Das unnennbare Heute - Roberto Calasso - E-Book

Das unnennbare Heute E-Book

Roberto Calasso

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Beschreibung

Roberto Calassos Essay ist in drei Kapitel gegliedert. Das dritte, zwei Seiten lang, beschreibt einen Traum Baudelaires als Präfiguration der zusammenstürzenden Zwillingstürme (9/11). Das zweite, »Die Wiener Gasgesellschaft«, durchläuft die Jahre 1933 bis 1945. Es präsentiert Zitate deutscher und ausländischer Autoren, die damals ihre Eindrücke von Nazi-Deutschland festgehalten haben (Louis-Ferdinand Céline, André Gide, Simone Weil, Klaus Mann, Walter Benjamin, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Arthur Koestler, Curzio Malaparte, Virginia Woolf, Samuel Beckett u. a.). Erläuternd führt der Autor durch ein Panoptikum, in dem Naivität immer mehr dem Entsetzen weicht. Es sind Blicke auf Deutschland außerhalb der Leitlinien deutscher Erinnerungskultur, Blicke der unmittelbaren Erfahrung.

»Touristen und Terroristen«, das theoretisch grundlegende erste Kapitel, nimmt gesellschaftskritische Motive aus Calassos letztem Buch Die Glut auf und spitzt sie zu. Gesellschaft überhaupt ist ein Gegner von metaphysischem Rang, nur metaphysische Waffen sind gegen ihn tauglich. Deren Arsenale jedoch hat die säkularisierte Gesellschaft geplündert. Sorge, in der Immanenz zu ersticken, prägt Das unnennbare Heute. Alles, was über die Gesellschaft hinaus auf ein Anderes, Jenseitiges wies, hat sie sich in pervertierter Form dienstbar gemacht: Ritus, Theologie, Metaphysik, selbst das Denken und die Sprache. Als ein Symptom dieser Situation, des »unnennbaren Heute« also, interpretiert Calasso den Terrorismus - den heutigen, insbesondere islamistischen, und den von früher. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.«

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Seitenzahl: 234

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Roberto Calasso

Das unnennbare Heute

Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider

Suhrkamp

Inhalt

I Touristen und Terroristen

II Die Wiener Gasgesellschaft

III Sichtung der Türme

Für Reimar Klein (8. 6. 1942 - 1. 2. 2018)

Quellen

Register

I Touristen und Terroristen

Das präziseste und akuteste Gefühl für einen Zeitgenossen ist, dass er nicht weiß, wohin er jeden Tag den Fuß setzt. Das Terrain bröckelt, die Linien verdoppeln sich, die Gewebe zerfransen, die Perspektiven schwanken. Dann spürt man noch deutlicher, dass man sich im »unnennbaren Heute« befindet.

In den Jahren von 1933 bis 1945 hat die Welt einen – teilweise gelungenen – Versuch unternommen, sich selbst zu vernichten. Was danach kam, war formlos, roh und sehr mächtig. Im neuen Jahrtausend ist es formlos, roh und noch mächtiger. In keinem seiner einzelnen Teile zu greifen, ist es das Gegenteil der Welt, die Hegel in die Klammer des Begriffs nehmen wollte. Es ist eine zersplitterte Welt, auch für die Wissenschaftler. Sie hat keinen eigenen Stil und benutzt alle.

Dieser Stand der Dinge könnte auch Begeisterung wecken. Begeistert sind aber nur die Sektierer, die meinen, einen Schlüssel für das, was geschieht, zu besitzen. Die anderen – die meisten – passen sich an. Richten sich nach der Werbung. Die taoistische Wandlungsfähigkeit ist die am wenigsten verbreitete Tugend. Und überall stößt man gegen die Kanten eines Gegenstands, den niemand als ganzen hat sehen können. Dies ist die normale Welt.

Auden schrieb ein kurzes, mehrstimmiges Versepos mit dem Titel Das Zeitalter der Angst, das gegen Kriegsende in einer New Yorker Bar spielt. Heute haben diese Stimmen einen fernen Klang, als kämen sie aus einem anderen Tal. Die Angst fehlt nicht, aber sie herrscht nicht vor. Was überwiegt, ist die Inkonsistenz, eine mörderische Inkonsistenz. Es ist das Zeitalter der Inkonsistenz.

Grundlage des Terrors ist die Idee, dass nur der Tötung eine sichere Bedeutung zugesprochen werden kann. Alles Übrige erscheint labil, ungewiss, unzureichend. Mit diesem Fundament verbinden sich dann die verschiedenen Motivationen, die dazu dienen, sich zur Tat zu bekennen. Und mit diesem Fundament ist auch – auf eine obskure, nur metaphysisch zu begründende Weise – das Blutopfer verknüpft. Als ob sich, von Epoche zu Epoche und an den verschiedensten Orten, ein ununterdrückbares Bedürfnis nach Tötungen geltend machte, selbst wenn sie unbegründet und unsinnig erscheinen. Ominöse Spiegelbildlichkeit zwischen Ursprung und Gegenwart. Ein verhexter Spiegel.

Der islamische Terrorismus ist sakrifikal: In seiner vollkommenen Form ist der Attentäter das Opfer. Diejenigen, die beim Attentat getötet werden, sind der begrüßenswerte Ertrag des Opfers des Attentäters. Einst war der Ertrag des Opfers unsichtbar. Die ganze rituelle Prozedur war daraufhin angelegt, einen Kontakt und eine Zirkulation zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren herzustellen. Jetzt aber ist der Ertrag des Opfers sichtbar, messbar, fotografierbar geworden. Wie die Raketen zielt das sakrifikale Attentat zum Himmel, fällt aber auf die Erde zurück. Daher überwiegen die Selbstmordattentate, bei denen die Attentäter sich selbst in die Luft jagen. Oder bei denen man jedenfalls davon ausgehen kann, dass die Attentäter am Ende getötet werden. Irgendeinen ferngesteuerten Sprengsatz explodieren zu lassen, würde der sakrifikalen Natur des Attentats widerstreiten.

Der Hauptfeind des islamischen Terrorismus ist die säkulare Welt, vorzüglich in den Formen ihres Gemeinschaftslebens: Tourismus, Veranstaltungen, Ämter, Museen, Gaststätten, große Warenhäuser, Verkehrsmittel. In diesen Fällen besteht der Ertrag des Opfers nicht nur in einer Vielzahl von Toten, sondern ihm wird eine größere Resonanz zuteil. Wie jede Opferpraktik beruht der islamische Terrorismus auf der Bedeutung. Und diese Bedeutung ist verknüpft mit anderen Bedeutungen, die alle auf dasselbe Motiv hinauslaufen: den Hass auf die säkulare Gesellschaft.

In seiner letzten Entwicklungsphase fällt der islamische Terrorismus mit der Verbreitung der Pornographie im Netz in den neunziger Jahren zusammen. Plötzlich hatten sie, leicht und ständig verfügbar, das vor Augen, was sie sich immer ausgemalt und gewünscht hatten. Und was zugleich die ganze Ordnung ihrer Regeln hinsichtlich der Sexualität aus den Angeln hob. Wenn dieser Umsturz möglich war, musste alles möglich sein. Die säkulare Welt war mit etwas Unwiderstehlichem in ihren Geist eingebrochen, was sie anzog und gleichzeitig verhöhnte und entmachtete. Ohne Waffengewalt – und vor allem, ohne zuzulassen oder zu verlangen, dass eine Bedeutung dabei sei. Aber sie würden weiter gehen. Und über die Sexualität führt nur der Tod hinaus. Ein von der Bedeutung besiegelter Tod.

Seit den Zeiten Netschajews wissen wir, dass der Terror auch andere Wege gehen kann. Damals wurde er nihilistischer Terror genannt. Heute kann man sich ein Pendant dazu vorstellen: den säkularen Terror. Zu verstehen als bloßes Verfahren, daher geeignet für Fundamentalismen jeglicher Art, die ihn für ihre jeweiligen Zwecke in eine bestimmte Richtung lenken können. Auch kann er Einzelnen dazu dienen, ihren Obsessionen freien Lauf zu lassen.

Die Kraft, die den Terrorismus bewegt und verhängnisvoll werden lässt, ist keine religiöse oder politische oder ökonomische, noch zielt sie auf Vergeltung. Sie ist der Zufall. Der Terrorismus ist das, was die noch unangefochtene Macht, die das Ganze in Funktion hält, ans Licht bringt und ihr Fundament freilegt. Gleichzeitig ist er eine vielsagende Art, in der sich in der Gesellschaft die ungeheure Weite dessen manifestiert, was sie umgibt, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen. Die Gesellschaft musste erst das Gefühl bekommen, autosuffizient und souverän zu sein, ehe der Zufall als ihr hauptsächlicher Widersacher und Verfolger auftreten konnte.

Der säkulare Terror will vor allem den Opferzwang hinter sich lassen. Zum reinen Mord übergehen. Das Ergebnis der Aktion muss vollkommen zufällig erscheinen, auf anonyme Orte verstreut. An diesem Punkt kommt als letzter Auftraggeber dieser Taten nur der Zufall in Frage. Und was macht mehr Angst: die bedeutsame Tötung oder die zufällige Tötung? Antwort: die zufällige Tötung. Denn der Zufall reicht weiter als die Bedeutungen. Angesichts der bedeutsamen Tötung kann sich das Bedeutungslose geschützt fühlen durch seine eigene Bedeutungslosigkeit. Doch angesichts der zufälligen Tötung sieht sich das Bedeutungslose besonders bedroht, eben aufgrund der eigenen Bedeutungslosigkeit. Am Ende braucht der Terror keinen kollektiven Auftraggeber mehr. Auftraggeber und Vollstrecker können zusammenfallen. Es kann sich um einen Einzelnen als losgelöste Entität handeln, ebenso wie um einen Staat oder eine Sekte, die einem Gebot folgen, das sie selbst erlassen haben: töten.

Der bedeutsame Terrorismus ist nicht die letzte Form des Terrorismus, sondern die vorletzte. Die letzte ist der zufällige Terrorismus, die Form des Terrorismus, die dem Gott der Stunde am meisten entspricht.

»Rumiyah«, »Rom«, die mehrsprachige online-Zeitschrift des ISIS, die an die Stelle von »Dābiq« getreten ist, hat schon in ihrer ersten Nummer vom September 2016, in einem Artikel mit dem Titel Das Blut des kafir, des Ungläubigen, ist euch halal, erlaubt, also vergießt es, den Weg des zufälligen Terrorismus empfohlen. Und, auf Einzelheiten eingehend, auch gleich eine erste Liste möglicher Ziele vorgeschlagen: »Der Geschäftsmann, der im Taxi zur Arbeit fährt, junge (schon geschlechtsreife) Leute, die in einem Park Sport treiben, der Alte, der nach einem Brötchen Schlange steht. Nicht nur dies: Auch das Blut eines Straßenhändlers, der Blumen an die Passanten verkauft und kafir ist, zu vergießen, ist halal.« Es gibt weder Standes- noch Altersunterschiede, mit Ausnahme des jungen Sportlers, der geschlechtsreif sein muss.

Die Gestalt des Selbstmordattentäters ist keinesfalls eine neue Erfindung. Sie erscheint im Innern des Islam in Gestalt von Hasan-i Sabbah, dem »Alten vom Berge«, von dem Marco Polo spricht, einer Figur, die in der Legende mit dem ismailitischen Strategen verschmilzt, der jahrelang von der Festung Alamut aus seine Ränke geschmiedet hatte. Den zeitgenössischen Quellen zufolge war er streng, ernst, grausam und verschlossen. »Es heißt, er sei ununterbrochen in seinem Haus geblieben, mit Schreiben beschäftigt und mit der Leitung von Operationen – so wie immer betont wird, dass er in all diesen Jahren nur zweimal sein Haus verlassen hat, beide Male, um aufs Dach zu steigen«: Das erwähnt Hodgson, der glaubwürdigste unter den Historikern, die sich mit der Sekte beschäftigt haben. Unterdessen töteten die Abgesandten des Alten vom Berge, verstreut im Reich der Seldschuken, das Hasan-i Sabbah niederwerfen wollte, mächtige Persönlichkeiten, gewöhnlich mit Dolchen, ehe sie selbst getötet wurden. Sie waren fida ’iyyan, »die, die sich opfern«, oder auch »Assassinen«, was »Haschischverzehrer« bedeutete, wie Paul Pelliot endgültig bewiesen hat.

Zwei Jahrhunderte danach, als die Festung Alamut, durch die Mongolen des Khans Hülegü wenige Jahre zuvor geschleift, nur noch eine Ruine war und die Sekte der Assassinen nur noch eine Erinnerung, hat irgendjemand Marco Polo die Geschichte des Alten vom Berge erzählt. Einige Jahre später sollte Odorich von Portenau sie unverändert wiederholen.

Beide berichten, dass der Alte vom Berg »in einem Tal zwischen zwei Bergen den schönsten und größten Garten der Welt hatte anlegen lassen«. Und »da waren Edelknaben und Jungfrauen, die schönsten der Welt, die am besten singen, auf Instrumenten spielen und tanzen konnten. Und der Alte wollte sie glauben machen, dass dies das Paradies sei.« Doch es gab eine Bedingung: »Diesen Garten durfte niemand betreten als der, den er zu einem Assassinen [italienisch: »Mörder«, A. d. Ü.] machen wollte.«

Wenn der Alte beschloss, jemanden loszuschicken, gab er ihm einen Schlaftrank und brachte den Schlummernden dann aus dem Garten hinaus. »Und wenn der Alte irgendjemanden umbringen lassen will, wählt er den Kräftigsten aus und lässt ihn denjenigen töten, den er dazu bestimmt hatte. Und sie machen es gern, um ins Paradies zurückkehren zu dürfen … Auf diese Weise kommt bei dem Alten vom Berge kein Mann, auf den er es abgesehen hat, mit dem Leben davon; und ich kann euch sagen, dass mehrere Könige, von dieser Furcht getrieben, ihm Tribut zollen.«

Der Alte vom Berg hatte seine Gäste den Geschmack des Paradieses kosten lassen. Jahrhunderte danach würde die Versicherung genügen, das Paradies sei für die Märtyrer des Dschihads bestimmt und es gebe dort Freuden im Übermaß, wie es im Koran stehe. Vorher aber müsse man die Freude des Todes entdecken.

Wie er bei Joinville und in anderen mittelalterlichen Chroniken erscheint, war der Alte vom Berge eine anerkannte und phantastisch ausgeschmückte Gestalt, wie der Priesterkönig Johannes. Man setzte voraus, dass der Leser ihn kannte. Am klarsten aber hat ihn Nietzsche begriffen: »Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinen-Orden stiessen, jenen Freigeister-Orden par excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholz-Wort, das nur den obersten Graden, als deren secretum, vorbehalten war: ›Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‹ … Wohlan, das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt … Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt?«

»Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt«: Wo hatte Nietzsche diesen fatalen Satz gelesen? In der Geschichte der Assassinen von Hammer-Purgstall, einem verwickelten, abenteuerlichen und verdienstvollen Werk, das gleich nach dem Wiener Kongress erschienen ist und von den späteren Islamwissenschaftlern einmütig missbilligt wurde: »Daß Nichts wahr und Alles erlaubt sey, blieb zwar der Grund der geheimen Lehre, die aber nur sehr wenigen mitgeteilt, und unter dem Schleier der strengsten Religiosität und Frömmigkeit versteckt, die Gemüther mit dem schon eingelegten Zügel der positiven Gebote des Islams um so straffer unter dem Joche des blinden Gehorsams zusammenhielt, je mehr zeitliche Unterwerfung und Aufopferung durch ewige Belohnung und Verherrlichung sanktioniert ward.«

Betty Bouthouls Vieux de la Montagne, ein Buch, dem Burroughs seine Obsession für Hasan-i Sabbah verdankte, hat als Motto wenige Zeilen von Nicolas de Staël, der sich drei Jahre zuvor umgebracht hatte: »Mord und Selbstmord, untrennbar und auf den ersten Blick so fern …

Mord, Schlagschatten des Selbstmords, die sich unablässig vermischen wie zwei immaterielle und entsetzlich lebendige Wolken …

Töten, indem man sich tötet …«

Die Verschwörung tritt gleichzeitig mit der Geschichte auf den Plan. Ebenso das Phantasma eines verborgenen Zentrums, das die Geschehnisse lenkt. Die Selbstmordattentate führen zu Osama bin Laden in den Höhlen von Tora Bora, der seinerseits zu Hasan-i Sabbah in der Festung Alamut zurückführt. Es gibt Formen, die nicht erlöschen. Sie wechseln, laden sich mit Bedeutungen auf, legen sie wieder ab, je nach Gelegenheit. Stets aber bleibt ein feiner Faden, der sie mit ihren Anfängen verbindet.

Wenigstens einmal war es die Natur, die denen zu Hilfe kam, die überall die shari’a durchsetzen wollen. Sogar auf den Terrorismus als Wegbereiter konnte man verzichten. Im Dezember 2004 traf der Tsunami auf eine Spitze von Sumatra, in Aceh, verwüstete alles und verschonte nur eine Moschee. Man musste wieder bei null beginnen, der Traum einer jeden Utopie. Und so kam es zu einer Enklave der shari’a. Ihre Wärter sind, gut sichtbar, die »Hüterinnen der Tugend«: »Sie haben islamgrüne Uniformen, Rohrpeitschen und Herzen aus Stein. Sie kommen vom Land und wissen genau, wie man Stadtbewohner behandeln muss. In Banda Aceh erscheinen sie gewöhnlich am Freitag, vor dem Gebet. Sie fahren mit einem Megaphon auf einem Pick-up umher, auch er von grünlicher Farbe und versehen mit der Schrift Wilayatul Hisbah: Kommando der shari’a. Viele sind es nicht, ein Dutzend, doch tauchen sie fast überall und völlig unerwartet auf.« Sie durchkämmen Cafés, Parks, Straßen, Schlafzimmer. Festnahmen und Bestrafungen erfolgen unmittelbar. Öffentliche Auspeitschungen mit Peddigrohr.

Für den islamischen Terrorismus sind eine koptische Kirche und ein großes skandinavisches Warenhaus gleich gut geeignete Ziele. Deutlich werden muss allein die Ablehnung des Westens in seinem ganzen Umfang, vom Christentum bis zur Säkularität, durch einen Organismus, der sehr viel primitiver ist als der Westen selbst. Der Hass muss auf einen einzigen, möglichst von Leben erfüllten Punkt konzentriert werden. Doch dieses Ressentiment ist nicht neu. Es war schon vor fünfzig Jahren vorhanden. Warum nimmt es erst heute diese Formen an? Das – wie vieles andere – liegt an der Disintermediation, würde ein Theoretiker des Web sofort sagen: an der Tatsache, dass die Welt dazu neigt, instantan und simultan zu werden. Wer sich tötet, indem er tötet, liefert ein hervorragendes Beispiel für Disintermediation.

Kurz bevor das Jahrtausend zu Ende ging, wurde es in den islamischen Ländern, wie fast in der ganzen übrigen Welt, möglich, sich in wenigen Sekunden den Anblick einer unbegrenzten Zahl nackter weiblicher Körper beim Vollzug des Sexualakts zu verschaffen. Mehr als in anderen Ländern war das ein extremer Affront und eine unwiderstehliche Attraktion. Und es war auch eine nachdrückliche Empfehlung, überhaupt jederlei Akt anzustreben.

Sayyid Qutb ging im November 1948 in New York an Land – voller Entsetzen, denn eine junge, halbnackte Frau hatte an der Tür seiner Kabine geklopft und Einlass begehrt. Er war ein Ministerialbeamter aus Kairo, der mit einem Stipendium nach Amerika kam, um Englisch zu lernen. Er sah sich Amerika an, reiste von einem Ort zum anderen. Dann ließ er sich in Greeley, Colorado, nieder, das ihm anfangs wie ein paradiesischer Ort vorkam. Bald aber änderte er seine Meinung und formulierte ein unwiderrufliches Verdammungsurteil über den American way of life. Er hatte an einigen Festen am Sonntagabend teilgenommen, wenn die Mensen des College geschlossen waren und die ausländischen Studenten bestimmte Kirchen aufsuchten, wo man nach dem Gottesdienst zu Abend aß und manchmal auch tanzte. Die Beleuchtung wechselte, und Qutb sah Beine in Bewegung (»nackte«, setzte er hinzu), Arme, die sich unterhakten, wogende Brüste – dabei erklang ein Lied aus einem Film mit Esther Williams. Das reichte.

Nach Ägypten zurückgekehrt, wurde Qutb bald eine wichtige Figur in der Politik. Als Nasser an die Macht kam, machte er ihn zum Leiter des Verlagskomitees für die Revolution. Lang blieb er es nicht. Im damaligen Ägypten, wie später in Algerien, gab es nur zwei Wege: entweder das Militär oder die shari’a, die dort von der Muslimbruderschaft verfochten wurde. Und Qutb repräsentierte die letztere. Schon 1954 kam er ins Gefängnis, dann wurde er entlassen und erhielt das Angebot, die Zeitschrift der Muslimbruderschaft herauszugeben. Auch diesmal dauerte es nicht lang. Er wurde wieder verhaftet. Weil er oft krank war, brachte man ihn ins Gefängniskrankenhaus, wo er zehn Jahre blieb. In dieser Zeit schrieb er einen achtbändigen Kommentar zum Koran. Sein vulkanisches Werk war aber Zeichen auf dem Weg, dessen Manuskript nach und nach aus dem Gefängnis herausgebracht wurde. Das Buch enthielt die Anweisungen für die Avantgarde, die die Welt erobern sollte, indem sie sie, im Namen des Islam, der Dschahiliyya, der verhängnisvollen »Unwissenheit«, entrisse, einem Zustand, der den Muslimen, die nicht der shari’a gehorchten, und der ganzen übrigen Menschheit gemeinsam sei. Es war für einen anderen Ägypter, az-Zawahiri, und seinen Gefährten Osama bin Laden, ebenso wie für den späteren Ayatollah Khamenei, der Leitfaden zur Aktion.

Ein weiteres Mal wurde Qutb entlassen – mit der Erlaubnis, außer Landes zu gehen. Qutb weigerte sich beharrlich. Schließlich kam er vor Gericht und wurde zum Tode verurteilt. Einer der drei Richter des Tribunals war Sadat. Als das Urteil verkündet wurde, sagte Qutb: »Ich habe mich dem Dschihad fünfzehn Jahre lang gewidmet, bis ich mir dieses Martyrium, shahadah, verdient habe.« Am 29. August 1966 wurde er bei Tagesanbruch gehängt.

Wenn an den verschiedensten Orten und in den verschiedensten Formen so viele Volksstämme Opfer zelebriert haben, dann musste es dafür einen tiefen Grund geben. Ja ein Gewirr von Gründen, die sich nie sauber trennen lassen. Sicher ist, dass die säkulare Welt sich immer geweigert hat, Opfer zu zelebrieren. Aber es war ein Teil der Vergangenheit, von dem sie nicht recht wusste, wie sie ihn loswerden konnte. Man braucht nur Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus aufzuschlagen, die in erster Linie das wiedergeben, was man damals in Zeitungen lesen oder von Versammlungen hören konnte, um festzustellen, dass man während des Ersten Weltkriegs nicht weniger von »Opfern« sprach als von militärischen Aktionen. Doch das war nicht genug. Ein weiterer Krieg war nötig – und darin ein unermessliches, grauenhaftes Unternehmen der Desinfestation, wiederum um das Opfer zu liquidieren. Aber auch dies hat nicht gereicht. Nach einer jahrhundertelangen Verschleierung, bei der es sein Wesen eingebüßt zu haben schien, als hätte die vorherige wunderbare Blüte es erschöpft, regte sich etwas im Innern des Islam und forderte mit der Stimme Sayyid Qutbs dazu auf, der Verdorbenheit des Westens und der Trübung des Islams selbst, die vor allem in der immer weiter reichenden Nachgiebigkeit gegenüber der westlichen Lebensweise bestünde, »gesunde Werte« entgegenzusetzen. So begannen einige, wenige, sich zu töten, um viele andere zu töten, so viele wie möglich.

Das Erbe des Opfers musste in etwas einmünden: Das geschah mit zwei großen Kriegen; darüber hinauszugehen, verbot dann die übergroße Zerstörungskraft der Waffen. So hat der Terrorismus die Aufgabe übernommen: vereinzelte, ubiquitäre, chronische, immer zufälligere Tötungen, die das Opferfeuer am Leben erhalten. Es ist eine genaue Umkehrung der vedischen Lehren. Aber keiner der Akteure weiß es. Wie Automaten arbeiten sie in einer Werkstatt mit einer himmlischen und einer höllischen Abteilung.

Opfer und Terrorismus treffen sich an einem Punkt, dem heikelsten: der Auswahl dessen, was geopfert werden soll. Beim Opfer ist es ein unversehrtes, makelloses Exemplar von besonderer Schönheit – oder aber ein beliebiges, austauschbares, multiplizierbares Wesen. Beim Terrorismus können es die Mächtigen sein – oder aber ein jeder, der sich in einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort befunden hat.

Es sind zwei Wege, divergent und kopräsent: die Erwählung und die Verdammung. Und zwei Reiche: die Gnade und der Zufall, irreduzible Mächte. Aus der Weise, wie sie sich überlagern, vermischen und trennen, ergeben sich zahllose Folgen von der subtilsten und der schwerwiegendsten Art, die auf alle Übrige ausstrahlen und nur den Akt der Tötung gemeinsam haben.

Um die Verwandlungen des Opfers im säkularen Zeitalter zu begreifen, muss man es durch das Wort »Experiment« ersetzen. Welches nicht nur das meint, was tagtäglich in den Laboratorien stattfindet – und schon dies würde seine ungeheuren Dimensionen bezeichnen. Experiment ist hingegen das, was die Gesellschaft tagtäglich an sich selbst vollzieht. Und hier wird die Ambivalenz des Wortes noch deutlicher, denn die beiden obersten gesellschaftlichen Experimentatoren des zwanzigsten Jahrhunderts waren Hitler und Stalin. Nicht zufällig beschwor Lenin die »Ingenieure der Seelen«. Doch ähnelten sie mehr gewissen grausamen Chirurgen, die, stets im Namen der Wissenschaft, Lobotomien vornahmen. Alles Verwüster des Unbekannten.

Im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich ein Prozess von enormer Tragweite herausgebildet, der alles erfasst hat, was als »religiös« sich bezeichnen lässt. Die säkulare Gesellschaft ist, ohne es proklamieren zu müssen, zum letzten Bezugsrahmen für jede Bedeutung geworden, fast als ob ihre Form der Physiologie einer jeden Gemeinschaft entspräche und Bedeutung nur innerhalb der Gesellschaft selbst zu finden wäre. Wobei diese die verschiedensten politischen und ökonomischen Formen annehmen kann: kapitalistische oder sozialistische, demokratische oder diktatorische, protektionistische oder liberistische, militärische oder sektiererische. Alle sind, ausnahmslos, als bloße Varianten einer einzigen Entität anzusehen: der Gesellschaft an sich. Es ist, als hätte die Einbildungskraft, nach Jahrtausenden, auf ihre Fähigkeit verzichtet, über die Gesellschaft hinauszublicken und etwas zu suchen, was den Geschehnissen innerhalb der Gesellschaft Bedeutung verleiht. Ein höchst gewagter Schritt, der das Seelenleben beträchtlich erleichtert, jedoch nie von dauerhaftem Erfolg ist. »Jenseits von Gut und Böse« zu leben, ist etwas, was auf einen unüberwindlichen Widerstand stößt. Diese Erleichterung zu bewirken – oder jedenfalls zu befördern –, ist ein entscheidendes Merkmal der Demokratie. Beibehalten kann sie es freilich nicht.

Im Unterschied zu allen anderen Regierungsformen verkörpert die Demokratie keine spezifische Doktrin, sondern eine Gesamtheit von Verfahren, von denen man erwartet, dass sie fähig sind, jede beliebige Doktrin in sich aufzunehmen, es sei denn, sie enthielte den Vorsatz, die Demokratie selbst abzuschaffen. Und dies ist ihr schwächster Punkt, wie sich im Januar 1933 in Deutschland gezeigt hat. So hat sich die säkulare Gesellschaft als hinreichend geschickt und einfallsreich erwiesen, um dieselben Mächte, die sie gerade erst aus sich verbannt hatte, unter falschem Namen wieder in sich einzulassen. Die Theologie hat sich zum Schluss in Politik verwandelt, während die eigentliche Theologie an die Universitäten relegiert wurde.

Der Prozess erstreckt sich jedoch auf alle Ebenen: Ohne den Schauer des Numinosen fehlt der säkularen Gesellschaft der Lebenswille, auch wenn das Numinose selbst ein Wort ist, das nur in akademischen Kreisen akzeptiert wird. Da sie nicht mehr, nach den Regeln eines Kanons, nennen darf, was sie verehrt, scheint die Gesellschaft zu einem neuen, schmeichlerischen Aberglauben verurteilt: dem Aberglauben an sich selbst, den wahrzunehmen und aufzulösen am schwierigsten ist. So konnte es geschehen, dass die schlimmsten Verheerungen eingetreten sind, wenn die säkularen Gesellschaften organisch werden wollten, ein immer wiederkehrendes Verlangen in Gesellschaften, die den Kult ihrer selbst entwickeln. Stets in bester Absicht. Stets um eine verlorene Einheit und unterstellte Harmonie wiederzuerlangen. Hierin waren sich Marx und Rousseau, aber auch Hitler und Lenin und selbst der Produktivist Henri de Saint-Simon einen Moment lang einig. Organisch ist wunderbar, für alle. Niemand traut sich zu sagen, dass die leidige Atomisierung der Gesellschaft auch eine Form der Selbstverteidigung gegen schlimmere Übel sein kann. In einer atomisierten Gesellschaft kann man sich leichter tarnen. Man muss nicht damit rechnen, dass die Geheimpolizei um vier Uhr morgens vor der Tür steht.

Dies alles ist geschehen infolge einer langen, schwierigen Entwicklung, die nie unterbrochen wurde, auch wenn sie sich manchmal verstellt hat. Wenn wir, mit offenkundiger Willkür und aus rein dramaturgischem Interesse, einen Anfangspunkt dieses Prozesses zu setzen hätten, dann wäre kein Bild dafür besser geeignet als das von Sparta, so wie es Jakob Burckhardt, mit seiner gewohnten Nüchternheit das Wesentliche in wenigen Worten zusammenfassend, gezeichnet hat: »Die Macht kann auf Erden einen hohen Beruf haben; vielleicht nur an ihr, auf dem von ihr gesicherten Boden können Kulturen des höchsten Ranges emporwachsen, Spartas Macht aber scheint fast nur um ihrer selbst und ihrer Behauptung willen auf der Welt gewesen zu sein, und ihr dauerndes Pathos ist die Knechtung der Unterworfenen und die Ausdehnung der Herrschaft an sich.«

Dass diese Worte Burckhardts von besonderer Bedeutung sind und sich auch auf die jüngste Geschichte und das, was heute geschieht, anwenden lassen, wird durch einen kuriosen redaktionellen Umstand bestätigt. Im Jahr 1940 veröffentlichte die Deutsche Buch-Gemeinschaft Burckhardts Griechische Kulturgeschichte in einem Band und stellte ihr eine Vorbemerkung voran, die mit »Der Verlag« unterzeichnet war und verkündete: »Wissenschaftlicher Ballast, Anmerkungen, Quellenhinweise sowie Wiederholungen und Einzelheiten in den Darstellungen, die nur den Forscher interessieren, wurden ausgeschieden. Das Werk hat dadurch an Lesbarkeit gewonnen.« Ist nun der Leser auf Seite 50 angelangt, bemerkt er, dass ein ganzer Absatz getilgt worden ist – genau der, der mit den eben zitierten Worten endet. Es empfiehlt sich, auch seine Anfangszeilen zu lesen: »Was es in der Regel kostete, damit eine Polis entstehe, wurde oben angedeutet. Spartas Erhebung kam aber die Unterworfenen ganz besonders teuer zu stehen. Man hat die Wahl zwischen allen Arten von Knechtung, Zernichtung, Verjagung.« Und Burckhardt schloss, dass ein solches gesellschaftliches Gebilde zwar etwas Großartiges habe, man aber »keine Sympathie« mit ihm empfinden könne. Ein regimetreuer deutscher Verleger (und alle waren damals regimetreu) konnte nicht dulden, dass bestimmte Tatsachen so unbeirrbar genau benannt wurden, aber »keine Sympathie« mitsprach, wie Burckhardt erklärte.

Man kann sich fragen, ob die säkulare Gesellschaft eine Gesellschaft ist, die an etwas glaubt, nicht nur an sich selbst. Oder ob sie jenen hohen Grad an Abgeklärtheit erreicht hat, der es erlaubt, auf den Glauben zu verzichten, und sich darauf beschränkt, zu beobachten, zu untersuchen, zu begreifen, in einer unendlichen und unvorhersehbaren Progression. Dieser Zustand, der Nüchternheit und Konzentration erfordert, scheint nun nicht gerade dem zu entsprechen, was jeden Tag in der unermesslichen säkularen Gesellschaft geschieht, die mittlerweile alle Kontinente erfasst hat und beständig von Turbulenzen verschiedenen Ursprungs erschüttert wird. Die an jene erinnern, die zu Zeiten der Religionskriege an der Tagesordnung waren. Welche allerdings auf einem Zusammenstoß von Glaubensüberzeugungen beruhten. Unsichtbare Heere von Theologien und Liturgien traten neben irdischen Armeen gegeneinander an. Heute wäre es hingegen unmöglich, jene Heere wahrzunehmen. Die gesellschaftlichen Konflikte haben nicht länger etwas zum Gegenstand, was sich außerhalb und oberhalb befindet, sondern die Gesellschaft selbst. Die vor allem eine ausgedehnte Oberfläche ist, die zum Eingreifen auffordert, ein Laboratorium, wo entgegengesetzte Kräfte sich wechselseitig die Leitung der Experimente zu entreißen versuchen.

Schon dieses Bild sollte genügen, um der säkularen Gesellschaft den Charakter der Einzigartigkeit zuzugestehen. Jeder Ethnograph der positivistischen Schule wusste, dass die Gesellschaften, die sein Fach zu Hunderten katalogisierte, zumindest einen Zug gemeinsam hatten: Sie glaubten an unsichtbare, autosuffiziente Mächte und Wesenheiten außerhalb der Gesellschaft, die drohend über dem Leben aller standen. Darauf jedoch erklärt die säkulare Gesellschaft verzichten zu wollen, die man, um ihren spezifischen Charakter hervorzuheben, auch experimentelle Gesellschaft nennen könnte.

Wann und wie aber hat sich diese ungewöhnliche Eigenschaft herausgebildet? Wenn es zutrifft, dass ihre Vorläufer, jedes Mal mit guten Gründen, in einer Zeit irgendwo zwischen dem Paläolithikum und der Französischen Revolution angesiedelt werden können, so gibt es doch auch hier einen Moment der Kristallisierung, in dem die vollendete Gestalt hervortritt. Man könnte ihn in die Zeit legen, die sich als die Epoche von Bouvard und Pécuchet bezeichnen ließe. Diese beiden unerschrockenen und noch immer unverstandenen Neuerer waren die ersten totalen Experimentatoren. Vor keinem Bereich menschlicher Tätigkeit sind sie zurückgescheut. Und in jeder Richtung, in der Gärtnerei ebenso wie in der Astrophysik, haben ihre Untersuchungen unauslöschliche Spuren hinterlassen. Sie wollten mit ihren Bemühungen den Weg für jedes zukünftige Experiment ebnen, das sich aber auf eine Art allumfassender Enzyklopädie stützen sollte. In ihnen kann man den Keim dessen erblicken, was eines Tages Internet heißen würde. Wenn Bouvard und Pécuchet der Titel von Gründerheroen der experimentellen Gesellschaft gebührt, so gibt es jedoch auch hier ein Buch, das als Leitfaden für die Lehre dient, wie die Paulusbriefe für das Christentum, Stalins Geschichte der KPdSU (B) – Kurzer Lehrgang für die Sowjetideologie oder Freuds Traumdeutung für die Psychoanalyse. Im Fall der Anthropologie waren es die Formes élémentaires de la vie religieuse, die Durkheim 1912 veröffentlichte.

Ein seltsames Paradox: Durkheims Buch war dem Essay, den sein Neffe Marcel Mauss dreizehn Jahre zuvor publiziert hatte, spiegelbildlich entgegengesetzt. Mauss und Hubert hatten über die »Natur und Funktion des Opfers« geschrieben – und für Mauss war es, wie für einen verkappten vedischen Seher, vor allem wichtig, die wesentlichen Züge der »Natur« des Opfers herauszustellen, ohne dabei jedoch seine gesellschaftliche »Funktion« zu verkennen. Mauss wollte herausfinden, was das Opfer ist, welche Gefahren es mit sich bringt, womit es einen Kontakt herstellt. Durkheim ging es dagegen nur um die »Funktion«: jene singuläre Tatsache, dass abstruse und betäubende Zeremonien dazu dienten, das Gleichgewicht und die Kohäsion einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Und zwar einer jeden Gesellschaft.

Durkheims Weg hat sich als siegreich erwiesen – und bildet heute ein unerschütterliches Fundament. Denn was immer ihre Methoden und welches auch ihre Schulen seien, die Anthropologie ist heute funktionalistisch oder sie existiert nicht. Auf diesem Boden gedeiht die gewöhnliche, allgemein akzeptierte Anschauung. Aber könnte es anders sein? Insofern sie die Gesellschaft erforscht, muss die Anthropologie sich als der locus electionis erweisen, wo jener höchste Aberglaube wirksam ist, der aus der Gesellschaft selber besteht.