Das Buch der Weisheit - Jorge Bucay - E-Book

Das Buch der Weisheit E-Book

Jorge Bucay

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Beschreibung

»In Wirklichkeit ist Weisheit dort zu finden, wo sich Wissen, Erfahrung, persönliche Veränderung und innere Befreiung vereinen.« Jorge Bucay Jorge Bucay geht unseren Vorstellungen von der Welt auf den Grund. Er befragt unsere kulturellen Prägungen und Mythen und regt an, lieb gewordene Überzeugungen und Gewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen. Dabei verführt er uns durch Geschichten, die wir alle zu kennen meinen, und die durch seine eigenwillige Interpretation ein verblüffend neues Gesicht erhalten. Er macht uns Mut, Fragen zu stellen, alte Denkmuster abzulegen und den Weg zu beschreiten, der von der Ignoranz zum Wissen führt.

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Jorge Bucay

Das Buch der Weisheit

Wege zum Wissen

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungVorwortVorbemerkung des AutorsEinleitungEine BestandsaufnahmeDie vielen Seiten einer MedailleDer Mensch und seine MythenDer Mensch gegen die KulturDer Mythos und seine ProblemeDer Mythos dessen, was wir sindDas gewonnene ParadiesDer Segen der BestrafungMythos und ZivilisationDer Drache der KulturDie angebliche Nutzlosigkeit des WissensDer SisyphosmythosDie UnwissenheitDer Traum des UnwissendenDie Abhängigkeit der IgnorantenDie Identität aufgebenDer imaginäre KerkerDie Guten oder die Gerechten?Denken und FühlenDie Unwissenheit hinter sich lassenDas Gift des VergleichsDie Lust am Spionieren und UrteilenKalendergeschichtenDer SuchendeDas Aufbegehren des SuchendenDer UngehorsamIntelligenter GehorsamErfahrung als GefahrDie Arbeiten des HerkulesDie IrrwegeWerteskala. Die ReihenfolgeEitelkeit und HochmutDer MeisterIdentität: Schein oder Wirklichkeit?Wissen oder GlaubenVom ErwachenVon der Notwendigkeit kohärent zu seinBraucht man einen Lehrmeister?Die WeisheitIndividuelle und gesellschaftliche Genese der WeisheitDie duale Konzeption der WeltDer weise EinsiedlerWie ein wahrer Weiser istWeise werdenBibliographie

All denen, die suchen …

und suchen …

und suchen …

Vorwort

Jahrelang verschob ich immer wieder meine Pläne, über das Glück zu schreiben. 2002 erschien schließlich die Serie Hojas de Ruta (Wegweiser), in der ich versuchte, eine Karte der Wege zu zeichnen, die ich für unerlässlich halte, um sich selbst zu verwirklichen, das heißt, um ein glückliches Leben führen zu können. Das Glück, so schrieb ich im letzten der Wege, besteht nicht darin, in einem Zustand ständiger Glückseligkeit zu leben, sondern in dem Gefühl innerer Gelassenheit, das sich einstellt, wenn wir die Gewissheit haben, uns auf dem Weg zu befinden, für den wir uns entschieden haben.

Als ich das Manuskript zu Glücklich sein. Wege zu einem erfüllten Leben ablieferte, empfand ich etwas, das ich zuletzt achtzehn Jahre zuvor empfunden hatte, als ich noch einmal die Texte überarbeitete, aus denen dann meine erste Buchpublikation wurde, Cartas para Claudia (Briefe an Claudia): das Gefühl des »das war’s«, das Bewusstsein, dass alles geschrieben war, was zu schreiben war.

1984 allerdings war es das – durchaus angenehme – Gefühl gewesen, alles zu Papier gebracht zu haben, was ich zum damaligen Zeitpunkt wusste; verbunden mit der Erleichterung, eine Arbeit zu Ende gebracht zu haben, die mir ursprünglich nicht zu bewältigen schien. Diesmal hingegen hatte ich das Gefühl, keine Ideen mehr zu haben. Schließlich konnte man sich nur noch wiederholen, wenn man vom letzten Weg sprach.

Mittlerweile ist mehr als ein Jahr vergangen, seit ich mein letztes Buch abgegeben habe. Und ich habe in dieser Ruhephase, die auf eine getane Arbeit folgt, einiges gelernt. Zum einen, dass Schreiben keine harte Arbeit ist, sondern vielmehr Vergnügen und innere Notwendigkeit; tatsächlich fühlt es sich für mich seltsam an, wenn ich mir nicht die Zeit nehme, meine Gedanken zu Papier zu bringen oder im Computer festzuhalten. Zum anderen sagen mir die Menschen, die ich liebe, meine Freunde, meine Familie, meine Leser, meine wenigen Patienten, dass ich doch weiterschreiben solle. Sie bitten mich darum und beteuern, dass ihnen das Gelesene helfe.

Vielleicht aus diesen beiden Gründen – aber sicher nicht nur deswegen – bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Glück – das höchste Ziel eines jeden Menschen – zwar tatsächlich der Gipfel des Berges ist, aber nicht zwangsläufig das Ende des Weges bedeuten muss.

 

In diesen Monaten bin ich auf eine Sufi-Weisheit gestoßen:

 

Erleuchtung heißt, den Gipfel des Berges zu erreichen und von dort immer höhere Höhen zu erklimmen.

 

Immer weiter nach oben steigen.

Man müsste in der Lage sein, etwas zu sehen, das nicht alle sehen, um nach dem Gipfel noch höhere Höhen zu erklimmen.

Man müsste weise sein, um erleuchtet zu werden.

Oder man müsste erleuchtet werden, um zu einem Weisen zu werden …

 

Und ich erkannte, dass es noch einen weiteren Weg gab, dessen Karte ich noch nicht gezeichnet hatte. Einen Weg, der auf keiner Karte auftaucht, weil er nicht zwingend ist, sondern lediglich eine Möglichkeit. Nicht mehr und nicht weniger.

Und ich freute mich, als ich merkte, dass es weitergeht, auch nachdem man den Gipfel erreicht hat.

 

Ein neues Projekt ging mir durch den Kopf und bahnte sich seinen Weg auf den Bildschirm meines PCs: eine Studie über die Weisheit. Ich wollte herausfinden, ob dieser neue Weg allen offensteht, die ihn gehen wollen, oder lediglich einigen wenigen Auserwählten: den Klugen und Gelehrten, den Geistesarbeitern, Mystikern, Philosophen, Hochbegabten …

 

Ich wollte die Geschichte einer imaginären Reise schreiben. Einer Reise weg von der Unwissenheit, die bei uns allen am Anfang steht, hin zur Weisheit, die wir niemals erreichen werden, auch wenn wir ihr mit jedem Tag näher kommen. Die Protagonistin dieser Reisenotizen ist eine Frau, die in meinem Kopf zuerst Marta hieß, dann María und zwischendurch Marie, um schließlich zu Shimriti zu werden. So heißt nun die Frau, die sich auf den Weg zu höherer Weisheit macht und uns auf ihre Reise mitnimmt, so wie es ihr Meister mit ihr tat.

Ihr Name ist nicht zufällig gewählt, sondern setzt sich aus zwei Sanskrit-Wörtern zusammen: »Shruti« und »Smriti«.[1]

 

Die Idee, diese beiden Wörter zusammenzuziehen, soll versinnbildlichen, dass das, was du hier liest, nichts Neues ist. Es wurde von den Weisen erzählt, gesungen und gehört und in den heiligen Büchern nahezu aller östlichen und westlichen Kulturen niedergeschrieben, gelesen und bewahrt.

 

Shimriti verweist auf unsere einzige Aufgabe: uns auf der Suche nach uns selbst, die Worte anderer zu eigen zu machen, denn sich selbst zu finden, ist die größte Weisheit von allen.

Vorbemerkung des Autors

Die Richtung, welche die Philosophie in unserer Kultur eingeschlagen hat, sollte uns nicht vergessen lassen, dass diese sechshundert Jahre vor Christus im antiken Griechenland ihren Ausgang nahm,[2] nicht nur als ein Wissen um die Grundlagen unserer Wirklichkeit, sondern auch als Lebenskunst, als ein Weg, in Harmonie zu leben und zu einem erfüllten Sein zu finden.

In dieser Philosophie gab es keine Trennung von Theorie und Praxis, von Wissen und Wandel. Die antiken Philosophen wussten, dass ein klarer, wacher Geist die Quelle innerer Befreiung und tiefer Veränderung ist und sich aus der täglichen Verpflichtung zum inneren Wachstum nährt.

 

Die feste Überzeugung, dass die Weisheit und das Leben untrennbar miteinander verbunden sind, machte aus der Philosophie das therapeutische Wissen par excellence und ein Mittel zur Heilung und Befreiung bei seelischem Leiden. Die genaue Kenntnis der Realität und unserer selbst war der Weg, auf dem der Mensch wirklich zum Menschen werden konnte. In diesem Kontext wurde das Leiden in all seinen Formen letztendlich als unerwünschte Folge der Unwissenheit verstanden.

 

Der Weise war also das Abbild eines glücklichen Menschen und ein Vorbild an innerer Fülle, Ausdruck des menschlichen Potentials.

 

Wenn in diesem Buch von Weisheit die Rede ist, meine ich damit stets diese Vorstellung von Wissen, die untrennbar mit der täglichen Erfahrung verbunden ist, eher erlebbar als rational begreifbar, eher anregend als erklärend. Es geht mir nicht um die Anhäufung von Wissen, sondern darum, Zugang zu einem neuen Bewusstseinszustand zu finden und mit jedem Tag ein wenig weiser zu werden.

 

Die Philosophie erweckt den Anschein einer Welt, die ausschließlich gelehrten Spezialisten vorbehalten ist, während wir Laien nur mühsam Zugang zu ihr finden.

Die Weisheit, verstanden als Wahrheit und vor allem die Suche nach ihr stehen und standen stets allen offen (falls du das noch nicht wusstest); denn die Wahrheit ist kein Privileg für Fachleute oder Kenner, sondern allen zugänglich, die aufrichtig, ausdauernd und ernsthaft nach ihr suchen.

 

Die Wahrheit war nie Eigentum irgendeines Gelehrten oder irgendeiner Wissenschaft. Niemand kann sie für sich beanspruchen.

 

In den letzten Jahrzehnten hat die humanistische Psychologie das wissenschaftliche Feld bestellt, auf dem es am ehesten gelungen ist, sich dieser von der Philosophie vernachlässigten Fragen wieder anzunehmen.

Diese Disziplin, auch »dritte Kraft« oder »dritte Schule« der Psychotherapie genannt – der auch ich angehöre – hat sich als deutliche Alternative zur positivistischen Psychologie und der klassischen Psychoanalyse etabliert.

Diese »Wachablösung« hat nicht zufällig stattgefunden; vielmehr hat die humanistische Psychologie viel mit der althergebrachten Philosophie gemein.

 

Unsere Arbeitsmethode besteht im Prinzip darin, auf »Rezepte« und »Techniken mit sofortiger Wirkung« zu verzichten, weil wir wissen, dass sie auf lange Sicht nicht funktionieren. Wir sind vielmehr davon überzeugt, dass Erfüllung und wahre Veränderung nur durch die gründliche Kenntnis der eigenen Persönlichkeit erreicht werden können. Und diese basiert auf dem Wissen um den Platz, den jeder Einzelne in der Welt einnimmt.

 

Humanistische Therapeuten glauben, dass eine psychotherapeutische Praxis, die uns nicht zu mehr Verständnis, Bewusstsein und Kongruenz führt, sehr begrenzt und auf Dauer wirkungslos ist. Mit anderen Worten: Wir sind der Ansicht, dass ein enger Zusammenhang zwischen der genauen Kenntnis der Realität (unserem Wissen), der Wahrnehmung (unserem Fühlen und unserer Vorstellungskraft) und der Entwicklung von Potentialen (unserem Denken und Handeln) besteht.

Wir wollen unsere Patienten, Klienten oder Schüler (wie auch immer man sie nennen will) nicht nach ihrem Gesundheits- oder Krankheitszustand beurteilen, sondern als Personen, die Schwierigkeiten, Fehleinstellungen und Konflikte mitbringen, wie sie auf dem Weg eines jeden Menschen zur vollständigen Selbstverwirklichung nur natürlich sind.

 

Von Anfang an hat dieses psychotherapeutische Modell sein Augenmerk auf die Weisheit aller Epochen, die Philosophia perennis, und in meinem Fall ganz besonders auf die Verbindung von östlicher und westlicher Gedankenwelt gerichtet, die in den jahrtausendealten Geschichten ihren Ausdruck finden.

 

Dieses Buch ist eine Möglichkeit, meine Sicht auf diese Zusammenhänge zu teilen, es ist eine Einladung, dieser Weisheit nachzugehen, die in unserer Kultur weitgehend exklusiven Kreisen vorbehalten bleibt.

 

Wege zum Wissen richtet sich an all jene, die sich schon immer »ein wenig mit Philosophie beschäftigen« wollten, weil sie glaubten, es könne ihnen weiterhelfen, und die sich enttäuscht, ernüchtert oder ausgeschlossen fühlten, wenn sie versuchten, sich diesem Wissen zu nähern. Aber Vorsicht: Es will keine erschöpfenden Antworten geben, sondern dazu ermutigen weiterzusuchen.

 

Wege zum Wissen versucht, eine Einstellung zu verdeutlichen, die im Widerspruch zu all jenen Denkweisen, ideologischen Gruppierungen oder pseudoreligiösen Bewegungen steht, die das Monopol auf spirituelles Wissen für sich beanspruchen oder behaupten, den Weg zur inneren Freiheit für sich gepachtet zu haben.

 

Von Anfang an geht es mir darum, die grundsätzliche Einstellung deutlich zu machen, die meine, aber auch die vieler anderer ist, die wie ich nichts mit all diesen gelehrten Dilettanten und Kopfarbeitern anfangen können, die sich zu ausschließlichen Hütern der Weisheit und des Glücks aufschwingen.

Jorge Bucay

Einleitung

Am 23. Mai 1998 jährte sich der Abschluss meines Medizinstudiums an der Universität von Buenos Aires zum fünfundzwanzigsten Mal. Meine langjährige Erfahrung als Therapeut und Patient halfen mir zu begreifen, dass eine enge Verbindung zwischen der Philosophie besteht, wie sie ursprünglich angelegt war, der Psychotherapie, wie ich sie verstehe, und der ewigenWeisheit, von der Aldous Huxley spricht[3]. Alle drei, so finde ich, beschäftigen sich in erster Linie mit der Freiheit des Individuums, dem Weg zu einem erfüllten Leben und der Erkenntnis der letzten Wahrheiten und bieten sich deshalb besonders an, etwas über das Leben zu lernen.

 

Dennoch finde ich in den Konzepten, die unsere Gesellschaft jedem dieser Bereiche zuordnet, allerhand Irrwege, Schwierigkeiten und Widersprüche, die mir täglich begegnen.

Was die Psychologie betrifft, so zeigt schon der Umstand, dass es mehr als vierhundertfünzig verschiedene psychotherapeutische Schulen gibt, dass es keine einheitliche Wissenschaft des menschlichen Verhaltens und seiner Methodologie gibt. Ich persönlich misstraue den Hauruck-Methoden, die entwickelt wurden, um rasche Resultate zu erzielen. Nicht, weil ich sie für nutzlos hielte, sondern weil sie uns nur dabei helfen können, erfolgreich oder effizient zu sein, wohl kaum aber, ein glücklicheres Leben zu führen. Andererseits stehe ich auch solchen Therapien skeptisch gegenüber, die eine mechanistische Herangehensweise bevorzugen. Zu oft fordern sie, dass wir unser ganzes Leben darauf ausrichten, die Gründe für unsere Leiden und den tieferen Ursprung unserer Neurosen zu finden, und versprechen im Gegenzug, dass uns das mit unserem Schmerz versöhnen wird. Ich verstehe psychologische Hilfe vor allem als einen Prozess, der im Grunde darauf beruht, einem Menschen die Mittel an die Hand zu geben, damit er besser leben, sich besser kennenlernen und vorausschauender sein kann, mit dem einzigen Ziel, dass dieses Sich-Bewusst-Werden ihm dabei hilft, nicht so oft in eine Falle zu tappen.

 

Die Philosophie wiederum erscheint uns oft als ein im wesentlichen enzyklopädistisches, hermetisches und spekulatives Wissen, das mit seiner Schwester im Geiste, der Weisheit, nur noch etymologisch verbunden ist (»Philosophie« geht auf das Griechische philos und sophos zurück, »Liebe zur Weisheit«). Mit anderen Worten: Sie ist zu einer selbstreferentiellen Beschäftigung mit dem gelehrten, auf Bildung beruhenden Wissen geworden, das fast unbemerkt den Platz seiner Schwester eingenommen hat. Nur wenig hat diese Wissenschaft von dem bewahrt, was sie ursprünglich einmal war: eine Schule par excellence, die den Menschen lehrte zu leben.

 

Weisheit assoziieren wir meist sofort mit dieser Art von abstraktem Wissen. Wenn wir dieses Wort hören, denken wir automatisch an introvertierte, ernsthafte Denker, die sich in der Stille staubiger, düsterer Bibliotheken vergraben, während sich auf der anderen Seite des Fensters die wunderbaren Freuden des Lebens ereignen.

 

Doch auch wenn unsere Zivilisation das nicht wahrhaben will, in Wirklichkeit ist Weisheit dort zu finden, wo sich Wissen, Erfahrung, persönliche Veränderung und innere Befreiung vereinen.

 

Der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht an, ganz von sich aus.

Heraklit

 

Ein umfassendes Wissen erklärt die Realität nicht, sondern macht Teilhabe an ihr erfahrbar. Es erbringt den Beweis, dass ein erfülltes Leben nur dann möglich ist, wenn wir begreifen, wer wir sind, nachdem wir in den Ursprüngen unserer Identität aufgegangen sind.

 

Es gibt kein wahres Wissen ohne Erkenntnis.

Es gibt keine Erkenntnis ohne eine gründliche Veränderung der inneren Sichtweise.

Es gibt keine zuverlässige Sichtweise ohne eine verbindliche Wahrheit.

Und es gibt keine größere Wahrheit als jene, die wir in uns selbst finden.[4]

 

Wenn es diese Verbindung zum eigenen Leben nicht gibt, ist alles Wissen nutzlos und verkehrt sich in ein bloßes Argument, um Missstände zu rechtfertigen und vorläufige Antworten auf Fragen zu finden, für die die Menschheit noch keine Lösung gefunden hat. Vielleicht ist diese fehlende Bindung an das eigene Leben der Grund dafür, dass die antike Weisheit heute fast keine Bedeutung mehr für den Menschen hat.

So mancher, der sie sich dennoch zu erschließen hoffte, landete im sterilen Labyrinth spekulativen Denkens oder in den Fängen einer zweifelhaften Religion. Und so haftete der Weisheit irgendwann zu Unrecht eine Aura des Geheimbündlerischen oder Esoterischen an.

Andere suchten und suchen ihre Antworten in der Wissenschaft und ihrer engsten Verbündeten, der Technologie. Eine Verbindung, die heute zur dominierenden Kraft in der modernen westlichen Welt geworden ist und die, so Stanislav Grof, Mitbegründer der transpersonalen Psychologie, als Sinnbild für Fortschritt und Entwicklung gesehen wird, so dass alles Vergangene als eine Zeit infantiler Unreife begriffen wird. Eine Auffassung, die nur allzu häufig auf jede Kultur, die sich von unserer unterscheidet, angewendet wird und Einstellungen wie diese zur Folge hat: »Wir sind die kultivierten, fortschrittlichen, reifen Menschen; alle anderen sind unwissend und zurückgeblieben …«

 

In einem Zug sitzen sich ein berühmter, international anerkannter Biologe und ein fast analphabetischer Bauer aus der Gegend gegenüber. Der Erste in einem tadellosen, dunkelgrauen Anzug, der andere in einer zerschlissenen, aber sauberen Leinenhose. Der Wissenschaftler sitzt inmitten von Bücherstapeln, der Bauer hat lediglich ein kleines Kleiderbündel dabei.

»Wollen Sie all diese Bücher auf der Fahrt lesen?«, fragt der Bauer.

»Nein, aber ich verreise niemals ohne sie«, antwortet der Biologe.

»Und wann lesen Sie sie?«

»Ich habe sie bereits gelesen … Mehr als einmal.«

»Und Sie wissen nicht mehr, was drinsteht?«

»Doch, in diesen und vielen anderen mehr …«

»Unglaublich … Und um was geht es in diesen Büchern?«

»Um Tiere …«

»Was für ein Segen für Ihre Nachbarn! Haben einen Tierarzt gleich nebenan …«

»Ich bin kein Tierarzt. Ich bin Biologe.«

»Aha … Und wozu ist Ihr ganzes Wissen gut, wenn Sie keine Tiere heilen?«

»Es geht darum, immer mehr zu wissen … Mehr zu wissen als alle anderen.«

»Und wozu?«

»Schau … Ich erkläre es dir. Das macht die Reise gleichzeitig ein bisschen produktiver. Angenommen, du und ich schlössen eine Wette ab. Angenommen, für jede Frage über Tiere, die ich dir stelle und auf die du keine Antwort weißt, gibst du mir, sagen wir mal, einen Peso. Und angenommen, für jede Frage, die du mir stellst und die ich nicht beantworten kann, gebe ich dir hundert Pesos … Durch mein Wissen würde sich die Waage zu meinen Gunsten neigen und am Ende der Reise hätte ich ein bisschen Geld dazugewonnen.«

Der Bauer denkt und denkt, während er mit den Fingern imaginäre Zahlen abzählt. Schließlich fragt er:

»Sind Sie sicher?«

»Völlig sicher«, antwortet der Biologe.

Der Bauer greift in seine Hosentasche und vergewissert sich, ob er eine Peso-Münze dabeihat (Er wettet nie, wenn er seine Wettschuld nicht begleichen kann).

»Ich zuerst?«, fragt er dann.

»Nur zu«, ermuntert ihn der Biologe selbstsicher.

»Über Tiere?«

»Über Tiere.«

»Mal sehen … Was ist das für ein Tier? Es hat Federn, legt keine Eier, wird mit zwei Köpfen geboren, ernährt sich ausschließlich von grünen Blättern und stirbt, wenn man ihm den Schwanz abschneidet?«

»Wie bitte?«, fragt der Biologe.

»Wie heißt das Tier, das Federn hat, keine Eier legt, mit zwei Köpfen geboren wird, grüne Blätter frisst und stirbt, wenn man ihm den Schwanz abschneidet?«

Der Wissenschaftler ist verdutzt und bittet um ein wenig Bedenkzeit. Dann sucht er in seinem Gedächtnis nach der richtigen Antwort. Die Minuten vergehen. Schließlich fragt er:

»Darf ich meine Bücher benutzen?«

»Natürlich!«, antwortet der Bauer.

Der Wissenschaftler breitet mehrere Bände auf dem Sitz aus, blättert in den Inhaltsverzeichnissen, betrachtet die Illustrationen, nimmt ein Blatt Papier und macht sich Notizen. Dann wuchtet er einen großen Koffer von der Gepäckablage und nimmt drei dicke, schwere Wälzer heraus, die er nun ebenfalls konsultiert.

Ein, zwei Stunden vergehen. Der Biologe blättert und blättert, schaut und murmelt vor sich hin, während er seltsame Zeichen in sein Notizheft kritzelt.

Schließlich kommt die Durchsage, dass der Zug nun in den Zielbahnhof einfahre. Der Biologe sucht schneller, er schwitzt und atmet schwer, aber er hat keinen Erfolg. Als der Zug langsamer wird, greift der Biologe in seine Hosentasche, nimmt einen nagelneuen Hundert-Peso-Schein heraus und reicht ihn dem Bauern mit den Worten:

»Sie haben gewonnen. Nehmen Sie.«

Der Bauer steht auf, nimmt den Schein, betrachtet ihn zufrieden und steckt ihn ein.

»Vielen Dank«, sagt er. Damit nimmt er sein Bündel und wendet sich zum Gehen.

»Warten Sie, warten Sie!«, hält ihn der Biologe zurück. »Wie heißt denn nun dieses Tier?«

»Ach so … Das weiß ich auch nicht«, antwortet der Bauer. Er nimmt die Ein-Peso-Münze aus der Tasche und reicht sie dem Wissenschaftler mit den Worten:

»Hier, ein Peso. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«

 

Und endlich gibt es jene unter uns, die mit diesen Wegen unzufrieden sind und auf anderen Pfaden nach der Wahrheit suchen, weit weg vom Allgemeingültigen und wissenschaftlich Korrekten und weit weg von gesellschaftlich anerkannten Bahnen. Die nur an ihre eigene Erfahrung und eine offenere Suche gebunden sind und deshalb als schwer zu verstehende Sonderlinge, wenn nicht gar als gefährliche Außenseiter betrachtet werden.

Eine Bestandsaufnahme

Die positivistische Wissenschaft der westlichen Welt hat probate Mittel gefunden, um die offensichtlichsten Leiden zu heilen – Krankheiten, Armut, Hunger … Sie hat jedoch nur wenig dazu beigetragen, zu innerer Selbstverwirklichung und wahrer emotionaler Zufriedenheit zu finden. Der größere finanzielle Wohlstand geht mit einem erschreckenden Anstieg psychischer Erkrankungen, Alkoholismus, Selbsttötungen, Verbrechen und Gewalt einher.

In der östlichen Welt hat der Mensch zur selben Zeit eine reiche Skala an emotionalen und spirituellen Techniken entwickelt, um die eigene Verbindung mit dem Metaphysischen zu erkennen und zu leben und sich von existentiellen Zweifeln und Leid zu befreien. Dies hat einigen wenigen Auserwählten innere Befreiung gebracht, es jedoch weder vermocht, die drängenden praktischen Probleme des alltäglichen Lebens zu lösen, noch die Lebensumstände der meisten Menschen zu verbessern.[5]

 

Hier wie dort neigen wir dazu, die vorherrschenden Paradigmen keinesfalls in Frage zu stellen. Denn geltende Theorien werden fälschlicherweise als glaubwürdige, umfassende Beschreibung der Wirklichkeit verstanden. Von den Wissenschaftlern aller Breitengrade, die mit ihrer »richtigen« Vorstellung von der Wirklichkeit »verheiratet« sind, wird diese irrige Auffassung vertreten und weitergegeben.

 

Nehmen wir ein Beispiel:

Uns westlichen Menschen erscheint die Welt als eine stabile Struktur, eine Anordnung von Atomen, die per definitionem unteilbar sind. Selbst wenn wir nicht wissen, wer Isaac Newton war, leben wir alle in einer Welt, die nach unveränderlichen physikalischen und chemischen Gesetzen funktioniert, in einem dreidimensionalen Raum, während die Zeit gleichförmig von der Vergangenheit durch die Gegenwart in Richtung Zukunft fließt. So gesehen, erscheint uns unsere Umgebung als eine gigantische Maschine, die von einer vorhersehbaren Abfolge aus Ursache und Wirkung bestimmt wird.

Nach dieser Weltanschauung erscheint es logisch, dass wir, wenn wir alle Faktoren in der Gegenwart gesetzmäßig bestimmen können, auch jede Situation in der Vergangenheit rekonstruieren beziehungsweise jedes Ereignis in der Zukunft vorhersagen können.

Dieser Unsinn lässt sich natürlich nicht beweisen. Zwar lehrt die Wissenschaft uns die Komplexität des Universums, gleichzeitig bleibt sie uns den praktischen Beweis schuldig. Dennoch liegt hier eine der Grundlagen jeder westlichen Wissenschaft. Anders gesagt: Etwas wissenschaftlich nicht zu Beweisendes ist der gültige Maßstab für das, was der westlichen Wissenschaft als »beweisbar« erscheint (?).

 

Es gibt nicht wenige psychologische Schulen (so die Psychokybernetik und einige fundamentalistische Ausrichtungen des orthodoxen Behaviorismus), die genau wie verschiedene Fachbereiche der Medizin (die oft unter dem Begriff »Neurowissenschaften« zusammengefasst werden) die Ansicht vertreten, dass sämtliche mentalen Prozesse, Gefühle und Intuition, angepasstes und pathologisches Denken, nichts anderes sind als physische Reaktionen auf vorherige Reizkombinationen, die von den Sinnen aufgenommen und im Gehirn verarbeitet werden.[6] Jegliche Erinnerung, so erklären sie uns, beruhe auf einem mechanischen Träger (den Zellen des zentralen Nervensystems) und einem physikalisch-chemischen Übermittlungscode (den Neurotransmittern). Gestützt auf diese Theorien und auf Ergebnisse, die diese »untermauern«, kann die positivistische Wissenschaft selbst Phänomene wie die menschliche Intelligenz, Kreativität, Kunst, Religion, Ethik und natürlich psychische Erkrankungen erklären. Der Theorie nach handelt es sich dabei um Nebenprodukte zerebraler Prozesse im Wechsel von Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion, Reiz und Reizerwiderung, Input und Output …

 

Mit Theorie und Wirklichkeit verhält es sich genauso wie mit der Landkarte und dem darauf dargestellten Gelände.[7] Beides gleichzusetzen bedeutet einen Verstoß gegen wissenschaftliches Denken; es ist ein tiefgreifender Irrtum, den die Wissenschaft selbst als »logische Klassifizierung« oder »Reduktionismus« bezeichnet.

 

Stanislav Grof sagt:

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die menschliche Intelligenz aus dem Schlamm der Ursuppe auf ihr derzeitiges Niveau einzig und allein durch die Abfolge zufälliger mechanischer Prozesse erhoben hat, ist mit der Wahrscheinlichkeit zu vergleichen, dass sich durch einen Wirbelsturm über einem gigantischen Schrottplatz zufällig ein Jumbo-Jet zusammenfügt.

 

Und Gregory Bateson:

Wenn man den Fehler begeht, die eigene Vorstellung von der Welt mit der Welt selbst gleichzusetzen, wird man irgendwann die Speisekarte statt der Mahlzeit essen.

 

Aber bis die Menschheit zu dieser Einsicht gelangt ist, muss jeder, der mit kontroversen Erkenntnissen aufwartet, darauf vorbereitet sein, von der etablierten Gesellschaftsordnung und den vertrauenswürdigen Institutionen als unfähig bezeichnet und bezichtigt zu werden, mit seinen Unwahrheiten Chaos zu verursachen, wenn man ihm nicht sogar unterstellt, psychisch krank zu sein.[8]

Und es sind nicht wenige Stimmen, die zweifeln …

In den letzten Jahrzehnten wurde das Primat der mechanistischen Wissenschaft ernstlich in Frage gestellt, als Fritjof Capra[9] und andere begannen, uns mit der Quantenphysik vertraut zu machen, deren Grundlagen alles in Frage stellen, was die Wissenschaft bislang als gegeben voraussetzte. Das zentrale Dogma, der Mythos von der unzerstörbaren Materie, zerfiel unter dem Paukenschlag der theoretischen und experimentellen Beweise, die belegten, dass die Grundlage der Materie … nichts ist. Schwarze Löcher!

 

Aber es gibt keinen Grund zur Verzweiflung. Wahre Weisheit ist unzerstörbar, sie kommt immer wieder zum Vorschein, unabhängig von staatlichen, gesellschaftlichen oder akademischen Legitimationen. Da kommt jemand, der intuitiv und aus vollster Überzeugung, mit Ironie und Intelligenz Diskussionen anstößt, sich Gehör verschafft und uns dazu bringt, dass wir uns auf die zeitlose Wahrheit der Conditio Humana einlassen.

Vielleicht ist die Zeit gekommen, westliches und östliches Denken endgültig miteinander zu versöhnen, ihre Vorteile zu vereinen und ihre Unvollkommenheiten außen vor zu lassen.

Die vielen Seiten einer Medaille

Eine Tomate kann ein Gemüse sein, ein Lebensmittel, ein Samen, eine Ware, ein Briefbeschwerer oder ein Wurfgeschoss. All diese Definitionen sind korrekt, auch wenn sie nur Teilaspekte darstellen. Sie alle sind richtig unter einer Bedingung: dass ihnen kein ausschließendes »lediglich ein …« vorausgeht.

 

Auch der Mensch hat, wie alles andere, mehr als nur ein Gesicht und ist zugleich die Summe aus ihnen allen.

 

In seinem revolutionären Buch Das schöpferische Universum vertritt der britische Biologe und Biochemiker Rupert Sheldrake die Theorie, dass sich die klassische Wissenschaft nur mit dem quantitativen Aspekt der menschlichen Reaktion auf äußere Reize zu befassen scheint; wir sprechen in diesem Fall von »adaptivem Verhalten«. Dabei, so Sheldrake, vergesse sie aber die qualitativen Aspekte der jeweiligen Reaktion des einzelnen Individuums.

Sheldrake ist der Ansicht, dass lebende Organismen keine biologischen Maschinen sind und sich das Leben deswegen nicht auf chemische Reaktionen reduzieren lässt:

 

»Es ist unstrittig, dass viele biologische Vorgänge nach reproduzierbaren physikalischen Prinzipien funktionieren, doch das beweist nicht, dass sich das Verhalten von Lebewesen auf physikalisch-chemische Reaktionen reduzieren ließe. Man stelle sich vor, jemand, der kein Radiogerät kennt, sähe ein solches und wäre begeistert von der Musik, die aus ihm dringt. Er wird denken, dass die Musik aus dem Inneren des Apparats kommt, als Resultat irgendeiner Interaktion seiner einzelnen Bestandteile. Sagt man ihm nun, dass sie in Wirklichkeit von außen kommt, wird er diesen Gedanken mit Sicherheit von sich weisen und anführen, dass er nichts in das Gerät hineinfließen sieht. Zur Begründung wird er sagen, dass das Radio angeschaltet genauso viel wiegt wie ausgeschaltet.

Will er nun ein ähnliches Gerät bauen, wird er sich die einzelnen Teile besorgen, Knöpfe, Gehäuse, Siliziumkristall, Kupferdrähte und anderes mehr, und das Sendegerät detailgetreu nachbauen. Danach wird er für die Nachwelt festhalten: »Ich habe alles genau verstanden und ein identisches Gerät aus den gleichen Bestandteilen zusammengebaut. Was ich nicht begreife, ist, warum keine Musik herauskommt.«

 

Das ist exakt die Situation, in der jene sich befinden, die behaupten, sie hätten das Leben verstanden. Man kann behaupten, dass es sich bei Liebe, Treue, Solidarität, Mitgefühl oder Freundschaft um reine Verteidigungsmechanismen des verletzten oder schuldhaften Ichs handelt, wie dies das amerikanische Journal of Psychotherapy tut. Aber wie lässt sich dann erklären, dass uns allen diese Werte so wichtig sind?

 

Das berühmteste Beispiel einer verblüffenden Verhaltensentwicklung wurde nicht beim Menschen, sondern beim Affen beobachtet. Es handelt sich um das sogenannte »Prinzip des hundertsten Affen«.[10]

Auf der japanischen Insel Koshima lebte ein junges Makakenweibchen. Eines Tages entwickelte es eine bei dieser Affenart nie zuvor gesehene Verhaltensweise: Es entdeckte durch Zufall, dass schmutzige Süßkartoffeln besser schmeckten, wenn man sie zuvor im Fluss wusch. Das Affenweibchen blieb bei dieser neuen Verhaltensweise und gab sie an seine Jungen weiter, die sie wahrscheinlich wiederum an ihre Artgenossen weitergaben. Irgendwann hatten sich hundert der zweihundert Affen, die auf der Insel lebten, angewöhnt, die Süßkartoffeln zu waschen. Soweit nichts Besonderes, doch dann geschah etwas Seltsames: Dieselbe Verhaltensweise wurde auch bei Affen auf den Nachbarinseln beobachtet, ohne dass sie die Möglichkeit gehabt hätten, dieses Verhalten zu erlernen.

 

Die wissenschaftliche Schlussfolgerung lautete: Entwickelt eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern einer hochentwickelten Spezies bestimmte körperliche Fähigkeiten oder Verhaltensweisen, können diese von anderen Mitgliedern der Spezies übernommen werden, obwohl kein Kontakt im konventionellen Sinne zwischen ihnen besteht.

 

Bei seinem Versuch, diesen Sachverhalt zu erklären, traf Sheldrake eine Feststellung, die so von jedem hätte kommen können, ob nun Wissenschaftler oder nicht: »Wie kommt es zu diesem Resonanzphänomen? Ich weiß es nicht.« Er räumte damit ein, dass es messbare und reproduzierbare, folglich wissenschaftlich glaubhafte Erkenntnisse gibt, die sich dennoch nicht wissenschaftlich erklären lassen.

 

Die revolutionären Fortschritte der westlichen Wissenschaft (Physik, Biologie, Medizin, Informatik, Psychologie und Parapsychologie) können nicht verhindern, dass wir uns verstärkt der spirituellen Sichtweise im Denken der Antike und der Östlichen Welt zuwenden (dem indischen Yoga, dem tibetanischen Vajrayana, dem Zen-Buddhismus, dem chinesischen Taoismus, der jüdischen Kabbala, der christlichen Mystik oder dem Gnostizismus).

 

Man könnte sagen, dass wir uns einer wunderbaren Synthese aus Altem und Modernem annähern. Eine Integration der großen Lehren aus Orient und Okzident könnte weitreichende Folgen für das Leben auf diesem Planeten haben.

Weisheit wäre nicht länger einer kleinen Gruppe von Spezialisten vorbehalten, weil jeder Mensch geistiger autonom sein könnte, in der Gewissheit, dass es allen Menschen gegeben ist, weise zu sein, wie Heraklit sagte.

Erstes Kapitel

Der Mensch und seine Mythen

Wir alle sind in Unwissenheit geboren.

Der Mensch gegen die Kultur

Es gibt eine Überlegung, die bei fast allen Denkern und in allen Epochen auftaucht und die auf eine Frage hinausläuft, für die es noch keine endgültige Antwort gibt:

 

In welchem Maße befördert das, was wir lernen und glauben, unsere eigene Entwicklung, und in welchem Maße ist es eine Bremse, eine Beschränkung, ein subtiles Hindernis?

 

Man könnte die Frage noch weiter zuspitzen:

 

Hilft die Kultur den Völkern, sich weiterzuentwickeln, oder führt sie zur Erstarrung, indem sie den Menschen an anachronistische Muster bindet?

 

Es gibt wie gesagt keine endgültige, allumfassende Antwort auf diese Frage. Bleibt uns also nur, unsere eigene Antwort zu finden. Dabei lohnt es sich, ganz am Anfang zu beginnen; und für mich ist der Anfang die Schöpfung.

Der Mythos und seine Probleme

Jedes Volk schafft im Laufe der Zeit seine eigenen Mythen und Legenden, die viel über das Volk aussagen, das sie erzählt.

Die Geschichte von Moses verrät viel über das jüdische Volk, und die Geschichte von Jesus verrät viel über die Christen. Jede Heldengeschichte, jeder Mythos, jede Legende berichtet uns von solch verehrten Menschen. Aber sie erzählen uns auch etwas über die Völker, die sie hervorbrachten, über die Traditionen der Länder, in denen sie lebten, über die Menschen, an deren Seite sie kämpften. Die Mythen erzählen nicht nur, wer wir waren, sondern auch und vor allem, wer wir sind, was wir werden können und warum.

 

Wenn dem so ist (und es ist so …), dann sagen die Mythen, die wir als Gemeinschaft in uns tragen, und die Legenden der eigenen Kultur viel mehr über den Menschen, über jeden Einzelnen von uns und über die gesamte Menschheit aus, als wir glauben.

 

Der biblischen Schöpfungsgeschichte entspricht in der östlichen Welt der Mythos der Kosmogonie. Beide sind eine mehr oder weniger logische Deutung dessen, wie alles begann.

Bedenkt man, welch beträchtlicher Einfluss unserem Glauben an den Mythos zukommt, kann es sehr hilfreich sein, diese (in der Bibel erzählte und letztlich als göttliche Offenbarung angenommene) Schöpfungsgeschichte zu kennen. So verstehen wir, warum gewisse Dinge, die wir als gegeben hinnehmen, so sind, wie sie sind, und wie und warum unser Verhalten ganz stark von bestimmten Vorstellungen beeinflusst ist.

 

Das Erste, was bei näherer Betrachtung ins Auge fällt, ist, dass unsere (abendländische jüdisch-christliche) Kultur im Gegensatz zu anderen Kulturen von der Vorstellung ausgeht, dass das Universum durch eine schöpferische Kraft aus dem Nichts heraus erschaffen wurde. Salopp gesagt beschließt Gott (im Weiteren mit dem allergrößten Respekt »der Boss« genannt) eines Tages, ganz ohne irgendeine materielle Grundlage, die Erde und den Rest des Universums zu schaffen, in dem wir leben.

So schuf Gott der Genesis zufolge die Meere und das feste Land, schied das Licht von der Dunkelheit, schuf sämtliche Tiere und Pflanzen und machte sich dann am sechsten Tag an sein kompliziertestes Werk: den Menschen.

Bedenkt man, welchen Einfluss dieser Mythos auf unser Denken hat, fällt vor allem die Vorstellung auf, dass alle Dinge von der übergeordneten Macht eines Gottes – unseres Gottes – aus dem Nichts geschaffen wurden. Unabhängig davon, ob man diese Geschichte metaphorisch verstehen will oder wörtlich nimmt, unabhängig davon, ob man an diesen allmächtigen Schöpfergott glaubt oder nicht, unabhängig von unserer Interpretation, beeinflusst »die Geschichte« unseren Glauben und wirkt in unserem Unterbewusstsein nach, wenn es darum geht, wie man mit einem Projekt, einem Problem oder etwas Unvorhergesehenem umgeht.

 

Mir geht es an dieser Stelle darum, deutlich zu machen, was dieser Mythos für unsere westliche Kultur bedeutet.

Es steht gleich am Anfang:

 

»Die Dinge werden geschaffen.«

 

Selbst wenn dies aus dem Nichts heraus geschieht, muss man sie schaffen, herstellen, erfinden.

Die Dinge werden, weil Jemand oder Etwas sie aus dem schuf, was sie nicht waren.

 

Wir haben also zunächst den Übergang von dem, was nicht ist, zu dem, was ist.

So ausgedrückt, scheint dieser Gedankengang klar auf der Hand zu liegen. Wie sollte es sonst gewesen sein?