Das Buch des Teufels - C.J. Sansom - E-Book
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Das Buch des Teufels E-Book

C.J. Sansom

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Beschreibung

Der Nr.1 Bestseller aus England und ›Der beste Sansom überhaupt‹ The Times Der Ostertag des Jahres 1543 wird für Anwalt Matthew Shardlake zum schlimmsten Tag in seinem Leben. Denn an diesem Morgen findet er die brutal zugerichtete Leiche seines Freundes Roger Elliard in einem Brunnen. Bald darauf wird ein neues Opfer gefunden, ebenso brutal zugerichtet, und wie Elliard liegt auch dieser Leichnam in blutrotem Wasser. Ein Glaubenseiferer, der auf diese Weise das Ende der Welt herbeiführen will? Oder einer, der vom Teufel besessen ist? Und welche Rolle spielt das Buch der Offenbarung nach Johannes mit seinen apokalyptischen Prophezeiungen? Matthew Shardlake fürchtet, dass es noch weitere Opfer geben wird.

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C.J. Sansom

Das Buch des Teufels

Historischer Kriminalroman

Roman

Aus dem Englischen von Irmengard Gabler

Fischer e-books

Weitere Titel von C. J. Sansom mit Matthew Shardlake:

Pforte der Verdammnis Feuer der Vergeltung Der Anwalt des Königs

KAPITEL EINS

Die hohen Kronleuchter in der Great Hall von Lincoln’s Inn erstrahlten im Schein der Kerzen, denn es war bereits später Nachmittag, als das Schauspiel begann. Die meisten Mitglieder der Innung waren anwesend, die Barrister in Amtstracht, ihre Gattinnen im Sonntagsputz. Nachdem ich eine Stunde gestanden und zugesehen hatte, begann mein Rücken zu schmerzen, und ich beneidete die wenigen älteren und gebrechlichen Mitglieder, die sich Sitzschemel mitgebracht hatten.

Die Theateraufführung am Lincoln’s Inn, traditionellerweise für den März angesetzt, hatte zu Beginn des Monats aufgrund der heftigen Schneefälle abgesagt werden müssen; jetzt, Ende März, war es für die Jahreszeit noch immer außergewöhnlich kalt, so dass der Atem der Schauspieler und Zuschauer wie Rauch zu den hohen Deckenbalken emporschwebte. The Trial of Treasure hieß das Stück in diesem Jahr, eine zähe Moralität über das eitle Streben nach irdischen Gütern mit prachtvoll kostümierten Schauspielern, die Laster und Tugenden der Menschheit verkörperten. Während die Tugend, ein Mime in blasser Seide mit einem langen, weißen, falschen Bart, der Heuchelei das trügerische Tun vorhielt – ein durchaus passender Inhalt vor einer aus Juristen bestehenden Zuschauerschaft –, ließ ich den Blick über die im Schatten liegenden Gesichter der Anwesenden schweifen. Kämmerer Rowland, ein schmalgesichtiger, sauertöpfischer alter Mann, äugte auf die Bühne, als frage er sich, ob er nicht besser eine Truppe mit weniger kostspieliger Ausstattung angeheuert hätte, obschon das Stück keiner aufwendigen Kulisse bedurfte. Nicht weit von mir bemerkte ich meinen alten Feind Stephen Bealknap, der aus gierigen blassblauen Augen seine Amtsbrüder musterte. Diese Augen standen niemals still, verharrten nie in denen des Gegenübers, und als er meinen Blick bemerkte, wandte er den seinen sogleich ab. Er war vermutlich der größte Lump, der mir je in Anwaltstracht untergekommen war; und es schmerzte noch immer, dass ich achtzehn Monate zuvor, auf Betreiben seines ruchlosen Mandanten Richard Rich, einen Prozess gegen ihn hatte niederlegen müssen. Heute fiel mir auf, dass er müde aussah, ja krank.

In einiger Entfernung hielt mein Freund Roger Elliard, der mich im Anschluss an das Stück zu sich zum Nachtmahl geladen hatte, die Hand seiner Frau. Eine neue Szene hatte begonnen; die Lust hatte mit der Bosheit einen Pakt geschlossen. Während die beiden sich in den Armen lagen, brach die Bosheit, von jähen Schmerzen erfasst, in die Knie.

O weh, wie wird mir wunderlich,

kann nicht mehr aufrecht stehen,

ein Krampf, ein Krampf erfasset mich,

ohn Hülf muss ich vergehen.

Die Bosheit, von Gott gerichtet, reckte die zitternde Hand den Zuschauern entgegen. Bealknap sah es mit Befremden; Roger dagegen wandte sich jählings ab. Ich kannte den Grund, würde ihn später darauf ansprechen.

Endlich war das Stück zu Ende; die Künstler verneigten sich, die Zuschauer klatschten, und wir setzten unsere kalten Glieder in Bewegung und traten hinaus in den Hof, den Gatehouse Court. Die Sonne stand schon tief, tauchte die roten Ziegelhäuser und den schmelzenden Schnee in umbrafarbenes Licht. Die Menschen strebten dem Tore zu oder den Quartieren innerhalb der Schule, die Mäntel fest um die Leiber geschlagen. Während ich am Eingang auf das Ehepaar Elliard wartete, nickte ich Bekannten zu. Die Zuschauer waren die Einzigen, die unterwegs waren, denn es war ein Samstag in der vorlesungsfreien Zeit, der Vorabend des Palmsonntags. Ich blickte hinüber zum Haus der Elliards. Alle Fenster waren hell erleuchtet, und im Innern sah man die Dienerschaft mit Servierbrettern einhereilen. Dorothys Abendgesellschaften waren vielgerühmt in Lincoln’s Inn, und sogar am Ende der Fastenzeit, da rotes Fleisch verboten war, würde sie zweifellos mit einem üppigen Mahl und feinen Gaumenfreuden aufwarten.

Trotz der Kälte war ich guter Dinge, seit langer Zeit wieder mit mir im Reinen. In einer Woche wäre Ostern und zudem der fünfundzwanzigste März, der offizielle Beginn des neuen Jahres, 1543. In den vergangenen Jahren hatte ich mich um diese Zeit zuweilen bang gefragt, welch grimmige Ereignisse das kommende Jahr wohl für mich bereithalten mochte. Doch diesmal lagen nur angenehme Fälle vor mir und die Aussicht auf kurzweilige Stunden mit guten Freunden. Heute Morgen hatte ich beim Ankleiden innegehalten, um im stählernen Spiegel im Schlafzimmer mein Gesicht zu begutachten, was ich selten tat, denn der Anblick meines Buckels verstörte mich noch immer. Ich bemerkte die grauen Strähnen im Haar, die tieferen Linien im Gesicht. Andererseits verliehen mir diese Merkmale eine gewisse vornehme Würde, wie ich fand; immerhin hatte ich im vorigen Jahr die vierzig überschritten und durfte nicht erwarten, die Züge eines blühenden Jünglings im Spiegel zu sehen.

An diesem Nachmittag, vor Beginn des Stücks, war ich hinunter an die Themse geschlendert, da mir zu Ohren gekommen, dass nach dem langen, bitteren Winter nun endlich das Eis gebrochen war. Ich stand an der Anlegestelle Temple Stairs und blickte hinunter auf den Fluss. Und fürwahr, inmitten der aufgewühlten grauen Flut trieben unter mächtigem Krachen und Knarzen gewaltige Eisbrocken gegeneinander. Nun hielt wohl endlich der Frühling Einzug, dachte ich bei mir, während ich durch den weichen, schmelzenden Schnee zurückgestapft war.

Trotz des schweren, mit Pelz ausgeschlagenen Mantels überkam mich allmählich ein Frösteln, denn obwohl die Luft sich ein wenig erwärmt hatte, war sie noch immer frostig, und ich hatte die Pfunde, die mir das schlimme Fieber vor achtzehn Monaten geraubt hatte, nicht mehr zugelegt. Ich zuckte ein wenig zusammen, als mir jemand auf die Schulter klopfte. Es war Roger, seine schlanke Gestalt in einen dicken Mantel gehüllt. An seiner Seite stand seine Frau Dorothy, die runden Wangen rot vor Kälte, und lächelte mir zu. Ihr braunes Haar war nach französischer Manier unter einer runden, perlenbestückten Haube verborgen.

»Du machst ja so ein nachdenkliches Gesicht, Matthew«, sagte Roger. »Ist es etwa die hohe Moral des Stücks, die dich nicht loslässt?«

»Hochfliegend, aber bleischwer«, stellte Dorothy fest.

»Ja, nicht wahr?«, pflichtete ich ihr bei. »Wer hat es ausgewählt?«

»Unser Herr Kämmerer.« Roger warf einen Blick auf Rowland, der mit finsterer Miene mit einem greisen Richter sprach. Roger senkte die Stimme. »Das Stück sollte politisch unverfänglich sein. Eine kluge Wahl dieser Tage. Aber eine italienische Komödie hätte uns gewiss besser unterhalten.«

Wir überquerten gemeinsam den Hof. Ich bemerkte, dass der Schnee auf dem Brunnen im Gatehouse Court, der seit drei Monaten gefroren gewesen, beinahe verschwunden war und Streifen grauen Eises zum Vorschein gebracht hatte. Bald schon würde der Brunnen wieder fließen, sein sanftes Plätschern über den Hof zu hören sein. Etliche Münzen lagen auf dem Eis; obwohl der Brunnen gefroren gewesen war, hatte man offenbar Münzen hineingeworfen und um den günstigen Ausgang der Geschäfte oder um das Glück in einer Herzensangelegenheit gebetet; denn auch wenn sie es leugneten, waren Rechtsanwälte doch ebenso abergläubisch wie der Rest der Bevölkerung.

***

Rogers Faktotum, ein alter Mann namens Elias, der seiner Herrschaft seit Jahren die Treue gehalten hatte, begrüßte uns an der Tür und geleitete mich nach oben, damit ich mir die Hände waschen konnte. Sodann begab ich mich in die Wohnstube, wo dicke Kerzen ein warmes, butterweiches Licht auf Stühle und Kissen warfen. Ein Dutzend Gäste, höhere Barrister samt Gattinnen, saßen bereits gemütlich zu Tisch, von Elias und einem Burschen mit Wein versorgt. Ein knisterndes Feuer wärmte den Raum, die Kräuter auf dem hölzernen Fußboden verbreiteten einen süßwürzigen Duft, und auf der gedeckten Tafel glänzte blankes Silber. Die Wände waren nach neuer Manier mit Gemälden in prächtigen Rahmen geschmückt, die meisten stellten biblische Motive dar. Der kostbarste Zierrat aber, Rogers Stolz und Freude, prangte über dem breiten Kamin. Es war ein hölzerner Fries, kunstreich gestaltet: An den Zweigen belaubter Bäume gediehen Blüten und Früchte, und allerlei Tiere äugten zwischen den Ranken hervor, Rehe, Wildschweine, ein Einhorn gar. Neben dem Schmuckstück stand Roger, in ein lebhaftes Gespräch mit Ambrose Loder vertieft, der meiner Kanzlei angehörte. Seine schlanke Gestalt sprühte vor Lebhaftigkeit, und er gestikulierte mit den feinen Händen, als er sich darum bemühte, den behäbigen Amtsbruder von seiner Meinung zu überzeugen, der reglos dastand, einen skeptischen Ausdruck im roten Gesicht.

Dorothy stand neben ihrem Mann und hatte eine Miene gutmütiger Belustigung aufgesetzt, und ihre geröteten Wangen bildeten einen Kontrast zu den schwarzen Roben der beiden Anwälte. Sie trug ein grünes Damastgewand mit goldenen Biesen entlang des Mieders und einem hohen Kragen, der sich zum Ausschnitt hin öffnete; es stand ihr gut zu Gesicht. Als sie meiner ansichtig wurde, entschuldigte sie sich und kam zu mir herüber.

Ich kannte Dorothy schon fast zwanzig Jahre. Sie war die Tochter eines Serjeanten in meiner ersten Kanzlei. Wir waren damals beide Anfang zwanzig gewesen, und Dorothys elegante Erscheinung, dazu ihr geistreiches, liebenswürdiges Wesen – eine seltene Kombination – hatten mich entzückt. Auch sie fand offenbar Gefallen an meiner Gesellschaft, mein missgestalteter Rücken schien sie nie zu stören, und so wurden wir gute Freunde. Nach einer Weile unternahm ich, wenn auch nur im Geiste, den Versuch, diese Freundschaft zu vertiefen. Ich hatte jedoch meine wahren Gefühle nicht geäußert und somit nur mir selbst vorzuwerfen, dass mittlerweile Roger, mein Freund und Amtsbruder, bereits um ihre Hand angehalten hatte und angenommen worden war. Er beteuerte mir später – und ich glaubte ihm –, er sei sich meiner Gefühle für Dorothy nicht bewusst gewesen. Sie jedoch hatte sie sehr wohl erraten, und um mir die bittere Pille zu versüßen, hatte sie betont, die Wahl sei ihr sehr schwer gefallen. Ich hatte das nicht recht glauben wollen, denn Roger war nicht nur klug, sondern auch wohlgestalt und zudem mit einem lebhaften, schwungvollen Temperament gesegnet.

Dorothy war wie ich mittlerweile über vierzig, wirkte aber trotz der zarten Fältchen um die Augen erheblich jünger. Ich beugte mich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die vollen Wagen.

»Einen fröhlichen Palmsonntag wünsche ich dir, Dorothy.«

»Dir auch, Matthew.« Sie drückte meine Hand. »Wie steht es um deine Gesundheit?«

»Neuerdings wieder recht gut.« Mein Rücken hatte mir in letzter Zeit oft Kummer bereitet, aber in den vergangenen Monaten hatte ich geflissentlich die Leibesübungen befolgt, die mein Arzt und Freund Guy mir verordnet hatte, und mich bald besser gefühlt.

»Du siehst auch gut aus.«

»Und du wirst mit jedem Jahr jünger, Dorothy. Möge das kommende euch Frieden und Wohlstand bringen.«

»Wir wollen es hoffen. Obwohl es ein schlimmes Vorzeichen gegeben hat, hast du davon gehört? Zwei riesige Fische, von der Themse angespült. Große graue Ungeheuer, halb so groß wie ein Haus. Sie müssen unter das Eis geraten sein.« Das Glitzern in ihren Augen verriet mir, dass sie die Geschichte, wie so vieles in der Welt, herrlich kurios fand.

»Lebten sie noch?«

»Nein. Sie lagen auf den Schlammbänken drüben in Greenwich. Die Leute haben zu Hunderten London Bridge überquert, um sie zu bestaunen. Und so etwas am Tag vor Palmsonntag, raunten sie, das könne nichts Gutes bedeuten. Gewiss stehe uns ein schreckliches Unglück bevor.«

»Die Leute sehen neuerdings allenthalben böse Vorzeichen, eine neue Marotte unter den rührigen Bibelleuten in London, wie’s scheint.«

»Das mag schon sein.« Sie maß mich mit einem forschenden Blick, erahnte vielleicht die bittere Note in meiner Entgegnung. Vor zwanzig Jahren waren Dorothy, Roger und ich glühende Anhänger der Reformation gewesen, hatten auf ein neues christliches Gemeinwesen in der Welt gehofft. Sie hofften noch immer. Doch obwohl die meisten ihrer Gäste in den frühen Jahren ebenfalls Befürworter der Reform gewesen waren, hatten sie sich in ein ruhigeres Leben zurückgezogen, eingeschüchtert und ernüchtert von der Flut der religiösen Konflikte, die in den zehn Jahren seit dem Bruch des Königs mit Rom über das Land hinweggeschwappt war. Ob Dorothy wohl ahnte, dass mir der Glaube beinahe abhandengekommen wäre?

Sie wechselte das Thema. »Uns zumindest haben nur gute Neuigkeiten erreicht. Wir haben heute einen Brief von Samuel erhalten. Die Straßen nach Bristol sind wohl wieder gangbar.« Sie zog bedeutsam die dunklen Brauen in die Höhe. »Und zwischen den Zeilen meinte ich zu lesen, dass er eine Liebste hat.«

Samuel war Rogers und Dorothys einziges Kind, und sie hüteten ihn wie ihren Augapfel. Vor einigen Jahren war die Familie nach Bristol gezogen, Rogers Heimatstadt, wo er das Amt des Stadtrichters bekleidet hatte. Im vorigen Jahr waren Roger und Dorothy dann nach Lincoln’s Inn zurückgekehrt, während Samuel, der mittlerweile achtzehn Lenze zählte und bei einem Tuchhändler in die Lehre ging, beschlossen hatte, in Bristol zu bleiben; sehr zum Verdruss seiner Eltern, wie sie mir verraten hatten.

Ich lächelte sanft. »Bist du sicher, dass ihr seinen Brief nicht nach euren Wünschen deutet?«

»Aber ja, er erwähnt sogar einen Namen. Elizabeth. Eine Kaufmannstochter.«

»Er wird nicht heiraten können vor Ablauf seiner Lehrzeit.«

»Das ist auch gut so. Dann haben die beiden noch ein wenig Zeit, um herauszufinden, ob sie auch zueinander passen.« Sie lächelte schelmisch. »Und ich könnte einen Spitzel nach Bristol schicken. Deinen Gehilfen Barak vielleicht. Wie ich höre, ist er der richtige Mann für solche Angelegenheiten.«

Ich lachte. »Barak ist voll und ganz mit Arbeit eingedeckt. Du musst dir schon einen anderen suchen.«

»Ich mag seinen boshaften Humor. Ist er wohlauf?«

»Er und seine Frau haben im vorigen Jahr ihr Kind verloren. Das hat ihn schwer getroffen, obwohl er sich nichts anmerken lässt.«

»Und seine Frau?«

»Ich habe Tamasin schon länger nicht mehr gesehen. Ich wollte die beiden längst einmal besuchen. Sie war freundlich zu mir, als ich im Fieber lag.«

»Die Pflichten am Court of Requests scheinen Euch gut zu bekommen, Herr Serjeant. Ich wusste immer, dass du eines Tages dieses Amt bekleiden würdest.«

»Tja.« Ich lächelte. »Die Arbeit gefällt mir.« Es lag nun schon über ein Jahr zurück, dass Erzbischof Cranmer mich an den Court of Requests berufen hatte, wo ich für die Anliegen armer Leute zuständig war. Mit meinen neuen Pflichten war die Würde eines Serjeanten, eines höheren Barristers, verbunden.

»Ich habe meinen Beruf noch nie so sehr genossen«, fuhr ich fort. »Obwohl die Arbeitslast groß ist und einige meiner Mandanten – nun ja, Armut allein macht noch keinen guten oder umgänglichen Menschen.«

»Das soll sie auch gar nicht«, entgegnete Dorothy entschieden. »Sie ist ein Fluch.«

»Ich beklage mich nicht. Meine Arbeit ist sehr vielfältig.« Nach kurzem Schweigen erzählte ich: »Ich habe einen neuen Fall, ein Junge, der ins Irrenhaus Bedlam verbracht worden ist. Ich treffe morgen seine Eltern.«

»Am Palmsonntag?«

»Die Sache duldet keinen Aufschub.«

»Ein geisteskranker Mandant also.«

»Genau darum geht es, ich soll herausfinden, ob er tatsächlich geisteskrank ist. Er wurde auf Befehl des Geheimen Kronrats ins Irrenhaus verbracht. Eigenartig, nicht wahr? Die Sache reizt mich, obwohl ich mir wünschte, sie hätte nichts mit dem Kronrat zu tun.«

»Du wirst dem Recht zum Durchbruch verhelfen, daran ist kein Zweifel.« Sie legte mir die Hand auf den Arm.

»Matthew!« Roger war neben mir aufgetaucht. Er war klein und drahtig, mit einem schmalen, aber gutaussehenden Gesicht, forschenden blauen Augen und stellenweise schütterem schwarzen Haar. Er war so lebhaft wie eh und je. Obwohl er vor vielen Jahren Dorothy für sich gewonnen hatte, war meine Zuneigung zu ihm ungebrochen. »Wie ich höre, hat Samuel euch geschrieben«, sagte ich.

»Jaja, der Schlingel. Endlich!«

»Ich gehe kurz in die Küche«, sagte Dorothy. »Ich komme gleich wieder, Matthew. Rede mit Roger, er hat interessante Ideen.«

Ich verneigte mich, als sie uns verließ, und wandte mich wieder Roger zu.

»Wie geht es dir?«, fragte ich leise.

Er senkte die Stimme. »Seither war ich verschont. Aber ich bin froh, wenn ich deinen Arztfreund aufgesucht habe.«

»Ich sah, wie du dich abwandtest während des Stücks, als die Bosheit plötzlich niedersank.«

»O ja. Es macht mir Angst, Matthew.« Plötzlich wirkte er verletzlich wie ein Kind. Ich drückte seinen Arm.

In den vergangenen Wochen hatte Roger mehrere Male völlig unvermittelt und ohne ersichtlichen Grund das Gleichgewicht verloren und war hingestürzt. Er fürchtete, es könne die Fallsucht sein, jene fürchterliche Krankheit, die den Betroffenen, in anderer Hinsicht ganz gesund, in regelmäßigen Abständen zu Boden warf, wo er sich besinnungslos in Zuckungen wand. Die Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen war, wurde von einigen als eine Art vorübergehender Irrsinn betrachtet, von anderen als Besessenheit. Die Tatsache, dass die spektakulären Symptome jederzeit und völlig unvermittelt auftreten konnten, hatte zur Folge, dass man die Kranken mied. Für Rogers Anwaltskarriere würde dies das Aus bedeuten.

Ich drückte seinen Arm. »Guy wird dem Übel schon auf die Spur kommen, das verspreche ich dir.« Roger hatte sich vor einer Woche beim gemeinsamen Mittagsmahl die Last von der Seele geredet, und ich hatte ihm geraten, so bald wie möglich meinen Arztfreund aufzusuchen – in vier Tagen.

Roger rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Hoffentlich sind es Neuigkeiten, die ich hören möchte.« Er senkte die Stimme. »Ich habe Dorothy erzählt, ich hätte Magenschmerzen. Ich hielt es für das Beste. Frauen machen sich doch nur Sorgen.«

»Wir doch auch, Roger.« Ich lächelte. »Und zuweilen völlig grundlos. Es könnte viele Ursachen geben für diese Stürze; und denke daran, du warst stets bei Bewusstsein.«

»Ich weiß. Das ist wahr.«

»Dorothy meint, du hättest eine neue Idee«, sagte ich, um ihn abzulenken.

»Ah ja.« Er lächelte gequält. »Ich erzählte Freund Loder davon, aber er scheint mir nicht sonderlich interessiert.« Er ließ den Blick über seine Gäste schweifen. »Keiner von uns hier ist arm«, sagte er leise.

Er nahm meinen Arm und führte mich ein wenig beiseite. »Ich lese gerade Roderick Mors’ neues Buch, Lamentation of a Christian against the City of London, in dem er als Christenmensch gegen die gesellschaftlichen Missstände in London wettert.«

»Sei auf der Hut. Manche nennen dergleichen umstürzlerisch.«

»Die Wahrheit erschreckt sie.« Rogers Tonfall war ruhig, aber eindringlich. »Bei Gott, Mors’ Buch ist eine Klageschrift gegen unsere Stadt. Es zeigt auf, dass der gesamte Reichtum aus den Klöstern dem König und seinen Höflingen zugeflossen ist. Die Klosterschulen und Hospitäler sind geschlossen, die Kranken sich selbst überlassen. Die Fürsorge der Mönche war kärglich genug, aber jetzt haben die Bedürftigen gar nichts mehr. Sie ist doch eine Schande für uns alle, diese Heerschar elender Menschen, die hinfällig und siech in den Straßen liegen. Gestern in Cheapside sah ich einen Burschen in einer Toreinfahrt kauern, dessen bloße Füße von Frostbeulen halbverrottet waren. Ich gab ihm einen halben Schilling, aber was er brauchte, war ein Spital, Matthew.«

»Tja, wie du schon sagtest, die meisten sind aufgelöst.«

»Und just aus diesem Grunde möchte ich Stimmen sammeln für ein Spital, das von den Inns of Court finanziert wird. Und zwar mit Geldern aus einem Fonds, der sich aus Vermächtnissen und Stiftungen seitens der Anwälte speist.«

»Hast du schon mit dem Kämmerer darüber gesprochen?«

»Noch nicht.« Wieder lächelte Roger. »Ich schärfe meine Argumente an solchen Burschen wie ihm.« Er wies mit dem Kopf auf die plumpe Gestalt Loders. »Unser lieber Ambrose dort meinte, die Armen würden mit ihren gefährlich stinkenden Ausdünstungen jeden Passanten beleidigen; vielleicht ist er deshalb ja bereit, Geld für die Säuberung der Straßen beizusteuern. Andere beklagen sich über die lästigen Bettler mit ihrem ewigen ›Vergelt’s Euch Gott‹. Ich verspreche ihnen ein ruhiges Leben. Es gibt genügend Argumente, um auch jene zu überzeugen, denen es an Nächstenliebe fehlt.« Er lächelte und sah mich dann ernst an. »Wirst du mir helfen?«

Ich überlegte einen Moment. »Selbst wenn du erfolgreich wärest, was könnte wohl ein einziges Spital gegen all das Elend ringsum ausrichten?«

»Immerhin würde es ein paar armen Seelen Erleichterung verschaffen.«

»Abgemacht, ich helfe dir.« Wenn jemand einer solchen Herausforderung gewachsen war, dann Roger. Mit seiner Tatkraft und dem wachen Verstand würde er eine Menge ausrichten. »Ich werde mich eintragen auf deiner Liste, und wenn du willst, helfe ich dir, weitere Unterschriften zu sammeln.«

Roger kniff mich in den Arm. »Ich wusste, auf dich ist Verlass! Bald werde ich ein Komitee organisieren –«

»Noch ein Komitee?« Dorothy war zurückgekommen, hochrot im Gesicht von der Küchenhitze. Sie sah ihren Mann fragend an. Roger legte ihr den Arm um die Mitte.

»Für das Spital, mein Goldschatz.«

»Die Leute werden sich kaum überreden lassen. Ihre Beutel bluten noch von all den königlichen Steuern.«

»Und müssen bald noch mehr leiden«, sagte ich. »Es heißt, das neue Parlament sei angehalten, noch mehr Geld aus dem Volke herauszupressen, damit der König Krieg führen kann gegen die Franzosen.«

»Was für eine elende Verschwendung!«, stellte Roger bitter fest. »Zumal, wenn man bedenkt, wie gut man das Geld zu Nutz und Frommen der Ärmsten verwenden könnte. Aber für Heinrich ist es wohl die rechte Zeit für solch ein Wagnis. Da die Schotten ihren König zu Grabe tragen und ein Kleinkind auf seinen Thron setzen mussten, können sie den Franzmännern nicht zu Hilfe eilen.«

Ich nickte zustimmend. »Der König hat die schottischen Lords, die er nach der Schlacht von Solway Moss gefangen nahm, heimgeschickt; sie mussten ihm angeblich schwören, ein Verlöbnis zwischen Prinz Edward und der kleinen Mary in die Wege zu leiten.«

»Du bist wieder einmal bestens im Bilde, Matthew«, sagte Dorothy. »Bringt Barak noch immer Klatsch und Tratsch von seinen Freunden unter den Dienstboten bei Hofe mit?«

»Und ob.«

»Der König soll ein neues Weib im Auge haben.«

»So munkelt man, seit Catherine Howard hingerichtet wurde«, sagte Roger. »Wer mag es diesmal sein?«

»Lady Latimer«, erwiderte Dorothy. »Ihr Mann ist letzte Woche gestorben. Übermorgen soll ein großes Begräbnis stattfinden. Es heißt, der König habe schon seit einigen Jahren ein Auge auf sie geworfen und werde jetzt Schritte unternehmen.«

Das war mir neu. »Die Ärmste«, meinte ich und fügte leise hinzu: »Sie muss um ihren Kopf fürchten.«

»O ja.« Dorothy nickte, schwieg eine Sekunde lang, klatschte dann in die Hände und rief: »Zu Tisch, meine Freunde.«

Wir begaben uns alle in den Speisesaal. Der lange, alte Eichentisch war mit silbernen Tellern gedeckt, und die Diener im Begriff, sie mit Speisen zu belegen. Den Ehrenplatz erhielten vier prächtige Kapaune; da noch immer Fastenzeit war, hätte das Gesetz um diese Zeit eigentlich nur Fisch erlaubt, doch da der Fluss in diesem Winter zugefroren war, waren Fische verboten teuer, und so hatte der König den Leuten ausnahmsweise gestattet, auch Geflügel zu essen.

Wir nahmen unsere Plätze ein. Ich saß zwischen Loder, mit dem Roger vorhin diskutiert hatte, und James Ryprose, einem älteren Barrister mit einem borstigen Schnauzbart im Gesicht, das zerfurcht war wie ein alter Hutzelapfel. Uns gegenüber saßen Dorothy und Roger und MrsLoder, die nicht minder rundlich und zufrieden aussah als ihr Gatte. Sie lächelte mir zu, bleckte die lückenlosen, schneeweißen Zähne, griff dann zu meinem Erstaunen in den Mund und holte beide Zahnreihen heraus. Ihre Zähne steckten, wie ich sah, auf zwei hölzernen Schienen, die über die wenigen grauen Stumpen gepasst waren, welche ihr noch verblieben waren.

»Hübsch, nicht wahr?«, fragte sie, als sie meinen verblüfften Blick bemerkte. »Ein in Chirurgie bewanderter Bader in Cheapside hat sie für mich angefertigt. Beißen kann ich freilich nicht mit ihnen.«

»So steck sie doch fort, Johanna!«, sagte ihr Mann. »Unseren Freunden vergeht doch glatt der Appetit.« Johanna zog eine Schnute, was dem fast zahnlosen Mund nicht leichtfiel, und legte ihre Zähne in eine kleine Schatulle, die sie in den Falten ihres Gewands verbarg. Ich unterdrückte ein Schaudern. Diese französische Manier, die sich einige Angehörige der oberen Schichten angewöhnt hatten, den Verlust der eigenen Zähne mit denen von Verstorbenen auszugleichen, mutete mich doch recht grausig an.

Roger sprach wieder von seinem Spital, diesmal an den alten Ryprose gerichtet. »Denke doch, wie viele kranke und hilflose Menschen wir von den Straßen holen, vielleicht sogar heilen könnten.«

»In der Tat, das wäre eine gute Sache«, stimmte der Alte zu. »Aber was wird aus all den gesunden, kräftigen Bettlern, die auf unseren Straßen herumlungern und uns um Geld angehen, manchmal unter Drohungen? Was soll aus denen werden? Ich bin ein alter Mann und fürchte mich zuweilen, allein außer Haus zu gehen.«

»Wie wahr.« Bruder Loder beugte sich an mir vorbei, um seiner Zustimmung Ausdruck zu verleihen. »Jene Lumpen, die im November letzten Jahres den armen Bruder Goodcole draußen vor dem Tor beraubten und dann töteten, waren zwei herrenlose Klosterknechte. Und sie wären nicht gefasst worden, wären sie nicht durch die Wirtshäuser gezogen, um sich ihrer Tat zu rühmen und das Geld des armen Goodcole zu verprassen, und hätte ein ehrlicher Wirt nicht den Konstabler gerufen.«

»Tja ja.« Ryprose nickte heftig. »Was Wunder, wenn herrenlose Knechte schamlos betteln und stehlen, da die Stadt, um unsere Sicherheit zu gewährleisten, bloß eine Handvoll Konstabler beschäftigt, die fast so alt sind wie ich.«

»Der Stadtrat sollte ein paar kräftige Männer dazu berufen, sie aus der Stadt zu peitschen«, meinte Loder.

»Nicht doch, Ambrose«, ermahnte ihn leise sein Weib. »Warum denn so hart? In jüngeren Jahren hast du doch stets argumentiert, die Arbeitslosen hätten ein Recht auf Betätigung, die Stadt solle ihnen Lohn bezahlen, wenn sie sich nützlich machten, beispielsweise die Straßen pflasterten. Du hast stets Erasmus zitiert und Juan Vives bezüglich der Pflichten, die ein Christliches Gemeinwesen den Unglücklichen schuldet.« Sie lächelte süß, nahm vielleicht Rache für die grobe Bemerkung zu ihren Zähnen.

»Das ist wohl wahr, Ambrose«, stimmte Roger ihr zu. »Ich weiß es noch gut.«

»Ich ebenso«, pflichtete Dorothy ihm bei. »Du hast ausgesprochen hitzige Reden darüber geführt, welche Pflichten der König den Armen gegenüber zu erfüllen habe.«

»Nun ja, ich weiß nicht recht, was wir tun sollten.« Loder blickte seine Frau stirnrunzelnd an. »Sollen wir etwa zehntausend räudige Bettler zu uns einladen und sie an der Tafel verköstigen?«

»Aber nein«, entgegnete Roger sanft. »Bloß unsere Stellung und unseren Reichtum nutzen, um ein paar wenigen zu helfen. Vielleicht kommen ja bald bessere Zeiten.«

»Es sind doch nicht nur die Bettler, die unsere Straßen heimsuchen«, fügte der alte Ryprose düster hinzu. »Da wären auch noch diese geifernden Bibelmänner, die neuerdings wie Pilze aus dem Boden schießen. Gleich am Ende der Newgate Street steht einer und keift den lieben langen Tag vom Herannahen der Apokalypse.«

Zustimmendes Murmeln war von allen Seiten zu hören. Thomas Cromwells Niedergang hatte dazu geführt, dass der Königjene Reformer nicht mehr protegierte, die ihn ermutigt hatten, mit Rom zu brechen. Heinrich VIII. hatte ihre Überzeugungen nie gänzlich geteilt, und jetzt bewegte er sich Schritt für Schritt auf die alten Religionsformen zu, eine Art Katholizismus ohne den Papst, mit zunehmend strikteren Maßnahmen gegen Abtrünnige; wer leugnete, dass Brot und Wein in der Eucharistie zu Jesu Leib und Blut gewandelt wurden, dem drohte die Todesstrafe. Selbst die Lehre vom Fegefeuer wurde wieder respektabel. All dies war den Radikalen ein Gräuel, für die die einzige Wahrheit in der Bibel zu finden war. Die Verfolgung hatte viele Reformer nur weiter an den radikalen Rand getrieben, und in London waren sie besonders dreist und laut.

»Wisst ihr, was ich heute auf der Straße sah?«, fragte ein weiterer Gast. »Vor einer Kirche hatte man Zweige in den Schnee gelegt für die Palmsonntagsfeierlichkeiten morgen. Da erschien eine Schar Lehrburschen und trat die Zweige beiseite. Dies sei eine papistische Zeremonie und der Papst sei der Antichrist, schrien sie.«

»Dieser religiöse Fanatismus bietet Lehrburschen doch nur eine Ausrede, tüchtig über die Stränge zu schlagen«, bemerkte Loder ungehalten.

»Es könnte Verdruss geben morgen«, sagte Roger.

Ich nickte. Am Palmsonntag würden die traditionellen Kirchen die üblichen Feierlichkeiten abhalten, die Kirchenvorsteher würden sich als Propheten verkleiden und ein Kind auf einem Esel in die Kirche einreiten lassen, während die radikalen Prediger in ihren Kirchen das Ritual als eine papistische Gotteslästerung schelten würden.

»Es wird wieder eine Säuberung geben«, stellte jemand düster fest. »Bischof Bonner will angeblich mit voller Härte gegen die Bibelleute zu Felde ziehen.«

»Doch nicht noch mehr Scheiterhaufen«, seufzte Dorothy leise.

»Die Stadtbevölkerung wäre nicht damit einverstanden«, sagte Loder. »Die Leute mögen zwar keine Radikalen, aber Scheiterhaufen noch viel weniger. Bonner wird so weit nicht gehen.«

»Nicht?«, sagte Roger leise. »Ist er nicht auch ein Fanatiker, nur auf der anderen Seite? Geht nicht ein Riss durch die Stadt?«

»Die meisten Leute wollen nur ein ruhiges Leben«, sagte ich. »Selbst jene unter uns, die einmal Radikale waren.« Ich lächelte Roger gequält zu. Er nickte zustimmend.

»Fanatiker auf beiden Seiten«, meinte missvergnügt der alte Ryprose. »Und wir armes gewöhnliches Volk dazwischen. Manchmal meine ich bang, sie bringen uns allen den Tod.«

***

Die Gesellschaft ging spät auseinander, ich brach als einer der Letzten auf. Als ich in die Nacht hinaustrat, war es wieder kälter geworden, so dass der gefrorene Schneematsch unter meinen Stiefeln knirschte. Meine Stimmung war recht gedämpft nach dem Gespräch bei Tisch. In der Tat war London heute voller Bettler und Fanatiker, eine unglückliche Stadt. Doch eine Säuberungsaktion würde die Sache nur noch schlimmer machen. Da war auch etwas, wovon ich den anderen nichts erzählt hatte; die Eltern des Burschen im Irrenhaus Bedlam waren radikale Protestanten, und die Geisteskrankheit des Sohnes war religiöser Natur. Ich hätte den Fall am liebsten abgelehnt, aber ich war verpflichtet, jeden Mandanten zu akzeptieren, den das Gericht mir zuwies. Und die Eltern wollten erwirken, dass ihr Sohn freikam.

Ich hielt inne. Leise Schritte, die hinter mir im Schnee knirschten. Ich drehte mich stirnrunzelnd um. Das Gelände von Lincoln’s Inn galt als sicher, doch gab es Stellen, wo ein Außenstehender sich Zugang verschaffen konnte. Die Nacht war dunkel, der Mond halb in den Wolken verborgen, und zu dieser Stunde warfen die wenigen erleuchteten Fenster Lichtquadrate in den Schnee.

»Wer ist da?«, rief ich.

Statt einer Antwort hörte ich erneut den Matsch knirschen, wie wenn jemand rasch das Weite suchte. Stirnrunzelnd folgte ich dem Geräusch. Es kam von der Rückseite des Hauses der Elliards, von der Mauer um Lincoln’s Inn. Die Hand am Dolch, bog ich um die Ecke. Vor mir lag die äußere Mauer. Wer immer sich dort befand, saß in der Falle. Doch da war niemand. Der kleine Abschnitt zwischen dem Gebäude und der zwölf Fuß hohen Mauer, erleuchtet von den Fenstern der Elliard’schen Wohnung, war leer. Ein Schauer rieselte mir den Rücken hinunter.

Dann sah ich, dass die Schneedecke auf der Oberkante der Mauer unterbrochen war. Wer immer hier gewesen war, war über die Mauer geklettert. Ich stand da und hielt Maulaffen feil; um diese Mauer hinaufzuklettern, bedurfte es einer Menge Kraft und Behändigkeit. Ich hätte es wohl kaum jemandem zugetraut, aber der leere Hof und die Spuren im Schnee sprachen ihre eigene Sprache. Stirnrunzelnd wandte ich mich ab; ich würde dem Pförtner sagen, er solle die Mauer mit Glasscherben bestücken.

KAPITEL ZWEI

Tags darauf begab ich mich schon zeitig in meine Kanzlei; die Eltern des Jungen, den man nach Bedlam verbracht hatte, wollten mich um neun Uhr aufsuchen. Die Informationen, die mir der Court of Requests zugesandt hatte, waren zwar nur skizzenhaft, aber doch hinlänglich verstörend. Der Geheime Kronrat selbst hatte den Jungen ins Irrenhaus verbannt, ohne im bischöflichen Gericht Anklage gegen ihn zu erheben, weil er »in seinem Wahn die wahre Religion beleidigt hatte«, wie es in dem amtlichen Schreiben hieß. Die Angelegenheit war also politisch und demnach gefährlich. Ich versuchte mir erneut einzureden, dass jede Einmischung meinerseits rein juristischer Natur sei, verfluchte aber mein Pech, dass dieser Fall zu mir, nicht zu meinem Amtsbruder gelangt war.

Die Schriften beschrieben den jungen Adam Kite als Sohn eines Steinmetzmeisters und Kommunikanten der Kirche St Martin in der Creek Lane. Ich hatte Barak Nachforschungen anstellen lassen, und er hatte mir berichtet, dass der Vikar ein, wie er es ausdrückte, »rechter Wüterich« sei.

Unerfreuliche Nachrichten. Solche gottesfürchtigen Männer waren mir im Umgang stets schwierig erschienen, unnachgiebige Grobiane, die einem Bibelverse einhämmerten, wie ein Zimmermann die Nägel ins Holz trieb.

Ich wurde jäh aus den sorgenvollen Gedanken gerissen, da ein matschiger Fleck mir die Beine fortriss und ich beinah gestürzt wäre. Jemand lachte.

In der ganzen Stadt riefen Kirchenglocken die Gläubigen zum Palmsonntagsgottesdienst. Ich nahm neuerdings nur noch ausnahmsweise am Gottesdienst teil, wenn man es von mir erwartete; am kommenden Sonntag zum Beispiel würde ich die Messe besuchen und meine alljährliche Beichte ablegen. Ich freute mich nicht sonderlich darauf. Das launische Wetter hatte uns wieder wärmere Temperaturen beschert, und die Chancery Lane war schlammig wie ein Acker. Als ich am Pförtnerhaus von Lincoln’s Inn vorüberging, fragte ich mich, welche Maßnahmen der Kämmerer unternehmen mochte, um die Mauer zu sichern. Ich hatte den Pförtner angewiesen, ihn über meinen Beinah-Zusammenstoß am Vorabend in Kenntnis zu setzen.

Ich spürte einen Tropfen im Gesicht; ein weiterer folgte, es regnete, der erste Regen nach zwei Monaten Schnee. Als ich meine Kanzlei erreichte, schüttete es in Strömen, und meine Kappe war tropfend nass. Zu meiner Verwunderung war Barak bereits eingetroffen. Er hatte den Kamin angeheizt und saß am großen Tisch, wo er für die morgige Gerichtssitzung Papiere ordnete. Um ihn herum stapelten sich Klagen, eidesstattliche Erklärungen und Zeugenaussagen. Sein gutaussehendes, verwegenes Gesicht sah müde aus, die Augen blutunterlaufen. Und seine Wangen waren stoppelig.

»Du musst dir den Bart stutzen lassen, sonst setzt man dich wegen Missachtung des Gerichts noch vor die Tür.« Trotz meines zuweilen barschen Umgangstons verband mich mit Barak eine enge Freundschaft. Wir waren ursprünglich zusammengekommen, weil Baraks verstorbener Brotherr Thomas Cromwell, Minister des Königs, uns auf eine gemeinsame Mission geschickt hatte. Seit Cromwells Hinrichtung vor drei Jahren arbeitete Barak für mich, ein eigenwilliger Gehilfe, aber ein sehr tüchtiger.

»Na schön«, maulte er verdrießlich. »Gleich kommen die Eltern des Idioten.«

»Rede nicht so von ihm«, sagte ich, während ich die Papiere durchsah, die er zurechtgelegt hatte. Sie waren allesamt in Ordnung und fein säuberlich mit Anmerkungen in Baraks spinnwebartiger Handschrift versehen. »Am Sonntag bist du hier?«, fragte ich. »Und gestern auch? Arme Tamasin, du vernachlässigst sie.«

»Ihr geht’s gut.« Barak erhob sich und schickte sich an, Bücher und Papiere fortzuräumen. Während ich seinen breiten Rücken betrachtete, fragte ich mich, was zwischen ihm und seiner Frau vorgefallen sein mochte, das ihn dazu bewog, so unbotmäßig viel zu arbeiten und – seinem Zustand nach zu urteilen – die ganze Nacht fortzubleiben. Tamasin war ein hübsches Kind, ebenso lebhaft wie Barak, und er hatte sie gern geheiratet vor einem Jahr, obwohl die Sache wegen ihrer Schwangerschaft notgedrungen eilig gewesen war. Ihr Sohn war noch am Tag der Geburt verstorben, und seither, obwohl Barak so herzhaft unverfroren war wie eh und je, bemerkte ich oftmals etwas Gezwungenes in seinen Scherzen, etwas Gehetztes in seinem Blick. Ich wusste, dass der Verlust eines Kindes manche Paare enger zusammenrücken ließ, andere auseinandertrieb.

»Du hast Adam Kites Eltern gestern gesehen, als sie den Termin vereinbarten«, sagte ich. »Goodman Kite und sein Weib. Wie sind sie so?«

Er drehte sich zu mir um. »Einfache Leute, er ist Steinmetz. Er säuselte etwas davon, welch eine Gnade Gott, der Herr, ihnen erwies, weil sie den Fall vor Gericht bringen durften, und setzte hinzu, dass Er die Menschen wahren Glaubens nicht im Stich lasse.« Barak rümpfte die Nase. »Bibeltreue, wie’s aussieht. Obwohl diese Gottesfürchtigen normalerweise recht selbstzufrieden einherstolzieren; die Kites dagegen wirkten eher wie begossene Pudel.«

»Überrascht mich nicht nach dem, was ihnen widerfahren ist.«

»Ja, ich weiß.« Barak zögerte. »Müsst Ihr in dieses Haus, zu all den Geistesgestörten, die sich die Kleider zerreißen und mit den Ketten rasseln?«

»Wahrscheinlich.« Ich sah wieder in meine Papiere. »Der Junge ist siebzehn. Vor den Rat gestellt am dritten März wegen unbotmäßig wilden Gebarens am Predigerkreuz im Kirchhof der Paulskathedrale, wo er ›eigenartig stöhnend und kreischend‹ aufgegriffen wurde. Nach Bedlam verbracht in der Hoffnung auf Heilung. Das ist nicht recht.«

Barak sah mich ernst an. »Er hat noch Glück, dass sie ihn nicht der Ketzerei bezichtigen. Denkt nur, wie man mit Richard Mekins und John Collins verfahren ist.«

»Der Kronrat ist vorsichtiger geworden.«

Mekins war ein fünfzehnjähriger Lehrbursche gewesen, der vor achtzehn Monaten in Smithfield bei lebendigem Leibe verbrannt worden war, weil er die leibliche Gegenwart Jesu Christi in der Eucharistie geleugnet hatte. Der Fall des John Collins war noch schlimmer: Der Bursche hatte einen Pfeil auf eine Christusstatue in einer Kirche abgeschossen. Viele hatten ihn deshalb für geisteskrank gehalten; doch im Jahr zuvor hatte der König ein Gesetz erlassen, demzufolge auch Geisteskranke hingerichtet werden durften, und so war auch Collins verbrannt worden. Die Grausamkeit dieser Fälle hatte das Volk gegen Bischof Bonners raues Glaubensregiment über die Stadt aufgebracht. Seither waren keine Scheiterhaufen mehr entzündet worden.

»Es heißt, Bonner sei wieder hinter den Radikalen her«, bemerkte Barak.

»Dasselbe war gestern Abend Tischgespräch. Was, glaubst du, geht hier vor, Jack?« Barak hatte noch immer Freunde unter denen, die am zwielichtigen Rand des königlichen Hofs arbeiteten, Schänken und Wirtshäuser aufsuchten, um die Leute auszuhorchen. Ich hatte den Eindruck, dass er neuerdings wieder eine Menge Zeit damit zubrachte, mit seinen verrufenen alten Freunden zu zechen.

Wieder blickte er mich ernst an. »Man raunt hinter vorgehaltener Hand, dass der König jetzt, da Schottland als Bedrohung wegfällt, mit Spanien ein Bündnis eingehen und gegen Frankreich in den Krieg ziehen will. Doch um Kaiser Karl zu imponieren, muss Heinrich mit aller Härte gegen Ketzer vorgehen. Angeblich will er ein Gesetz vorlegen, das Weibern und Nichtadeligen verbietet, die Bibel zu lesen, und Bischof Bonner dazu ermutigen, gegen die Londoner Bibeltreuen scharf vorzugehen. Das jedenfalls erzählen die Leute sich in Whitehall. Also seid auf der Hut.«

»Ah, verstehe. Danke dir.« Das machte die Sache nur umso heikler. Ich versuchte zu lächeln. »Worüber man letzte Nacht noch spekulierte, ist die Tatsache, dass der König sich angeblich eine neue Frau ausgesucht hat. Lady Latimer.«

»Auch das ist wahr, soweit ich weiß. Aber diesmal tut er sich schwer. Die Dame will ihn nicht.«

»Sie hat ihn abgewiesen?«, fragte ich erstaunt.

»Angeblich schon. Wer wollte es ihr verübeln? Der König hat jetzt Geschwüre an beiden Beinen, lässt sich ständig in einem Karren durch Whitehall schieben. Er wird angeblich mit jedem Monat fetter und verdrießlicher. Sie ist wohl auch anderweitig liiert.«

»Mit wem?«

»Davon wird nicht gesprochen.« Er zögerte. »Für diesen Spinner Adam Kite wäre es besser, wenn er in Bedlam bliebe. Für Euch übrigens auch, anstatt Euch wieder mit dem Kronrat anzulegen.«

Ich seufzte. »Ich tue doch nur meine Arbeit.«

»Ihr könnt euch nicht hinter dem Gesetz verschanzen, wenn es um diese Leute geht. Das wisst ihr genau.« Ich sah, dass Barak ebenso besorgt war wie ich, einem der mächtigen Feinde ins Gehege zu kommen, die wir uns in der Vergangenheit gemacht hatten. Der Herzog von Norfolk wie auch Richard Rich saßen beide im Geheimen Kronrat.

»Pech, dass sie den Fall mir anstatt Herriott übertragen haben«, sagte ich. »Aber jetzt habe ich ihn und muss eben behutsam damit umgehen. Ich will mir die Akten für den morgigen Tag vornehmen. Schicke die Kites unverzüglich zu mir, wenn sie kommen.«

Ich ging in meine Amtsstube und schloss die Tür. Baraks Worte hatten mich beunruhigt. Ich trat an das Fenster. Der Regen kam jetzt heftiger herunter, prasselte gegen die Scheibe und verzerrte den Ausblick auf den Hof. Ich schauderte ein wenig, denn das Geräusch des Regens brachte mir stets die entsetzliche Nacht vor achtzehn Monaten ins Gedächtnis zurück, in der ich zum ersten und einzigen Mal einen Menschen getötet hatte. Auch wenn ich es tat, um mich selbst zu retten, waren mir die entsetzlichen Gurgellaute, die er im Ertrinken von sich gab, stets gegenwärtig. Ich seufzte schwer, dachte mit Wehmut an meine gute Laune am Abend zuvor. Hatte ich mit meiner Lebensfreude ein böses Unheil provoziert?

Bedlam, dachte ich. Allein der Name beschwor in London Angst und Abscheu. Lange Zeit war das Bethlehem-Hospital das einzige Krankenhaus in London gewesen, das Geisteskranke aufnahm, und obwohl unter den Bettlern auf Londons Straßen der Irrsinn ein weitverbreitetes Phänomen war und viele Menschen um irgendeinen Freund oder Verwandten wussten, der an geistiger Umnachtung litt, mied man solche Leute. Denn sie galten nicht nur als gefährlich oder gar vom Teufel besessen, sondern erinnerten die Menschen daran, dass die Tollheit einen jeden treffen konnte, ganz plötzlich und in den verschiedensten Ausprägungen. Dies war auch der Grund, warum Roger die Fallsucht so sehr fürchtete, denn die Krämpfe, die mit ihr einhergingen, boten ein erschreckendes Bild. Das Bedlam-Spital beherbergte, wie ich wusste, nur schwere Fälle von geistiger Umnachtung, darunter auch Patienten aus reichem Hause, andere lebten von Almosen. Gelegentlich wurden auch Personen wie Adam Kite, wenn sie der Macht hinderlich waren, dorthin verfrachtet und waren somit aus dem Weg geräumt.

Es klopfte, und Barak schob ein Ehepaar mittleren Alters zu mir herein. Es störte mich, dass ein Dritter die beiden begleitete, ein Geistlicher in langer Soutane. Er war groß und hager, mit buschigen Brauen, dichtem stahlgrauen Haar und dem roten Gesicht des Cholerikers. Die beiden Eheleute mittleren Alters waren in nüchternem Schwarz gekleidet und wirkten zutiefst niedergeschlagen; die Frau schien den Tränen nah. Sie war klein und schmal wie ein Vögelchen, ihr Mann groß und breit mit kantigen, zerklüfteten Zügen. Er verneigte sich, und seine Frau vollführte einen tiefen Knicks. Der Geistliche maß mich unverfroren, abschätzig, nicht im mindesten eingeschüchtert, weder von den Örtlichkeiten noch vom Anblick meines Talars oder der schweren Gesetzesbücher in meiner Kanzlei.

»Ich bin Serjeant Shardlake. Ihr seid gewiss Master und Mistress Kite.« Ich lächelte den nervösen Leuten zu, um sie zu besänftigen, richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die beiden. Ich wusste aus langjähriger Erfahrung, dass Dritte, die Mandanten begleiten, für gewöhnlich weitaus aggressiver sind als Letztere. Der Geistliche, nahm ich an, war ihr Vikar und würde mir Ärger bereiten.

»Daniel Kite, zu Euren Diensten«, sagte der Mann und verneigte sich. »Dies hier ist Minnie, mein Weib.« Die Frau knickste erneut und lächelte unsicher. »Es ist sehr liebenswürdig von Euch, uns am Sonntag zu empfangen«, setzte Kite hinzu.

»Palmsonntag«, sagte der Geistliche verächtlich. »Während wir hier sind, brauchen wir uns wenigstens diesen papistischen Firlefanz nicht anzusehen.« Er sah mich herausfordernd an. »Ich bin Samuel Meaphon. Diese beladenen Eheleute hier sind Mitglieder meiner Gemeinde.«

»Setzt euch«, sagte ich. Sie setzten sich in einer Reihe auf eine Bank, Meaphon in der Mitte. Minnie nestelte nervös an den Falten ihres Gewands herum. »Ich habe mir die Papiere angesehen, die das Gericht mir hat zukommen lassen«, sagte ich ihnen, »aber sie geben nur das Gerippe der Geschichte wieder. Also möchte ich Euch bitten, mir ausführlich zu schildern, was Eurem Sohne widerfahren ist, und zwar von Anfang an.«

Daniel Kite warf einen nervösen Blick auf Meaphon.

»Ich möchte es lieber von Euch und Eurer Frau hören, Sir«, fügte ich schnell hinzu. »Nichts gegen Euren braven Reverend hier, aber Beweise aus erster Hand sind die besten.« Meaphon runzelte ein wenig die Stirn, nickte dann aber, und Master Kite ergriff das Wort.

»Unser Sohn Adam war ein tüchtiger Kerl, bis vor sechs Monaten«, erzählte der Vater mit trauriger, schwerer Stimme. »Ein lebhafter, strammer Bursche. Unser Ein und Alles, denn andere Kinder haben wir nicht. Ich hatte ihn zu mir in die Lehre genommen, draußen bei Billingsgate.«

»Ihr seid ein Steinmetz?«

»Steinmetzmeister, Sir.« Trotz seiner Sorge schwang Stolz in seiner Stimme. Ich betrachtete seine Hände: groß, schwielig, von Narben übersät. »Ich hoffte darauf, dass einst Adam unsere Werkstatt übernehmen würde. Er arbeitete schwer und besuchte stets treu unsere Kirche.«

»Das ist wohl wahr.« Reverend Meaphon nickte mit Nachdruck.

»Wir sind gottesfürchtige Leute, Sir.« Ein herausfordernder Unterton kroch in Kites Stimme.

»Was auch immer die sündige Welt von uns denken mag«, fügte Meaphon hinzu und starrte mich dabei aus seinen unter buschigen Brauen liegenden wilden Augen an.

»Eure Überzeugungen werde ich vertrauensvoll behandeln«, sagte ich.

»Ihr teilt demnach nicht unseren Glauben?« In Daniel Kites Stimme schwang weniger Ärger als Enttäuschung.

»Meine Überzeugungen stehen hier nicht zur Debatte«, erwiderte ich und rang mir ein Lächeln ab.

Meaphons Augen glitten über meine Gestalt. »Wie ich sehe, hat es Gott gefallen, Euch mit einem Buckel zu strafen, Sir. Doch das hat Er nur getan, damit Ihr Euch vertrauensvoll an Ihn wendet.«

Ärger wallte in mir auf, dass dieser Fremde sich anmaßte, in dieser Weise die Sprache auf meine Behinderung zu bringen. Minnie Kite unterbrach eilig. »Wir möchten nur, dass Ihr unserem armen Jungen beisteht, Sir, vielleicht wisst Ihr ja ein Gesetz, das uns helfen kann.«

»Dann erzählt mir, was geschehen ist, von Anfang an, ohne Umschweife und in einfachen Worten.«

Minnie erschrak ob meines scharfen Tons. Ihr Ehemann zögerte kurz und fuhr dann fort:

»Wie ich schon sagte, Adam war ein feiner Junge. Doch vor sechs Monaten etwa wurde er mit einem Mal sehr still, in sich gekehrt, irgendetwas schien ihn zu bekümmern. Wir machten uns Sorgen. Dann, eines Tages, musste ich ihn in der Werkstatt allein lassen, und als ich zurückkam, fand ich ihn auf Knien in einer Ecke. Er betete, flehte zu Gott, Er möge ihm die Sünden vergeben. ›Nun nun, Adam‹, sagte ich zu ihm. ›Gott hat eine Zeit zum Beten bestimmt und eine Zeit zum Arbeiten.‹ Er gehorchte mir und erhob sich, wenn auch mit einem tiefen Seufzer, wie ich ihn noch nie von ihm gehört hatte.«

»Seitdem hören wir nichts anderes mehr«, setzte Minnie hinzu.

»Und damals fing es an. Wir haben Adam stets ermutigt zu beten, aber von da an – tat er nichts anderes mehr.« Kite versagte die Stimme, und ich spürte seine Angst. »Zu jeder Tageszeit, in der Werkstatt, selbst in Gesellschaft, fiel er einfach auf die Knie und fing wie wild an zu beten, Gott möge ihm die Sünden vergeben, ihn wissen lassen, dass er gerettet sei. Es wurde so schlimm, dass er nicht mehr essen wollte, nur noch zusammengekrümmt in der Ecke lag und wir ihn auf die Füße zerren mussten, während er sich nach Kräften wehrte und sich sackschwer machte. Und wenn er dann auf den Beinen stand, kam stets jener schreckliche Seufzer.«

»Diese Verzweiflung«, fügte Minnie leise hinzu. Sie senkte den Kopf, und ich sah Tränen in ihren Augen. Kite sah mich an. »Er ist der festen Überzeugung, dass er verdammt ist, Sir.«

Ich sah die drei an. Ich wusste, dass religiöse Eiferer wie Luther die Ansicht vertraten, Gott habe die Menschheit in Gerettete und Verdammte aufgeteilt und nur jene, die über die Bibel zu Ihm kamen, würden am Jüngsten Tag gerettet werden. Die übrige Menschheit wäre dazu verdammt, für immer in der Hölle zu braten. Sie glaubten auch, dass uns der Tag des Jüngsten Gerichts, das Ende der Welt, wie es uns im Buch der Offenbarung prophezeit war, schon bald bevorstünde. Ich wusste nichts darauf zu sagen. Fast war ich Meaphon dankbar, dass er die Stille beendete.

»Diese braven Leute brachten ihren Sohn zu mir«, sagte er. »Ich redete mit Adam, versuchte ihn zu beruhigen, sagte ihm, dass Gott zuweilen jene, die Er am meisten liebt, in Zweifel stürzt, um sie zu prüfen. Ich blieb zwei ganze Tage bei ihm, fastend und betend, aber ich drang nicht zu ihm durch.« Er schüttelte den Kopf. »Er hat sich bös gewehrt.«

Minnie blickte zu mir auf. Sie wirkte untröstlich, bar jeder Hoffnung. »Mittlerweile bestand Adam nur noch aus Haut und Knochen. Ich musste ihn füttern, während mein Mann ihn festhielt, damit er nicht zu Boden sank. ›Ich muss beten‹, sagte er ein ums andere Mal. ›Ich bin nicht gerettet!‹ Mir graut, wenn ich die Worte Gebet oder Rettung höre, man stelle sich das vor!«

»Welche Sünden meint Adam denn begangen zu haben?«, fragte ich leise.

»Das sagt er uns nicht. Er scheint zu glauben, er habe jede Sünde begangen, die es gibt. Zuvor war er ein gewöhnlicher fröhlicher Bursche, manchmal laut und gedankenlos, weiter nichts. Er hat nie etwas Böses getan.«

»Dann lief er immer öfter fort«, erzählte Daniel Kite, »verkroch sich in einsamen Gassen und Winkeln, um dort ungehindert zu beten. Wir mussten tagtäglich nach ihm suchen.«

»Wir fürchteten schon, er würde erfrieren«, fügte Minnie hinzu. »Er lief ohne Mantel hinaus, und wir folgten seinen Tritten im Schnee.« In einer Aufwallung von Zorn ballte sie die kleine Faust im Schoß. »Dass er seinen Eltern das angetan hat. Das ist Sünde.«

Ihr Mann legte seine schwielige Hand auf die ihre. »Na, na, Minnie, hab Vertrauen. Gott wird uns Seine Antwort schicken.« Er wandte sich wieder mir zu. »Vor zehn Tagen, in diesem Schneewetter, als keiner aus dem Haus ging, so es nicht unerlässlich war, war Adam wieder einmal verschwunden. Er war bei mir in der Werkstatt gewesen, wo ich ein Auge auf ihn hatte, aber er war mittlerweile listig wie ein Affe, und kaum kehrte ich ihm einmal den Rücken, entriegelte er die Tür und schlich davon. Wir suchten überall nach ihm, konnten ihn aber nicht finden. Am selben Nachmittag kam ein Beamter von Bischof Bonner zu uns. Er sagte, sie hätten Adam im Schnee kniend gefunden, vor dem Predigerkreuz auf dem Hof der Kathedrale, wo er Gott um ein Zeichen bat, dass er gerettet sei und als ein Auserwählter im Himmelreich Einlass finde. Das Ende der Welt sei nah, habe er geschrien und zu Gott und Jesus gefleht, ihn am Jüngsten Tage nicht in die Hölle hinabzustoßen.«

Minnie fing an zu weinen, und ihr Mann verstummte und senkte den Blick, auch er war jetzt vom Kummer übermannt. Das Leid dieses einfachen Paares mit anzusehen war entsetzlich. Und was ihr Sohn da getan hatte, war in hohem Maße gefährlich. Nur ausgesuchte Prediger durften auf dem Hof der Kathedrale sprechen, und die königliche Lehre besagte, dass der Glaube allein, sola fide, nicht ausreichte, um einen Menschen ins Paradies zu bringen. Noch weniger orthodox war die Doktrin, dass die Menschheit geteilt war in Auserwählte und Verdammte. Ich sah zu Meaphon hinüber. Er runzelte die Stirn, fuhr sich mit der Hand durchs dichte Haar.

»Adam wurde also vor den Kronrat gebracht«, ermunterte ich Daniel sanft.

»Ja. Vom bischöflichen Kerker aus, in den sie ihn gesteckt hatten. Ich sollte ebenfalls dort erscheinen. Ich ging nach Whitehall, wurde in ein prächtiges Gemach geleitet, wo vier Männer, allesamt reich gewandet, an einem Tisch saßen.« Seine Stimme zitterte, und die Erinnerung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. »Adam war auch da, in Ketten und in Begleitung eines Kerkerknechts.« Er blickte zu seinem Vikar hin. »Auch Reverend Meaphon kam, aber sie ließen ihn nicht zu Wort kommen.«

»Nein, sie wollten mich nicht anhören«, sagte Meaphon. »Ich habe auch gar nichts anderes erwartet«, fügte er verächtlich hinzu.

Wahrscheinlich auch besser so, dachte ich. »Wer waren die Männer?«

»Einer, weiß gewandet, war Erzbischof Cranmer; ihn sah ich bereits in der Paulskathedrale predigen. Da war noch ein Geistlicher, groß, zornig aussehend, mit braunem Haar. Die anderen beiden trugen Gewänder, die mit Pelz und Juwelen bestückt waren. Der eine war klein und blass und sprach mit schriller Stimme. Der andere hatte einen langen, braunen Bart und ein schmales Gesicht.«

Ich nickte bedächtig. Der kleine Blasse war wohl Sir Richard Rich, dereinst ein Günstling Thomas Cromwells; nach dessen Fall hatte er sich den Konservativen angeschlossen; ein ruchloser, bösartiger Opportunist. Der andere glich den Beschreibungen, die ich von Lord Hertford gehört hatte, dem Bruder der verstorbenen Königin Jane – ein Reformer. Und der zornig dreinblickende Geistliche war mit großer Wahrscheinlichkeit Bischof Bonner aus London.

»Was sagten sie zu Euch?«

»Sie fragten mich, wie Adam in diesen Zustand geraten sei, und ich gab ihnen ehrlich Auskunft. Der Bleiche sagte, es klinge nach Ketzerei, Adam müsse brennen. Doch im selben Moment glitt der Junge vom Stuhl, und ehe sein Wärter ihn packen konnte, kniete er schon auf dem Boden und flehte Gott inbrünstig an, ihn zu erretten. Die Ratsmitglieder befahlen ihm, aufzustehen, aber er nahm sie ebenso wenig zur Kenntnis wie Fliegen. Da sagte der Erzbischof, Adam sei eindeutig nicht bei klarem Verstand und solle nach Bedlam geschickt werden, vielleicht ließe sich dort ja ein Heilmittel für ihn finden. Der blasse Mann wollte ihn noch immer als Ketzer verurteilt wissen, aber die beiden anderen stimmten nicht zu.«

»Verstehe.« Rich glaubte wohl, er würde in der Gunst der Traditionalisten steigen, wenn er einen weiteren radikalen Protestanten verbrennen ließe. Doch Cranmer, von Natur aus barmherzig, wollte nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. Indem er Adam nach Bedlam verfrachten ließ, hätte er ihn vom Hals, wenigstens für eine Weile.

Ich nickte bedächtig. »Das bringt mich zum Kern des Problems.« Ich sah die beiden an. »Ist Adam denn geistesgestört?«

»Das muss er wohl sein«, antwortete Minnie.

»Wenn er es nicht ist, Sir«, sagte Daniel Kite, »muss etwas weitaus Schlimmeres in ihn gefahren sein.«

»Schlimmeres?«, fragte ich.

»Besessenheit«, erklärte Meaphon nüchtern. »Das ist meine Sorge. Dass ein Teufel in ihn gefahren sein könnte, der ihn zwingt, vor aller Welt Gott zu verhöhnen. Und wenn dem so ist, kann ich Adam nur retten, indem ich inbrünstig mit ihm bete und mit dem Teufel ringe.«

»Das also glaubt Ihr?«, fragte ich den Steinmetz.

Er blickte zu Meaphon hinüber und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich weiß es nicht, Sir. Gott stehe Adam bei, sollte es so sein.«

»Ich bin der Meinung, dass Adam nur verwirrt und ängstlich ist.« Minnie sah auf und hielt Meaphons Blick stand; da erkannte ich, dass sie die Stärkere der beiden war. Sie wandte sich mir zu. »Aber was auch immer die Wahrheit sein mag, der Aufenthalt im Bedlam wird ihn umbringen. Adam ist in einer Zelle eingesperrt. Dort ist es bitterkalt, ohne ein wärmendes Feuer. Er will nichts für sich tun, kauert in einer Ecke und betet in einem fort. Und wir dürfen ihn nur eine Stunde am Tag besuchen. Sie verlangen drei Schillinge im Monat an Gebühren, mehr als wir aufbringen können, und trotzdem sorgen sie nicht dafür, dass er isst oder auf sich achtet. Der Aufseher wäre gewiss froh, wenn Adam stürbe.« Sie sah mich eindringlich an. »Sie haben dort Angst vor ihm.«

»Weil sie meinen, er könnte vom Teufel besessen sein?«

Sie nickte.

»Doch Ihr bezweifelt diese Möglichkeit?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß es doch nicht. Aber wenn er dort bleibt, wird er sterben.«

»Er sollte freigelassen und in meine Obhut überstellt werden«, sagte Meaphon. »Aber das werden sie nicht tun, diese Papisten!«

»Dann seid Ihr Euch in einer Sache einig«, sagte ich. »Dass er nicht im Bedlam bleiben sollte.«

»Ja, so ist es.« Der Vater des Jungen nickte eifrig, erleichtert, einen gemeinsamen Nenner gefunden zu haben.

Ich überlegte kurz und sagte dann leise: »Ich sehe zweierlei Probleme. Das eine ist die rechtliche Zuständigkeit. Wer sich keinen Anwalt leisten kann, der bringt sein Anliegen vor den Court of Requests, aber in diesem Fall könnte der Richter entscheiden, dass es sich um eine Staatsangelegenheit handelt, die an den Kronrat zurückgehen sollte. Wenn Ihr die Gebühren nicht zahlen könnt, die Euch das Bedlam auferlegt, kann das Gericht den Rat auffordern zu zahlen. Möglicherweise sorgt es auch für eine bessere Behandlung Eures Jungen. Adam freizulassen ist dagegen weitaus schwieriger.« Ich holte tief Luft. »Und was soll mit ihm geschehen, wenn er freigelassen wird? Sollte er erneut entwischen und sich das Geschehnis vor der Kathedrale wiederholen, wird er am Ende doch noch der Ketzerei bezichtigt. Wenn wir seine Umstände verbessern könnten, dann wäre das Bedlam – ich sage es in aller Aufrichtigkeit – der sicherste Aufenthaltsort für ihn, es sei denn, sein Verstand kann wieder zurechtgerückt werden. Sich mit dem Kronrat anzulegen könnte sehr gefährlich sein.« Ich hatte den armen John Collins nicht erwähnt, aber ich sah es ihren Gesichtern an, dass sie sich an das Entsetzliche erinnerten, das ihm widerfahren war.

»Er muss dort herausgeholt werden«, sagte Meaphon. »Die einzige Heilung besteht für Adam in der Einsicht, dass Gott ihm diese Prüfung auferlegt hat, und er darf nicht zweifeln an Seiner Gnade. Ob ein Teufel in ihn eingefahren oder sein Verstand aus einem anderen Grund umnachtet ist, ich jedenfalls kann ihm nur mit der Unterstützung anderer Geistlicher helfen.« Der Pfarrer sah erwartungsvoll auf Adams Eltern. »Amen«, sagte Daniel Kite, doch Minnie hielt den Blick gesenkt.

»Er wird erst auf freien Fuß gesetzt, wenn der Kronrat zu der Überzeugung gelangt, dass er geistig gesundet ist«, sagte ich. »Aber eines können wir tun. Ich kenne einen Arzt, einen klugen Mann, der vielleicht ergründen kann, was Adam fehlt, ihm vielleicht sogar zu helfen vermag.«

Daniel Kite schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ärzte sind gottlose Menschen.«

»Dieser Arzt ist sehr gottesfürchtig.« Dass mein Freund Guy ein früherer Mönch und im Herzen noch immer katholisch war, behielt ich wohlweislich für mich.

Kite sah nach wie vor zweifelnd drein, aber Minnie ergriff eifrig den Strohhalm. »Bringt diesen Arzt zu Adam, Sir, wir wollen alles versuchen. Aber wir haben kein Geld, um ihn zu bezahlen ...«

»Das wird sich finden.«

Sie sah ihren Ehemann an. Er zögerte, blickte zu Meaphon hinüber und sagte: »Es kann gewiss nicht schaden, Sir.« Meaphon schien im Begriff zu widersprechen, und so warf ich ein: »Es ist zweifellos das Richtige, von Adams Standpunkt aus betrachtet. Und in der Zwischenzeit will ich mich bemühen, Adams Versorgung zu verbessern und die Gebühren zu mindern. Es gibt im Augenblick so viele Fälle am Court of Requests, dass der Richter selbst während der verhandlungsfreien Zeit damit beschäftigt ist, den Rückstand nachzuholen. Mit etwas Glück wird eine dringende Angelegenheit in etwa einer Woche zur Anhörung gelangen.«

»Danke, Sir«, sagte Minnie.

»Aber ich möchte Adams Freilassung ungern zur Sprache bringen, ehe sich bei Adam keine Veränderung abzeichnet.« Ich wandte mich Meaphon zu. »Ein solcher Antrag müsste scheitern.«

»Dann müssen wir wohl abwarten, was der Arzt sagt.« Er sprach ruhig, aber sein Blick war feindselig.

»Und ich werde dem Bedlam einen Besuch abstatten und vielleicht diesem Aufseher die Flötentöne beibringen. Bei dieser Gelegenheit kann ich mir Adam ansehen.«

Die Kites wechselten unbehagliche Blicke. »Das wäre gut, Sir«, sagte Daniel Kite. »Aber ich muss Euch warnen, der arme Junge in seinem elenden Wahn ist ein schrecklicher Anblick.«

»Ich habe schon viel Elend gesehen in meiner Laufbahn«, sagte ich, obwohl mir in Wahrheit vor dem Besuch grauste.

»Wir werden Adam morgen besuchen, um neun Uhr, Sir«, sagte Minnie. »Könntet Ihr dazukommen?«

»Ja, ich habe noch etwas Zeit vor den Verhandlungen.«

»Wisst Ihr den Weg? Ihr geht durch das Bishopgate, Sir, und haltet dann Ausschau nach den Pforten des Bedlam.«

»Ich werde dort sein.« Lächelnd stand ich auf. »Ich werde mein Möglichstes tun. Doch leicht ist die Angelegenheit beileibe nicht.«

Ich geleitete sie hinaus. Meaphon blieb in der Tür stehen, nachdem die Kites die vordere Amtsstube betreten hatten. »Ich glaube kaum, dass dieser Arzt etwas ausrichten wird«, raunte er. »Gottes Wege sind unergründlich und wunderbar, und trotz aller Prüfungen und Anfechtungen dieses irdischen Jammertals finden wahre Christenmenschen am Ende den Frieden. Dies gilt auch für unseren Adam.« Die grauen Augen loderten unter den borstigen Brauen; und doch fiel mir etwas merkwürdig Mimenhaftes an ihm auf, als spielte er die Rolle der Tugend in einem Stück, dessen Zuschauerschaft aus ganz London bestand.

»So ist es«, gab ich zurück. »Ich bete darum, dass der Junge seinen Seelenfrieden finden möge.«

»Wir gehen jetzt in unseren Gottesdienst«, sagte er. »Dort werden wir inbrünstig für ihn beten.«

Nachdem sie fort waren, kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück und besah meine Papiere. Alsdann trat ich ans Fenster und starrte hinaus in den verregneten Hof. Die Köpfe gesenkt gegen den strömenden Regen, gingen die Kites vorüber und hielten sich die Hüte. »Er ist keiner von uns«, hörte ich Meaphon sagen. »Er wird gewiss nicht errettet werden am Ende der Zeit.«

Ich sah, wie sie dem Tor zustrebten. Über eines war ich mir im Klaren. Adam Kite fiel jetzt in meine Zuständigkeit. Ich hatte zu erwägen, was für ihn das Beste war, und ich bezweifelte, dass dies eine vorzeitige Entlassung aus Bedlam wäre, ganz gleich, was Meaphon dazu sagte. Minnie Kite, so viel stand fest, stellte die Interessen ihres Sohnes über alles. Sie würde auf mich hören.

Ich ging zum vorderen Büro zurück. Barak saß am Tisch und blickte mit ernster Miene in die Flammen. Er fuhr auf, als ich ihn anredete.

»Heute so grüblerisch?«, meinte ich.

»Ich überlegte gerade, ob ich mir jetzt gleich den Bart stutzen lasse oder damit warte, bis der Regen aufgehört hat. Dieser Vikar warf mir noch einen bösen Blick zu, ehe er ging.«

»Du bist ja auch ein gottloser Geselle, er wird dich durchschaut haben. Und mich stieß er freundlich ins ewige Höllenfeuer, als er eben am Fenster vorüberging.« Ich seufzte. »Adam Kite hat er offenbar in eine Kammer gesperrt und zwei Tage lang mit ihm gebetet. Außerdem musste der Junge fasten, obwohl er nur noch aus Haut und Knochen bestand. Ich frage mich fast, ob es nicht besser wäre, wenn Bonner uns die ganze Bande vom Halse schaffte. Na schön«, fügte ich hinzu, als Barak mich erstaunt ansah. »Das habe ich nicht so gemeint.« Ich seufzte. »Aber ich frage mich allmählich, ob diese Menschen die Zukunft sind, ob sie das sind, was aus der Glaubensreform geworden ist. Und dieser Gedanke erschreckt mich.«

»Trotzdem übernehmt Ihr den Fall?«

»Das muss ich doch. Aber ich werde sehr vorsichtig sein, keine Sorge. Ich möchte, dass Guy sich den Jungen ansieht. Doch zuerst muss ich ihn selbst besuchen.«

»Im Bedlam?«

Ich seufzte. »Tja, morgen.«

»Darf ich Euch begleiten?«

»Nein, ich gehe besser allein. Aber ich danke dir.«

»Schade«, sagte Barak. »Ich würde zu gerne wissen, ob man das Gestöhn und Gekreische von der anderen Straßenseite aus hört, so dass die Leute hastig vorbeihuschen.«