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Ein spektakulärer Roman über eine Welt, in der die Lese- und Schreibfähigkeit ausgelöscht wurde, und einen Jungen, der nicht an Geschichten glaubt Der 13-jährige Waisenjunge Oboi ist weggelaufen, um seine ursprüngliche Heimat zu finden. Er landet in einer merkwürdigen, von einer Katastrophe heimgesuchten Bergstadt, in der niemand lesen kann. Die Menschen dort werden von der geheimnisvollen Wanda angeführt, die mit Hilfe von Geräten, die an der Handfläche befestigt werden, bestimmt, was jeder wissen darf oder zu tun hat. Auf einem Trödelmarkt trifft Oboi eine Frau, die ihm ein Buch gibt. Ihrer Prophezeiung nach könne dieses Buch alles verändern und Oboi helfen, das zu finden, was er für immer verloren glaubte. Und plötzlich merkt der geschichtsscheue Oboi, dass er wohl der Held ist, der die ganze Welt retten soll. Eine fantastische Abenteuergeschichte, die zeigt, dass Bücher nicht nur aus Buchstaben oder Wörtern bestehen – in ihnen stecken fantastische Gedanken und ganze Welten.
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für Nelli und Ansa, die ZeichnerinnenFür Severi, den Freund der wahren GeschichtenFür Frida, die alles glaubt
Mein lieber Freund und Leser,
auch wenn ich nie im Leben geglaubt hätte, nicht solange der Mond golden scheint, nicht unter den Sternen oder der Sonne, dass ich eines schönen Tages die folgenden Worte sagen würde, so tue ich es jetzt doch: Herzlich willkommen in der Geschichte, tritt ein, gesell dich zu den Buchstaben. Es ist noch Platz für dich, ich schaffe einen für jeden, der mitkommen will. Entschuldige, wenn die Buchstaben sich manchmal schlecht benehmen, ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so störrischen schwarzen Zeichen gesehen. Deshalb eine kleine Warnung: Am Ende kann es ein bisschen wehtun, denn wenn sich Buchstaben unter die Haut schieben, ist das schmerzhaft.
Viele Grüße
Oboi
ERSTER TEIL
Die Stadt, in der nichts in Ordnung ist
Keine Buchstaben
Das leere Buch
Der geheime Name
Die Flucht aus dem Gefängnis
Das unterbrochene Frühstück
Die Lichter in den Handflächen
Flucht vor einer Giraffe
Thule bricht entzwei!
Die Normos oder Normalmenschen
Strom!
Das feurige Glühen des Buchstaben O
Helft Thule!
Die Fledermaushöhlen
Alarm! Ein emotionaler Normo!
Faule Mandarinen
Alice, der Rabe und Herr C
Schatten und Buchstaben
ZWEITER TEIL
Das Buch beginnt zu sprechen
Petit kommt nach Bergstadt
Die schreckliche Wahrheit kommt ans Licht
Buch-Buch
Lies mich! Betrachte das Bild!
Der Straßenkünstler
Der Klassiker
Lenora Clem
Prinz
Die Bibliothek in Flammen
Das Kraftwerk
Wanda, Wanda und Wanda
Gairas Einladung
Es war einmal eine alte Ziege
Für dich Mega, für mich Gaira
Das Rätsel
DRITTER TEIL
O oder ein Mond oder eine Sonne
Manus S
Die Biosphären
Ich, Mond
Die Rettungsaktion
Das gelbe Haus schreibt
Stockwerk fünf kommt in die Stadt
Ein Punkt hinter Samuels Geschichte
Ich entscheide
VIERTER TEIL
Das gelbe Haus entzündet ein Licht
Gelbes Haus: Die Erzählerin
Gelbes Haus: Mein Sohn Oboi
Oboi: Sicherheitsgurte anlegen!
Oboi: Am Grunde des Schluchtsees
Oboi: Tómos-Biblos
Oboi: Der schwedische Räuber
Oboi: Das Buch verstummt
Gelbes Haus: In Ketten
Oboi: Ein goldener Lichtstrahl
Gelbes Haus: Durst
Oboi: In den Feuerschlund
Gelbes Haus: Nordlichter, Rehe und Vögel
Oboi: Autsch! Buchstaben!
Oboi: In Berihelland
Oboi: Die Holzschatulle
EPILOG
Ich, Oboi, stand allein am Rande der Stadt. Ich war gerade angekommen, und mich umgab eine flirrende, schwitzige Augusthitze. Ich war müde, und nach der langen Reise und den schlecht durchschlafenen Nächten tat mir alles weh. Schließlich war ich wochenlang auf der Flucht vor allerhand blutrünstigen Waldtieren gewesen. Wäre ich wie meine Schwester Fanta, die alles glaubt, was in Büchern steht, dann wäre ich überzeugt davon gewesen, dass mir Zombies, Vampire und Werwölfe auf den Fersen sind. Aber weil ich dafür sorgte, dass Märchen auch wirklich zwischen den Buchdeckeln bleiben, weit weg von mir, und nur das glaubte, was wahr ist, war ich mir sicher, dass ich ausschließlich von den schrecklichsten Menschenfressern dieser Welt gejagt wurde. Jedenfalls hat der Appetit dieser verdammten Biester im Schatten der Wälder sichtlich zugenommen und jetzt warteten sie nur darauf, dass ihnen ein Stück Fleisch auf zwei Beinen vor die Füße lief. Und dann kam ich. Tadaa. Hallo, Menschenfresser! Nur für euch habe ich mich im Gefängnis gemästet! Huhuuu! Fangt mich, wenn ihr könnt!
•
Nun, du hast bestimmt schon unzählige Geschichten über genau solche Reisen gehört, in denen jemand durch den Wald rennt, um vor einer Bestie zu fliehen, also werde ich diesen Teil nur ganz kurz abhandeln.
Mit dem Mond als einzigem Licht wanderte ich also durch die kalte Tundra. An manchen Stellen wuchs kaum etwas. Die Gegend sah aus, als wäre sie dem Untergang geweiht, als hätte eine Atombombe den Erdboden glatt gefegt und anschließend wäre Schnee darauf gefallen. Dann wieder ragte ein stockdunkler Wald über mir auf, die Fichten wiegten sich grau und freudlos hin und her wie eine riesige Armee der Finsternis.
Tage und Wochen stapfte ich vor mich hin, so lange, dass ich in diesen matschigen und unwegsamen Wäldern völlig das Zeitgefühl verlor. Nach all den Strapazen erreichte ich endlich den Schluchtsee, der mein Weg in die Freiheit sein sollte.
Merke dir den Namen, falls er dir einmal begegnet. Zum Baden solltest du dir meiner Meinung nach allerdings einen anderen See aussuchen. Der Schluchtsee ist alles andere als schön, und als ich jetzt in seine trübe, dunkle Oberfläche sah, spähte ich zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war.
Schon eine alte Legende – an die ich natürlich kein bisschen glaubte – besagt, dass man durch ihn auf die andere Seite der Wirklichkeit gelangt.
Frag mich nicht, was die andere Seite der Wirklichkeit ist: die Unwirklichkeit, ein Zustand des Wahnsinns oder sogar der Tod? Jedenfalls war der Schluchtsee der abstoßendste See der Welt. Ich dachte sogar darüber nach umzukehren, denn eigentlich war das Gefängnis doch gar kein so schlechter Ort: drei Mahlzeiten am Tag, meine Schwestern, meine Freunde und mein eigenes Bett. Gerade als ich tatsächlich wieder zurückgehen wollte, hörte ich einen entsetzlichen, markerschütternden Schrei. Und obwohl ich nicht an übernatürliche Ungeheuer glaubte, klang es, als ob einem riesigen Tier gerade eine Gliedmaße ausgerissen worden wäre. In dem Moment beschloss ich zu springen.
•
Auf den Schluchtsee komme ich später wieder zurück. Jetzt will ich die Erinnerung daran schnell wieder aus dem Kopf bekommen. Ich muss aber noch erzählen, dass mein Realitätssinn durch die lange Erschöpfung offenbar langsam durcheinandergeraten war, denn als ich in die Tiefen des Sees hinabtauchte und kurz darauf wieder an die Oberfläche stieß, war ich an einem völlig anderen Ort. Ich hielt es für unmöglich, aber in meiner Not fiel mir keine vernünftige Erklärung ein. Zu allem Überfluss wirkte der Ort, an dem ich gerade angekommen war, deutlich netter als der vorherige mit seinen Monstern.
Neugierig schaute ich mich um. Die Luft war klar, der Himmel wolkenlos, die Sonne wärmte meine Glieder genau richtig, und vor mir erstreckte sich ein unglaublich heller, glitzernder Meeresstrand. An ihm tummelten sich viele Urlauber – zumindest sahen sie für mich so aus. Links lag ein kleiner Fitnessbereich und alle Geräte waren gerade in Gebrauch. Es gab stämmige Bäume, gut gepflegte Grünanlagen, und die Leute saßen auf ihren Handtüchern und aßen Obst. Mandarinen! Wann hatte ich die das letzte Mal bekommen? Das war bestimmt zehn Jahre her. Beim Gedanken daran lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich musste im Paradies gelandet sein.
•
Hinter dem Strand ragte eine Stadt auf. Sie lag auf einem hohen Felsen. Von unten betrachtet wirkte sie nicht besonders groß, eher niedlich und einladend. An den Wänden der alten Häuser hingen Blumentöpfe in den unterschiedlichsten Größen, aus denen üppige Pflanzen oder gepflegte Gewächse emporkletterten. Ihre Anzahl erstaunte mich, denn ich dachte, in Städten gäbe es mehr Autos und Asphalt als Pflanzen. Aber vielleicht waren meine Informationen lückenhaft, weil ich mein Leben in Tómos-Biblos verbracht hatte. Auf dem eiskalten und kargen Felsen der Gefängnisinsel konnte die Vegetation nicht gerade gedeihen. Und die vergangenen Zeiten und Städte, von denen unser Lehrer Aristo uns erzählt hatte, waren unfassbar weit weg.
Aus der Nähe betrachtet, waren die Häuser der Stadt ziemlich alt und teilweise in schlechtem Zustand. Es war so gut wie nichts Neues zu sehen. Die Straßen waren abgenutzt, die verlassenen Häuser komplett überwuchert. Die Straßen führten teils gerade, teils in Schlangenlinien nach oben.
•
Die Stadtbewohner eilten die bergigen Fahrwege entlang, Straßenbahnen fuhren herum und würgten an den Haltestellen jeweils einen Schwall Menschen hervor. Unten befanden sich kleine Läden, breite Straßen und der Strand, aber an den Felshängen standen Hochhäuser, Windräder und andere große Einrichtungen wie Fitnesscenter, Waschsalons, Parkhäuser und mehr. Manches weiter oben, manches weiter unten. Ich lächelte fröhlich, während ich alles vom Badestrand aus betrachtete. Dies sollte meine Heimatstadt werden, bis ich das gelbe Holzhaus finden würde. Das Haus, in dem meine Schwestern und ich vor langer Zeit glücklich gefrühstückt hatten. Das gelbe Haus am Rande der Stadt, zwischen der Wiese und dem Wald, mit dem Garten, in dem ein grünes Auto stand und in dem Obstbäume wuchsen. Das gelbe Haus, das offenbar unser richtiges Zuhause war.
•
Wie schon gesagt, war der Strand voller Leute. Sie lagen auf ihren Decken in der warmen Spätsommersonne und schliefen oder schauten auf ihre linke Handfläche, die leuchtete und blinkte. Manche waren an Baumstämme gelehnt, allerdings nicht etwa an Palmen, sondern an dicke Kiefern. Im Baum neben mir saß ein kleiner brauner Vogel. Er sah ganz gewöhnlich aus, hatte aber etwas im Schnabel. Es schien eine Quittung oder ein Zettel zu sein, aber bevor ich es genauer erkennen konnte, flog er davon. Direkt über mir fiel ihm der Zettel aus dem Schnabel. Er landete in meinen Haaren, und ich griff danach, bevor der Wind ihn davontragen konnte.
FLOHMARKT stand in dicken schwarzen Lettern darauf.
•
Was mir als Nächstes auffiel, war, dass niemand im Meer badete. Stattdessen tummelten sich die Leute in einem Schwimmbecken, das in dieses eingelassen war. Das Meerwasser war tiefblau, fast schwarz, das im Pool dagegen kristallklar. Die Leute planschten, was das Zeug hielt. Einige veranstalteten einen Wettkampf, andere bewegten sich so elegant wie möglich und sahen dabei trotzdem so aus, als hätte alles, was sie taten, einen Sinn. Manche hatten Unterwasserfahrräder und traten wie verrückt in die Pedale. Immer wieder öffneten sie ihre linke Faust, und sofort leuchtete die Handfläche weiß auf.
•
In der hinteren Ecke des Pools kraulten zwei Jungs herum. Ich schätzte sie etwa auf mein Alter. Vor mir lagen zwei Handtücher mit Pflanzenmuster im Sand, daneben auf jeder Seite ein Rucksack. Ihre Sachen. Beide hatten genau den gleichen Kleiderstapel: graues T-Shirt, graue Hose, graue Schuhe, alles ordentlich auf den Handtüchern gefaltet.
Meine Gefängnisklamotten waren auffällig zerlumpt und schmutzig, also schnappte ich mir schnell einen der Kleiderstapel inklusive der Schuhe und warf mir einen der Rucksäcke über die Schulter. Als ich es darin klimpern hörte, freute ich mich. Vielleicht war das Geld! Zum ausgiebigen Jubeln blieb aber keine Zeit, denn ich merkte, dass die Jungs in schnellem Tempo auf mich zugekrault kamen. Ich machte eine knappe Entschuldigungsgeste in der Hoffnung, sie würden verstehen, dass ich die Sachen wirklich brauchte. Als eine Art Entschädigung ließ ich ihnen meine alte, fast leere Umhängetasche da, in der sich mein Fluchtseil und ein Buch mit dem Titel »Poetik« befanden.
Seltsam, aber unser Gefängnislehrer hatte gesagt, wenn jemand eines Tages aus diesem Loch entkommen würde, müsse er dieses Buch mitnehmen und es dem ersten Menschen geben, der so aussah, als könne er lesen.
Auf seinen Wunsch hin hatte ich den verdammten Wälzer durch Wälder und Täler geschleppt, war mit dem Buch auf dem Rücken vor wer weiß was für Wölfen davongerannt und jetzt gab ich es den erstbesten wachsamen jungen Leuten zu lesen. Bitte sehr! Grüße aus dem Gefängnis! Da seht ihr, welche bücherverschlingenden Monster dort lauern!
•
Während ich in einem leichten Laufschritt vor den Jungs davonlief, dachte ich sehnsüchtig an Petit. Er las nur Bücher, die mit dem Fliegen oder mit Flugzeugmechanik zu tun hatten. Mein bester Freund, von dem ich mich nicht mehr hatte verabschieden können, war genau wie meine Schwestern und ich im Gefängnis aufgewachsen und er behauptete, Pilot zu sein. Pilot! Hat man je so etwas Dummes gehört?
»Petit, hast du schon im Mutterleib Flugunterricht bekommen? Hast du Babykurse für Flugmechanik besucht oder wann hattest du die Zeit, eine Pilotenausbildung zu machen?«, fragte meine Schwester Marmelade ihn manchmal schroff.
Sie war selten nett zu jemandem, selbst wenn sie ihn mochte. Und sie mochte Petit. Das taten alle. Trotzdem hatte sie recht. Wie hätte Petit einen Beruf erlernen sollen, wenn er doch schon genauso lange im Gefängnis war wie wir?
Petit zuckte verlegen mit den Schultern, so als hätte er selbst keine Ahnung, wo er all die Details über Flugzeuge und das Fliegen gelernt hatte.
Trotz allem hatten meine Schwestern ganz fasziniert zugehört, wenn er von seinem legendären Flug über die afrikanische Wüste erzählte. Er berichtete von einer Notlandung, von eiskalten Nächten und sengend heißen Tagen, davon, wie er sein kaputtes Flugzeug im letzten Moment reparieren konnte, kurz bevor er verdurstete. Fanta war ganz Ohr, lauschte mit tellergroßen Augen und offenem Mund, als wollte sie seine Erzählung verschlingen. Im Ernst, Fanta hätte sicher monatelang ohne Essen auskommen können, wenn sie nur Geschichten zu hören bekommen hätte. Während sie zuhörte, griffen Marmelades Finger nach einem Stift und sie fing an, ihn über das Papier zu bewegen. Es entstanden Wolken, ein Himmel, das runde Vorderteil eines Flugzeuges und daneben Petits ausgemergelte Gestalt.
»Das kann nicht sein!«, sagte Fanta mit leuchtenden Augen.
»Das kann auf keinen Fall stimmen!«, sagte Marmelade verzückt, die Spitze des Stifts immer noch auf dem Papier.
Petit zuckte nur mit den Schultern.
»Okay, oui, dann sagt ihr doch, was ich für ein Leben hatte, wenn ihr die Geschichte besser kennt.«
»Nein, erzähl du! Was ist passiert, als du aus der Wüste zurückgekommen bist? Wohin bist du gegangen, wer hat auf dich gewartet, was für ein Zuhause hattest du? Welche Möbel hattet ihr? Was habt ihr gefrühstückt, Petit? Biiiitte!«, bettelte Fanta und auch Marmelade sah ihn mit einem flehentlichen Blick an.
Ich muss zugeben, am allermeisten auf der Welt wollten wir Kinderhäftlinge wissen, wie es sich anfühlte, ein richtiges Zuhause zu haben, wie das Leben war, wenn man richtige Eltern hatte.
Petit schüttelte traurig den Kopf. Wir haben ihn nie gefragt, ob er unglücklich darüber war, dass er sich nicht an sein Zuhause erinnern und uns nichts davon erzählen konnte, oder darüber, dass niemand außer Fanta ihm seine Fluggeschichten glaubte. Oder ob es vielleicht daran lag, dass er selbst nicht verstand, wie das alles möglich sein konnte.
»Vielleicht war es nur ein Traum«, sagte er manchmal leise und niedergeschlagen.
•
Wie auch immer, jetzt musste ich einen Zahn zulegen, denn die wütenden Rufe der Jungs kamen immer näher. Offensichtlich waren sie nicht erfreut über die Umhängetasche, das Seil und die »Poetik«. Immerhin gab es hier Jugendliche, die ganz normal aussahen und wirkten, die rannten und schwammen. Vielleicht würde ich eines Tages einen von ihnen kennenlernen, mich mit ihm anfreunden. Aber weiter konnte ich nicht denken, denn ich musste mich ganz schön abhetzen.
Erst einmal ging es nur darum zu entkommen, dann würde ich mir einfallen lassen müssen, wie ich überleben sollte, herausfinden, wo ich Brötchen herbekam, an was für einen Ort ich da geraten war und wo ich wohnen konnte. Ja, und welche Möglichkeiten es hier für jemanden in meinem Alter gab, um Geld zu verdienen.
Vielleicht könnte ich in einem Zoo arbeiten und mich um die Tiere kümmern oder in einer Bäckerei Brot backen, aber andererseits waren meine Arbeitserfahrungen sehr dürftig. Na ja, ich hatte die Wäsche der Gefangenen gemacht, Böden, Treppen, Fenster und Wände geputzt und alte und kranke Häftlinge gewaschen, Geschirr gespült und Kloschüsseln gesäubert. Ich hatte auch löchrige Laken geflickt, Schach gespielt und bestimmt einen Lkw voller Sachbücher gelesen. Mit diesen Fähigkeiten würde ich wohl irgendwo unterkommen, vielleicht in einer Schulbücherei oder in einer verdammten Wäscherei, wenn ich sonst nirgendwo etwas fand. Das dachte ich damals, während die Jungs nach und nach aufholten.
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Da glitt lautlos eine Straßenbahn heran und hielt an der Haltestelle in meiner Nähe. Einen Moment lang wunderte ich mich über ihre geräuschlose Ankunft, als es plötzlich aus den Lautsprechern schallte: »Straßenbahnlinie Gelb Richtung Flohmarkt, über Kraftwerk und Fitnesscenter! Straßenbahnlinie Gelb Richtung Flohmarkt, über Kraftwerk und Fitnesscenter!«
»Flohmarkt« stand auf dem Papier, das der Vogel fallen gelassen hatte, also sprang ich mit zugehaltenen Ohren in den Wagen, als wäre der Zettel eine Anweisung an mich gewesen. Die Tür schloss sich und die Straßenbahn setzte sich, gerade als die atemlosen Jungs die Straßenecke erreichten, ruckartig in Bewegung.
Ich dachte an meine Schwestern, die im Gefängnis geblieben waren, und erstattete ihnen in Gedanken Bericht: »Zehn
Minuten in der neuen Stadt, und euer talentierter Bruder und Retter lebt noch. Fanta, du wärst längst zwischen den Zähnen des erstbesten räudigen Fuchses gelandet, und Marmelade, die Dunkelheit des Waldes hätte dich aufgesogen! Seid also froh, dass ausgerechnet ich, der kluge und zu allem fähige Oboi, die Gelegenheit bekommen habe, diese wichtige Operation namens ›Finde das gelbe Haus‹ auszuführen.«
•
Ich kniff die Augen zusammen, um Wegweiser, Straßenschilder, Tafeln mit den Namen der Stadtviertel oder irgendetwas anderes zu erkennen, das mir geholfen hätte, mich zu orientieren, aber weit und breit war nichts Geschriebenes zu sehen. Stattdessen ertönten an jeder Haltestelle Durchsagen aus den Lautsprechern der Straßenbahn: »Inhaltszentrum! Biosphäre Savanne! Brotfabrik! Studio! Energieverteilungspunkt! Fitnesscenter!«
Der Wind riss heftig an den alten Bäumen, Äste fielen auf die Straße. Es begann zu nieseln. Wie aus dem Nichts tauchte jemand auf, der sofort die heruntergefallenen Äste und Blätter wegräumte. Und verschwand.
Okay. Hier schätzte man also … laub- und astfreie Straßen. Vielleicht wird das ja mein nächster Job, dachte ich damals.
•
Ich bemerkte, dass es in den Geschäften keine Schilder gab, sondern stattdessen Lautsprecherwerbungen, die die Menschen dazu aufforderten, die Obsthandlung, den Hamburger-Imbiss namens »Energienahrung« oder das Fitnesscenter zu besuchen. Fahrerlose Busse riefen unterwegs ihr Ziel und die Haltestellen aus. Anstelle von Schildern gab es Videos, in denen die Umgebung der Endhaltestellen zu sehen war, und verschiedene kurze Melodien teilten den Leuten mit, um welche Gebäude es sich handelte: Hier ist der Gemüsegarten, plimplim. Dies ist das Hallenbad, pimpadapom, das hier das Rathaus, trattaraa, hier das Ostseezentrum, plimplom, der Sportpark und piep, piep, ich bin ein piepender Laternenpfahl.
Ziemlich seltsam.
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Was ich über das Leben außerhalb unseres Gefängnisses, Tómos-Biblos, wusste, stammte fast ausschließlich aus den Erzählungen anderer Gefangener und dem, was ich in Sachbüchern gelesen hatte. Meine Schwestern und ich hatten kaum Erinnerungen an die Zeit davor. Besonders viel Wissen über die Welt hatte ich in der Gefängnisakademie sammeln können, die Aristo leitete und die wir jeden Tag besuchten. Er hatte viel Interessantes zu erzählen gehabt. Seine Lieblingsbeschäftigung war das Nachdenken. Aber er wusste auch jede Menge über Mathematik, Naturwissenschaften, Astronomie und Literatur. Bei jeder Gelegenheit hatte er eine seiner Weisheiten abgefeuert. Wenn Fanta, Marmelade und ich uns stritten, was ungefähr hundertmal am Tag passierte, sagte er: »Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.« Wenn wir ein Wettrennen machten, um herauszufinden, wer von uns der Schnellste war (ich), sagte er: »Wo ein Wettkampf ist, da ist auch ein Sieg.«
Er erzählte uns von alten Kriegen und Eroberungen. Er mochte auch unsere Fragen: »Warum haben die Menschen so viel Krieg geführt? Wie haben sie sich das überhaupt getraut, hatten sie keine Angst zu sterben?« Es schien, als hätte Aristo einfach auf alles eine Antwort. Aber als Fanta fragte: »Gibt es heute noch Kriege?«, wusste er keine und lächelte nur.
»Warum erzählst du uns, wie es früher war?«, fragte ich. »Warum nicht davon, wie es heute ist? Warum wir hier im Gefängnis sind und wann wir hier rauskommen?«
Da wurde Aristos Miene düster und er seufzte. »Selbst im Hirn des weisesten Mannes gibt es einen törichten Winkel.«
»Weißt du also nichts über die Gegenwart?«, hakte Marmelade nach, und darauf antwortete Aristo nur: »Nein, nichts.«
•
Als das Megafon der Straßenbahn lauthals den Flohmarkt ankündigte, fiel mir der Vogel wieder ein. Und da ich sonst noch keine Reisetipps bekommen hatte, beschloss ich, einen Abgang zu machen.
Der Flohmarkt erstreckte sich über eine riesige Fläche, sodass man nicht auf einen Blick erkennen konnte, wo er aufhörte. Es gab Hunderte von Verkäufern und Tausende von Käufern. Die Menschen strömten durch die verwinkelten Gassen, die Standbesitzer saßen erschöpft von der Spätsommerhitze an ihren Tischen oder auf ihren Decken. Auf den ersten Blick sah der Markt genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Allerdings fiel mir eine altmodisch gekleidete Frau mit Schafen auf, die einen schweren Wollsack auf dem Rücken trug, während hinter ihr jemand mit schwarzem Lederanzug und Helm auf einer Art fliegendem Brett vorbeisauste.
Vergangenheit und Zukunft direkt nebeneinander.
Staunend betrachtete ich die Stände, an denen die seltsamsten Sachen verkauft wurden. Maschinen, die ich nicht kannte, bizarr geformte Schalen, Pflanzen und außergewöhnliche Klamotten. Schamlos starrte ich die Leute an. Ihre Schuhe, ihre Taschen, ihre seltsamen Outfits, ihre bunten Haare und die Pflanzen, die sie wie Haustiere im Arm hielten, oder die Tiere, die sie an der Leine führten oder in ihren Taschen mit sich herumtrugen. Es waren definitiv keine Hunde, sondern Nerze, Dachse, Eichhörnchen, Möwen und sowas Ähnliches. Mehrere Menschen aßen im Gehen ein Brötchen, was meinen Magen knurren ließ. Sie schauten auf die Verkaufstische oder starrten auf das Gerät in ihrer Hand, das matt leuchtete. Ich versuchte, einen besseren Blick darauf zu erhaschen. Diese Dinger sahen aus, als wären sie ein Teil der Hand, als befänden sie sich unter der Haut. Doch anscheinend zeigten sie ihr Bild nur dem eigenen Betrachter, denn ich konnte nichts von dem sehen, worauf die Leute starrten.
•
An einigen Ständen verkauften Kinder ihre zu klein gewordene Kleidung, selbst gezogene Setzlinge von Obstbäumen, Ableger von Weinreben, Nadelbäume und Arten, die ich noch nie gesehen hatte. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich in einem Gefängnis auf einer abgelegenen Felseninsel hoch im Norden aufgewachsen bin und nicht in einem Garten. Dabei erklärten sie den Leuten fachkundig, wie die Pflanzen gepflegt werden mussten. Frauen priesen Elektroschrott an, indem sie riefen: »Inverter!«, »Multilinks!«, »Sinuswellen-Akkus!« Ich wusste nicht, was das alles war, denn als jemand, der in Tómos-Biblos aufgewachsen ist, hatte ich wenig Erfahrung mit elektronischen Geräten. Aber die Kleidung erkannte ich: Jacken, Shirts, Hosen, Socken.
Auf dem Markt gab es auch leere Tische, hinter denen jeweils ein Mann oder eine Frau stand und in kurzen Abständen rief: »Neue Inhalte! Updates! Energiesparende Funktionen! Das Neueste vom Neuesten!«
Oder: »Körner und Samen!«, »Wolle!«, »Pilzmyzelien!«
Es sah alles furchtbar alt aus, und gerade als ich dachte, dass die Straßenbahn bestimmt eine Zeitmaschine gewesen war, die mich in die Vergangenheit befördert hatte, schwebte lautlos ein unglaubliches Gefährt vorbei. Ein Miniatur-Luftschiff oder ein Hochgeschwindigkeitszug aus glänzendem Kupfer, bei dem ich mich dann wieder fragte: Was für eine seltsame Welt ist das hier eigentlich?
•
Da entdeckte ich an der Seite einen Tisch, an dem eine ältere Frau Blumentöpfe aus Ton verkaufte, die über eine Art inneres Bewässerungs- und Wärmesystem verfügten. Auch Heidelbeeren und Heidelbeerstecklinge, Moos, Fichtensetzlinge und anderes Waldzeugs hatte sie im Angebot. Ihre tiefblauen Augen erinnerten mich sofort an meine Schwester Marmelade. Der Gedanke an sie war jedes Mal wie ein Schlag in die Magengrube. Wir waren ohne Eltern wie Kartoffeln in einem kalten und dunklen Gefängnis herangewachsen, aber immerhin gemeinsam. Wir waren ein unzertrennliches Dreiergespann, auch wenn wir uns ständig stritten und rauften.
Genau in dem Moment warf mir die Frau einen langen, prüfenden Blick zu und ich hatte sofort das Gefühl, dass sie mir damit etwas sagen wollte. Kennst du die Hexen aus den Märchen, die andere mit ihrem Blick verzaubern können? Jep. Glaubst du an so was? Ich auch nicht, kein bisschen.
Was ist das Sinnloseste auf der Welt? Geschichten! Wozu brauchte man all die schwachsinnigen Erzählungen über Hexen und sprechende Bären? Pure Zeitverschwendung! Hätten die Menschen all die Zeit, die sie mit dem Lesen von reinen Fantasiegeschichten verplempert haben, sinnvoll genutzt, was hätten sie dann alles schaffen können? Hätten sie statt Märchen Fakten gelesen, wäre die Welt voller Erfindungen, eine großartiger als die andere. Niemand müsste hungern oder krank werden.
Das dachte ich an jenem heißen Augusttag, während ich mich über den seltsamen, auffordernden Blick der Frau wunderte.
Sie sah sehr freundlich aus. Eigentlich war sie der erste Mensch, der mich überhaupt beachtete, abgesehen von den Jungs, die mich verfolgt hatten. Sie trug eine abgenutzte Hose und einen Wollpullover, vielleicht war sie arm. Trotzdem strahlte sie Sicherheit und Wärme aus, und obwohl mich die Tontöpfe und der Waldkram nicht interessierten, merkte ich, wie meine Beine mich wie von allein zu ihrem Tisch hinübertrugen. Vielleicht würde sie mir etwas über diesen Ort erzählen.
•
Die Leute betrachteten die Töpfe der Frau, aber solche gab es auch an vielen anderen Ständen, und so blieben nur die allerwenigsten länger stehen. Nebenbei bemerkt waren Blumentöpfe und Pflanzen auf dem Markt ein echter Renner.
Dann fiel mein Blick auf eine Kiste neben dem Verkaufstisch. Darin lag ein dunkles, in Leder gebundenes Buch. Auf dem Buchrücken stand kein Name. Es war dick und schwer.
Ich weiß nicht, warum ich danach griff, denn jetzt, da ich gerade aus dem Gefängnis voller Bücher entkommen war, hatte ich nicht gerade Lust zu lesen. Vielleicht nahm ich es in die Hand, weil es eben ein Gegenstand war, der mir durch und durch vertraut war, den ich gefahrlos anfassen konnte, im Gegensatz zu den merkwürdigen Geräten, die hier verkauft wurden. Und es konnte ja sein, dass es ein altes Sachbuch war. Vielleicht handelte es von Entdeckern oder Botanikern, die mit dem Schiff zu fernen Urwäldern segelten, Pflanzenproben in kleinen Glasröhrchen sammelten, sie erforschten und dann in ihren eigenen Gewächshäusern die seltsamsten fleischfressenden Pflanzen züchteten. Vielleicht hätte ich so etwas sogar als Abendlektüre gelesen.
Die Frau lächelte mir aufmunternd zu. Das Buch glänzte in der Spätsommersonne fast wie Öl, und es fühlte sich warm an. Als hätte es eben noch jemand in seiner großen warmen Hand gehalten.
»Ein echtes Schnäppchen«, sagte die Verkäuferin sanft. Ihre Stimme war weich und klangvoll, es lag etwas sehr Angenehmes, vielleicht sogar Vertrautes in ihr. Mich überkam das Gefühl, dass ich mehr von dieser Stimme hören wollte. Ich öffnete das Buch und blätterte die ersten Seiten durch. Es war leer, bis auf die erste Seite, auf die oben jemand mit Bleistift ein altes Gebäude gezeichnet hatte. Es war fast vollständig von Pflanzen bedeckt. Am Rand waren Vögel, Tiere und herumlaufende Spielkarten abgebildet.
»Haben Sie das gezeichnet?«
Die Frau nickte.
»Das ist der Anfang der Geschichte, oder besser gesagt, das Ende. Der Mittelteil auch.«
»Dieses eine Bild? Ist die Geschichte misslungen oder warum ist sie nicht fertig?«, fragte ich, aber sie lächelte nur ruhig und sah mich irgendwie wehmütig an. Ein bisschen so, als wollte sie mich anflehen, das Buch zu kaufen.
»Na, mir fällt schon eine Verwendung dafür ein«, sagte ich.
»Du brauchst dir gar keine auszudenken. Die wurde schon vor langer Zeit festgelegt.«
Erst befürchtete ich, sie würde mich veräppeln, aber vielleicht war dem gar nicht so. Sie wirkte nicht gemein, im Gegenteil: Alles, was sie sagte, klang freundlich und irgendwie zärtlich. Dann flüsterte sie: »Dieses Buch kann auch unschätzbar viel Gutes tun, es verändert alles …«
»Ja, ja, die Rehe werden zutraulich, die Gewässer werden klar, die Flüsse hören auf zu fließen und die Berge rücken näher, damit sie besser hören können, worüber wir reden«, ergänzte ich etwas genervt.
»Ja, wenn du willst, dass es so kommt. Aber dieses Buch kann die Menschen aus ihren Gefängnissen befreien und dir dabei helfen, das zu finden, was du für immer verloren geglaubt hast«, sagte die Frau jetzt mit heller und lauter Stimme.
Ich spitzte die Ohren. Alle meine Sinne waren augenblicklich messerscharf.
»Welche Gefängnisse meinen Sie?«
Die Verkäuferin musterte mich aufmerksam. Dann zuckte sie mit den Schultern und sagte langsam, während sich ihre Augen die ganze Zeit in meine bohrten: »Ein Leben wie im Gefängnis.«
»Aha …«, sagte ich enttäuscht. »Aber in dem Buch steht doch gar nichts, da ist nur dieses Bild.«
»Es wird schon noch fertig werden«, versicherte sie mir.
Ich schmunzelte. Vielleicht war die Frau doch etwas … wie sagt man … plemplem, wenn du weißt, was ich meine.
»Wie kann es fertig werden, wenn ich es kaufe?«, fragte ich.
»Du trägst einfach deinen Teil dazu bei.«
»Ich?! Glauben Sie etwa, dass ich hergekommen bin, um irgendein Märchen zu schreiben? Ganz bestimmt nicht!«, rief ich.
Unkontrolliert rutschte mir diese Abwehrtirade heraus, wie ich sie bei Versammlungen zur Arbeitsverteilung in Tómos-Biblos gelernt hatte. Ich muss sagen, ich habe nie verstanden, warum man immer so gelassen sein soll. Meiner Meinung nach haben ruhige Leute noch nie etwas zustande gebracht, im Gegensatz zu denen, die schnell reagieren. Die Mutigen und Starken. Wer war aus dem Gefängnis ausgebrochen? Ich! Wer war den Fängen der Raubtiere entkommen? Ich! Nicht wegen meines friedfertigen Charakters, sondern wegen meines Mutes, meiner Schnelligkeit und meiner Kraft!
Trotz all der Dinge, die ich gerade aufgezählt habe, fing ich an, in meinem Rucksack nach den Münzen zu kramen, die ich dort vermutete. Aber es waren gar keine. Es stellte sich heraus, dass die klimpernden Teile Flaschenkronkorken waren.
»Damit kannst du bei mir nicht bezahlen, aber du könntest sie bei Motorendonner oder Metallsäge eintauschen. Frag doch mal bei ihnen nach. Ich habe sie dort drüben zwischen den Bäumen gesehen«, sagte die Frau und deutete auf die großen Kastanienbäume.
Motorendonner und Metallsäge, alles klar, dachte ich gereizt. In was für einem verdammten Fantasieland war ich hier eigentlich gelandet?
»Ich dachte, ich hätte Geld im Rucksack«, sagte ich verlegen.
Die Verkäuferin bedeutete mir hastig zu schweigen. Sie flüsterte: »Hier hat niemand Geld. Hier wird nur getauscht oder mit Manus bezahlt, aber du hast natürlich keines. Ich sage es niemandem. Bei Metallsäge bekommst du für drei Kronkorken ein falsches Manus. Sieht täuschend echt aus. Du solltest dir eins besorgen, dann wirst du nicht so leicht erwischt.«
»Aha«, sagte ich.
Ich verstand nur Bahnhof. Auf einmal schnappte mir die Frau das Buch aus der Hand und wickelte es in Papier ein.
»Hier, steck es schnell in deinen Rucksack und zeig es niemandem. Sei vorsichtig damit!«
•
Ein plötzlicher Windstoß erfasste meine Haare und warf die Blumentöpfe auf dem Tisch um. Seufzend stellte die Verkäuferin sie wieder auf. Der Wind wehte eine Handvoll Blätter vom Ahornbaum neben uns und riss das Papier vom Buch, als wollte er ein Geheimnis preisgeben. Ich steckte es in meinen Rucksack und ging.
»Ich werde an dich denken, Kind!«, rief die Frau und es sah aus, als schimmerten Tränen in ihren Augenwinkeln. Bestimmt war sie verrückt. Aber ich muss sagen, dass ich sie schon etwas lieb gewonnen hatte. Waisenkinder schließen ja bekanntlich jeden ins Herz, der ihnen über den Weg läuft.
Durch den Sturmwind war die Luft voller Papiermüll. Die Bäume schwankten heftig hin und her, große Kastanienblätter flogen wie ausgerissene Vogelfedern umher und über mir brauten sich Regenwolken zusammen. Die Obdachlosen lehnten sich müde an Zäune und Hauswände, retteten Pflanzen vor dem Sturm und wickelten sich fester in ihre Decken.
Abwägend betrachtete ich die Leute, die mir entgegenkamen, bis ich vor einem recht gewöhnlich und freundlich aussehenden Mann stehen blieb und ihn fragte: »Wie heißt diese Stadt?«
»Die hat keinen guten Namen mehr«, sagte er und winkte ab.
»Mehr? Wieso?«
»Als sie unterging, verschwand auch ihr Name und vieles andere mit ihr. Niemand nennt diesen Ort mehr bei seinem richtigen Namen, so wie auch mich niemand bei meinem nennt.«
»Nicht? Warum nicht?«
»In der alten Zeit gab es alte Namen, in der neuen Zeit gibt es neue. Doch die der neuen Zeit sind nicht richtig. Pfui!« Angewidert spuckte der Mann auf den Boden.
»Dann sagen Sie mir die Namen dieser Stadt, den alten und den neuen.«
Der Mann sah sich um, hielt sich die Hand vor den Mund und hüstelte: »Berihella …«
Jep, das hatte er gesagt, da bin ich mir ganz sicher. Gleich danach schaute er sich mit einem wilden Blick um. Ich sah ihn verständnislos an und fragte: »Was haben Sie gesagt?«
Wieder machte er eine Handbewegung und fuhr fort: »Offiziell heißt diese Stadt Bergstadt. Aber jetzt mach, dass du wegkommst, bevor sie dich noch erwischen. Du bist zu neugierig. Wo immer du auch ausgebüxt bist«, blaffte er.
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Und in dem Augenblick riss die grauschwarze Wolkendecke über mir auf, Blitze schlugen krachend in das Dach des alten Gebäudes ein und es begann in Strömen zu regnen. Eigentlich wollte ich dem Rat der Frau folgen und mir mit den Kronkorken eine dieser komischen Attrappen kaufen, aber dann ließ ich es doch. Ich rannte los, um auf der großen Straße vor mir einen Unterstand zu finden, der mich vor dem Regen schützte. Bald wurde es dunkel in Bergstadt und die gewaltigen Donnerschläge spalteten mir fast den Kopf. Ich rannte zum nächstbesten Eingangstor, gerade als der Sturm so heftig tobte, dass die alten Bäume, die die Straße säumten, noch ein letztes Mal knarrten und schließlich mit lautem Getöse umstürzten.
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»Bei welchem Wetter seid ihr wohl geboren worden?«, fragte Tzeitel, unsere Musiklehrerin, einmal in der Gesangsstunde in Tómos-Biblos und lächelte.
Fanta antwortete mit ihrer schrillen und kindlichen Stimme: »Bei mir herrschte strahlender Sonnenschein. Bei Oboi war das Wetter langweilig und es flogen Sachbuchseiten durch die Luft …«
»Stimmt nicht!«, rief ich und ging gnadenlos auf meine einbeinige Schwester los.
»Als du geboren wurdest, verfaulte die Sonne am Himmel, und als Marmelade geboren wurde, ging sie aus, und das ganze Universum war voller schwarzer Wolken …«
»Hör auf«, brüllte Marmelade und stürzte sich auf mich. Kurz darauf rollten wir wie ein wütender Wirbelsturm über den Boden und kämpften, und wieder einmal brauchte es eine Handvoll großer Erwachsener, um uns zu bändigen.
»Aber ihr seid doch Drillinge, ihr seid am selben Tag geboren. Wie kann da das Wetter so wechselhaft gewesen sein?«, wunderte sich Tzeitel, als der Streit geschlichtet war.
Wie auch immer es gewesen war, in Wahrheit wussten wir nicht mehr, wie das Wetter war, als wir geboren wurden. Wo wir uns doch nicht einmal an unsere eigene Mutter oder an unsere Kindheit außerhalb des Gefängnisses erinnern konnten.
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Ein Wolkenbruch prasselte auf mich nieder, als würden über mir die Niagarafälle tosen, und aus dem Schutz des Torwegs heraus schaute ich zitternd zu. Mir wurde klar, dass ich keinen Ort hatte, an den ich gehen konnte, niemanden, den ich um Hilfe bitten konnte. Ich trug die Klamotten, die ich den Jungs geklaut hatte: ein graues Shirt, eine graue Hose und graue Schuhe, alles patschnass. In meinem Rucksack waren eine Flasche Johannisbeersaft und ein paar Scheiben gezuckerter Zwieback. Außerdem das alte Buch, das mir die Frau gegeben hatte und die paar Kronkorken. Das war’s.
Während ich bibbernd unter dem Torbogen stand, überlegte ich, was ich mit dem Buch machen sollte. Zuerst hatte ich die Idee, dass ich Karten hineinzeichnen und auf der Suche nach dem gelben Haus vielleicht diese Stadt kartieren könnte, aber dann fiel mir ein, dass ich auch etwas an meine Schwestern hineinschreiben könnte, über alles, was ich hier gerade sah, alles, was ich erlebte. Sicherlich würde ich einen Weg finden, das Buch ins Gefängnis zu schicken. Ganz bestimmt, dachte ich damals.
In Gedanken ging ich noch einmal den Moment durch, als ich meine Schwestern zum letzten Mal gesehen hatte. Ich dachte daran zurück, wie Fanta auf dem Boden saß und weinte, wie sie die Arme hob, um eine letzte Umarmung zu bekommen.
Sie sagte: »Ich kann an deiner Stelle gehen, Oboi. Ich habe zwar nur ein Bein, aber ich bin zäh, einfallsreich und habe viel Fantasie.«
Ich erwiderte: »Nein, Fanta. Auf so einer Reise nützt Fantasie nichts. Ich gehe, ich bin der Mutigste von uns.«
Und Marmelade? Auf den Bildern, die sie malte oder zeichnete, waren immer Hände zu sehen. Meistens waren sie zierlich. Manchmal waren sie geöffnet, und es flogen Vögel oder Farben oder ein kleiner Roboter heraus. Manchmal schimmerten sie einfach ein bisschen gespenstisch, oder es ragten Pflanzen oder Texte aus ihnen empor. Außen herum flogen immer Schmetterlinge. Aber im Herbst war Marmelade jedes Mal für lange Zeit schwermütig und schweigsam. Eine regelrechte Dunkelheit ging von ihr aus, und niemand konnte übersehen, dass diese sie wie eine Art mystischer Rauch umhüllte. Dann wurden die Hände, die sie an die Wände malte, wütender, ballten sich zu Fäusten oder griffen nach dem Text, um ihn zu zerreißen. Sie bohrten Löcher in die Gefängnismauern, durch die man ein Stück der düsteren Welt außerhalb sehen konnte.
Während ich an Marmelade dachte, fiel mir das Bild wieder ein, das sie mir ein paar Tage vor meinem Aufbruch gegeben hatte. Es war ein Bild von ihr selbst.
»Hier, Oboi. In mir ist es gar nicht traurig und dunkel.«
Sie reichte es mir. Es zeigte ihre Welt. Marmelade mit ihrer großen schwarzen Haarpracht. Kein Hintergrund, kein Gesicht. Alles, was Kinder normalerweise um sich herum zeichnen, hatte Marmelade in sich hinein gezeichnet: einen Himmel mit Sonne, Mond und Sternen und die Meere und Länder der Welt. Das Bild war ziemlich detailliert, und wenn man genau hinsah, konnte man unser Zimmer erkennen, also die Zelle Nummer 4582, außerdem Petit und sein Flugzeug (das noch nie jemand gesehen hatte, und natürlich vermuteten wir alle, dass es gar nicht existierte). Auf dem Tisch lag Marmelades Lieblingsbuch »Der Rabe und der Goldkäfer«. Die rechte Seite des Bildes war dunkler, dort war alles trostlos und schemenhaft, da waren Schatten, aus denen man nicht schlau wurde, und etwas Bedrohliches.
So war Marmelade. Das war es, was damit gemeint war, wenn man sagte, dass jemand den Blick nach innen richtete. Die Welt lag im Inneren und die äußere war gar nicht so wichtig.
»Lass mich gehen, kümmere du dich um Fanta. Mir machen die dunklen Wälder keine Angst«, sagte Marmelade.
Entschieden schüttelte ich den Kopf.
»Nein. Bleib du hier und zeichne. Ich bin am stärksten. Und am schlausten«, fügte ich hinzu und grinste, denn ansonsten hätte es Prügel gegeben, und dafür hatte ich keine Zeit mehr. Marmelade zog nur die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf.
Natürlich dachten wir darüber nach, wie unser Leben aussehen würde, wenn wir keine Waisen und Gefangenen wären, wenn wir ein Zuhause und Eltern hätten. Vielleicht wären wir nicht solche Streithähne gewesen. Wir prügelten uns oft so heftig, dass alle Gefangenen auf der Etage 177 aus voller Kehle nach der Gefängnisdirektorin Mega schrien, damit sie uns trennte und jeden in eine eigene Zelle sperrte. Aber so etwas tat Mega nicht. Unsere Angelegenheiten interessierten sie nicht, es war ihr ganz egal, was wir machten. Selbst wenn wir uns gegenseitig umgebracht hätten, wäre sie bestimmt nur froh gewesen, dass eine Zelle frei geworden war.
Mir kam der Gedanke, dass die Gefängnisdirektorin von allen Menschen, denen ich bisher begegnet war, am wenigsten menschlich war. Mega kannte wahrscheinlich keine anderen Gefühle als Abscheu und machtbedingte Selbstgefälligkeit. Keine Freude, keine Trauer oder Niedergeschlagenheit, nichts. Was war so jemand für ein Mensch? Wer steckte so viele Leute ins Gefängnis – Tausende, sogar Kinder – und ließ sie dort schmoren, ohne ihnen überhaupt zu sagen, warum?
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Wir Drillinge waren also Sommer wie Winter zusammen. Ich immer mutig und zu allem bereit, Marmelade schwermütig wie ein Gewitter, bestenfalls mit einem Stift in der Hand, Fanta mit ihrem einen Bein, zu dünn, immer blass, aber mit einer grenzenlosen Fantasie, hartnäckig und lustig. Wir drei waren eine Familie und jetzt hatte ich sie zerstört, nur wegen eines Briefs auf einem kleinen Zettel, dessen Absender ich nicht kannte. Eines Morgens lag er einfach auf dem Boden unserer Zelle.
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Ahoi! (Natürlich war ich mir ganz sicher, dass dort Oboi stand, aber meine Schwestern haben das vehement abgestritten, und natürlich hatte das wieder einmal eine Rauferei zur Folge.)
Das Schiff ist rot und auf seiner Flanke steht PILOT. Es bringt am Dienstag gegen 20:30 Uhr eine Ladung Lebensmittel zum nördlichen Bootssteg. Warte, bis sie die Fracht hineingetragen haben. Nach dem Anlegen geht die Besatzung einen Kaffee trinken. Dann kannst du sicher an Bord gelangen. Am Bug des Schiffes ist eine Plane, unter der ein Rettungsboot aus Gummi liegt. Versteck dich darunter. Wenn du das Festland erreicht hast, ist unter dem Steg eine Vorrichtung, auf der du weitere Anweisungen für deine Reise findest. Komm erst heraus, wenn der Schiffsführer weg ist. Ich hoffe, das Wasser ist nicht gestiegen und hat die Anweisungen zerstört.
GH
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Würdest du dich auf den Weg machen? Wenn du dein ganzes Leben im Gefängnis verbracht hättest? Wenn du nicht wüsstest, wer dieser Absender namens »GH« ist und keine Ahnung hättest, wohin die Reise geht und warum? Es könnte ja auch ein Test sein, der krankhafte Versuch der verrückten Gefängnisdirektorin, deine Loyalität auf die Probe zu stellen, oder irgendein dummer Scherz. Würdest du dich fragen: Warum passiert das mir, ich bin doch ganz normal, na ja, okay, ein bisschen besser als normal, aber trotzdem kein Superheld? Wer sollte denn meine Flucht geplant haben?
Ich kann dir sagen, dass gerade den Normalen, den etwas mutigeren Normalen, genau solchen wie dir und mir, ständig so etwas passiert. Von allen Seiten bin ich mit Einladungen zu Abenteuern überhäuft worden. Mitten im Unterricht hörte ich ein Geräusch aus dem Flur, das geradezu verlangte, dass ich aufsprang und losging; während des Essens huschte eine Ratte in ein Loch in der Wand und forderte mich unmissverständlich auf, ihr zu folgen. Je gefährlicher die Einladungen waren, desto mehr Mut und Weisheit erforderten sie und umso besser passten sie zu mir und vielleicht auch zu dir.
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Soweit ich weiß, hat so etwas in Tómos-Biblos allerdings noch niemand erlebt. Niemandem war es je gelungen zu fliehen und niemand hatte jemals auch nur einen einzigen Brief bekommen.
Tómos-Biblos lag auf der winzigen Insel V, hoch, hoch oben im Norden. Der Name V kam von der Form der Insel, die aussah wie der Buchstabe V. Auch das Gefängnis war V-förmig, es folgte dem Umriss der Insel. Wir wohnten im rechten Flügel, genau wie Petit, während Aristo zum Beispiel im linken lebte.
Da unsere Zelle auf der Außenseite lag, konnten wir nicht wie die Gefangenen auf der Innenseite zu den Fenstern des linken Schenkels hinüberschauen. Für meine Flucht war das nützlich, denn wenn wir auf der Innenseite gewohnt hätten, hätte ich nicht aus dem Fenster klettern können, ohne gesehen zu werden.
Die Insel V lag mitten in einem eisigen Meer und unter den Gefangenen wurde gemunkelt, das Festland sei mindestens eine Tagesreise entfernt, je nachdem, was für ein Schiff man hatte. Zu Fuß über das Eis zu gehen, wäre erbarmungslos gewesen und der Ausreißer wäre wahrscheinlich schnell erfroren. Kein Mensch hätte es geschafft, den Weg zu schwimmen. Die Eisbrecher hielten die Wasserstraße das ganze Jahr über offen, weshalb selbst gebaute Flöße spätestens auf offener See von den Eisschollen zermalmt worden wären.
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Meine Flucht verlief genau nach den Anweisungen, die ich gleich nach meiner Ankunft auf dem Festland in einer kleinen Blechdose unter dem Steg gefunden hatte. Unterwegs begegnete ich keinem einzigen Menschen und hatte daher auch nicht den geringsten Hinweis darauf, wer meine Flucht geplant hatte. Jemand wollte, dass ich freikam. Aber warum?
Offensichtlich hatte er oder sie gehofft, dass ich ausgerechnet in Bergstadt landen würde. Was war das für ein Ort? Ob das gelbe Haus am Rande genau dieser Stadt lag? Wie sollte ich die richtige Stelle finden? Wie sollte ich bis dahin überleben?
Am Abend beruhigte sich das Unwetter, und ich ging durch die Straßen von Bergstadt. Die Türen zu den Treppenhäusern und Lagerräumen der Hochhäuser waren fest verschlossen, sogar die Schuppen für die Mülltonnen waren zugesperrt. Für Fahrräder und andere Transportmittel gab es in den Innenhöfen kleine Unterstände – alles war hinter Schloss und Riegel, so als ob die ganze Stadt in ständiger Angst leben würde.
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Ich konnte allerdings nichts Beängstigendes sehen. Die Stadt kam mir lebendig vor und sogar einigermaßen freundlich. Die Menschen kümmerten sich um ihre Tiere. In den Innenhöfen und auf den Dächern waren kleine Gärten, in denen Obstbäume und Fichten oder Blumen und Gemüse wuchsen. In jedem Fenster standen Blumentöpfe, aus denen grüne Blätter sprossen. Auf jedem Balkon schien eine Art Wald, Dschungel oder zumindest eine Savanne zu wachsen. Die Leute sorgten für ihre Tiere und Pflanzen, aber anderen Menschen gegenüber waren sie gleichgültig. Sie starrten mit ernster Miene auf ihre leuchtende Hand und nickten ab und zu verständnisvoll, wenn sie ihnen etwas mitteilte. Jeder eilte irgendwohin, in Geschäfte oder alte Hochhäuser. Vereinzelt gab es aber auch große verlassene Gebäude, die so verfallen und deren Fenster so kaputt waren, dass Äste von Bäumen oder dicke Pflanzenranken aus ihnen herausquollen. Hinter den verlassenen Häusern breiteten sich große, grasüberwachsene Gärten aus, die mit Stacheldraht eingezäunt waren. Darin standen morsche Schaukeln oder Schuppen, es gab Klettergerüste und rissigen Asphalt. Es hatten einmal Kinder in ihnen gespielt. Ein Wind kam auf und blies in einer riesigen roten Wolke trockenen Sand durch die Gärten.
Wo waren all die Kinder jetzt?
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Nicht allen Menschen schien es so gut zu gehen, dass sie sich am Abend in irgendein altes Haus zurückziehen konnten, um sich aufzuwärmen. Nein. An den Straßenecken lungerten Männer und Frauen in abgenutzten Klamotten herum, mit zusammengerollten Matratzen unter dem Arm. Sie bettelten die Vorbeigehenden um Gegenstände, ein Stück Brot oder Obst an. Manche baten darum, für Batterien, ein Kabelstück oder ein paar Flaschenkorken die Schuhe der Passanten polieren zu dürfen. Andere waren bereit, Taschen zu tragen, die Straße zu kehren und diverse kleine Dienste zu übernehmen. Sie hatten keine leuchtenden Geräte in ihrer Hand.
In Toreinfahrten und Fensternischen lagen Leute mit ihren Hunden, Katzen, Decken und Pflanzen und ruhten sich aus. Sogar die Obdachlosen hatten haufenweise Töpfe mit verschiedensten Blumen, Obstbäumchen und Reben. Hier und da gab es kleine Parks, in deren hinteren Winkeln windige, aus Brettern und Stoffen gezimmerte Verschläge, Papageienkäfige oder Katzenzwinger, kleine Gemüsebeete und Gärten zu sehen waren, in denen die Obdachlosen ihre Schafe, Hunde und was sie sonst noch so hatten, bürsteten. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Stadt, aber was?
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Im Dunkeln blickte ich durch die Fenster hinein, in denen das Licht angegangen war. Ich stellte mir die Familien hinter den Scheiben vor, die gerade am Tisch saßen und zu Abend aßen. Plötzlich hasste ich jeden einzelnen von ihnen. Ich hasste diese blöde, kalte Stadt, in der die Leute ein Zuhause und eine Familie hatten. Im Gefängnis hatte niemand ein Zuhause oder eine Familie gehabt, darum musste man dort auch niemanden hassen oder beneiden.
Jetzt, im Nachhinein betrachtet, war es dumm und unvernünftig, die unbekannten Leute hinter den Fensterscheiben zu hassen, denn die Menschen, die unter ihren Lampen mit ihren »Familien« zusammensaßen, wussten nicht einmal, was das Wort »Familie« bedeutete. Aber davon hatte ich damals noch keinen blassen Schimmer gehabt und so malte ich mir aus, dass sie genau das Leben führten, von dem wir Gefangenen in Tómos-Biblos immer geträumt hatten.