte: »Mir ist noch ein Silber-Schekel geblieben. Den könnten wir dem Seher geben und ihn nach dem Weg fragen.«12 Der Text der Bibel fügt erklärend hinzu: »Einst, wenn in Israel ein Mann Elohim um Rat fragen ging, drückte er sich so aus: ›Los, gehen wir zum Seher.‹ Wer heute ›Prophet‹ heißt, wurde damals ›Seher‹ genannt.«13

Einige Mädchen waren aus dem Stadttor von Zuf gekommen, um aus dem Brunnen Wasser zu schöpfen. So geschehen die schicksalhaften Begegnungen, an einem Brunnen. So war es mit Rebekka, mit Rahel, so mit Demeter in Eleusis. Auch diesmal war eine Schar Mädchen dabei. Sie sahen die zwei Fremden, die zum Stadttor hinaufgingen. »Ist der Seher hier in der Nähe?«14, fragten die zwei Unbekannten. Die Mädchen erwiderten zuvorkommend: Sie würden ihm gleich begegnen, müssten sich aber beeilen, denn er sei dabei, die Stadt zu verlassen. Ihr müsst ihn treffen – sagten sie – »bevor er zum Mahl auf die Höhe steigt, solange er noch nicht da ist, wird das Volk nicht essen. Denn er ist es, der das Opfer segnet, danach essen die geladenen Gäste«15. Kurz darauf sah Saul aus dem Stadttor von Zuf einen Mann kommen, und den bat er: »Zeig mir doch, wo das Haus des Sehers ist.« Samuel antwortete: »Ich bin der Seher.« Und sogleich lud er Saul ein, ihm auf die Höhe zu folgen: »Heute werdet ihr mit mir essen.« Dann fügte er hinzu: »Was die Eselinnen angeht, die vor drei Tagen verloren gegangen sind, sie sind gefunden worden.«16 Für einen Priester wie Samuel besteht das erste Bedürfnis darin, zu opfern und das Opferfleisch, das gegessen wird, zu verteilen. Saul bekam die beste Portion, und Samuel sagte: »Hier der Rest, der übrig ist, sie haben ihn vor dich hingestellt: Jetzt iss! Er wurde eigens für dich aufbewahrt, als ich das Volk zum Fest einlud.«17 Die Portion ist moîra, »Schicksal«. Das Schicksal Sauls stand schon bereit, es war für ihn aufbewahrt worden. Man hatte ihn erwartet.

Für die, die nicht wissen – und alle wissen nicht –, sind die verirrten Eselinnen das, was die Begegnung zwischen Saul und Samuel möglich machte. Wenn Sauls Vater seinem Sohn nicht befohlen hätte, sie wiederzufinden, wäre Saul in seiner Familie im kleinsten Stamm Israels geblieben. Er war ein schöner junger Mann, überragte seine Altersgenossen um Haupteslänge und hatte kein Zeichen irgendeiner besonderen Berufung gezeigt. Dank der verirrten Eselinnen befand er sich eines Tages weit weg von zu Hause und wusste den Rückweg nicht. Er war bereit, den, der ihm den Weg zeigte, mit einer Silbermünze zu bezahlen.

Und in dieser Lage ließ ihn Jahwe auf Samuel treffen. Die verirrten Eselinnen waren das Mittel, das diese Begegnung ermöglichte. Denn die Eselinnen wurden wiedergefunden. Nicht von Saul, sondern – man weiß nicht wie – von Samuel selbst, dem Seher, der Saul zum ersten König Israels machen würde. Doch liebte Jahwe auch die Allegorien. Die verirrten und wiedergefundenen Eselinnen waren auch das Volk, das sich nach einem König sehnte, aber nicht imstande gewesen wäre, ihn auszuwählen, wenn der Seher nicht einen mit dem Öl gesalbt hätte, das er in einem Fläschchen bei sich hatte.

Nach dem Opferfest kehrten sie in die Stadt zurück. Samuel ließ auf dem Dach seines Hauses ein Bett für Saul aufstellen. Dann weckte er ihn früh am Morgen und sagte zu ihm: »Steh auf, ich will dir das Geleit geben.«18 Miteinander gingen sie hinaus aus der Stadt. Samuel sagte zu Saul, er solle den Knecht vorausschicken. Er aber musste stehen bleiben. Er sollte das Wort Gottes hören. Samuel zog ein Fläschchen mit Öl hervor, das er Saul über den Kopf schüttete. Er sagte, Jahwe habe ihn »zum Haupt seines Volkes gesalbt«19. Sie waren allein, kurz nach dem Morgenrot. Dann sagte Samuel zu Saul, er solle nun aufbrechen. Er deutete drei Geschichten an, die ihm widerfahren würden. Die erste betraf die verirrten Eselinnen. In Zelzach würden in der Nähe von Rebekkas Grab zwei Unbekannte zu ihm sagen, die Eselinnen seien wiedergefunden worden. Und so geschah es. Der Vater, sagten sie, denke nicht mehr an sie, sondern sorge sich um seinen Sohn, der nicht zurückgekehrt sei.

Auch die anderen vorausgesagten Geschichten wurden schnell wahr. Es waren die »Zeichen«, hatte Samuel gesagt. Und hinzugefügt: Von jetzt an »wirst du nach dem handeln, was sich dir bieten wird«20. Das war eine mächtige Regel. Die Zeichen erschienen, und Saul begriff, was Samuel zu ihm gesagt hatte: »Du wirst in einen anderen Mann verwandelt werden.«21

Wer ihn vorher gekannt hatte, wollte nicht daran glauben. Wie sollte Saul, der Sohn von Kisch, der schöne, große Saul sich jetzt wie ein nabi, ein »Prophet« aufführen? Sollte tanzen und zum Klang von Harfe und Tamburin reden? Sie sagten: »Was ist denn mit dem Sohn von Kisch passiert? Gehört jetzt auch Saul zu den Propheten?«22 So entstand ein leicht spöttisches Sprichwort, das immer noch verwendet wird: »Gehört auch Saul zu den Propheten?«

Als Saul aufgehört hatte, Prophezeiungen zu äußern, begegnete er seinem Onkel. Er schien wieder derselbe geworden zu sein, der er vorher war. In nichts unterschied er sich mehr von dem, der er vor seinem Aufbruch gewesen war. Der Onkel wollte nur wissen, wo Saul mit seinem Knecht abgeblieben war. »Die Eselinnen suchen«, sagte Saul. »Aber sie waren nicht zu finden«, fügte er hinzu. »Da sind wir zu Samuel gegangen.« »Und was hat Samuel zu dir gesagt?«, bohrte der Onkel weiter. »Dass die Eselinnen gefunden worden seien«, sagte Saul. »Die Rede vom Königtum verriet er ihm aber nicht«23, heißt es im Text der Bibel genau.

Nur Samuel wusste, dass Saul der König von Israel war. Jetzt musste es auch das Volk erfahren. Samuel rief es in Mizpa zusammen. Er erinnerte alle daran, dass sie einen König verlangt und damit Jahwe zurückgewiesen hätten, Jahwe, »der euch vor allen Übeln und allen Ängsten rettet«24. Sie hatten zu sagen gewagt: »Du musst einen König über uns einsetzen.«25 Dann tretet vor Jahwe hin, hatte Samuel schroff angefügt.

Alle Stämme waren anwesend. Sie warfen das Los, denn so erging Jahwes Urteil. Das Los fiel auf den Stamm Benjamin. Jetzt musste die Sippe ausgelost werden. Die Sippe Matri wurde gezogen. Jetzt musste ein Mitglied der Sippe ausgelost werden. Alle waren versammelt. Aber Saul war nicht da. Sie fragten Jahwe, ob jemand fehle. Jahwe sagte: »Er hat sich beim Gepäck versteckt.«26 Da trat Saul hervor. Er überragte alle, die um ihn herumstanden. Samuel sagte: »Es gibt im ganzen Volk keinen wie ihn.«27 Da jubelte das Volk Saul zu. Er wurde der erste König Israels.

Saul versteckte sich beim Gepäck, darin Harpo Marx ähnlich, weil ihn der Schrecken der Wahl gepackt hatte. Ein Schrecken, den sein Volk mehr als alle anderen Völker im Lauf der Geschichte zu spüren bekommen würde. Es war der Schrecken angesichts des Zufalls, des Schicksals, das ihn im nächsten Augenblick würde auswählen können. Saul aber wusste, dass die Wahl in dem Augenblick, als Samuel ihn salbte, schon getroffen war. Doch da waren sie allein gewesen. Niemand hatte sie gesehen. Niemand wusste davon. Der Zufall und das Schicksal fielen in ihm zusammen. Eine bedrückende Verbindung. Nie mehr würde er atmen, ohne an etwas zu denken, wie damals, als er auf der Suche nach den Eselinnen seines Vaters gelangweilt und zerstreut auf unbekannten Wegen dahinging. Und manchmal ein paar Worte mit seinem Knecht wechselte. Sonst nichts. Nichts Vergleichbares mehr würde in seinem Leben geschehen.

Die Wahl Sauls zum König von Israel ging sehr schnell, es wurde einfach das Los gezogen. Aber der König hing in der Luft. Da machte Samuel »das Volk mit dem Königsrecht bekannt«28. Aber das reichte noch nicht. Das Recht musste niedergeschrieben werden. So »schrieb es Samuel in das Buch, das er Jahwe vorlegte«29. Hektische, unerlässliche Akte. Und alles endete in einem Buch.

Als letzter der Richter war Samuel auch der Prototyp des Priesters und Prophet vor den Propheten. Bevor er geboren wurde, weihte ihn eine wegen ihrer Unfruchtbarkeit verzweifelte Mutter dem Priestertum. Mit zwölf Jahren hörte er Jahwes Stimme, erkannte sie aber nicht. Er schlief im Halbschatten des Tempels. Er dachte, er habe die Stimme Elis, des Oberpriesters gehört. Er lief zu ihm und sagte: »Da bin ich.«30 Eli blickte ihn an und sagte: »Ich war es nicht. Geh zu Bett.«31 Es geschah noch zweimal. Dieselben Worte, dieselben Gesten. Kaum auszudenken, dass es Jahwes Stimme sein sollte. Zu jenen Zeiten war »Jahwes Wort selten, eine Vision nicht häufig«32. Aber der alte Priester Eli, Vater von zwei missratenen Söhnen, verstand, dass Jahwe gesprochen hatte. Da sagte er zu dem kleinen Samuel: »Wenn du hörst, dass dich jemand ruft, dann sage: Sprich, Jahwe, denn dein Diener hört.«33 Schweigend zog sich Samuel ein drittes Mal zurück. Dann geschah etwas, das in der Heiligen Schrift so beschrieben wird: »Jahwe trat ein und blieb stehen, wobei er wie jedes Mal rief: ›Samuel, Samuel!‹ Und Samuel sagte: ›Sprich, dein Diener hört.‹«34 Sogleich erklärte Jahwe, er werde das Haus Eli verderben, das war der Priester, mit dem Samuel aufgewachsen war und der ihn alle Gesten des Kults gelehrt hatte. Die Schande kam nicht von ihm, sondern von seinen Söhnen. Mit dreizinkigen Gabeln griffen sie jeden an, der sich mit Gaben dem Tempel näherte, und rissen ihnen die besten Stücke aus den Händen, wobei sie sich »nach der Art von Räubern«35 aufführten. Mehrmals hatten sie Frauen vergewaltigt, die »sich rings um das Zelt der Begegnung aufhielten«36. Andere sagten, sie würden sie einfach »mit Geschenken«37 verführen. Eli war alt und fettleibig, er hatte vierzig Jahre lang Recht gesprochen über Israel, aber bei seinen Söhnen scheiterte er mit seinem Wort. Bald sollte auch er gestürzt werden, verkündete Jahwe. Das geschah kurz darauf. Als er die Nachricht bekam, seine Söhne seien in der Schlacht gegen die Philister umgekommen, fiel Eli mit einem dumpfen Schlag von seinem Stuhl. Sein schwerer Körper blieb in der Türöffnung liegen. Er starb mit gebrochenem Genick.

Samuel hörte Jahwes Worte. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf bis zum Morgen. Da öffnete er, was zu seinen täglichen Obliegenheiten gehörte, die Türen von Jahwes Haus. Er fürchtete nur, der alte Eli würde ihn fragen, was er von Jahwes Stimme gehört habe, nachdem er mit ihr allein geblieben war.

Es missfiel Samuel, als die Ältesten Israels zu ihm kamen, weil sie einen König wollten. Er wusste, dass seine Söhne missraten waren, obwohl er selbst sie zu Richtern ernannt hatte. Er erinnerte sich an die Schreckenstaten von Elis Söhnen, die ebenfalls vom Vater erwählt worden waren. Aber auch das konnte Samuel nicht dazu bewegen, die Vorstellung des Königtums mit Wohlwollen zu betrachten. Nach Samuels Meinung wussten die Israeliten eigentlich nicht, was das sei, ein König. Ein König ist einer, der mehr nimmt, als er gibt. Das war der Gedanke, den Jahwe ihm eingegeben hatte. Das Volk wollte einen König, weil es Jahwe nicht mehr als Herrscher wollte. Jedoch hatte Jahwe es akzeptiert. Er hatte gesagt: »Höre ihre Stimme.«38 Es handelte sich um eine Art Abdankung, wie er erklärt hatte: »Nicht dich lehnen sie ab, sondern mich lehnen sie ab, damit ich nicht mehr über sie herrsche.«39 Jahwe verzichtete also auf die Herrschaft, selbst über dieses winzige Volk. Zuvor aber wollte er Samuel erklären, was »das Recht des Königtums«40 bedeutete. Dass es nichts Gutes war. Das musste das Volk wissen: »Er wird eure Töchter holen, damit sie ihm Salben herstellen, kochen und backen. Er wird sich das Beste von euren Feldern, von euren Weinbergen, von euren Olivenhainen nehmen, er wird es nehmen und seinen Knechten geben.«41 Bevor der König seine Untertanen beschützt, raubt er sie aus. Dies ist das Recht, welches das Volk dem Recht Jahwes vorzieht. Samuel wiederholte Punkt für Punkt, was Jahwe zu ihm gesagt hatte. Aber er überzeugte keinen. Voll Ungeduld hörten sie Samuel zu, weil sie von einem Trugbild verhext waren. Sie sagten, sie wollten sein »wie alle Nationen«42. Alle hatten einen König. Warum sollte nur Israel keinen haben? »Unser König wird über uns urteilen und wird an unserer Spitze vorrücken, er wird unsere Schlachten schlagen.«43 Das wollten sie. Einen sichtbaren, berührbaren, vielleicht habgierigen, vielleicht räuberischen Mann, aber jemanden, dem das Volk folgen kann. »Er wird unsere Schlachten schlagen.« Samuel entließ sie sofort. Er sagte, er werde sie wieder rufen, wenn er einen gefunden hätte, der ihr König sein könnte.

Damit geschah etwas Irreversibles in der Geschichte Israels und in der Beziehung Jahwes zu Israel. Es würde kein Priestervolk mehr sein, das von denen beherrscht wurde, welche die Justiz verwalteten, die Opferzeremonien leiteten und die Bundeslade bewachten. Sie würden eine Nation sein wie alle anderen: mit den Vor- und Nachteilen, den Freuden und Leiden, die ein Königreich mit sich bringt, wo alles in einem einzigen Wesen zusammenläuft: in der Person des Herrschers.

Schon ergraut, fragte Samuel, ob er bei der Ausübung des Rechts »an allen Tagen seines Lebens«44 je einen verletzt oder schlecht behandelt habe oder sich von einem habe bestechen lassen. Alle zeugten zu seinen Gunsten. Aber Samuel wollte sie auch an etwas Wesentliches aus ihrer Vergangenheit erinnern. Und wesentlich für Israel war Ägypten. Darauf bezog er sich. Allen musste gegenwärtig sein, dass Jahwe ihre »Väter aus Ägypten heraufgeholt hatte«45. Und seitdem hat Jahwe »euch mit Wohltaten überhäuft«46. Einige davon zählte Samuel auf. Aber wie immer war er rasch und fasste sich knapp. Er hatte es eilig, zum Abschluss zu kommen: »So wisset und bedenkt, wie groß das Böse ist, das ihr in Jahwes Augen begangen habt, indem ihr einen König über euch verlangt.«47 Doch gab es den König nur, weil Samuel ihn gesalbt hatte. Samuel wollte bekräftigen, dass der König an sich ein Übel ist. Einen König zu wollen, bedeutete, ein Übel zu wollen. Jahwe schickte Donner und Regen, um Samuels Worte zu bestätigen. Von da an sollte eine Folge von Königen Israels Geschichte skandieren wie die Geschichte aller Völker ringsum. Aber immer würde es jemanden geben, der an die Worte Samuels erinnerte, der das Königtum als Abstieg betrachtete, obwohl er es selbst eingesetzt hatte.

Auf der einen Seite Jahwe, auf der anderen sein Volk. Und von Mal zu Mal gab es einige Männer, die das Gesetz kannten, es anwandten und die Opfer zelebrierten. Die Könige? Eine Schwäche. So etwas brauchten die anderen. Das dachte Samuel, das war ihm an den Augen abzulesen. Derlei Gedanken begleiteten die Könige Israels stets, wie ein ätzender Schatten.

Aber was hätten sie tun sollen, wenn alles schon so verdorben war, fragten sich einige. Samuel schüttelte den Kopf. Ihr werdet deshalb nicht abgewiesen werden. Jahwe treu zu bleiben, das wird genügen. Und er fügte hinzu: »Weicht nicht von ihm ab, denn es wäre nur, um nichtigen Dingen zu folgen, die nichts wert sind und nicht retten können, weil sie nichts sind.«48 Man konnte also noch von Rettung sprechen. Da fühlten sich alle erleichtert. Und wandten sich wieder ihrem neuen König zu.

Jahwe verlangte vor allem den Abstand, befahl, sie sollten sich trennen von dem, was die Nationen machten, ob es sich nun um Ägypten oder Kanaan handelte. Die Furche des Unterschieds musste möglichst tief gezogen werden, wenn man auch wusste, dass es zahllose Rückfälle in die alten Gepflogenheiten geben würde. Deshalb war es eine solche Qual, in Israel einen König einzuführen. Einen König haben hieß sich allen anderen angleichen. Aber das israelitische Volk verlangte so sehr danach. Das Königtum war eine Herabsetzung, die der Priester Samuel schweren Herzens zuließ. Jedoch die Salbung sollte den Priestern zustehen, wie im vedischen Indien die kṣatriya von den Brahmanen hervorgebracht sein mussten.

An den unterschiedlichsten Orten und zu den verschiedensten Zeiten wurde das Königtum von den Göttern huldvoll betrachtet, als ein notwendiger Schritt auf sie zu. Deshalb wurde es heilig genannt. Für Israel war es anders. Jahwe akzeptierte es mit Ärger, nur weil das Volk sein wollte »wie alle Nationen«49. Und schon während des ersten Königreichs »hatte Jahwe bereut, Saul zum König Israels gemacht zu haben«50. Durch die ganze folgende Geschichte Israels zieht sich dieser Bruch, bald auffällig, bald kaum wahrnehmbar.

Nichts wurde über den Anfang von Sauls Herrschaft erzählt. Bis eines Tages sein Sohn Jonatan einen Anführer der Philister erschlug. Es verbreitete sich das Gerücht: »Israel ist den Philistern verhasst geworden.«51 Das war der Beginn eines Krieges, aber Israel war nicht gerüstet. »Manche versteckten sich in Höhlen, kleinen Wäldern, Felsspalten, Krypten und Zisternen.«52 Saul wartete, weil Samuel gesagt hatte, er solle sieben Tage warten. Die Tage vergingen, und Samuel erschien nicht. Saul sah, dass ihm seine Leute davonliefen. Er beschloss, das Brandopfer zu zelebrieren, das er mit Samuel hätte zelebrieren sollen. Bevor er einen unsicheren Krieg begann, lag ihm daran, »Jahwes Angesicht milder zu machen«53.

Aber Samuel erschien gleich darauf. Wieder einmal hatte er etwas zu tadeln. »Du hast dich benommen wie ein Wahnsinniger«, sagte er. »Du hast dem Befehl nicht gehorcht, den dir Jahwe, dein Gott, gegeben hat, nachdem Jahwe deine Herrschaft über Israel für immer festgesetzt hatte. Nun aber wird deine Herrschaft nicht andauern.«54 So sprach er und ging. Nie war es möglich, mit Samuel übereinzustimmen.

»Es geschah, dass am Tag der Schlacht die Männer neben Saul und Jonatan weder Schwerter noch Lanzen in den Händen hatten. Nur für Saul und Jonatan, seinen Sohn, waren welche da.«55 Inzwischen rückte eine Schar Philister im Hyänental heran. Jonatan entfernte sich vom Vater, ohne etwas zu sagen, mit einem Jungen als Waffenträger. Bei einem engen Felsdurchgang stießen sie auf die Schar der Philister. »Da kommen ja die Hebräer aus den Löchern gekrochen, in denen sie sich versteckt hielten«56, sagten die Philister, die sie gesichtet hatten. Jonatan kletterte inzwischen auf den Felsen hoch. Als er sich den Feinden gegenüber befand, schlug er sie alle nacheinander nieder. Sein Waffenträger hinter ihm tötete sie dann. Ein Haufen von zwanzig Leichen blieb auf engem Raum liegen. Die Nachricht von dem Blutbad versetzte die Vorhut der Philister in Panik. Viele Hebräer, die sich den Philistern angeschlossen hatten, kehrten um, »sie machten eine Kehrtwende, um sich den Israeliten anzuschließen, die zu Saul und Jonatan hielten«57.

Nach diesen Tagen und »an allen Tagen Sauls«58 gab es Krieg gegen die Philister. Aber da war noch ein weiterer Feind, ein blutsverwandter, denn er stammte von Esau ab. Über diesen Stamm hatte Jahwe einst Worte gesagt, die sich wie ein Feuerzeichen ins Gedächtnis gegraben hatten: »Denk daran, was Amalek dir angetan hat, als ihr unterwegs wart von Ägypten herauf.«59 Daran dachten sie ohne Zweifel: Die Amalekiter hatten Israel den Weg abgeschnitten, als es »erschöpft und kraftlos«60 war. Viele von denen, denen es am schlechtesten ging, waren zurückgeblieben und verloren gegangen. Damals hatten die Hebräer gedacht, dass die Amalekiter sie alle töten, die Karawane vom Erdboden verschwinden lassen wollten.

Samuel erschien wieder vor Saul. Er war der Mann des Gedächtnisses. Er erinnerte Saul daran, dass er nur König war, weil er, Samuel, ihn gesalbt hatte. Er erinnerte an Jahwes Worte über Amalek und sprach: »Jetzt mache dich auf, du wirst Amalek besiegen und alles, was er besitzt, dem Untergang weihen, herem, du wirst kein Mitleid mit ihm haben und wirst Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel töten.«61 Auch die Esel durften nicht davonkommen.

Saul bot sein Heer auf. Während er gegen Amalek vorrückte, forderte er die Kenniter auf, sie sollten sich entfernen. Nur auf diese Weise könnten sie sich retten, ließ er sie wissen. Denn nichts würde unbehelligt bleiben. Dann besiegte er Amalek an allen Ecken und Enden und nahm Agag, ihren König, gefangen. Er befahl, alle umzubringen »mit scharfem Schwert«62. Am Leben blieben nur der König und »das Beste vom Kleinvieh und Großvieh, die fetten und die Lämmchen, alles, was gut war«63. Während die magereren und schwächeren Tiere vernichtet, samt und sonders umgebracht wurden. Was sollte man mit den überlebenden Tieren machen? Saul und die Seinen beschlossen, diese »Erstlinge des Fluches«64 Jahwe zu opfern. Sie dachten, das würde ihn freuen. Und ohnehin wäre das Ergebnis dasselbe gewesen: der Untergang nicht nur der Amalekiter, sondern auch der ihrer Tiere.

Damit beging Saul einen folgenreichen Fehler. Er hätte als Theologe oder Metaphysiker denken müssen. Aber er war nur ein Krieger. Er begriff den riesigen Unterschied nicht zwischen dem, was Jahwe angeordnet hatte, und dem, was er, Saul, sich zu tun vornahm. Während Saul die schönsten und fettesten Tiere aus der Amalekbeute zum Opfer brachte, erschien Samuel. Saul erbebte. Samuel pflanzte sich vor Saul auf, der sofort das Bedürfnis hatte, sich zu rechtfertigen, und sprach: »Ich habe nach Jahwes Befehl gehandelt.«65 Es war, als hätte Samuel diese Worte nicht gehört. Er blickte um sich, und es sah aus, als fragte er sich etwas. Er sprach: »Was soll dieser Lärm des Kleinviehs, das mein Ohr erreicht, und auch dieser Lärm des Großviehs?«66 Saul erklärte ihm, diese Tiere seien von der Vernichtung verschont geblieben. Und es lag ihm daran zu sagen: »Die anderen wurden vernichtet.«67

Das wusste Samuel schon, hatte es aber aus dem Mund Sauls hören wollen. Seine Wut steigerte sich. Starrsinnig wollte Samuel daran erinnern, dass Saul anfangs nichts Besonderes gewesen sei, dann aber sei er nach dem Willen Jahwes König geworden. Warum hatte er ihm dann nicht gehorcht? Saul gab dem uralten Laster der Herrscher nach und verschanzte sich hinter dem Volk. Er sprach: »Ich habe Agag, den König von Amalek, mitgenommen, und Amalek dem Untergang geweiht. Aber das Volk hat von der Beute Kleinvieh und Großvieh, Erstlinge des Fluches, genommen, um sie Jahwe, deinem Gott, auf dem Gilgal zu opfern.«68 Samuel erwiderte ihm mit Worten, die wie ein Keil in die Substanz der Zeit eindrangen: »Hat Jahwe vielleicht dasselbe Wohlgefallen an Brandopfern und anderen Opfern wie an dem Gehorsam seiner Stimme gegenüber? Siehe, der Gehorsam ist mehr wert als ein Opfer und die Fügsamkeit mehr als das Fett der Widder!«69 Dann fügte er noch hinzu: »Weil du das Wort Jahwes von dir gewiesen hast, weist Jahwe dich vom Königtum zurück.«70

Das waren Worte, welche die Verstoßung bedeuteten. Saul versuchte die Wahrheit zu sagen: »Ich hatte Angst vor dem Volk und folgte seiner Stimme.«71 Er wollte Vergebung, aber Samuel kannte keine Vergebung. Er hatte ihm schon den Rücken zugewandt. Saul griff nach seinem Umhang und zerriss ihn. Samuel sagte zu ihm: »Heute hat Jahwe dir die Königsherrschaft über Israel vom Leib gerissen.«72 Konnte denn Israel ohne König bleiben? Saul nahm all seine Schuld auf sich und flehte Samuel an, ihn vor seinem Volk nicht im Stich zu lassen. Ohne ein Wort kam Samuel zurück, und »Saul warf sich vor Jahwe zu Boden«73.

Aber es war noch nicht zu Ende. Samuel sagte: »Bringt mir Agag, den König von Amalek!«74 Agag trat hinkend nach vorne. Er wusste, dass er schon tot war. Er sagte nur, jetzt sei für ihn im Tod keine »Bitterkeit«75 mehr enthalten. Samuel versäumte die Gelegenheit nicht, seine Gründe auszusprechen: »Wie dein Schwert manche Frauen ihrer Söhne beraubt hat, so wird unter den Frauen deine Mutter ihres Sohnes beraubt.« Und sogleich »schlug« der alte Samuel »Agag in Gegenwart Jahwes auf dem Gilgal in Stücke«76.

Nun blieb nichts anderes mehr übrig, als voneinander zu scheiden. Samuel ging nach Rama, Saul kehrte zurück nach Gibea. Das war ihre letzte Begegnung gewesen. »Samuel sah Saul nicht mehr bis zu seinem Todestag, denn Samuel war wegen Saul verdrossen, da es Jahwe gereut hatte, Saul zum König von Israel gemacht zu haben.«77

Im Deuteronomium heißt es: »Vergiss nicht, was dir Amalek angetan hat!«78 Diese Worte werden jahrhundertelang in den Ohren der Hebräer nachklingen als eine unheilvolle Drohung. Aber nirgends steht geschrieben: »Vergiss nicht, was du Amalek angetan hast.« Und das war nicht wenig, wenn kein Lebewesen verschont blieb. Was ihren König Agag betrifft, er hatte das Privileg, von der Hand des Priesters Samuel, der den ersten König Israels geweiht hatte, in Stücke gehauen zu werden.

Das entscheidende Wort gegen das Opfer, das eine Zäsur bedeutet hinsichtlich jeder vorhergehenden Epoche und Auffassung vom Opfer, wurde von Jesus mit einem Zitat aus Hosea ausgesprochen: »Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, hättet ihr nie Unschuldige verurteilt.«79 Jesus pflegte etwas umwälzend Neues gern als kurzen Zusatz zu einem Zitat aus der Heiligen Schrift vorzubringen. In diesem Fall beeindruckte schon die Isolierung der Worte aus Hosea, die eine radikale Ablehnung des Opfers vorwegnehmen, als könnte eine Ordnung der »Barmherzigkeit«80 die Ordnung des Opfers ersetzen. Aber was noch mehr erschüttert, sind die darauf folgenden Worte: »Hättet ihr nie Unschuldige verurteilt.« Niemand hatte sich je erkühnt, so direkt von der eventuellen Unschuld der durch das Opfer Getöteten zu sprechen. Überdies, indem er das Opfer mit dem Todesurteil über einen Unschuldigen gleichsetzte. Seit der Zeit Abrahams konnte ein Opfer bestenfalls verschont werden. Aber die Frage nach seiner Unschuld wurde nicht einmal gestellt. Das hätte nur geschehen können, wenn die Sprache des Rechts (das Urteil, die Unschuld) die Sprache des Opfers (die Opferspende, die Tötung) völlig überlagert hätte. Und wenn das geschehen wäre, hätte es zu unberechenbaren Folgen geführt – die sich in der Zeit in konzentrischen Kreisen endlos ausgebreitet hätten.

Unermesslich ist der Abstand zwischen den Worten, die Samuel zu Saul gesagt hatte, und den Worten Hoseas, wie auch zwischen den Worten Hoseas und den Worten Jesu. Samuel hatte zu Saul gesagt, er ziehe den Fluch dem Opfer vor, weil die Vernichtung aus Gehorsam zu Jahwe geschehen wäre. Auch hier geht es schon darum, die Ordnung des Opfers zu lockern, da gezeigt wird, dass es nicht unbedingt eine fromme Handlung ist. Sowohl die pure Grausamkeit als auch das pure Mitleid können dazu führen, sich von der unentwirrbar zugleich barmherzigen und erbarmungslosen Praktik des Opfers zu entfernen. Sowohl Samuel, der mit den Feinden auch die Tiere der Feinde zum Tod verurteilt und sie nicht als Opferspenden akzeptiert, als auch Jesus, der das Opfer als eine unaufhörliche Verurteilung von Unschuldigen definiert, gehen aus entgegengesetzten Richtungen gegen das Opfer vor. Doch gleichzeitig verwendeten sie beide weiterhin die Sprache und die Liturgie des Opfers.

Es war eine verhängnisvolle Entscheidung, die sich über die Zeiten hinweg auswirkt und noch nicht aufgehört hat zu wirken, als die Septuaginta (die Siebzig Übersetzer der Bibel ins Griechische) herem, »Vernichtung«, mit anáthēma, »Weihgeschenk« übersetzten. Ein weiteres Missverständnis kam hinzu, als »anathema« die Bedeutung von »Fluch« und für die Katholiken von »Kirchenbann« annahm. Aber betrachtet man diese Verzerrungen und Fälschungen im Verein, dann setzen sie sich zu einer Form zusammen; werden zu dem Rahmen, innerhalb dessen sich der Teil der Geschichte entwickelt hat, der aus den Worten entsprang, die in Athen, in Jerusalem und dort, wo die beiden Städte sich mischten, nämlich in Alexandria verwendet wurden.

Die Übersetzung von herem mit anáthēma war falsch, aber metaphysisch. Sie bringt einen nicht aufgelösten oder vielleicht nicht auflösbaren Knoten zum Vorschein. Die Übersetzung der heutigen Bibelkundigen mit interdetto, Verbot, Bann ist dagegen ausweichend und irreführend. Interdetto, Verbot, Bann implizieren Untersagung und Ausschluss, nicht Tötung. Während herem die Aufforderung bedeutet, eine Handlung bis auf den Grund auszuführen, zu vernichten, auszulöschen, was dem herem geweiht ist.

Unterschied zwischen dem hebräischen herem und dem griechischen anáthēma: Das anáthēma kann eine Kriegsbeute sein, die in einem Tempel niedergelegt wird, um dort aufbewahrt zu werden (aber es kann auch ein Dreifuß, die Krone oder das Gefäß sein, das ein Athlet gewonnen hat, oder auch die Kleider, die ein Initiand bei der Initiation getragen hat); herem ist eine Kriegsbeute, die zerstört wird – Dinge und Menschen –, weil es sonst »eine Falle für dich wäre«81. »anatithénai bedeutete nie einen Ritus, der mit der Zerstörung des geweihten Gegenstandes endet.«82

Im Gegensatz dazu ist im herem die vollkommene Zerstörung der einzige Weg, um die Gefahr der Nachahmung – oder der graduellen Angleichung – zu vermeiden. Das Bild der Falle erschien ebenfalls, wenn den Hebräern befohlen wurde, »kein Bündnis mit den Bewohnern des Landes zu schließen, das du betreten wirst, aus Angst, es könne zu einer Falle für euch werden«83.

Gegen wen wandte sich die Drohung des herem? Gegen den Feind, der am nächsten ist, könnte man sagen: »Denn Jahwes Zorn wendet sich gegen alle Nationen, / und seine Wut gegen alle ihre Heere; / er hat sie dem Untergang geweiht, / zum Abschlachten bestimmt.«84 Aber das war noch nicht genug. Der Zorn Gottes wandte sich auch gegen den Kosmos: »Das ganze Heer der Himmel wird sich auflösen. Die Himmel werden sich schließen wie eine Schriftrolle.«85 Das Ziel des herem ist, eine Leere entstehen zu lassen. Übrig bleiben werden nur da und dort einige wilde Tiere. Über die Erde werden sich spannen »die Schnur des Nichts / und das Senkblei der Leere«86.

Aber nicht nur Jesaja wütete gegen »das Heer der Himmel«, auch Jeremia sagte voraus, dass »an jenem Tag«87, dem letzten, sich die Gräber öffnen werden und die Gebeine der Könige wie der Priester und der falschen Propheten wie die aller Einwohner Jerusalems »vor die Sonne und den Mond / und das ganze Heer der Himmel« gestreut sein werden, »die sie geliebt und denen sie gedient haben / hinter denen sie marschiert sind / die sie um Rat gefragt und vor denen sie sich zu Boden geworfen haben«88. Noch ein letztes Mal werden diese Gebeine gezwungen sein, den Himmel anzuschauen. Und dann sollten sie unbeerdigt auf der Oberfläche der Erde liegen bleiben und darauf warten, zu Dünger zu werden.

Die tell, Orte, wo das Erdreich einen Wulst bildet, die im Mittleren Osten häufig vorkommen und manchmal erstaunliche archäologische Entdeckungen erlauben, entstanden häufig aus Ruinenmassen, die dann vom Sand und vom Erdreich zugedeckt wurden. Vielleicht rührten einige von der Befolgung einer Vorschrift her: »Du wirst alle Überreste in die Mitte der Plätze schaffen und die Stadt mit allen ihren Überresten verbrennen, all das für Jahwe, deinen Gott; sie soll für immer ein tell bleiben und nicht wieder aufgebaut werden. Und nichts von dem herem soll an deiner Hand haften bleiben.«89

Alles was Saul geschah, war eine Folge seiner Schuld. Außer seinem Ungehorsam, mit dem er es vermieden hatte, die Amalekiter zu vernichten, bedrückte ihn eine andere Schuld. Zu Beginn seines Königtums hatte Saul »die Zauberer und Wahrsager des Landes verwiesen«90. Die Maßnahme eines weisen und frommen Herrschers. Als aber dann die Philister Israel bedrohten und nachdem Jahwe sich nicht darum gekümmert hatte, ihm zu antworten, »weder durch die Träume noch mit den Urim noch durch die Propheten«91, hatte Saul eine Panik erfasst und er hatte zu seinen Dienern gesagt: »Sucht mir eine Zauberin, und ich werde sie um Rat fragen.«92 Irgendeine war offenbar geblieben, misstrauisch und insgeheim. Wie sollte er zu jemandem gehen und jemanden um Hilfe bitten, den er verfolgt hatte? Da beschloss er sich zu verkleiden und brach von zwei Dienern begleitet nach Endor auf. Die Hexe sagte zu ihm: »Du weißt, was Saul allen Wahrsagern und Zauberern angetan hat.«93 Und meinte damit: »Warum stellst du mir eine Falle, um mich umzubringen?«94 Saul hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu verstellen. Er schwor, dass ihr nichts Schlimmes passieren werde. Knapp und eilig sagte die Hexe: »Wen soll ich für dich rufen?« Saul erwiderte: »Ruf mir Samuel.«95 Da wusste die Hexe mit Sicherheit, dass Saul vor ihr stand. Denn im Leben Sauls geschah nichts, ohne dass Samuel drohend vor jeder Handlung stand. Saul war König und lebte doch in Angst und Schrecken. Wer sonst konnte es in solcher Abhängigkeit von Samuel aushalten? Und schon wirkte die Beschwörung. Es erschien »ein Alter mit einem Umhang«96. Saul warf sich zu Boden.

Der Geist sprach ebenso rau und schroff wie zu Lebzeiten. Er sagte zu Saul: »Warum hast du mich gestört und mich wieder heraufsteigen lassen?«97 Saul erwiderte, er könne keine Verbindung zu Jahwe herstellen, und die Philister griffen ihn an. »Du hast nicht auf die Stimme Jahwes gehört und hast die Hitze seines Zorns gegen die Amalekiter nicht in die Tat umgesetzt«98, lautete Samuels Antwort. Und er fügte wenige, noch größeren Schrecken einjagende Worte hinzu: »Jahwe ist von dir gewichen und ist zu deinem Gegner geworden.«99 Das war genug. Jahwe würde nicht mehr antworten, würde Saul aber auch nicht den verzweifelten Schritt verzeihen, dass er zu einer Zauberin Zuflucht genommen hatte, um den Weg zu ihm wiederzufinden. Welchen Schritt Saul auch tun würde, er war verurteilt und musste damit rechnen, dass sein Kopf im Tempel von Dagon aufgehängt würde. Als sich Samuels Stimme auflöste, »fiel Saul der Länge nach zu Boden; Samuels Worte jagten ihm eine große Angst ein, und er hatte keine Kraft mehr, weil er den ganzen Tag und die ganze Nacht keinen Bissen gegessen hatte«100. Zuletzt meldete sich die Hexe und sagte: »Deine Magd hat deine Stimme angehört: Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt und die Worte gehört, die du zu mir gesagt hast, aber jetzt geruhe auch du, die Stimme deiner Magd anzuhören: Möge sie ein Stück Brot vor dich hinlegen dürfen!«101 Aber Saul lehnte weiterhin ab. Dann erhob er sich und legte sich auf ein Bett. Da nahm die Hexe ein Kalb, das sie im Hause hielt, und »beeilte sich, es zu opfern«102. Diesmal nahm Saul die Speise an und aß, ebenso seine Diener. Noch in derselben Nacht gingen sie weg.

»Der Geist Jahwes war von Saul gewichen, und ein böser Geist, der von Jahwe kam, erschütterte ihn vor Angst.«103 Jahwe gibt, Jahwe nimmt. Immer waren es seine Geister, die handelten. Aber das bedeutete nicht Vergebung für diejenigen, die sie erdulden mussten.

König zu sein erlebte Saul als etwas, zu dem er verurteilt war. Es lastete auf ihm, dass Samuel, der Einzige, dem er seine Investitur verdankte, ihn verabscheute. Es lastete auf ihm das immerwährende Gefühl, eines Tages verdrängt zu werden von David, dem rothaarigen Hirten aus Betlehem, dem schönen Jungen, der doch zugleich der Einzige war, der den »bösen Geist« verjagen konnte, wenn er auf der Leier spielte. Aber in anderen Augenblicken zielte der »böse Geist« auf ihn, um ihn zu töten. Es geschah mehrere Male. Als David um die Hand seiner Tochter Michal anzuhalten wagte, befahl ihm Saul zu verschwinden. Er sollte gegen die Philister kämpfen und durfte ihm erst wieder unter die Augen kommen, wenn er hundert ihrer Penisvorhäute vorweisen konnte. Damit verpflichtete er ihn, sich töten zu lassen. Ein andermal hatte er seine Lanze auf ihn geschleudert, während er auf der Leier spielte. »Ich werde David an die Wand nageln«104, hatte Saul gesagt, es war ihm aber nicht gelungen. Trotzdem sagte er zu David »mein Sohn«105. Saul spürte, wie er Schritt für Schritt einem grauenhaften Ende entgegenging. An dem Tag, an dem drei seiner Söhne in der Schlacht getötet wurden, tötete sich Saul selbst, indem er sich mit dem Schwert durchbohrte, weil er fürchtete, gefangen genommen zu werden. Als ihn die Philister fanden, schlugen sie ihm den Kopf ab, brachten seine Waffen im Tempel der Astarte dar und hängten seinen Kopf im Tempel von Dagon auf. Sauls gewaltiger Leib wurde an die Mauern von Bet-Schean geheftet. Die Einwohner von Jabesch nahmen ihn dann ab, verbrannten ihn und bestatteten seine Knochen unter einer Tamariske.

Es gibt noch eine andere Version von Sauls Selbstmord. Saul soll sich nicht selbst getötet haben, sondern einen Amalekiter, einen Flüchtling, gebeten haben, ihn zu töten, der die Geschichte dann David erzählte und ihm zum Beweis dessen, was er sagte, ein Diadem und ein Armband Sauls überreichte. Es ist, als hätte Saul den herem stellvertretend zu Ende geführt, indem er ihn an sich selbst vollzog. Und einen Amalekiter überleben ließ, der dann die Geschichte erzählen sollte. Für die Vollendung des Werks soll David gesorgt haben, indem er diesen letzten Amalekiter töten ließ, der gewagt hatte, »die Hand zu erheben, um den Gesalbten Jahwes umzubringen«106. Auch wenn ihn der Gesalbte Jahwes selbst darum gebeten hatte.

Als Saul David befohlen hatte, gegen die Philister in die Schlacht zu ziehen, wusste David, dass diese Worte einem Todesurteil gleichkamen. Aber er ließ sich nichts anmerken. Dann entfernte er sich mit seinen Mannen. Saul sah ihn erst an dem Tag wieder, an dem David mit zweihundert Penisvorhäuten von Philistern vor ihm stand. David hatte übertreiben wollen, damit klar hervortrat, wie groß seine Liebe zu Michal war. Auf einem riesigen Tablett lagen die Fetzen verstümmelten Fleisches ausgebreitet. Saul sah finster drein. Ein düsterer Wahn ging seit Langem in ihm um. So hatte er geträumt, auf diesem Tablett würde ihm der Kopf von David selbst gezeigt. »Die Hand der Philister, die Hand der Philister …«107, hatte man ihn oft murmeln hören. Jene Hand sollte eines Tages David den Kopf abschneiden, so wie David Goliat den Kopf abgeschnitten hatte, danach lechzte er.

Die Auserwählten sind nie einfach diejenigen, welche Verdienste anhäufen. Wenn dem so wäre, bestünde die Welt in einem unaufhörlichen, langweiligen Unterricht in Moral. Mit ihrer obsessiven Konzentration auf das, was Erwähltsein impliziert, entfesselt die Bibel eine ungeheure romanhafte Spannung. Erwählt ist der, welcher bewirkt, dass die Geschichten vorangehen – und mit ihnen die Geschichte. Aber damit ist nicht gewährleistet, dass die Erwählten immer das Gute tun, noch dass sie untereinander verbündet sind. Saul und David waren beide Erwählte, aber Saul versuchte lange Zeit auf verschiedene Weise, David zu töten. Und gleichzeitig war er unwiderstehlich von ihm angezogen.

Von Anfang an hatte Saul David als einen Eindringling betrachtet. Es war ihm nicht klar, an welchem Platz unter seinen Leuten der rothaarige, junge Hirt stand, denn schon begannen diese, sich in konzentrischen Kreisen um ihn aufzustellen wie an jedem Hof. David war von einer unsichtbaren Schutzhülle umgeben, dank der geheimen Protektion Samuels. Und zugleich spürte man in ihm etwas Alarmierendes, dem man keinen Namen zu geben wagte. David war kein Einzelner. Er war schon ein Stamm.

Auch David hatte Saul geliebt, der versucht hatte, ihn zu töten. Er hatte dessen Sohn Jonatan geliebt, der David »liebte wie sich selbst«108. Als Vater und Sohn am gleichen Tag kämpfend starben, trauerte David um beide – und verfasste eine Totenklage, die einer der ersten poetischen Texte auf Hebräisch ist. Er nannte sie »liebreich und lieb, / nie getrennt im Leben und im Tod«109, und nur über Jonatan fügte er hinzu: »Deine Liebe war für mich wunderbarer / als die Liebe der Frauen.«110

Was zwischen David und Saul und zwischen ihren Söhnen vorherrschte, wusste man nie: War es Liebe oder Hass. Saul war schon einige Zeit tot, und David hatte mit knapper Not seinen Sohn Abschalom überlebt, der versucht hatte, ihn zu entthronen. Als die Gibeoniter erklärten, sie warteten noch auf die Gelegenheit, sich an Saul und seinem Haus zu rächen, wollte David ihnen sofort Genugtuung verschaffen, denn er wollte sie als Verbündete haben. Es ließ sieben Söhne von Saul einfangen und übergab sie den Gibeonitern, »die sie auf dem Berg im Angesicht Jahwes erhängten«111.

Aber als David erfuhr, dass Rizpa, Sauls Konkubine und Mutter von zweien seiner Söhne, dafür gesorgt hatte, dass die Leichen der sieben Erhängten bedeckt wurden, damit sie nicht von den Raub- und den nächtlichen Tieren in Stücke gerissen würden, wollte er, dass ihre Knochen mit denen des Vaters und Jonatans vereint würden. Er selbst brachte ihre Überreste in das Land Benjamins und bestattete sie im Grab von Kisch, Sauls Vater, der seinem Sohn eines Tages befohlen hatte, auf die Suche nach den verlorenen Eselinnen zu gehen.

III

David

Samuel hörte nicht auf, sich zu grämen, weil er an Saul dachte, der nun schon sein Königtum eingebüßt hatte. Aber Jahwe rüttelte ihn auf. Er sagte ihm, er solle sein Horn mit Öl füllen und zu Isai nach Betlehem gehen, zu Isai. »Ich habe mir einen von seinen Söhnen als König auserwählt«112, fügte Jahwe hinzu.

Samuel nahm es genau. Einen nach dem anderen musterte er Isais Söhne, die vor ihn hintraten. Aber jedes Mal wusste er, dass nicht der Richtige vor ihm stand. Blieb noch der Kleinste, der mit Kleinviehherden auf den Weiden war. Er hieß David, »war rothaarig, hatte schöne Augen und eine schöne Gestalt«113. Jahwe befahl Samuel sofort: »Erhebe dich, salbe ihn, denn er ist es!«114 Einmal mehr war die Wahl Sache eines Augenblicks, und es fehlte die Angabe eines Grunds. »Jahwes Geist stieg auf David hernieder und blieb über David von diesem Tag an.«115 Bis zu diesem Augenblick hatte David nicht gewusst, was »der Geist Jahwes« sei.

Saul spürte in sich eine Verdüsterung durch den »bösen Geist«116. Er sehnte sich nur danach, eine gewisse Musik zu hören. Als David, der »schönäugige«117, rothaarige, blutjunge Hirt mit seiner Leier vor ihm stand, »liebte er ihn augenblicklich sehr«118 und ernannte ihn zu seinem Waffenträger. Aber dann geschah es, dass David aus seinem Denken verschwand. Er war entweder zu nahe oder inexistent. Eines Tages stand David mit »dem Kopf des Philisters«119, der Goliat hieß, vor ihm, und Saul sagte zu ihm: »Junge, wessen Sohn bist du?«120 Als sähe er ihn zum ersten Mal.

Abigajil war vorsichtig und schön, »prudentissima et speciosa«121, heißt es in der Vulgata, die Gemahlin Nabals, eines finsteren, harten Mannes, der die Welt jenseits der Weiden seiner dreitausend Schafe und seiner tausend Ziegen hartnäckig ignorierte. Manchmal dachte David an die Zeit, in der er als Hirt lebte. Man sagte ihm, Nabal bereite ein Fest zur Schur seiner Schafe vor. David schickte zur Erkundung zehn junge Männer aus, die als Gäste aufgenommen werden sollten. Die jungen Männer sollten Nabal daran erinnern, dass seine Hirten oftmals mit anderen Hirten zu tun gehabt hatten, unter denen sich David, ihr Herr, befand, und sie hatten sich nicht zu beklagen gehabt. Das war ein Trick, um auf freundschaftliche und leicht bedrohliche Weise ein Einverständnis unter Hirten zu erneuern. Nabal sah sie böse an. Wer ist denn dieser David, fragte er. Und brummte: »Heute gibt es viele Knechte, die ihren Herren davonlaufen.«122 Warum sollte er sein Brot und sein Fleisch mit ihnen teilen? Er sagte achtmal »ich« und »mein«. Die zehn jungen Männer, die Nabal beschimpft und schlecht behandelt hatte, wandten sich um und kehrten zu David zurück.

Abigajil wurde von einem Diener berichtet, welche Worte gefallen waren, und es war ihr sofort klar, dass sich ein ungeheures Blutbad ankündigte. Sie nahm »zweihundert Brote, zwei Schläuche Wein, fünf schon geschlachtete Schafe, fünf Maß geröstetes Getreide, hundert Rosinenkuchen und zweihundert Feigenkuchen und ließ sie auf die Esel laden. Dann sagte sie zu ihren Knechten: Geht voraus, und ich komme nach.«123 Nabal sagte sie kein Wort davon. Inzwischen rückte David schon mit seinen Mannen gegen Nabal vor. Er sagte: »Gott verfluche mich, wenn ich von allem, was dieser Mann hat, morgen früh auch nur einen übrig lasse, der an eine Mauer pinkelt!«124

Zwischen David und Abigajil stand ein Berg. Zwei Kolonnen bewegten sich aufeinander zu, ohne sich zu sehen: Davids Krieger und Abigajils Esel, die den Duft von Speisen ausströmten. Auf einmal stand David vor Abigajil. Und Abigajil »beeilte sich und ließ sich vom Esel herab auf ihr Gesicht fallen und verneigte sich vor David bis auf die Erde«.125 Dann sprach sie sofort, zu Davids Füßen, und gab jegliche Schuld sich selbst und ihrem dummen Gatten (dumm dem Namen und der Tat nach, sagte sie, denn Nabal bedeutete »dumm«). Ebenso geschwind wie Abigajil sich von ihrem Esel hatte fallen lassen, hatte David beschlossen, auf seine Unternehmung zu verzichten. Er sagte, Abigajils Worte seien gesegnet. Nun könne er ruhig nach Hause zurückkehren. Und fügte einen Satz hinzu, der offenbar nicht notwendig war: »Ich habe dein Gesicht geehrt«126, »honoravi faciem tuam«.

Abigajil kehrte nach Hause zurück und erzählte, was geschehen war. Während Nabal ihr zuhörte, »starb sein Herz und wurde zu Stein«127. Zehn Tage darauf war er wirklich tot. Als ihm die Nachricht überbracht wurde, »ließ David Abigajil sagen, dass er sie zur Frau nehmen würde«128. Kaum hatte Abigajil die Botschaft gehört, »warf sie sich hin und berührte mit der Nase den Boden«.129 Dann stieg sie auf einen Esel und machte sich auf den Weg, als Gefolge fünf ihrer Mägde und als Vorhut Davids Boten. »Sie wurde seine Frau. David hatte auch Achinoam aus Jesreel genommen. So wurden sie beide seine Gemahlinnen. Nun aber hatte Saul seine Tochter Michal, Frau Davids, dem Paltiel, Sohn des Lajisch, aus Gallim zur Frau gegeben.«130

Mehrmals war es geschehen, dass David in die Seelen traf, wie er Goliat mit seiner Schleuder getroffen hatte: auf die Stirn. Vor allem hatte es sich mit Saul zugetragen, wenn David, damals noch ein junger Hirt, auf der Leier spielte – und sich Saul, immer vom bösen Geist gequält, »erleichtert fühlte und es ihm besser ging, der böse Geist sich von ihm entfernte«131. Aber es geschah auch mit Jonatan, Sauls Sohn, »der sich an Davids Seele band und ihn liebte wie sich selbst«132. Dann geschah es, »dass Michal, Sauls Tochter, David liebte«133 – was schließlich vom Vater gebilligt wurde, auch wenn sich David damals immer noch »arm und verachtet«134 fühlte.

David hatte eine besondere Gabe: die Gabe, jemanden vom Sattel springen zu lassen, die Gabe, jemanden auf der Stelle und schicksalhaft in sich verliebt zu machen. Was nie so offenbar wurde wie in dem Augenblick, als die umsichtige, äußerst vorsichtige Abigajil David erblickte und vom Esel fiel, umgeben von den anderen Eseln und deren Last sorgfältig ausgewählter Speisen. Das Einverständnis war augenblicklich. David gab es zu verstehen, als er sich mit den Worten von Abigajil verabschiedete: »Ich habe dein Gesicht geehrt.«

Das Königtum kam über Israel als eine finstere Notwendigkeit, die der Lauf der Zeit unumgänglich gemacht hatte. Etwas Düsteres, Verkrampftes und Unklares begleitete diese Macht, als sie sich in Saul und David zum ersten Mal äußerte. Was auch immer sie taten, es tendierte zu todbringenden Folgen. Dabei handelte es sich manchmal um Versuche, den Befehlen Jahwes zu gehorchen. Der schrillste Misston war mit der Volkszählung erreicht. Mit gebieterischem Wort hatte Jahwe sie von David verlangt: »Geh hin und zähle Israel und Juda!«135 Warum aber hatte Jahwe die Volkszählung anordnen wollen? »Der Zorn Jahwes entflammte wieder gegen die Israeliten, und er reizte David gegen sie auf.«136 Die Volkszählung war also ein schlimmes Übel, mit dem Jahwe die Hebräer hatte schlagen wollen. Er wollte sie dadurch zwingen, schuldig zu sein. David hatte sofort gehorcht, obwohl Joab, der Oberste Heerführer, bemerkt hatte, dass es sich dabei um ein gotteslästerliches Unternehmen handelte. Aus zwei Gründen. Jede Zählung zeigt den Mächten des Bösen einen Lebenden, indem sie ihn als eine Zielscheibe isoliert. Es handelt sich also um eine Aufforderung zur Tötung. Da aber außerdem keine Zählung vollständig sein kann, wird das, was ihr entgeht, zu einer Gefahr. Wie eines Tages ein Kind, das an dem Ort geboren werden sollte, an dem David aufgewachsen war, einer Volkszählung und damit der herrschenden Ordnung entgehen würde. Aber solche Fernen konnte Davids Auge nicht erreichen. Er wollte nur Jahwe gehorchen. Neun Monate und zwanzig Tage später, als die Volkszählung abgeschlossen war und ihm die Zahlen – falsche – geliefert wurden, spürte David, dass diese Unternehmung eine Abscheulichkeit war. Er versuchte Jahwes Verzeihung zu erreichen, dafür, dass er ihm gehorcht hatte. Aber er wusste, dass es vergebens war.

Schon am nächsten Morgen erschien ihm der Seher Gad, um ihm Jahwes Worte zu übermitteln. Es gab drei Möglichkeiten – und David wurde die Möglichkeit einer Wahl zugestanden. Sieben Jahre Hungersnot, drei Monate Niederlagen durch die Feinde oder drei Tage Pest. David antwortete sofort, es sei besser durch die Hand Jahwes zu sterben als durch die Hand der Menschen. Er wählte die Pest. Es starben siebzigtausend.

Damals sah David einen Engel mit gezücktem Schwert vom Himmel kommen, der mit Wucht seine Söhne umhieb. »Jetzt sind sieben von meinen Söhnen tot«, dachte David. Inzwischen erschlug der Engel auch Gad und die anderen Ältesten, die neben ihm standen. Stets jedoch bleibt der Schrecken an einer Einzelheit hängen. Der Engel wollte sein blutiges Schwert zur Reinigung an Davids Kleid abwischen. Von dem Augenblick an spürte David ein Zittern in seinen Gliedern, das erst mit seinem Tod aufhörte.

Eine Volkszählung anzusetzen, war eine der schlimmsten Sünden, die man begehen konnte. Niemandem kam in den Sinn, sie gutzuheißen. Es herrschte sogar eine verbreitete Abscheu. Wer hatte es David geraten? Im zweiten Buch Samuel ist es Gott selbst, im ersten Buch der Chronik ist es der Satan: »Der Satan erhob sich gegen Israel und stachelte David an, Israel zu zählen.«137 In beiden Fällen ist »der Zorn Jahwes«138 vorauszusetzen, dessen Gründe aber nicht angegeben werden. David war der Schuldige, aber ein Schuldiger, der von einer mächtigen Hand geführt wurde und sich bewusst war, eine Schuld zu begehen. Als Joab mit dem Ergebnis der Volkszählung zu ihm kam, bat David sofort Jahwe, der ihn dazu angestachelt hatte, um Vergebung. »Ich habe mit meiner Tat schwer gesündigt … Ich habe mich verhalten wie ein echter Narr.«139 Nichts dergleichen würde David sagen, als er den Hetiter Urija töten oder die sieben Söhne Sauls aufhängen ließ.

Die Schuld der Volkszählung ist eine metaphysische Schuld. Sie setzt voraus, dass man erfahren kann, was man nicht erfahren darf: dass das Leben messbar ist. Wie es eines Tages verboten werden sollte, ein Feld bis an seinen Rand zu bepflanzen, so war es nicht erlaubt, die totale Anzahl der Lebenden zu wissen. Hier wurde ein so wesentliches Fundament berührt, dass eine Erklärung nicht erforderlich war. Aber die Folgen waren entsprechend.

Die eigentliche Bedingung der Volkszählung wird mit ganzer Klarheit in Exodus ausgesprochen: Jeder der Gezählten muss einen halben Schekel als »Lösegeld«, kofer, für seine Person entrichten: »Jeder, der zu den Gezählten gehört, von zwanzig Jahren und darüber, soll eine Abgabe an Jahwe entrichten. Der Reiche soll nicht mehr, der Arme nicht weniger als einen halben Schekel bezahlen, um seine Abgabe an Jahwe zu entrichten, als Sühnegeld für seine Person.«140 Dadurch sollte erneut bekräftigt werden, dass jedes Leben eine Schuld ist und freigekauft werden muss. Immer in demselben Maß, denn es ist das Leben an sich, das freigekauft werden muss – und das hat mit Reichtum und Armut nichts zu tun. Deshalb jagte die Volkszählung Angst ein. Nicht alle waren in der Lage, sich freizukaufen. Und wenn es ihnen nicht gelingen sollte? Dann konnte sich die Schuld in ein Urteil umwandeln. Mit der Volkszählung wurde jeder unerbittlich daran erinnert, dass ein anderer die Zügel seines Lebens in der Hand hatte, der sie einige Zeit lang lockerlassen, aber dann brüsk anziehen – und sie zu einer Schlinge zusammenziehen konnte.

Nach dem Tod Sauls regierte David »sieben Jahre und sechs Monate«141 in Hebron über das Haus Juda. In dieser Zeit bekam er sechs Söhne von sechs verschiedenen Frauen. Abigajil war die Mutter von Kilab, dem zweitgeborenen. Aber David hatte Michal, seine erste Frau, nicht vergessen. Um sie von ihrem Vater Saul zu erhalten, hatte er diesem zweihundert Vorhäute von Philistern präsentieren müssen, wie David sich mit peinlicher Genauigkeit erinnerte. Dann hatte ihm Saul eines Tages Michal wieder genommen, genauso, wie er sie ihm eines Tages gegeben hatte. Und Michal ist in der Bibel die einzige Frau, von der es heißt, dass sie einen Mann liebte: »Michal, Sauls Tochter, liebte David.«142 Als Abner, der furchtbare Krieger, David ein Bündnis vorschlug, um die Söhne Sauls aus dem Königreich Israel zu vertreiben, bekam er diese Antwort: »Ja, aber lasse dich nicht blicken, wenn du nicht Michal mitbringst.«143 Die inzwischen Paltiels Frau geworden war. »Ihr Mann kam mit ihr; bis Bachurim, und er weinte ihr nach. Abner sagte zu ihm: ›Geh jetzt, geh wieder nach Hause‹, und er ging nach Hause.«144 Als David Jerusalem eroberte, fügte er zu seinen Frauen verschiedene Konkubinen hinzu und bekam von ihnen weitere elf Söhne, unter ihnen Salomo.