Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Das Corona-Protokoll" ist ein bunter Mix aus bewegenden, skurrilen und atemberaubenden Ereignissen, die unser Leben seit Ende 2019 völlig auf den Kopf gestellt haben. Immer wissenschaftlich fundiert, zugleich aber auch an der einen oder anderen passenden Stelle humorvoll kommentiert. Denn seien wir mal ehrlich: Kraftraubend und nervig ist COVID-19 ohnehin schon genug gewesen. Zeitzeugen aus Ländern wie den USA, Indien oder Brasilien - die besonders stark vom Virus heimgesucht wurden -, berichten von "Knallhart-Lockdowns", "Stockhieben auf Passanten" und "dramatischen Ausnahmesituationen". Aber auch Menschen aus Nationen wie Bangladesch und Kasachstan, die bisher eher unter dem Radar flogen, erzählen ihre ganz persönliche Corona-Geschichte. Außerdem erklären zwei Intensivmediziner, darunter der Oberarzt der Level-1-Intensivstation der Charité, wie sie mit dem täglichen Tod leben müssen. Es sind 1111 Tage mit dem Virus, die sich anfühlen wie in einem Science-Fiction-Film. Mit der großen Hoffnung auf das Happy End.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Ein führender Epidemiologe ordnet das Coronavirus ein
Der Ausbruch: „Was ist da in China los?“ (Dezember 2019 bis Januar 2020)
Exkurs: So erleben die weltweiten Interviewpartner die ersten Fälle
Das Virus überfällt die Welt (Januar 2020 bis März 2020)
Exkurs: Ischgl
–
der Superspreading-Hotspot
Exkurs: Das Horror-Szenario beim Corona-Test
Die Welt im Shutdown – die erste Welle (März 2020 bis April 2020)
Exkurs: Olympia-Aus für 2020
–
Das sagen die Sportler
Exkurs: So erleben die Zeitzeugen weltweit die erste Welle
Ein (fast) normaler Sommer (Mai 2020 bis August 2020)
Exkurs: Wie funktioniert eine Weltreise während Corona?
Die Einschläge kommen wieder näher (August 2020 bis September 2020)
Die zweite Welle schwappt über (Oktober 2020 bis Dezember 2020)
Exkurse: Zwei Risikopatienten berichten über ihren Corona-Alltag
Exkurs: Die „Variante Schweden“
Exkurs: Das große (Baby-)Glück in Corona-Zeiten
Der kleine Piks, der große Hoffnung macht (Januar 2021 bis Februar 2021)
Keine Pause – Die dritte Welle ist schon da (Februar 2021 bis Juni 2021)
Exkurs: So sehr leiden Kinder unter dem fehlenden Sport
Exkurs: Die Intensivmediziner müssen mit dem täglichen Tod leben
Exkurs: Indien versinkt in der Virus-Tragödie
B.1.617 – Delta sorgt für viele Fragezeichen (Juli 2021 bis Oktober 2021)
Exkurs: Ein innovatives Drei-Standorte-Modell bringt Erfolg
Die massive Welle, die Hoffnung macht (November 2021 bis Februar 2022)
Exkurs: Profi-Fußball ohne Fans – und ohne Duschmöglichkeit
Die Rückkehr zur „neuen“ Normalität (März 2022 bis September 2022)
Der erste „normale“ Winter mit Corona (Oktober 2022 bis Januar 2023)
Exkurs: Post-COVID-Qualen und die „Morgenstehste-auf-und-alles-ist-vorbei-Hoffnung“
Exkurs: Die Maskenpflicht – hier wird das große Unwissen sichtbar
Exkurs: Wenn der Geschmack verschwindet
Der Experte ordnet die „Virus-Zukunft“ ein
Ausblick - Ein Leben mit Corona
Exkurs: Das wünschen sich unsere Protagonisten für die Zukunft
Glossar: Das Corona-ABC
Danksagung
Es sind sechs Buchstaben, die die Welt verändern –
CORONA.
Kinder dürfen nicht mehr auf die Straße, Erwachsene müssen sich per SMS eine Erlaubnis von der Regierung einholen, um das Haus verlassen zu können, Senioren werden über viele Monate hinweg von der Außenwelt isoliert und vereinsamen. Die Freiheit der Menschen weltweit wird durch ein unsichtbares Virus in ihren Grundfesten erschüttert. Aber was noch viel schlimmer ist: Die Gesundheit der Menschen steht plötzlich dauerhaft in Frage, das höchste Gut überhaupt. Über uns allen schwebt ein bösartiges Virus.
Das Virus setzt Ängste frei, wie wir uns das niemals hätten vorstellen können. Freundschaften und innige Familienverhältnisse leiden, brechen teils weg. Eine Krankheit verändert das Leben – SARS-CoV-2, COVID 19 oder einfach nur Corona. Alles ist plötzlich anders – das Miteinander, die Gesellschaft – wegen einer Infektionskrankheit, die die komplette Welt lahmlegt. Es ist schwierig zu begreifen, weil eben nicht greifbar. Das Virus, das so klein ist, dass es nur unter dem Mikroskop zu erkennen ist. Rund 0,1 bis 0,14 Mikrometer klein. Aber eben doch so groß und gewaltig in seiner Wirkung, dass es Millionen von Menschen das Leben nehmen wird – und vielen anderen Millionen auf der ganzen Welt ihre Freiheit. Die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. In Bezug darauf, mit wem man sich treffen will, wann man sich treffen will, wo man sich treffen will. All das ändert sich seit dem Ausbruch des Coronavirus und im Zuge der sich daraus entwickelnden Pandemie dramatisch. Und es verändert auch uns selbst.
Besonders sorgt es aber für Schicksale, die weltweit völlig unterschiedliche Ausmaße annehmen. Jeder trägt seine ganz persönliche Corona-Geschichte mit sich herum. Zu genau erinnern wir uns noch alle daran zurück, wie die ersten Meldungen aus China die Runde machen. Von einer grassierenden Lungenentzündung ist die Rede. Allzu oft erwischen wir uns dabei, diese Nachrichten zu belächeln. „Ach, die Chinesen … “ oder „zum Glück ist es so weit weg“ sind Anfang 2020 wohl die am meisten geäußerten Phrasen überhaupt.
Die Gründe dafür, dass sich diese Verharmlosungen nicht bestätigen, sind vielfältig. Am Anfang liegen sie im Unwissen. Ein Unwissen darüber, was genau mit den Erkrankten eigentlich passiert. Ein Unwissen darüber, wie hochinfektiös das Virus in Wahrheit ist. Ein Unwissen über die heftigen Folgen, die Corona verursachen kann. Und dann kommt auch noch ein Gefühl hinzu, das vor COVID-19 allgegenwärtig ist: „Uns kann doch nichts passieren.“
Eine Annahme basierend darauf, dass die Welt mittlerweile perfekt in Sachen Technologie und Wissenschaft aufgestellt zu sein scheint. Dass sie es nicht ist, bekommen wir auf übelste Art und Weise zu spüren. Auch der Glaube, dass die Medizin alles bekämpfen kann, was es vielleicht noch gar nicht gibt, ist ein Irrglaube. Für das Coronavirus gibt es eben keine Bedienungsanleitung.
Es ist eine Zeit, die uns alle an die Grenzen des Erträglichen bringt. Corona ist, wie Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel treffend beschreibt: „Ein Jahrhundertereignis.“ Eines, an das sich niemand gerne zurückerinnern wird.
Dennoch soll dieses Buch an der einen oder anderen Stelle auch mit einem Schmunzeln gelesen werden. Denn Corona ist eben nicht nur traurig, grausam, zerstörend oder eben lebensbedrohlich, sondern das Virus kann auch hin und wieder skurrile, verrückte oder teilweise gar lustige Anekdoten hervorbringen.
Daher hoffe ich, Ihnen mit diesem Buch sowohl einen wissenschaftlich fundierten sowie einen informativ berichtenden, aber ebenso auch abwechslungsreich unterhaltenden Überblick über all das zu geben, was uns in 1000 Tagen mit COVID-19 widerfahren ist.
„Wir leben in einem Jahrhundert voller Pandemien!“
Prof. Dr. Hajo Zeeb befasst sich seit über drei Jahrzehnten mit der Epidemiologie. Jener wissenschaftlichen Disziplin, die sich der Definition nach mit der Verbreitung sowie den Ursachen und Folgen von gesundheitsbezogenen Zuständen und Ereignissen in Bevölkerungen oder Populationen beschäftigt. Zeeb ist ein Experte in seinem Fachgebiet, leitet die Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – kurz BIPS – in Bremen. Außerdem berät er den Senat des Stadtstaates Bremen im Umgang mit der Pandemie.
Auch der Experte selbst wird in Bezug auf Corona anfangs vor bis dahin unbekannte Hürden gestellt, wie er offen zugibt: „Wir hatten schon mindestens vier Pandemien in den ersten Jahren dieses Jahrtausends. Unser Lebensstil, zum Beispiel das viele Reisen, bringt das quasi mit sich. Wir leben sozusagen in einem Jahrhundert voller Pandemien. Das Thema an sich war uns also schon länger bekannt. Aber definitiv nicht mit so einer ungeheuren Wucht.“
Der Epidemiologe weiß noch genau, wie er die ersten Meldungen aus Fernost vernommen hat: „Im Januar 2020 habe ich das Virus sicherlich auch noch nicht als so gravierend und gefährlich eingeschätzt. Gefahrenmeldungen dieser Art gibt es ziemlich regelmäßig von der Weltgesundheitsorganisation, aber niemals hätten wir mit einem solchen Ausmaß gerechnet.“ Ende Februar 2020 sei es dann „deutlich ernster geworden, ein internationaler Gesundheitsnotfall, der uns alle in höchste Alarmbereitschaft versetzt hat“. Das Virus sei „tückisch und sehr dynamisch“, so Zeeb.
Der ehemalige Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation sieht COVID-19 „sowohl für die Experten als auch für jede einzelne Person als riesengroße Herausforderung, die es von uns allen zu bewältigen gilt. Corona hat offenbart, wie verletzlich die Menschheit in der heutigen Zeit noch ist. Die Krankheit hat aber ebenfalls aufgezeigt, wie wir Menschen solche Herausforderungen bewältigen können. Nämlich wenn wir alle schnell und aktiv gemeinsam an einem Strang ziehen, dabei überlegt handeln und dem Virus so keine Chance lassen.“
Dennoch ist auch im dritten Jahr der Pandemie keine komplette Entwarnung in Sicht: Nach dem abrupten Ende der Null-COVID-Politik in China und den dortigen Masseninfektionen herrscht unter Wissenschaftlern die Sorge, ob sich auch weltweit neue Corona-Wellen ergeben und es neue, gefährlichere Varianten geben wird. Epidemiologe Zeeb glaubt daher: „Insofern bleibt Corona wohl noch länger ein Thema für die wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Diskussion.“
„Ein rätselhafter Krankheitsausbruch.“
Als ARD-Auslandskorrespondent Steffen Wurzel am 7. Januar 2020 seinen 90-sekündigen Lagebericht aus China mit dieser Umschreibung beginnt, ahnt nahezu niemand etwas Böses. Von 60 erkrankten Menschen ist die Rede, die Dunkelziffer liege wohl noch etwas höher. Wie gefährlich der „rätselhafte Krankheitsausbruch“ sei? Unklar. Aber eins stünde fest: „Gerüchte, es handele sich um einen neuen Ausbruch der gefürchteten Lungenkrankheit SARS (…), wiesen die Behörden zurück.“ Ein verhängnisvoller Trugschluss dramatischer Tragweite. In den Tagen zuvor geschieht Folgendes:
30. Dezember 2019 Ein chinesischer Arzt schlägt Alarm. Li Wenliang, Augenarzt in Wuhan, informiert seine Kollegen via WeChat über einen besorgniserregenden Krankheitsfall. Sieben Patienten würden seiner Kenntnis nach mit Verdacht auf eine SARS-Infektion im Zentralkrankenhaus der Stadt behandelt werden. Wenliang macht damit die chinesischen Behörden auf sich aufmerksam. Kurios: Am selben Tag gibt die Gesundheitskommission der Stadt die Anweisung, dass nur zuvor autorisierte Personen Informationen über die neuartige Lungenentzündung weitergeben dürfen.
31. Dezember 2019 China meldet offiziell die ersten Fälle an die WHO.
1. Januar 2020 Insgesamt acht Personen werden in China strafrechtlich belangt. Ihnen wird vorgeworfen, Falschinformationen über eine Krankheit im Internet verbreitet zu haben, was „negative soziale Folgen“ haben könnte.
3. Januar 2020 Li Wenliang wird vom Sicherheitsbüro Wuhans ein Schreiben mit folgendem abschließenden Absatz zur Unterzeichnung vorgelegt: „Wir wünschen, dass Sie sich beruhigen und sorgfältig nachdenken und möchten Sie ernsthaft warnen: Wenn Sie weiter halsstarrig bleiben, Ihre Vergehen nicht bedauern und mit diesen illegalen Aktivitäten fortfahren, werden Sie strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. Haben Sie das verstanden?“ Die Antwort des Arztes: – drei Schriftzeichen aus dem chinesischen Alphabet, die der Verbreitung des Coronavirus endgültig freie Bahn schaffen. Wenliangs Antwort bedeutet: „Ich habe verstanden.“
Die Warnung des Arztes wird im Keim erstickt. Und das Virus? Verbreitet sich in der Folge rasant, vorerst ohne dass der Rest der Welt etwas davon mitbekommt.
9. Januar 2020 Die Gesundheitskommission der zentralchinesischen Metropole Wuhan gibt den weltweit ersten Corona-Todesfall bekannt. Ein 61-jähriger Mann stirbt an den Folgen der Infektion. Erklärte Todesursache: „Eine rätselhafte Lungenerkrankung.“
14. Januar 2020 Das für China zuständige WHO-Regionalbüro vermeldet: „Voruntersuchungen der chinesischen Behörden haben keine eindeutigen Hinweise auf eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung des in Wuhan identifizierten, neuartigen Coronavirus ergeben.“
Wie sich drei Monate später herausstellen soll, gibt es exakt an jenem 14. Januar 2020 aber bereits einen alarmierenden Hinweis vom obersten Gesundheitsgremium Chinas, das in einem offiziellen Dokument über ein „Risiko“ berichtet. Verrückt: Statt die Bevölkerung zu warnen, findet im Epizentrum der sich anbahnenden Pandemie trotzdem noch ein großes Volksfest mit zehntausenden Menschen statt. Zudem reisen mehrere Millionen Chinesen und ausländische Touristen durch die bereits verseuchte Region.
23. Januar 2020 Zu allem Überfluss betont Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, dass es sich bei den Erkrankungen „nicht um einen international relevanten gesundheitsbezogenen Krisenfall“ handele. Kaum zu glauben, aber er dankt in seiner Rede obendrein noch der chinesischen Regierung für ihre Kooperation und Transparenz.
25. Januar 2020 Allerdings lassen die ersten Zahlen zu den Infektionen in China das Ausmaß des Übels zu diesem Zeitpunkt bereits erahnen. Die Johns Hopkins University führt 486 Infektionen an, zwei Tage später sind es 802, sieben Tage darauf bereits 2089 – ein nicht mehr zu stoppendes exponentielles Wachstum.
Die chinesische Regierung versucht den Ausbruch – viel zu spät – mit harten Maßnahmen einzudämmen. Millionenstädte werden zu Geisterkulissen, die Menschen dürfen ihre Häuser nicht mehr verlassen, auf der Straße patrouilliert das Militär. Es kursieren sogar Aufnahmen, auf denen zu erkennen ist, wie die chinesische Polizei mit aufwendig präparierten Metallkonstruktionen ganze Wohnungen verriegelt. Paradox daran ist, dass es sich teils bei den eingesperrten Personen nicht etwa um bereits infizierte Personen und mögliche Quarantäne-Brecher handelt, sondern um noch gar nicht getestete Wuhan-Besucher, die ins über 1000 (!) Kilometer entfernte Langfang zurückgekehrt sind. Da beschwere sich noch jemand, dass diverse Lockdown-Varianten in Deutschland zu hart seien …
Bliebe noch die Frage zu klären: Woher kommt dieses SARS-CoV-2-Virus überhaupt? Die Antwort darauf lautet: Vielleicht werden wir es nie erfahren.
Als naheliegende Wahrscheinlichkeit gilt, dass ein Vorfall auf einem Wildtiermarkt in Wuhan der Auslöser der Pandemie ist. Dort soll das Virus von einer Fledermaus auf ein Schuppentier (Pangolin) übergesprungen sein, welches wiederum von Menschen verzehrt wurde.
Als zweite These steht die Herkunft aus einem Labor im Raum. In Wuhan gibt es ein virologisches Institut, in dem eine der weltweit größten Sammlungen von Fledermaus-Coronaviren beherbergt ist. Ein Team um die Virologin Zheng-Li Shi reiste gar mehrfach nach Yunnan, um Coronaviren von Fledermäusen zu isolieren. Verfechter der Labor-Hypothese sehen einen Versuchsunfall, der das Entweichen des Coronavirus begünstigte.
Verschwörungstheoretiker wollen den Ursprung gar bei Bill Gates sehen. Doch so gern alle Menschen ernst genommen werden sollten – das geht an dieser Stelle wirklich zu weit …
„Wie bei so vielen schlimmen Geschichten, die tagtäglich in der Welt passieren, war es ein Gefühl irgendwo zwischen ‚Oh, die Armen‘ und ‚uns wird es auf keinen Fall treffen‘.“
Corona und all die schlimmen Folgen scheinen zum damaligen Zeitpunkt – im Januar 2020 – unglaublich weit entfernt vom Rest der Welt zu sein. Wie sehr wir uns alle darin täuschen sollen, zeigen folgende Interviewausschnitte mit über den gesamten Globus verteilten Gesprächspartnern auf.
Diese Zeitzeugen der Pandemie leben zum einen in solchen Nationen, die besonders hart vom Virus getroffen wurden, oder zum anderen anderen in Ländern, von denen wir nur sporadisch bis gar keine Informationen bekommen haben.
Alexandra Bärenfeldt (Lehrerin) und Nikhil Kakkar (Fotograf) aus Delhi, Indien: „Es war zu jenem Zeitpunkt keine große Sache für uns. Wir wussten, dass in China ein Virus existiert. In Indien hat sich aber alles normal angefühlt, nur wenige haben eine Maske getragen. ‚Naja, China ist ja nicht gerade um die Ecke‘, war damals noch unser Gedanke.“
Edgar Bernhardt (Fußball-Nationalspieler aus Kirgisistan) während der Pandemie in Bangladesch, Kirgisistan und Usbekistan aktiv: „Am Anfang habe ich das alles nur über die Medien mitbekommen. Da ging es ja erst einmal nur um China. Aber ich habe damals schon gewarnt: ‚Wartet das chinesische Neujahr ab’. (Anmerkung: Das Chinesische Neujahrsfest begann 2020 am 25. Januar.) In ihrem neuen Jahr fliegen viele Chinesen für einen Monat in den Urlaub – in viele Länder, über die gesamte Welt verteilt. Wir haben uns gedacht ‚Ok, da ist ein Virus, das geht bestimmt Richtung Grippe‘. Aber die Spieler, die ich vor Ort kannte, haben mir dann offenbart, dass in China alles gesperrt sei, alle Straßen geräumt wären. Nicht einmal Gassi gehen durften sie dort. Da hat man sich natürlich ein wenig Gedanken gemacht, vor allem weil die Quarantäne (zu) spät kam. Viele Chinesen waren nämlich bereits ausgeflogen.“
Lauro Böni (Freelancer) aus Zürich, Schweiz: „Hier und da habe ich kurz was in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen mitbekommen, aber um ehrlich zu sein, ich habe es belächelt. ‚In China, da passiert halt sowas. Dort leben viele Menschen auf engem Raum. Für uns ist es keine Bedrohung.‘ Und damit war ich bestimmt nicht der Einzige. Dass Corona aber keine 08/15-Krankheit ist, war dann aber schnell zu erahnen.“
Claudia Castelli (Mitarbeiterin im Digital Marketing einer Reiseagentur) aus Mailand, Italien: „In meinem Beruf will ich Leute dazu animieren zu reisen und sich die schönsten Attraktionen in vielen Ländern anzuschauen. Dass das alles plötzlich nicht mehr möglich sein sollte, war für uns völlig undenkbar. Wie bei so vielen schlimmen Geschichten, die tagtäglich in der Welt passieren, war es ein Gefühl irgendwo zwischen ‚Oh, die Armen‘ und ‚uns wird es auf keinen Fall treffen‘. So war es bei mir auch 2019, als mich eine schlimme Krankheit erwischte. Völlig aus dem Nichts. So hat es sich auch mit Corona angefühlt – völlig aus dem Nichts. Wir haben an die vielen Betroffenen in China gedacht: ‚Das ist schrecklich, hoffentlich endet es schnell für sie.‘ Aber hier, bei uns vor der Haustür? Selbst die Regierung hat nicht wirklich daran geglaubt. Viele, mich eingeschlossen, dachten: ‚Ach, das ist ja nur eine Grippe‘.“
Phil Gaskell (Rollstuhlbasketball-Profi) aus Liverpool, Großbritannien: „Ganz ehrlich? Niemand hätte es in Großbritannien für möglich gehalten, dass es auch bei uns zu so einem schlimmen Ausbruch kommen könnte. Niemand!“
Hendrik Helmke (deutsch-brasilianischer Fußballer), der zur Zeit des Corona-Ausbruchs in Brasilien auf Jobsuche weilt: „Im Januar hat in Brasilien noch niemand über Corona gesprochen. Mit Hinblick auf den Karneval (Anmerkung: 21. bis 26. Februar 2020) wurde das Thema komplett unter den Tisch gekehrt. Der Karneval ist den Menschen hier heilig, da wollte niemand an eine Krankheit oder gar ernsthafte Bedrohung denken.“
Tino Jaugstetter (für Lufthansa arbeitend) aus Almaty, Kasachstan: „Es wurde alles auf die leichte Schulter genommen. Da muss man den Tatsachen auch ins Augen blicken, hier herrscht ein Regime. Sie denken zwar, es sei eine Demokratie, aber davon ist Kasachstan weit entfernt. Die komplette Wahrheit wirst du hier also ohnehin nicht erfahren. Und in China ist das doch ähnlich. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Virus dort schon Ende November, Anfang Dezember 2019 ausgebrochen ist. So oder so, es wurde erst einmal nichts gesagt. China ist der größte Handelspartner Kasachstans, die Leute sind hier in Massen ein- und ausgereist. Und wir sollen bis März keine Infektionen gehabt haben? Die Fallzahlen bleiben bis zur Gegenwart eine große Farce.“
Josef Kilit (Restaurant- und Clubbesitzer) aus Jönköping, Schweden: „Im Nachhinein sind wir bekanntlich immer schlauer. Aber ich hatte schon früh als ersten Gedanken: ‚Mist, was ist da in China los? Kann uns das auch in Europa treffen?‘ Meine Frau arbeitet im Krankenhaus, es galt durchaus schon etwas Alarmbereitschaft. Wir hatten bei uns in der Stadt den ersten positiven Befund Schwedens überhaupt. Am 31. Januar 2020 wurde bei einer chinesischen Austauschstudentin das Virus festgestellt. Sie hatte schon bei der Einreise die typischen Symptome, aber damals gab es ja noch überhaupt keine Vorkehrungen.“
Fred Sosa (Texter) aus New York, USA: „Wenn wir mal etwas mitbekommen haben, dann wurde eine mögliche Bedrohung in der Berichterstattung komplett heruntergespielt. Ich hätte es ehrlich gesagt niemals für möglich gehalten, dass wir in so eine Situation kommen werden. Aber um ganz offen und realistisch zu sein, es gab schon damals viele Anzeichen dafür. Dennoch wurden keinerlei Warnungen von offizieller Seite ausgesprochen, alles nahm weiterhin seinen geregelten Lauf. Wir gingen ganz normal zur Arbeit, haben uns mit Freunden getroffen, große Events wurden besucht. Alles war wie immer, bis der große Knall kam.“
Christine Sperling (Fashion Buyer) aus Wien, Österreich: „Corona? Das war damals nichtig. Mehrere tausend Kilometer entfernt, wir haben es überhaupt nicht ernst genommen. Ich habe im Januar 2020 völlig bedenkenlos einen Sri-Lanka-Trip für Ende März gebucht.“
Lennart Thy (Profifußballer) aus Rotterdam, Niederlande: „Ich habe Corona anfangs belächelt. Da war ein Großteil der Menschheit mehr oder weniger erleichtert darüber, dass es fast nur in China zu Fällen gekommen ist und wir hier in Europa gefühlt keinerlei Berührungspunkte mit COVID-19 hatten. Alles war ganz entspannt, wir haben normal und vor vielen Zuschauern gespielt, konnten Freunde treffen. Von so einem katastrophalen Ausmaß war damals überhaupt nicht auszugehen.“
Katrin von der Weppen (Lehrerin) aus Kapstadt, Südafrika: „In Südafrika ist alles sehr, sehr spät angekommen. Nicht nur, was das Virus an sich betrifft, sondern auch die entsprechenden Nachrichten und Informationen. Der Gedanke war: ‚Irgendein Problem in China.‘ Bei uns hat alles ganz normal seinen Lauf genommen. Ich habe wie immer unterrichtet, die Schüler waren vollzählig in der Schule. Natürlich wissen wir um das schwach ausgeprägte Gesundheitssystem vor Ort und die immense Ansteckungsgefahr in den dicht besiedelten Townships, aber wahrhaben wollte die Gefahr niemand. Was da Dramatisches auf den gesamten Kontinent zurollen sollte, war definitiv noch nicht an unserem Horizont aufgetaucht.“
„Deutschland hat seinen ersten Corona-Fall!“
27. Januar 2020 Corona ist in Deutschland bis dahin für kaum jemanden greifbar. Wie denn auch? Die Infektionen liegen 8000 Kilometer in der Ferne. Kaum etwas ist bekannt. Doch das alles soll sich schlagartig ändern.
Ein 33-jähriger Mitarbeiter beim Autozulieferer Webasto in Gauting (bei München) steckt sich bei einer aus China angereisten Kollegin an. Diese weilt für drei Tage in Deutschland. Das für alle zu jener Zeit Verwirrende ist, dass die Frau keinerlei Symptome während des Aufenthalts zeigt – keinen Husten, keinen Schnupfen. Absolut gar nichts. Und selbst wenn, es wäre ohnehin die normale Zeit für eine typische Erkältung oder Grippe. Also stecken sich neben dem erwähnten Mann noch drei weitere Kollegen an, die wiederum andere infizieren. Eine dieser Infektionen, so wird nachverfolgt, entsteht einzig durch das Weiterreichen eines Salzstreuers.
Können solche unglücklichen Zufälle verhindert werden? Aus der damaligen Perspektive schlicht und einfach unmöglich. So reist die Patientin Null nach China zurück, um erst dort von ihrer Corona-Infektion zu erfahren. Das Virus ist also in Deutschland angekommen.
30. Januar 2020 Nur drei Tage nach den folgenschweren Erstinfektionen sagt Gesundheitsminister Jens Spahn: „Nein, ein Mundschutz ist nicht notwendig, weil das Virus gar nicht über den Atem übertragbar ist.“ Woher Spahn, der noch sehr häufig für seine Interpretationen ins Kreuzfeuer geraten wird, diese vehemente Sicherheit nimmt, bleibt bis heute schleierhaft. Seine europäischen Kollegen stehen ihm allerdings in nichts nach. Italiens damaliger Ministerpräsident Giuseppe Conte legt noch einen obendrauf: „Die Situation ist unter Kontrolle.“ Beide verheerenden Aussagen fallen übrigens genau auf den Tag, an dem die WHO das Coronavirus zur Gesundheitlichen Notlage erklärt. Nicht etwa allein in China – nein, eine Notlage internationaler Tragweite.
Corona-Infektionszahlen (30. Januar 2020, 20 Uhr)
(*Anmerkung: Diese Länder werden im weiteren Verlauf des Buches regelmäßig aufgelistet, weil die Interviewpartner aus diesen Ländern stammen, beziehungsweise dort leben. Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html)
6. Februar 2020 Li Wenliang, der chinesische Augenarzt, der erstmals über die neuartigen SARS-Infektionen berichtet hat, stirbt im Alter von nur 34 Jahren. Offizielle Todesursache laut chinesischer Behörden: Corona.
21. Februar 2020 Währenddessen lassen sich die Brasilianer nicht stoppen. Wie denn auch, steht doch der Karneval bevor. Da wird sich Corona wohl ein wenig gedulden können, oder? Das denken sich scheinbar die mehr als sieben Millionen Feierwütigen am Zuckerhut. CO-VID-19 feiert munter mit. Wie es der Zufall ergibt, vermelden die brasilianischen Behörden den ersten positiven Befund pünktlich für den letzten Tag des Karnevals.
24. Februar 2020 Einige Präsidenten und Machtinhaber überbieten sich in dieser Zeit mit Behauptungen, die sich bis ins Unermessliche toppen. Im Iran ist sich Präsident Hassan Rouhani sicher: „Das ist ein Komplott unserer Feinde, das Land in einen Stillstand zu zwingen.“
26. Februar 2020 US-Präsident Donald Trump erklärt lapidar: „Wir haben nur wenige Leute damit. Und denen geht es besser, allen geht es besser. Die ganze Sache wird gutgehen und das Problem wird wie durch ein Wunder verschwinden.“ Aber ganz im Gegenteil, Trump wird in der Zukunft noch sein ganz persönliches Corona-Wunder erleben …
3. März 2020 Auch Großbritanniens Premierminister Boris Johnson lässt sich zu einer fatalen Aussage hinreißen: „Wir sollten wie gewohnt weitermachen. Kein Thema, wir haben es im Griff.“ Außerdem prahlt er damit, wie er Menschen in einem Krankenhaus – auch Corona-Patienten – die Hände geschüttelt habe. Er würde dies auch weiterhin machen. Na dann, herzlichen Glückwunsch, Herr Premier. Zwei Wochen später wird sein Land komplett verseucht sein und keine freien Intensivbetten mehr haben.
8. März 2020 Eine prominente Frau sorgt in Spanien für mächtiges Kopfschütteln. Es sind Bilder, die zu diesem Zeitpunkt der Pandemie unglaublich wirken: María Begoña Gómez Fernández, die Gattin des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez, läuft an der Spitze einer Massenkundgebung zum Weltfrauentag in Madrid – 120.000 (!) Menschen haben sich dazu versammelt, trotz hoher Infektionszahlen. (Anmerkung: Gómez infiziert sich offiziell drei Wochen später selbst mit dem Virus.)
9. März 2020 Das erste Land schiebt einen Riegel vor. Die leichtsinnigen Aussagen von Ministerpräsident Conte aus dem Januar sind längst überholt, Italien wird von dem Virus förmlich überrollt. Folgerichtig setzt die erste strikte Ausgangssperre in Europa ein.
11. März 2020 Spanien folgt unmittelbar darauf mit einem ähnlich strengen Lockdown. Trotzdem dürfen 3000 Fußballfans aus Madrid bedenkenlos nach Großbritannien reisen, um dem Champions-League-Spiel zwischen dem FC Liverpool und Atlético Madrid beizuwohnen.
Es ist eines der internationalen Superspreading-Events, bei dem „Brot und Spiele“ der Gesundheit der Menschen vorangestellt werden. Dies räumt Prof. Matthew Ashton, Direktor für Gesundheit der Stadt Liverpool, später indirekt ein: „Der Ernst der Lage wurde zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden.“
„Das Risikomanagement, was in Ischgl an den Tag gelegt wurde, zeigt, dass es den Verantwortlichen wichtiger war, ihren Umsatz zu steigern und das Image zu wahren, als sich darum zu kümmern, was die Gäste wirklich benötigen.“
Jonas P. (Anmerkung: Name aus Schutz der Person gekürzt) ahnt Anfang März 2020 nichts, als er sich mit Freunden auf den Weg ins österreichische Skiparadies Ischgl macht. Zu dieser Zeit gibt es – wie sich im Nachhinein herausstellt – bereits Infektionen vor Ort. Gemeldet werden sie allerdings viel zu spät. Die folgende zeitliche Auflistung zeigt den „Spreading-Schrecken“, der in einer Corona-Tragödie für ganz Europa endet.
3. März 2020 Eine Reiseleiterin aus Island informiert ein Hotel vor Ort, dass es in ihrer Reisegruppe zwei Corona-Fälle gegeben habe.
4. März 2020 Dr. Thórólfur Gudnason, Chef-Epidemiologe Islands, schickt der zuständigen Behörde in Wien eine Benachrichtigung über vermehrte Infektionen bei Ischgl-Heimkehrern.
5. März 2020 Aus Island werden alle Hotels übermittelt, in denen Infizierte wohnten, insgesamt sind es deren fünf. Der wichtige Hinweis dabei: Die isländischen Touristen hätten sich untereinander nicht getroffen, dementsprechend gibt es mehrere Infektionsherde. Eine Reaktion aus Österreich? Fehlanzeige!
7. März 2020 Jonas trifft mit 16 Freunden in Ischgl ein. „Wir hatten sogar noch das Gefühl, es mit Humor nehmen zu können. Es konnte ja niemand ahnen, was dort bereits grassiert.“
8. März 2020 Ein Barkeeper der Après-Ski-Bar „Kitzloch“ infiziert sich mit dem Virus. Dieses Mal wird der Fall auch von den Behörden bestätigt und gemeldet. Trotzdem verharmlost die Landessanitätsdirektion Tirol das Virus weiterhin und schreibt: „Eine Übertragung auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich.“ Heißt: Die Bar wird desinfiziert, die Party geht weiter.
9. März 2020 Insgesamt 15 (!) Personen aus dem Umkreis des Barkeepers werden tags darauf positiv getestet. Das „Kitzloch“ wird geschlossen. Andere Skihütten und Bars bleiben geöffnet, der Skibetrieb ebenfalls.
11. März 2020 Der erste Abend ohne Après-Ski in Ischgl. Vereinzelte Maßnahmen werden durchgeführt, aber die Skipisten bleiben weiter offen. Jonas berichtet über die skurrile Szenerie: „Es durften nur noch 14 statt 28 Personen in die Gondeln. Das Gedränge vor den Gondeln wurde dadurch umso heftiger.“
13. März 2020 Die Skisaison wird offiziell für beendet erklärt. Auch Jonas und seine Freunde reisen ab.
Insgesamt infizieren sich zehn Mitglieder der 17-köpfigen Reisegruppe. „Ich war ebenfalls Corona-positiv“, teilt Jonas mit. Mit den Ischgl-Verantwortlichen geht er hart ins Gericht: „Das Risikomanagement, was in Ischgl an den Tag gelegt wurde, zeigt, dass es den Verantwortlichen wichtiger war, ihren Umsatz zu steigern und das Image zu wahren, als sich darum zu kümmern, was die Gäste wirklich benötigen.“
Eineinhalb Jahre später startet Mitte September 2021 der „Ischgl-Prozess“. Es klagt unter anderem eine Frau, die nun Witwe ist. Ihr Mann ist an Corona verstorben, soll sich beim Abreise-Chaos angesteckt haben. Die Frau fordert rund 100.000 Euro Schadensersatz von der österreichischen Regierung. Sie und weitere Kläger werfen den Entscheidungsträgern vor, (viel) zu spät gehandelt, im Umgang mit COVID-19 versagt und damit zur Verbreitung des Virus beigetragen zu haben.
„Sind Sie sicher, dass es nicht nur eine Grippe ist?“
Wie ernst die Lage in Deutschland ist, bekomme ich selbst am 12. März 2020 zu spüren. Mein Kopf brummt, ich habe Gliederschmerzen, der Hals kratzt und die Nase ist dicht. Es sind einerseits natürlich die typischen Symptome einer normalen Männergrippe. Aber in Pandemie-Zeiten ist eben nichts mehr normal. Also greife ich zum Hörer.
9.28 Uhr Erster Anruf beim Allgemeinmediziner. Die Auskunft: „Wir nehmen niemanden an.“ Zweiter Anruf, wieder keine Chance auf einen Termin. Stattdessen bekomme ich immerhin die Empfehlung für eine sogenannte Corona-Annahmestelle.
In der dortigen Hotline versucht die Dame, mir die Beschwerden auszureden: „Sind Sie sicher, dass es nicht nur eine Grippe ist?“ Gegenfrage: „Woher soll ich das wissen?“ Beruflich hatte ich einige Termine in den vorangegangenen Tagen wahrgenommen, mindestens einer davon mit Kontakt eines Verdachtsfalls. Noch einmal die Klinik-Mitarbeiterin: „Na ja, da wird an vielen Stellen jetzt auch übertrieben.“ Ich bin zum ersten Mal entsetzt, wie lapidar mit dem immer schlimmer grassierenden Coronavirus umgegangen wird. Dann noch abschließend der Hinweis: „Sie kommen auf eigene Verantwortung. Bringen Sie fünf bis sechs Stunden Wartezeit mit. Wir sind hoffnungslos überfüllt.“
10.46 Uhr Ich treffe auf dem Klinikgelände ein. Auf dem Vorplatz von Haus 19 ist ein provisorisches Zelt errichtet. Dort warten bereits 40 Menschen auf knapp 30 Quadratmetern Fläche auf ihren Aufruf, von einem Mindestabstand keine Spur.
Dann folgt die nächste Überraschung. Nach dem Ausfüllen des Fragebogens frage ich rhetorisch: „Den Kugelschreiber (Anmerkung: Für den großen Auflauf an Menschen liegen exakt drei Kugelschreiber parat) kann ich jetzt ja in den Mülleimer werfen, oder?“ Die Antwort der Ordnerin: „Nee, den brauchen wir noch!“ Ich hake völlig verdutzt nach: „Wie?“ Ihre Reaktion: „Was sollen wir denn machen?“
Scheitert der Schutz der Gesundheit wirklich schon an fehlenden Kugelschreibern? Noch einmal zur Erinnerung: Hier warten in Scharen Verdachtsfälle – Anstecken spielend leicht gemacht.
10.57 Uhr Die Stimmung im Zelt ist bedrückend. Die Menschen kommen herein, vereinzelt mit einem Mundschutz, nehmen auf Bierzeltgarnituren und Klappstühlen Platz. Schaue ich doch einmal hoch und muss gezwungenermaßen husten, ernte ich misstrauische Blicke. Drei Heizpilze spenden den Wartenden bei acht Grad Außentemperatur immerhin ein wenig Wärme. Neben dem Zelt sind drei Dixi-Klos aufgestellt. Desinfektions-Stationen? Fehlanzeige.
12.16 Uhr Die Nummern 305 und 306 werden aufgerufen. Angefangen hatte die Wartezeit für mich bei der 301. Das heißt, sechs Patienten in eineinhalb Stunden. Gerüchten zufolge soll es ganz genau eine Ärztin geben. Ich habe übrigens die Nummer 343 …
13.34 Uhr Es wird etwas lauter, die Menschen gesprächiger. Die Siebtklässlerin neben mir ist auf Skifahrt in Nordtirol gewesen, an ihrer Schule gibt es scheinbar einen positiven Befund. Sie grummelt: „Ich will nur diesen blöden Test machen, nach Hause gehen und einen Döner essen.“
14.11 Uhr Nummer 321. Die Hälfte ist fast geschafft – nach dreieinhalb Stunden warten auf der Holzbank.
15.11 Uhr Ein Pizza-Lieferant fährt vor. Einer der Wartenden hat es nicht mehr ausgehalten.
15.46 Uhr „Die Nummer 343 bitte.“ Plötzlich geht es verhältnismäßig schnell. Ein zweiter Arzt ist dazugestoßen. Noch einmal eine letzte Abfrage, wo ich denn zuletzt gewesen sei und welche Symptome ich hätte, dann folgt der Abstrich – Rachen links, Rachen rechts, Nase links, Nase rechts. Dauer: knapp 30 Sekunden.
Das Fazit nach fünf Stunden Wartezeit und einem halbminütigen Corona-Test: Quarantäne für die kommenden zwei bis vier Tage, denn so lange kann es bis zu einer Benachrichtigung dauern. Diese gibt es übrigens nur bei einem positiven Befund. Ich gehe mit einem mulmigen Gefühl und der Erkenntnis nach Hause, dass wir überhaupt nicht auf diese Krisensituation vorbereitet sind. Aus den Erlebnissen dieses Tages entspringt übrigens auch die Idee für dieses Buch.
„Das Corona-Virus verändert unser Leben derzeit dramatisch. Wir werden auf die Probe gestellt, wie nie zuvor. Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“
17. März 2020