Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien - Richard J. Evans - E-Book

Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien E-Book

Richard J. Evans

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Beschreibung

Ein Geschichtsbuch wie gemacht für unser post-faktisches Zeitalter

Nichts in der Geschichte passiert zufällig, alles ist Ergebnis geheimnisvoller Machenschaften - diese Vorstellung ist so alt wie die Geschichte selbst. Gerade jetzt, in Zeiten von Populismus und Fake News, finden Verschwörungstheorien immer mehr Anhänger und treten nirgendwo offensichtlicher zutage als in den revisionistischen Geschichtserzählungen über das Dritte Reich. Von den »Protokollen der Weisen von Zion«, über die »Dolchstoßlegende«, den Reichstagsbrand und Rudolf Heß' »Friedensangebot« an die Briten bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker zerlegt der renommierte Historiker Richard Evans die fünf einflussreichsten Legenden des Dritten Reichs höchst unterhaltsam und mit forensischer Genauigkeit und erkennt darin überraschende Muster.

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Ein Geschichtsbuch wie gemacht für unser postfaktisches Zeitalter

Nichts in der Geschichte passiert zufällig, alles ist Ergebnis geheimnisvoller Machenschaften – diese Vorstellung ist so alt wie die Geschichte selbst. Gerade jetzt in Zeiten der Verunsicherung, von Populismus und Fake News finden Verschwörungstheorien immer mehr Anhänger und treten nirgendwo offensichtlicher zutage als in den revisionistischen Geschichtserzählungen über das Dritte Reich. Längst diskreditierte Märchen erwachen zu neuem Leben, weil es angeblich neue Beweise gibt. Von den »Protokollen der Weisen von Zion« über die »Dolchstoßlegende«, den Reichstagsbrand und Rudolf Heß’ »Friedensangebot« an die Briten bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker zerlegt der renommierte Historiker Richard Evans die fünf einflussreichsten Legenden des Dritten Reichs höchst unterhaltsam und mit forensischer Genauigkeit und erkennt darin überraschende Muster.

Richard J. Evans, geboren 1947, war Professor of Modern History von 1998 bis 2008 und Regius Professor of History von 2008 bis 2014 an der Cambridge University. Seine Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Nationalsozialismus waren bahnbrechend. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Wolfson Literary Award for History und die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Hansestadt Hamburg. 2012 wurde Evans von Queen Elizabeth II. zum Ritter ernannt. Zuletzt ist von ihm erschienen »Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch – 1815–1914« (DVA 2018).

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Richard J. Evans

Das Dritte Reich und seineVerschwörungstheorien

Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen – Von den »Protokollen der Weisen von Zion« bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe ist 2020 unter dem TitelThe Hitler Conspiracies. The Third Reich and theParanoid Imagination bei Allen Lane in London erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © Richard J. Evans, 2020

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Jonas Wegerer

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-26384-3V002

www.dva.de

Inhalt

Einleitung

I Waren die Protokolle eine »Vollmacht für den Völkermord«?

II Erhielt das Deutsche Heer 1918 einen »Dolchstoß in den Rücken«?

III Wer zündete den Reichstag an?

IV Warum flog Rudolf Heß nach Großbritannien?

V Entkam Hitler dem Bunker?

Schlussbetrachtung

Dank

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Sachregister Ägypten

Für das »Conspiracy and Democracy«-Team

Einleitung

Die Vorstellung, dass nichts in der Geschichte zufällig geschieht, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint, dass alles, was vor sich geht, das Ergebnis geheimer Machenschaften böswilliger Gruppen ist, die hinter den Kulissen die Geschehnisse manipulieren – diese Vorstellung ist so alt wie die Geschichte selbst. Dennoch ist die Meinung weit verbreitet, dass Verschwörungstheorien im 21. Jahrhundert, vom Aufstieg des Internets und der sozialen Medien befördert, populärer und weiter verbreitet seien als jemals zuvor, zumal der Einfluss der traditionellen Hüter der Meinungszirkulation wie Zeitungsredaktionen und Buchverlage schwindet und die in dem verdrehten Begriff der »alternativen Fakten« aufgehobene Unsicherheit gegenüber dem, was wahr oder falsch ist, allgemein zunimmt.1

Vor vielen Jahren lenkte der amerikanische liberale Intellektuelle Richard Hofstadter in seinem berühmten Aufsatz »The Paranoid Style in American Politics«, der im November 1964 im Harper’s Magazine erschien, die Aufmerksamkeit auf Verschwörungstheorien. Nachdem er klargestellt hatte, dass er Verschwörungstheoretiker nicht für klinisch geistesgestört hielt, schrieb Hofstadter, er »spreche deshalb von paranoidem Stil, weil kein anderes Wort die Gefühlslage aus erregter Übertreibung, Argwohn und Verschwörungsphantasie, die ich meine, angemessen wiedergibt«. Natürlich sei das Phänomen nichts Neues; es könne zurückverfolgt werden zu Schriften über die Freimaurer oder die Illuminati aus dem 18. Jahrhundert. Aber es sei in diesem 20. Jahrhundert wiederbelebt worden, insbesondere während der McCarthy-Ära nach dem Zweiten Weltkrieg. Senator McCarthys verzerrte Wahrnehmung, die in jeder Ecke der amerikanischen Gesellschaft verborgene Kommunisten vermutete, sei ein treffendes Beispiel für diesen paranoiden Stil, der annehme, dass ein böswilliger Feind insgeheim die Geschehnisse manipuliere, um die soziale und politische Ordnung zu untergraben. »Anders als der Rest von uns«, fuhr Hofstadter fort,

»ist der Feind nicht in den Mühlen des riesigen Mechanismus der Geschichte gefangen … Er bezwingt den Mechanismus der Geschichte, fabriziert ihn sogar, und versucht den normalen Gang der Geschichte in bösartiger Absicht abzulenken. Er entfacht Krisen, Bankenpaniken, wirtschaftliche Depressionen, Katastrophen, freut sich an dem Elend, das er angerichtet hat, und profitiert von ihm. Das paranoide Geschichtsbild ist entschieden persönlich: Entscheidende Ereignisse werden nicht als Teil des Stroms der Geschichte gesehen, sondern als Resultate des Willens von jemandem.«

Paranoide Schriften, so Hofstadter weiter, zeichneten sich durch ein überraschend hohes Maß an Pedanterie und Pseudowissenschaftlichkeit aus. Was an ihnen auffalle, sei »der Gegensatz zwischen ihren phantasierten Schlussfolgerungen und der beinah rührenden Sorge um Faktizität, die sie ausnahmslos an den Tag legen. Sie bemühen sich geradezu heldenhaft um Belege, die beweisen, dass das Unglaubliche das Einzige ist, was man glauben kann.«

Die Grundannahme von Hofstadters Aufsatz – dass nämlich der öffentliche Diskurs im Allgemeinen und die politische Debatte im Besonderen auf einem gemeinsamen Wertekodex beruhen, der von Rationalität und der Zurückweisung des Gedankens gekennzeichnet ist, hinter jedem großen politischen Ereignis würden verborgene Kräfte stecken – ist nach Ansicht vieler Beobachter insbesondere seit der Jahrhundertwende jedoch von der Wirklichkeit überholt worden. Laut Joseph Uscinski, einem der gegenwärtig führenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet, sind Verschwörungstheorien zu einem »Kennzeichen des frühen 21. Jahrhunderts« geworden. Sie

»dominieren in vielen Teilen der Welt den Diskurs der Elite und sind zum Sammlungsruf großer politischer Bewegungen geworden … Das Internet, einst als ein Instrument der Demokratie gepriesen, wird – um des Profits oder der Macht willen – benutzt, um die Massen mit Fake News zu manipulieren, die hauptsächlich aus erstunkenen und erlogenen Verschwörungstheorien bestehen … Unsere Kultur wird von Verschwörungstheorien überschwemmt.«2

Nirgendwo ist die Ausbreitung von Verschwörungstheorien und »alternativen Fakten« offensichtlicher als in revisionistischen Darstellungen der Geschichte des Dritten Reichs. Lange diskreditierte Legenden sind hierbei in letzter Zeit zu neuem Leben erwacht und erhalten durch neu entdeckte Belege und neue Blickwinkel der Betrachtung scheinbar Glaubwürdigkeit. Im Mittelpunkt dieser Welt der Verschwörungstheorien steht die Gestalt Adolf Hitlers. »Wer gute Verschwörungstheorien mag«, bemerkte jüngst ein Journalist, »hat mit Sicherheit schon eine Menge über Hitler gehört.«3 Tatsächlich fehlt der Name Hitler in kaum einer Onlinediskussion, über welches Thema auch immer. Schon 1990 legte der amerikanische Autor Mike Godwin eine These vor, die als »Godwin’s Law« bekannt wurde und der zufolge mit der Dauer einer Internetdiskussion die Wahrscheinlichkeit wächst, dass Hitler erwähnt wird, wonach sie dann für gewöhnlich, wenn auch nicht immer, endet. 2012 hat der Begriff »Godwin’s Law« sogar Eingang in die heiligen Hallen des Oxford English Dictionary gefunden. Vergleiche mit Hitler sind allgegenwärtig, insbesondere natürlich in der Politik, wo es fast schon obligatorisch zu sein scheint, jeden, dessen Meinung man ablehnt, mit Hitler zu vergleichen, von Donald Trump abwärts. Warum aber Hitler? Dazu heißt es in Alec Ryries Geschichte des Atheismus und Agnostizismus:

»Die mächtigste moralische Figur in der westlichen Kultur ist Adolf Hitler. Ihn zu preisen wäre so monströs, wie es einst monströs gewesen ist, Jesus herabzusetzen. Er ist zu einem fixen Bezugspunkt geworden, durch den man das Böse definiert … Der Nationalsozialismus bildet in unserer relativistischen Kultur fast als einzige Erscheinung einen absoluten Maßstab: einen Punkt, an dem Streit endet, weil die Frage, ob er gut oder böse ist, nicht zur Debatte steht … Der Nationalsozialismus hat die Barriere überquert, die historische Ereignisse von zeitlosen Wahrheiten trennt.«4

Als Schlüsselaspekt von Verschwörungstheorien gilt weithin eine starke Neigung, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen, und wer könnte böser sein als Hitler?

Aber diese Überlegungen bedürfen einiger Einschränkungen. In Wirklichkeit werden die von Ryrie beschriebenen Überzeugungen nicht allgemein geteilt. Trotz allem, was über Hitler bekannt ist, hegen manche eine starke Bewunderung für ihn, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass diese Leute auch Verschwörungstheorien anhängen, einschließlich der Leugnung des Holocaust, zu der letztlich die Ansicht gehört, die Wahrheit über den Holocaust – dass es ihn nämlich nicht gegeben habe – sei durch eine globale Verschwörung jüdischer Eliten von den Wissenschaftlern und Journalisten in aller Welt seit den 1940er Jahren systematisch unterdrückt worden. Andere Verschwörungstheoretiker – von denjenigen, die glauben, die Welt sei von Außerirdischen besucht worden und werde weiterhin von ihnen besucht, bis zu denjenigen, nach deren Überzeugung die Geschichte der Menschheit von okkulten, übernatürlichen Kräften gelenkt wird – beziehen Hitler, wie wir sehen werden, gelegentlich in ihre Theorien ein, um sie für Ungläubige interessant zu machen oder ihre Behauptungen zu untermauern, indem sie diese mit jener berüchtigtsten aller historischen Figuren in Zusammenhang bringen. Der scharfe Gegensatz zwischen Gut und Böse, den viele als hervorstechendes Merkmal von Verschwörungstheorien betrachten, stellt sich häufig als komplexer und ambivalenter heraus, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Wie diese Beispiele schon andeuten, sind Verschwörungstheorien nicht alle gleich. Die Forschung auf diesem Gebiet hat unterschiedliche Arten solcher Theorien ausgemacht und unterscheidet zunächst zwei Hauptformen: Die erste ist die systematische Verschwörungstheorie, in der eine einzelne konspirative Gruppe mithilfe der unterschiedlichsten Aktivitäten danach strebt, ein Land, eine Region oder sogar die ganze Welt unter ihre Kontrolle zu bringen. Häufig ist die Verschwörung, der Theorie zufolge, über einen langen Zeitraum hinweg tätig und geographisch über ein weites Gebiet gespannt, in manchen Fällen buchstäblich über den gesamten Globus. Verbreitet und verstetigt wird sie durch weltweite Organisationen wie die Illuminati, die Freimaurer und die Kommunisten oder eine Volksgruppe wie die Juden. Die zweite Hauptform ist die Ereignisverschwörungstheorie, in der eine Geheimorganisation hinter einem bestimmten Ereignis steht, wie der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy oder der vermeintlich gefälschten Landung von Menschen auf dem Mond. Diese Verschwörungen werden in der Regel als kurzfristige Phänomene beschrieben, die wenige Wochen oder Monate, höchstens aber einige Jahren in Anspruch nehmen. In den Köpfen mancher Verschwörungstheoretiker können beide Formen auch miteinander verknüpft sein, das heißt, eine Ereignisverschwörung kann als Ausdruck einer systematischen Verschwörung gedacht werden, doch dies ist nicht notwendig der Fall.5 Wichtig ist die Tatsache, dass beide Arten von Verschwörungstheorien hinter historischen (und häufig auch aktuellen) Ereignissen das Wirken verborgener Kräfte annehmen. Gemeinsam ist beiden Formen ferner die Auffassung, dass die von Verschwörungstheoretikern so genannte »offizielle« oder, anders ausgedrückt, allgemein anerkannte Auffassung eines Vorgangs oder Ereignisses oder einer Ereigniskette falsch sei. Tatsächlich impliziert schon die Benutzung des Attributs »offiziell«, dass Regierungen oder mächtige Eliten Historiker, Wissenschaftler, Journalisten und andere dazu gebracht haben, Narrative zu verbreiten, deren Zweck es ist, die Wahrheit zu verbergen, um den Status quo zu bewahren und sie an der Macht zu halten. Dies wiederum bestärkt die Verschwörungstheoretiker darin, dass sie als Einzige die wirkliche Wahrheit kennen.

Natürlich gab und gibt es reale Verschwörungen, und nicht alle Verschwörungstheorien sind falsch. Das treffendste Beispiel ist Watergate, die Verschwörung, in deren Rahmen der amerikanische Präsident und republikanische Kandidat in der Präsidentschaftswahl von 1972, Richard M. Nixon, einen Einbruch ins zentrale Wahlkampfbüro der gegnerischen Demokratischen Partei im Hotel Watergate in Washington organisierte, um Wanzen zu installieren. Im Lauf der Jahrhunderte hat es zahlreiche reale Verschwörungen und Konspirationen gegeben. Ihnen allen ist die Tatsache gemeinsam, dass nur wenige Menschen an ihnen beteiligt waren. Verschwörer müssen zwangsläufig im Geheimen agieren, wenn sie nicht von denen, gegen die sich ihr Tun richtet, entdeckt und aufgehalten werden wollen, und mit der Zahl der Eingeweihten wächst die Gefahr, verraten zu werden und zu scheitern. Zudem waren diese Verschwörungen allesamt zeitlich mehr oder weniger begrenzt. Da sie ein bestimmtes Ziel anstrebten, endeten sie, wenn es erreicht war. In den meisten Fällen kam es allerdings nicht so weit, sie waren vorher aufgeflogen. Zugleich war nicht alles, was oftmals als Verschwörungstheorie bezeichnet wurde, tatsächlich mit einer Konspiration verbunden. Aber Verschwörungstheorien sind nicht nur Beispiele von »Fake News«, der Verzerrung oder Manipulation der Wahrheit oder der Verbreitung von »alternativen Fakten«, um ein Ereignis zu erklären oder wegzuerklären. Im Mittelpunkt jeder echten Verschwörungstheorie steht vielmehr eine Gruppe von Menschen, die sich angeblich im Geheimen verschworen haben, um illegale Aktionen durchzuführen, mit denen sie ein bestimmtes Ziel verfolgen. Diese Vorstellung entspricht der zentralen Überzeugung von Verschwörungstheoretikern, dass kein großes historisches Ereignis zufällig geschieht, das Ergebnis günstiger Umstände ist oder von einem Einzelnen allein angestoßen wird.

Im nationalsozialistischen Deutschland stieß der von Joseph Goebbels beherrschte riesige staatliche Propagandaapparat riesige Mengen von »Fake News« oder, anders ausgedrückt, Lügen aus. Hitler versuchte ständig, die Menschen innerhalb und außerhalb Deutschlands über seine wirklichen Ziele zu täuschen, indem er Großbritannien, Frankreich und andere europäische Länder selbst dann noch seiner friedlichen Absichten versicherte, als er Deutschland wiederaufrüstete und als internationaler Aggressor auftrat. Aber nur ein kleiner Teil dieser Propaganda bediente sich Verschwörungstheorien, und indem Hitler und Goebbels die Wahrheit über ihr Tun verbargen, bildeten sie keine Verschwörung. Anders als Stalin, der überall um sich herum Verschwörungen sah und unter dem erfundenen Vorwurf, sie hätten gegen das Sowjetregime konspiriert, eine lange Reihe von Säuberungen und Schauprozessen gegen viele seiner Untergebenen in Gang setzte, war Hitler selbst kein Verschwörungstheoretiker. Stalin hatte sich seinen Weg an die Spitze der Sowjethierarchie gegen Rivalen, die – wenigstens am Anfang – bekannter und beliebter waren als er, freikämpfen müssen, weshalb er schließlich meinte, ihnen jede Möglichkeit, sich gegen ihn zu wenden, nehmen zu müssen. Dagegen wurde Hitler von Anfang an von seinen unmittelbaren Untergebenen an die Spitze getragen, weshalb er ihnen gegenüber fast bis zum Ende loyal blieb. Gewiss befahl er 1934 in der »Nacht der langen Messer« die Ermordung der SA-Führung und einiger konservativer Politiker, gegen die er einen Groll hegte, aber deren Opposition war öffentlich gewesen und nicht hinter den Kulissen betrieben worden. Hitlers eigenes Vorgehen, das insgeheim geplant und ohne Vorwarnung ausgeführt worden war, erfüllt zwar viele Merkmale einer Verschwörung, aber sein Vorwurf, Ernst Röhm und die Verfechter einer »zweiten Revolution« nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« im Jahr zuvor hätten einen Putsch geplant, war alles andere als eine Verschwörungstheorie, denn alles, was Röhm sagte und tat, sagte und tat er in aller Öffentlichkeit.

Es gab allerdings eine wirkliche Verschwörung gegen Hitler, zu der sich eine Gruppe von Wehrmachtoffizieren und anderen während des Krieges insgeheim zusammenfand. Sie gipfelte in dem gescheiterten Attentat auf Hitler mit einer von Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 platzierten Bombe. Dank mehrerer Zufälligkeiten überlebte Hitler; die Verschwörer begingen Selbstmord, wurden erschossen oder verhaftet, vor Gericht gestellt und hingerichtet. In seiner Radioansprache nach dem fehlgeschlagenen Bombenattentat beschrieb Hitler den Anschlag auf sein Leben als Tat einer »ganz kleinen Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere«. Die anschließenden Ermittlungen der Polizei gingen von dieser Annahme aus: dass nur wenige Personen beteiligt waren, dass es, mit anderen Worten, eine klassische, eng begrenzte Verschwörung war, an der ausnahmslos Offiziere mit durch und durch reaktionären Zielen teilgenommen hatten. Aber während das NS-Regime an dieser Version festhielt, sie in seinen Verlautbarungen ständig wiederholte und durch die Auswahl derjenigen, die vor Gericht gestellt wurden, bekräftigte, enthüllte die hinter verschlossenen Türen durchgeführte Untersuchung der Gestapo, dass eine wesentlich größere Zahl von Menschen mehr oder weniger tief in die Verschwörung verstrickt war, nicht nur Militärs, sondern auch Zivilisten, unter ihnen Politiker sowohl von der Linken und vom Zentrum als auch von der konservativen Rechten. Anstatt die Konspiration als klassische Verschwörung zu betrachten, sollte man hier besser von einander überlappenden Netzwerken sprechen, von denen einige wichtiger waren als andere. Obwohl kein Zweifel daran besteht, dass Stauffenberg und die anderen Offiziere, die bereit waren, sowohl den Mordanschlag als auch den geplanten Militärputsch durchzuführen, im Mittelpunkt dieser Netzwerke standen, gab es neben ihnen noch viele andere, die Positionen in mehr oder weniger großer Entfernung vom Zentrum der Verschwörung einnahmen; wie beispielsweise jene Männer, die nach den Vorstellungen der Verschwörer nach Hitlers Tod eine zivile Regierung bilden sollten. Diplomaten, Rechtsanwälte, Industrielle, Großgrundbesitzer, Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Theologen, hohe Staatsbeamte und viele andere waren auf die eine oder andere Weise an dem Komplott beteiligt. Am Ende waren zwar nur die Militärs im Zentrum der Verschwörung in der Lage, deren Vorhaben auszuführen, aber man würde ihre Breite und Tiefe unterschätzen, wenn man sie ausschließlich als militärische Operation verstünde. Was die Verschwörer einte, war die Tatsache, dass sie fast alle unverdächtig waren. Sie konnten nur erfolgreich sein, weil sie nicht als wirkliche oder potentielle Regimegegner von der Gestapo überwacht wurden. Dennoch war die Verschwörung zu dem Zeitpunkt, als die Bombe in Hitlers Hauptquartier deponiert wurde, so groß geworden, dass bereits mehrere ihrer Mitglieder verhaftet worden waren und die Gestapo ihr Netz um viele andere immer enger zusammenzog.6 Es gab noch mehr geheime Widerstandsbewegungen, wie das sowjetische Spionagenetz der »Roten Kapelle«, aber diese Gruppen waren keine Verschwörungen im eigentlichen Sinn, da sie nicht auf ein klar definiertes einzelnes Ziel hinarbeiteten. Der Bombenanschlag von 1944 blieb mehr oder weniger einzigartig und einer der seltenen Fälle, in denen Hitler tatsächlich jemandem vorwarf, eine Verschwörung gegen ihn angezettelt zu haben.

Gleichwohl waren der Welt der Nationalsozialisten Verschwörungen, ob sie nun real oder imaginiert waren, nicht fremd. Von einigen Verschwörungstheorien nehmen Historiker an, sie hätten Hitler beeinflusst, von anderen, er habe sie angeregt, und von wieder anderen, er habe sich aktiv an ihrer Verbreitung beteiligt. In diesem Buch geht es nicht um wirkliche Verschwörungen,7 es geht darum, wie die paranoide Vorstellungskraft mit Hitler und den Nationalsozialisten verbunden ist. Untersucht werden fünf vermeintliche Verschwörungen, die bisher von ernsthaften Historikern wie von Verschwörungstheoretikern verschiedenster Couleur jeweils einzeln behandelt wurden. Wenn man sie nun zusammengenommen durch die Brille jüngerer allgemeiner Studien über Verschwörungstheorien betrachtet, sind einige überraschende Dinge zu erkennen, die sie gemeinsam haben. Im Mittelpunkt der ersten dieser angeblichen Verschwörungen steht die berüchtigte gefälschte antisemitische Hetzschrift Die Protokolle der Weisen von Zion, um die sich das erste Kapitel drehen wird. Wo ist das Pamphlet fabriziert worden, warum ist es so weit verbreitet, und brachte es letztlich Hitler dazu, den Holocaust in Gang zu setzen? Waren die Protokolle mitunter eine »Vollmacht für den Völkermord« und sind daher ein klassisches Beispiel für die Gefährlichkeit von Verschwörungstheorien, wenn man zulässt, dass sie wuchern und sich über die Welt ausbreiten? Zu welcher Art von Verschwörungstheorien gehören die Protokolle? Auf den ersten Blick passen sie perfekt in die Kategorie der systematischen Verschwörungstheorien, und tatsächlich ist ihr Inhalt sehr vage und extrem verallgemeinert. Die Protokolle gelten weithin als der wichtigste verschwörungstheoretische Text des Antisemitismus, was wiederum die Frage aufwirft, inwieweit der Antisemitismus selbst eine Verschwörungstheorie ist. Darüber hinaus stellt sich angesichts der Protokolle eine weitere, häufig übersehene Frage: In welchem Ausmaß und wie unterschied und unterscheidet sich der Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus? Wenn man die Protokolle im Licht gegenwärtiger Debatten über Verschwörungstheorien betrachtet, könnte man einige unerwartete Antworten auf diese Fragen erhalten.

Das zweite Kapitel befasst sich mit der Dolchstoßlegende, der zufolge die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg das Ergebnis eines Komplotts war, das die deutschen Streitkräfte unterminierte, indem es an der Heimatfront eine Revolution plante und durchführte. Anders als die Protokolle kann man dieses Narrativ als Ereignisverschwörungstheorie einstufen, obwohl es in entscheidenden Punkten immer noch relativ vage und verallgemeinert ist. Von der Dolchstoßlegende gibt es drei Varianten. In der ersten wird ganz allgemein behauptet, Deutschland habe den Krieg verloren, weil eine sich stetig verschlechternde Versorgungslage zu Munitionsknappheit an den Kriegsfronten und Lebensmittel- und Alltagsgüterknappheit an der Heimatfront geführt habe. Dies habe eine Krise des Kampfwillens ausgelöst, die sich in einer wachsenden Unterstützung der Idee eines Kompromissfriedens manifestiert habe. Der Zusammenbruch der Moral in der Heimat sei wie ein Dolchstoß in den Rücken des Heeres gewesen und habe es ihm unmöglich gemacht, den Kampf gegen einen besser ausgerüsteten Feind fortzuführen. Die zweite Variante enthält den konkreteren Vorwurf, die Sozialdemokraten hätten die Moral der Truppe untergraben, indem sie in der Heimat und bei den Streitkräften selbst Unzufriedenheit schürten, um eine demokratische Revolution auszulösen wie eben jene, durch die der Kaiser am 9. November 1918 gestürzt und die angeblich reale Möglichkeit weiterzukämpfen zunichtegemacht wurde. Die dritte Variante, die vom rechtsextremen Rand des politischen Spektrums vertreten wurde, betrachtete Sozialismus wie Revolution als Formen jüdischer Subversion. Hieraus ergibt sich die Frage, inwieweit Hitler und die NSDAP auf ihrem Weg an die Macht in den Nachkriegswirren die Dolchstoßlegende als Propagandawaffe bewusst einsetzten und, in breiterer Perspektive gesehen, inwieweit diese eine Rolle dabei spielte, dass in den letzten Jahren der Weimarer Republik Millionen von Deutschen in Wahlen für die Nationalsozialisten stimmten. Erschreckenderweise hat die Dolchstoßlegende, zumindest in ihren schwächeren Formen, in jüngster Zeit eine gewisse Wiederbelebung erfahren, weshalb dieses Kapitel die Frage stellt, ob die neuen Behauptungen über den Grund der deutschen Niederlage im November 1918 einer genauen Prüfung standhalten.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933, wenige Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Die Brandstiftung bot Hitlers Regierung den Vorwand, bürgerliche Freiheiten aufzuheben – der erste entscheidende Schritt auf dem Weg in die NS-Diktatur. Hitlers Behauptung, der Brand sei zur Vorbereitung eines Staatsstreichs von den Kommunisten gelegt worden, war leicht zu widerlegen; in diesem Fall sahen sich noch nicht einmal die Richter des Dritten Reichs in der Lage, eine derartige Verschwörungstheorie zu bestätigen. Es war jedoch klar, wer letztlich von dem Brand profitierte. Die Kommunisten behaupteten ihrerseits umgehend, der Brand sei als Operation »unter falscher Flagge« von den Nationalsozialisten selbst geplant und gelegt worden, um einen Vorwand zu haben für die Schaffung der quasi-legalen Grundlage einer Diktatur, welche dann die Verhaftung von Tausenden Kommunisten und ihre Unterbringung in den neu errichteten Konzentrationslagern legitimierte. Wir haben es also mit einem historischen Ereignis zu tun, das zum Gegenstand zweier entgegengesetzter Verschwörungstheorien wurde. Im Gegensatz zur nationalsozialistischen Version ist die kommunistische immer wieder vertreten worden, obwohl seit den 1960er Jahren vorgelegte konkrete Beweise stichhaltig zeigen, dass der Brand das Werk eines Einzelnen war, des jungen Holländers Marinus van der Lubbe. Tatsächlich ist diese Ereignisverschwörungstheorie in jüngster Zeit erneut vorgebracht worden. Wie plausibel sind die neuen Argumente, und gibt es irgendwelche neuen Belege, die diese Theorie stützen? Halten sie einer kritischen Prüfung stand, wenn man sie im breiteren Kontext unseres Wissens über Verschwörungstheorien und deren Funktionsweise betrachtet?

Auch an dem überraschenden, unangekündigten Flug des stellvertretenden Führers der NSDAP, Rudolf Heß, am 10. Mai 1941 nach Schottland hat sich eine Debatte entzündet, die im vierten Kapitel aufgegriffen wird. In der umfangreichen Literatur über dieses Thema, die zu einem großen Teil aus jüngerer Zeit stammt, werden die verschiedensten Theorien vertreten, weshalb viele Historiker in Heß’ Flug ein bis heute ungelöstes Rätsel sehen. Kam Heß als Hitlers Bote mit einem Angebot für einen Separatfrieden nach Großbritannien? War er von einer bedeutenden Gruppe britischer Politiker zu seinem Schritt ermutigt worden? Oder gab es darüber hinaus gar eine Verschwörung Churchills und der Kriegspartei in Whitehall mit dem Ziel, das Angebot zurückzuweisen und die Wahrheit über Heß’ Mission zu verheimlichen? War es der Schlusspunkt einer britischen Verschwörung, als Heß viele Jahre später, 1987, in der Gartenlaube im Hof des Kriegsverbrechergefängnisses in Berlin-Spandau tot aufgefunden wurde? Sollte verhindert werden, dass die unangenehme Wahrheit, die der ehemalige NS-Führer zu enthüllen beabsichtigte, ans Licht kam? Hierbei handelt es sich unverkennbar um eine weitere Ereignisverschwörungstheorie, aber wie überzeugend sind die vermeintlichen Beweise, mit denen die jeweiligen Versionen gestützt werden?

Das fünfte und letzte Kapitel widmet sich dem hartnäckigen Gerücht, Hitler sei 1945 aus dem Bunker der Reichskanzlei entkommen und habe das Ende seiner Tage in Argentinien verbracht. Wo hat es seinen Ursprung? Ist das Gerücht in irgendeiner Weise überzeugend, und warum ist es trotz wiederholter Versuche, es zu widerlegen, bis heute nicht verstummt? Wie viele andere der in diesem Buch behandelten Phantasien hat die Behauptung, Hitler sei in den 1950er Jahren und sogar noch darüber hinaus am Leben gewesen, in jüngster Zeit eine zunehmende mediale Wiederauferstehung erlebt. Von allen in diesem Buch untersuchten Ereignisverschwörungstheorien ist es zweifellos die wildeste und phantastischste, aber ihre Transformation im Zeitalter von Internet und sozialen Medien kann uns viel darüber sagen, wie Verschwörungstheorien funktionieren und welche Art von Menschen sie verbreiten und an sie glauben.

Dieses Buch handelt von Phantasien und Fiktionen, Erdichtungen und Fälschungen. Die bewusste Nutzung von Mythen und Lügen zu politischen Zwecken ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Manche jener, die Verschwörungstheorien über Hitler oder die Juden oder die NSDAP verbreitet haben, glaubten offensichtlich an das, was sie sagten. Andere haben ebenso offensichtlich Geschichten verwendet, von denen sie wussten, dass sie falsch waren. Gelegentlich wurden zu politischen Zwecken die Tatsachen absichtlich verzerrt oder komplette Lügen erfunden. Manchmal wurden sensationelle Behauptungen lediglich deshalb bekräftigt, um sie sich zunutze machen zu können. In manchen Fällen wurde sogar gesagt, es spiele keine Rolle, ob die Geschichten wahr oder falsch seien; es komme lediglich darauf an, dass sie (selbst wenn sie wie die Protokolle auf eindeutig gefälschten oder verfälschten Beweisen beruhten) eine grundlegende Wahrheit enthüllten und daher in einem tieferen Sinn wahr seien, als es das bloß Empirische sein könnte. Solche Argumente stellen das Wesen der Wahrheit selbst zur Debatte. Sie stellen eine Herausforderung dar, der jene, die an die Notwendigkeit einer sorgfältigen, unparteilichen Untersuchung von Beweisen und vertretbarer, nachhaltiger Schlussfolgerungen glauben, sich häufig nicht sofort gewachsen zeigen. Dieses Buch handelt von Geschichte, es ist aber zugleich eines für heute, für das Zeitalter von »Postwahrheit« und »alternativen Fakten«, für unsere eigene aufgewühlte Zeit.

I

Waren dieProtokolleeine »Vollmacht für den Völkermord«?

Protokolle der Weisen von Zion: Die grösste Fälschung des Jahrhunderts! Herausgegeben von Johann Baptist Rusch nach einem Manuskript, das vermutlich von dem bekannten Schweizer Zionisten Saly Braunschweig verfasst und 1933 in der Schweiz veröffentlich wurde.

1

Die Protokolle der Weisen von Zion, ein kurzes Pamphlet, das im frühen 20. Jahrhundert erstmals auftauchte, ist die vielleicht berüchtigtste Publikation aller Zeiten. Die Protokolle bleiben, laut Michael Butter, einem führenden Forscher auf dem Gebiet der Verschwörungstheorien, »bis heute [der] wichtigste Text zur jüdischen Weltverschwörung«, weil sie halfen, »eine Stimmung zu schaffen, in der es schließlich zum Genozid an den europäischen Juden kam«.1 Norman Cohn vertritt in seinem Standardwerk über Ursprünge und Einfluss der Hetzschrift die Auffassung, die Protokolle hätten den Nationalsozialisten eine offensichtliche Rechtfertigung für die Vernichtung der Juden geboten; sie seien, um den englischen Titel seines Buchs zu zitieren, eine »Vollmacht für den Völkermord« (»Warrant for Genocide«) gewesen. Nach Cohns Ansicht war die Hetzschrift »prägnantester Ausdruck und Medium des Mythos der jüdischen Weltverschwörung«. Sie habe »Hitlers Denken in Besitz« genommen und sei »zur Ideologie seiner fanatischsten Anhänger im In- und Ausland« geworden.2 Ganz in diesem Sinn trägt eine neuere, von Alex Grobman verfasste Studie über die Protokolle den Titel License to Murder. Robert Wistrich, einer der führenden Antisemitismusforscher, sieht ebenfalls eine direkte Kausalkette von den Protokollen zum Holocaust.3 Auch die Philosophin Hannah Arendt hatte die Bedeutung des Pamphlets hervorgehoben. In ihrem einflussreichen Werk Elemente und Ursprüngetotaler Herrschaft von 1951 stellte sie fest, die Nationalsozialisten hätten die Protokolle als »Lehrbuch für die Welteroberung« benutzt.4 Alexander Stein, ein baltendeutscher Anhänger der Menschewiki, erklärte seinen Zeitgenossen Hitler rundheraus zum »Schüler der ›Weisen von Zion‹« und die Protokolle zur »Bibel des Nationalsozialismus«.5 Der deutsch-jüdische Historiker Walter Laqueur meinte, Hitler sei »gewitzt genug« gewesen, »die reichen propagandistischen Möglichkeiten der Ideen der Protokolle zu erkennen«. In Mein Kampf beziehe er sich ausdrücklich auf sie.6 »Die Protokolle«, schreibt ein anderer Historiker, »wurden ein Schlüsselelement von Hitlers konspirativem Denken.«7 Klaus P. Fischer hat diese Auffassung in seinem Lehrbuch Nazi Germany. A New History ausführlich dargelegt. Hitler, unterstrich er,

»glaubte an die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung, wie sie in den Protokollen der Weisen von Zion beschrieben wurde. In seiner umfangreichen Übersicht über die geheimen Machenschaften der Juden über die Zeiten hinweg enthüllte er, dass er leidenschaftlich an ein konspirationistisches Geschichtsbild glaubte, nach dem die Juden die wirkliche Kraft hinter den Ereignissen seien … So wird jedes destruktive Ereignis von Hitlers paranoidem Geist als etwas entlarvt, das von ränkevollen Juden angezettelt wurde.«8

Daher habe Hitler, fährt Fischer fort, eine Aufgabe von welthistorischer Bedeutung zu erfüllen geglaubt, als er während des Zweiten Weltkriegs die Vernichtung der europäischen Juden in Gang setzte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Protokolle, laut dem Sozialpsychologen Jovan Byford, zum »Eckfeiler der NS-Propaganda« geworden.9 Ihnen wurde eine solche Bedeutung beigemessen, dass Umberto Eco ihnen seinen vorletzten Roman widmete. In Der Friedhofin Prag erzählt er die fiktive Geschichte ihrer Ursprünge und Entstehung: Das vorletzte Kapitel trägt in Anspielung auf den nationalsozialistischen Euphemismus von der »Endlösung des Judenproblems in Europa« den Titel »Die Endlösung«.10 Der Historiker Wolfgang Wippermann hat die Protokolle in einer 2007 erschienenen Studie über Verschwörungstheorien als »die bekannteste und bis heute auch wirkungsvollste Verschwörungsideologie« mit »immenser Wirkung« bezeichnet, zu deren »begeisterten Lesern« neben vielen anderen Hitler gehört habe.11 Nach Ansicht der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym haben die Protokolle »sowohl Pogrome in Russland und der Ukraine als auch die NS-Vernichtungspolitik inspiriert und gerechtfertigt«.12 Laut Stephen Bronner versuchte Hitler, »ihren praktischen Implikationen gerecht zu werden«.13 An anderer Stelle ist sogar behauptet worden, er habe sie »als Handbuch in seinem Krieg zur Vernichtung der Juden benutzt«.14

Angesichts der weit verbreiteten Ansicht, die Protokolle seien die einflussreichste Darstellung der Theorie, die Juden hätten eine weltweite Verschwörung gebildet, um die Gesellschaft und ihre Institutionen zu stürzen, und angesichts der Ansicht, diese Theorie habe wiederum, nicht zuletzt durch ihren Einfluss auf Hitler, direkt zum Holocaust geführt, ist es nicht verwunderlich, dass eine Vielzahl von Historikern und Textwissenschaftlern sich mit ihnen beschäftigt hat. Darüber hinaus verfügen wir heute über eine genauere Dokumentation von Hitlers Ansichten, als es zu Norman Cohns Zeit der Fall war, sowohl durch die Veröffentlichungen von Hitlers Schriften und anderen Äußerungen als auch durch neue Publikationen wie die Tagebücher von Joseph Goebbels. All diese Quellen lassen heute daran zweifeln, dass Hitler wirklich ein Schüler der Protokolle war, was die Frage aufwirft, ob sie tatsächlich die gefährlichste und einflussreichste aller Verschwörungstheorien sind. Um hierauf eine Antwort zu finden, müssen wir zum Anfang zurückkehren und den Inhalt der Protokolle selbst untersuchen. Wer hat sie fabriziert, wie kamen sie zustande, und zu welchem Zweck wurden sie verfasst? Die Antworten auf diese Fragen sind, wie man sehen wird, in vielerlei Hinsicht überraschend.

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Das Pamphlet, das allgemein als Die Protokolle der Weisen vonZion bekannt ist, trägt eigentlich den Titel »Aus den Verhandlungs-Berichten der ›Weisen von Zion‹ während des 1. Zionisten-Kongresses, der 1897 in Basel abgehalten wurde«. Den Kongress gab es wirklich, die Protokolle behaupten jedoch, hinter dessen Kulissen habe gleichzeitig eine Reihe von Geheimsitzungen stattgefunden. Damals war der Zionismus eine winzige, noch in den Kinderschuhen steckende Bewegung, die selbst in jüdischen Kreisen nahezu unbekannt war. Noch in den 1920er Jahren wusste die breite Öffentlichkeit kaum etwas von ihrer Existenz. Ihr Ziel war es, Juden zu ermuntern, sich in Palästina niederzulassen, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Den meisten Lesern konnte jedoch leicht eingeredet werden, der Erste Zionistenkongress sei eine Art Generalversammlung der jüdischen Weltgemeinde gewesen, auch wenn so etwas nicht existierte.15

Die angeblichen »Protokolle« geben in einer langen Reihe kurzer Absätze den Inhalt von vierundzwanzig Sitzungen wieder: Überall, heißt es am Anfang, hat das Böse die Oberhand über das Gute gewonnen; Gewalt und Geld regieren die Welt. »Wir«, das heißt die Juden, kontrollieren das Geld und damit die Welt. Macht bedeute Recht, und die Herrschaft über die blinde Masse könne nur ohne moralische Vorbehalte ausgeübt werden. »Unsere« Methoden sind Terror und Täuschung, und um die Macht zu ergreifen, müsse man die Adelsvorrechte aufheben und durch die Herrschaft »unserer« Bankiers und Intellektuellen ersetzen. Aufgrund »unserer« Kontrolle über die Presse sind »wir« in der Lage, die Überzeugungen, auf denen die soziale Stabilität beruht, zu untergraben; tatsächlich habe man bereits erfolgreich die schädlichen Lehren von Marx, Darwin und Nietzsche propagiert. Ganz ähnlich spalten »unsere« Zeitungen und Pamphlete die Gesellschaft, indem sie Zwietracht säen und durch die Rekrutierung der Massen für Bewegungen wie die anarchistische, kommunistische und sozialistische das Vertrauen in die Regierung untergraben. Gleichzeitig würde man die Aufmerksamkeit der Nichtjuden durch einen zerstörerischen ökonomischen Kampf aller gegen alle in der freien Marktwirtschaft von deren wirklichen Herren ablenken, nämlich von »uns selbst«. »Wir« nutzen unseren Einfluss, um die Industrie zu zerstören, indem »wir« eigene Monopole aufbauen, zum Schuldenmachen und zu unklugen Investitionen animieren und die Inflation vorantreiben. Außerdem werde man einen Rüstungswettlauf in Gang setzen und den Ausbruch verheerender Kriege fördern. Am Ende seien die Nichtjuden verarmt und reif für die Übernahme.16

Das allgemeine Wahlrecht werde die Massen an die Macht bringen, heißt es in den vermeintlichen »Protokollen« weiter, aber »wir«, die Juden, kontrollieren die Massen: »Die Nichtjuden sind eine Hammelherde, wir Juden aber sind die Wölfe.« »Wir« werden durch die Verbreitung unmoralischer Schriften die moralische Ordnung untergraben, zu gegebener Zeit dann überall auf der Welt Revolutionen auslösen und gnadenlos alle hinrichten, die »uns« im Weg sind. Nach der Machtergreifung werden »wir« die Presse und die Verlage derart zensieren, dass keine Kritik mehr möglich sein wird. Die Realitätswahrnehmung der Menschen werde durch Massensport, Unterhaltung und die Einrichtung von Bordellen getrübt sein. Neben dem Judentum werden »wir« keine andere Religion erlauben. Alle nichtjüdischen Freimaurer werde man hinrichten, überall auf der Welt würden jüdische Logen entstehen. Alte Richter werde man durch jüngere ersetzen, die bereit seien, sich der Herrschaft der Stärkeren zu beugen. Die Lehre von Recht, Politologie und sämtlichen Geisteswissenschaften werde man von den Universitäten verbannen. »Wir werden aus dem Gedächtnis der Menschheit alle Tatsachen der Geschichte streichen, die uns unbequem sind, und nur diejenigen übrig lassen, bei denen die Fehler der nichtjüdischen Regierungen besonders hervortreten.« Die Bildung werde man auf praktische Fähigkeiten beschränken, Lehrer zwingen, Propaganda für »uns« zu betreiben. Rechtsanwälte könnten nicht mehr unabhängig sein, sondern müssten im Interesse des Staates handeln. An die Stelle des Papstes werde man einen neuen jüdischen König setzen. Schritt für Schritt werde man die Grundsteuern erhöhen und Spekulation unmöglich machen. Arbeitslosigkeit und Alkoholismus werde man zum Verschwinden bringen, während die moderne Massenproduktion eingeschränkt und kleine Handwerksbetriebe gestärkt würden.17

Geschwätzig, chaotisch und unstrukturiert, wie es ist, kann das Pamphlet kaum als Musterbeispiel für antisemitische Hetzrhetorik herhalten. Es ist abstrakt formuliert, wiederholt sich ständig und steckt voller Widersprüche; der deutlichste ist vielleicht derjenige zwischen dem ständigen Verweis auf die Freimaurer in den Abschnittsüberschriften und ihrer häufig fehlenden Erwähnung im Text. Mal ist von einer allgemeinen Weltrevolution die Rede, ein andermal davon, dass die Revolution nur in einem einzigen Land stattfinden werde. Zu den exzentrischen Aussagen des Pamphlets gehört die Ankündigung, die Juden würden die Tunnel der U-Bahnen, die damals in vielen Großstädten der Welt gebaut wurden, mit Sprengstoff füllen und in die Luft jagen, sollten sie sich jemals bedroht fühlen.18 Doch die Dystopie, welche die Juden nach ihrer vermeintlich angestrebten Oberherrschaft angeblich schaffen wollten, trägt in vieler Hinsicht merkwürdig positive Züge: Wer hätte beispielsweise etwas gegen Vollbeschäftigung oder eine Welt ohne Alkoholismus einzuwenden?19

Bemerkenswerterweise fehlen viele der Kernelemente der antisemitischen Ideologie in dem Pamphlet. So fallen traditionelle Aussagen des religiösen Antisemitismus durch ihre Abwesenheit auf; beispielsweise sagen die angeblichen jüdischen Verschwörer nicht, die Juden hätten Jesus getötet, sie würden Hostien schänden, Brunnen vergiften und christliche Knaben ermorden.20 Auch moderne, rassistisch-antisemitische Klischees sind in den Protokollen nicht zu finden; nirgends sprechen die »Weisen von Zion«, beispielsweise über ihre Rasseneigenschaften, wie sie sich der antisemitische Autor des Pamphlets vorgestellt haben mag, nirgends höhnen sie über Merkmale anderer Rassen oder äußern den Wunsch, die Gesellschaft durch Rassenmischung zu untergraben – eine von Hitlers wirkmächtigsten Obsessionen. Wie Stephen Bronner bemerkt, fehlen dem Text »die biologischen und wissenschaftlichen Grundlagen, die von modernen Heuchlern wie Adolf Hitler so bewundert wurden«.21 Der Kontext der Fabrikation der Protokolle an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist vielmehr geprägt durch eine Besessenheit von dem, was an den Universitäten gelehrt wurde, von der Verantwortungslosigkeit der Presse und von der Manipulation der Finanzwelt.22 Darüber hinaus weisen auch die Äußerungen über ein Wettrüsten, die Förderung der heimischen Produktion, den Aufstieg des allgemeinen Wahlrechts und der politischen Demokratie sowie die Gefahr des Anarchismus auf eine Entstehungszeit in den letzten anderthalb Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hin. Hinzu kommt noch, dass der Bolschewismus mit keinem Wort erwähnt wird, dessen vermeintliche Rolle in der imaginären jüdischen Weltverschwörung ein Kernelement der antisemitischen Phantasien der Jahre nach den europäischen Revolutionen von 1917/18 werden sollte. Das Pamphlet verkörperte mit seiner merkwürdigen Mischung aus häufig bizarren Vorstellungen und seinen zahlreichen Auslassungen weder den traditionellen noch den modernen Antisemitismus, es war vielmehr ein Dokument sui generis.

Den Protokollen lassen sich, wenn auch teils mühselig, einige allgemeine Grundsätze entnehmen: (1) die Vorstellung, dass es eine Gruppe jüdischer »Weiser« gebe, die sich in globalem Maßstab dazu verschworen habe, die Gesellschaft systematisch zu untergraben und einer jüdischen Diktatur zu unterwerfen; (2) dass dies durch die Verbreitung zersetzender Ideologien geschehen solle, nämlich durch Liberalismus, Republikanismus, Sozialismus und Anarchismus; (3) dass diese organisierten Juden die Presse und die Wirtschaft kontrollieren und ihre Macht nutzen, um die Gesellschaft verarmen zu lassen und ihre Kernwerte auszuhöhlen; (4) dass unter der Oberfläche des Alltagslebens, der politischen Institutionen und ökonomischen Strukturen, wie wir sie wahrnehmen, eine verborgene, bösartige Macht lauert; (5) dass, was wir für fortschrittlich und demokratisch halten – ob nun die Ausweitung des Wahlrechts oder die Verbreitung liberaler Institutionen –, in Wirklichkeit einer weiteren Taktik der jüdischen Weltverschwörung zur Erlangung der Herrschaft über die nichtjüdische Welt entspringt; (6) dass Kriege nicht durch den Zusammenprall von Zielen und Überzeugungen verschiedener Staaten entfacht werden, sondern wiederum durch die Machenschaften der »Weisen von Zion«; (7) schließlich wird implizit unterstellt, dass auch scheinbar tief sitzende Antagonismen, wie etwa zwischen Sozialisten und Kapitalisten, von einer jüdischen Verschwörung geschürt werden, welche die nichtjüdische Gesellschaft zu untergraben versucht, indem sie diese spaltet und so in Konflikt mit sich selbst bringt.23 Diese Grundsätze sind jedoch weder exklusiv in den Protokollen ausgedrückt, noch haben sie ihren Ursprung in ihnen. Es gab sie im frühen 20. Jahrhundert bereits, und die Protokolle boten lediglich eine Bestätigung ihrer Gültigkeit durch angebliche Aussagen aus dem Innern der vermeintlichen Verschwörung selbst.

Auf den ersten Blick scheint das Pamphlet in das klassische Muster von Verschwörungstheorien zu passen, die den Lesern, die an sie glauben, Wahrheiten zu enthüllen versprechen, die der großen Mehrheit der Menschen, einschließlich von Wissenschaftlern, Gelehrten, Regierungen und Politikern, verborgen bleiben: Es stärkt die Selbstachtung der Gläubigen, indem es ihnen ein Geheimwissen vermittelt, das die Welt des »offiziellen Wissens« und die Millionen der von ihr Getäuschten nicht besitzen; und es liefert ihnen einen Schlüssel zum Verständnis von scheinbar unfassbaren, komplexen Ereignissen und Entwicklungen, von Kriegen über Börsenzusammenbrüche bis zu Wirtschaftskrisen, indem es für sie alle eine große, paranoide Erklärung bereithält: dass sie auf die Machenschaften einer einzigen, strikt organisierten Gruppe böswilliger Personen zurückzuführen seien.24 Es ist jedoch irreführend zu sagen, die Protokolle würden »die Schnittstelle zwischen dem mittelalterlich-frühneuzeitlichen Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus« markieren, bei dem der Fokus »weniger auf den Juden als religiöse Feinde der Christen« liege, und sie »vielmehr durch die Rassentheorie als eigene Menschenrasse mit ihr eigentümlichen Attributen« angesehen würden.25 Im Gegenteil wurden die Protokolle zwar nach dem Ersten Weltkrieg von Antisemiten als »Beweis« für jüdische Rasseneigenschaften benutzt, sie selbst aber waren in keiner Weise von Rassentheorien beeinflusst. Offenbar wurden sie häufig nicht sorgfältig gelesen, sondern einfach zum Beweis von Überzeugungen zitiert, die in ihnen nicht ausgedrückt sind.

Wirkungsvoll waren die Protokolle vor allem deshalb, weil sie behaupteten, ein authentischer Beleg für die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung zu sein, die von einem organisatorischen Zentrum der internationalen jüdischen Gemeinde ausgehe. In Wirklichkeit waren sie alles andere als authentisch. Im Lauf der Jahre ist viel Forschungszeit und – kraft darauf verwendet worden, ihre Ursprünge aufzuspüren. Heute ist klar, dass die Vorstellung einer subversiven Verschwörung mit dem Ziel, die soziale und politische Ordnung zu untergraben, in der Zeit nach der Französischen Revolution von 1789 aufzutauchen begann. Acht Jahre nach der Revolution und fünf Jahre nach der Schreckensherrschaft schrieb der französische Jesuit Abbé Barruel in einem umfangreichen fünfbändigen Werk über den Jakobinismus die Schuld am Ausbruch der Revolution und an der Hinrichtung Ludwigs XVI. den Machenschaften aufklärerischer Denker und Geheimgesellschaften zu, insbesondere den philosophes, den bayerischen Illuminati und den Freimaurern, die in der älteren Tradition der Templer stünden.26 Natürlich waren die Illuminati und die Freimaurer, sosehr sie darauf abzielten, die Gesellschaft umzuformen, weit weniger einflussreich, als Barruel behauptete, und die Templer waren definitiv schon im Mittelalter ausgelöscht und seitdem nicht wiederbelebt worden. Barruel suchte nach Schuldigen für die Unterdrückung des Jesuitenordens durch aufklärerische Regierungen in einer ganzen Reihe von Ländern im späten 18. Jahrhundert und für das Säkularisierungsprogramm der Revolution, in dessen Rahmen Kirchenländereien enteignet und Kirchen zerstört wurden. Fast gleichzeitig mit Barruels Werk erschien ein ähnlicher Traktat des schottischen Mathematikers John Robison mit dem Titel Proofs of a Conspiracy against All the Religions and Governmentsof Europe, carried on in the secret meetings of Freemasons, Illuminati and Reading Societies (1798).27

Keiner dieser beiden Autoren erwähnt die Juden, aber am 20. August 1806 erhielt Barruel den Brief eines piemontesischen Heeresoffiziers namens Giovanni Battista Simonini, in dem er darauf hingewiesen wurde, dass in Wirklichkeit die Juden hinter all diesen Komplotten steckten, die – nachdem ihnen durch die Revolution in Frankreich und durch Napoleon in allen eroberten Ländern die bürgerliche Gleichstellung gewährt worden sei – jetzt nach der Weltherrschaft streben würden. Eine scheinbare Glaubwürdigkeit erhielt diese Verschwörungstheorie dadurch, dass Napoleon 1806 eine Versammlung von Rabbinern und jüdischen Gelehrten einberief, um sicherzustellen, dass die jüdische Gemeinde auf seiner Seite stand. Indem er diese Versammlung nach dem jüdischen obersten Gericht in der Antike »Großer Sanhedrin« nannte, brachte er seine erzkonservativen Gegner auf den Gedanken, über die Jahrhunderte hinweg habe eine jüdische Pseudoregierung existiert, die in der Gegenwart einen bösartigen Einfluss auf den Lauf der Dinge ausübe. Barruel war von dieser Auffassung jedoch nicht ganz überzeugt und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1820 der Meinung, die Hauptschuld am Ausbruch der Französischen Revolution trügen die Freimaurer. Die Juden mochten einen gewissen Einfluss auf sie ausgeübt haben, aber der Schlüssel zum Verständnis der Revolution waren nach seiner Ansicht das weitgespannte Netz von Freimaurerlogen und ein parallel dazu existierendes System aus Querverbindungen, das die Juden, wie er meinte, nicht besaßen. Tatsächlich beschloss er aus Angst, Pogrome gegen Juden auszulösen, weder Simoninis Brief noch irgendwelche Schlussfolgerungen daraus zu veröffentlichen, weshalb der Brief bis 1878 unveröffentlicht blieb. Nachdem er an die Öffentlichkeit gelangt war, begann er dann ein Eigenleben zu führen und wurde in vielen antisemitischen Schriften des frühen 20. Jahrhunderts abgedruckt.28

Im Lauf des 19. Jahrhunderts äußerte eine ganze Reihe reaktionärer Autoren antisemitische Vorurteile, um den von der Revolution propagierten, von Napoleon verwirklichten und von liberalen Reformern überall auf dem Kontinent befürworteten Vorschlag zurückzuweisen, der religiösen Minderheit der Juden in vollem Umfang gleiche Bürgerrecht zu gewähren. Nach Ansicht der Verfechter einer Restauration der vorrevolutionären Ordnung mussten Europa und alle zu ihm gehörenden Staaten und Nationen, wenn Unordnung, Krieg und die Zersetzung der Gesellschaft vermieden werden sollten, auf den Prinzipien eines erneuerten, wachsamen Christentums gegründet sein. Es war für sie nur allzu leicht, das Argument, die Emanzipation der Juden, der in den meisten Teilen Europas einzigen bedeutenden nichtchristlichen Gemeinschaft, würde die Vorherrschaft dieser Prinzipien untergraben, weiterzuspinnen und zu erklären, die Juden würden aktiv eine Kampagne organisieren, die genau dies erreichen solle.

Es überrascht daher kaum, dass solche Theorien im Gefolge der neuen revolutionären Welle, die 1848/49 über den Kontinent hinwegrollte, wieder auftauchten. Erneut und ebenso ungerechtfertigt wie die Anschuldigungen Simoninis sahen ultrakonservative Beobachter, vor allem in Deutschland, die Freimaurer am Werk. Eine der wichtigsten Maßnahmen buchstäblich aller der zumeist kurzlebigen Revolutionsregierungen von 1848/49 war die Emanzipation der Juden. Zwei Jahrzehnte nach dem Ausbruch der revolutionären Unruhen erschien ein Roman mit dem Titel Biarritz, in dem die Ablehnung von Revolution und Emanzipation in die Form einer Verschwörungstheorie gegossen wurde. Auf dem Titelblatt wurde ein »Sir John Retcliffe« als Autor genannt, bei dem es sich jedoch entgegen dem Anschein nicht um einen Engländer handelte, sondern um das Pseudonym eines Deutschen. Der Autor, Hermann Goedsche, war nicht nur Verfasser einer Reihe höchst erfolgreicher romantischer Romane im Stil von Walter Scott, sondern stand als Postbeamter auch im Dienst der preußischen Geheimpolizei, in deren Auftrag er Briefe fälschte, die gegen Demokraten verwendet wurden. Diese Tätigkeit musste er allerdings 1849 aufgeben, nachdem er ertappt und vor Gericht gestellt worden war. Danach arbeitete er als Journalist für die erzkonservative Kreuzzeitung.

Rund vierzig Seiten seines Romans sind einer Szene auf einem Prager Friedhof gewidmet, auf dem sich angeblich alle hundert Jahre Abgesandte der zwölf Stämme Israels mit einem Vertreter der jüdischen Diaspora trafen, um die Übernahme der Weltherrschaft zu planen. Um dies zu erreichen, sollten unter anderem der Adel in den Ruin getrieben, Revolutionen angezettelt, Börsenplätze übernommen, Antispekulationsgesetze gekippt, die Presse unter Kontrolle gebracht, Länder in Kriege getrieben, die Industrie gefördert und die Arbeiter in Armut gestoßen, freies Denken verbreitet und die Kirchen untergraben sowie die Juden (die damals in vielen Teilen Europas noch nicht völlig gleichberechtigt waren) emanzipiert werden. Verzerrt und negativ interpretiert gab Goedsche damit das gesamte Programm des deutschen Liberalismus der Jahrhundertmitte als Ausdruck eines jüdischen Komplotts zur Zerstörung von Staat und Gesellschaft wieder.29

Die Friedhofsszene, die sich ihrerseits auf eine Szene des Romans Joseph Balsamo von Alexandre Dumas dem Älteren stützt, in dem der Verschwörer Alessandro Cagliostro und seine Komplizen ein Komplott schmieden, um Königin Marie Antoinette durch die »Halsbandaffäre« zu diskreditieren, war eine typische Schauerromanerfindung. So wird erzählt, wie dreizehn in weiße Gebetsmäntel gehüllte Abgesandte einer nach dem anderen an ein Grab treten und vor ihm niederknien, und nachdem es von den Türmen der Stadt Mitternacht geschlagen hatte, flackerte plötzlich ein blauer Lichtschein auf, und eine tiefe Stimme ertönte: »Seid gegrüßt, Ihr Rosche-Bathe-Aboth der zwölf Schebatim Israels«, sagte sie, worauf die Versammelten erwiderten: »Sei gegrüßt, Du Sohn des Verfluchten!«30 Es gab weitere Schauerelemente dieser Art: Kaum vorstellbar, dass jemand sie ernst genommen oder gar für eine wahre Beschreibung realer Ereignisse gehalten hat.

Aber das Kapitel begann unabhängig vom übrigen Roman ein Eigenleben zu führen. Ihren Anfang nahm diese bizarre Transformation in Russland, wo es 1872 als Pamphlet mit der Anmerkung gedruckt wurde, dass es sich hierbei zwar um Fiktion handle, diese aber auf Tatsachen beruhe. Dies ist ein Merkmal vieler Verschwörungstheorien, die regelmäßig den Unterschied zwischen Fakten und Fiktion verwischen, indem sie behaupten, dass es letztlich keine Rolle spiele, ob die Einzelheiten einer Erzählung zuträfen, solange sie die ihnen zugrunde liegende fundamentale Wahrheit ausdrückten. In den folgenden Jahren erschienen in Russland weitere Ausgaben des Pamphlets, 1881 wurde es auf Französisch veröffentlicht, wobei die einzelnen Reden zu einer einzigen Ansprache verschmolzen wurden, die angeblich ein Großrabbiner auf dem Friedhof gehalten hatte; als Quelle wurde ein Buch eines englischen Diplomaten angegeben – Sir John Retcliffe. Die »Rede des Rabbiners«, als die das Pamphlet bekannt war, wurde von Antisemiten in verschiedenen Sprachen nachgedruckt, einschließlich Russisch. In Deutschland nahm Theodor Fritsch sie in seinen Antisemiten-Catechismus auf, den er später zum Handbuch der Judenfrage erweiterte. Kurz, es wurde zu einer Standardkomponente der paranoiden Vorstellungswelt von Antisemiten überall in Europa.31

Die Vorstellung, dass es eine vom Satan inspirierte und von den Freimaurern propagierte jüdische Weltverschwörung gebe, war also schon lange, bevor Fritsch sein Handbuch herausgab, zu einer Standardwaffe im Arsenal unter anderem des französischen Antisemitismus geworden. In den 1870er und 1880er Jahren, nach der französischen Niederlage gegen Preußen und dem Sturz Napoleons III., hatte die neue Dritte Republik einen entschlossenen Angriff auf die Privilegien der katholischen Kirche unternommen, die immer noch stark mit der Monarchie sympathisierte. Die säkularen und republikanischen (allerdings selten jüdischen) Freimaurer waren entschiedene Anhänger der neuen liberalen politischen Ordnung, und klerikale und erzkonservative Autoren verurteilten in einer ganzen Reihe von Schriften die Republik als Werk einer Verschwörung von Juden und Freimaurern, die – jedenfalls in der überhitzten Phantasie dieser Publizisten – bereits die Revolution von 1789 heraufbeschworen hatten. Manche behaupteten sogar, es gebe eine geheime jüdische Weltregierung, die durch die Kontrolle der internationalen Finanzwelt und der Presse nicht nur die französischen Republikaner, sondern Regierungen und Politiker in aller Welt manipuliere. In der realen politischen Welt fand diese Ansicht eine besonders günstige Umgebung in der glühend katholischen und wütend antisemitischen Atmosphäre der Dreyfus-Affäre in den 1890er Jahren, als der jüdische Armeeoffizier Alfred Dreyfus fälschlicherweise beschuldigt wurde, für Deutschland spioniert zu haben.32

Ihre endgültige Synthese erfuhren die Vorstellungen, die in die Protokolle einflossen, jedoch in Russland. Die rund fünf Millionen Juden in Russland unterlagen zahlreichen einschränkenden Gesetzesvorschriften, wie der Pflicht, in einem Landstreifen am Westrand des Zarenreichs zu leben, dem sogenannten Ansiedlungsrayon. Da sich eine Reihe von Juden aus Wut über diese Restriktionen der wachsenden revolutionären Bewegung anschloss, lösten Anhänger der zaristischen Autokratie und der orthodoxen Kirche eine ansteigende Welle von Gewalt und extremem Antisemitismus aus. In dieser Atmosphäre zunehmender politischer Spannung erschienen die Protokolle, zuerst, wenn auch ohne den letzten Abschnitt, 1903 in einer Zeitung, die von Pawel Kruschewan herausgegeben wurde, einem bekannten Antisemiten, der kurz zuvor in Kischinjow in seiner Heimatprovinz Bessarabien einen Pogrom ausgelöst hatte, bei dem 45 Juden getötet und über tausend Häuser und Geschäfte von Juden zerstört worden waren.33 1905 veröffentlichte Sergei Nilus, ein kleiner Landbesitzer und früherer Beamter, der den Juden die Schuld am Misserfolg seiner Landwirtschaft gab, eine überarbeitete Fassung. Als eher religiöser denn rassistischer Antisemit, der von der Vision der nahenden Apokalypse besessen war, verschaffte Nilus dem Pamphlet eine größere Verbreitung. Dafür polierte er es sprachlich auf und fügte ihm Material hinzu, das den Zusammenhang mit dem Baseler Zionistenkongress herstellte. Zudem glich er bedeutende Teile des Texts der »Rede des Rabbiners« an, indem er ihnen eine neue Form gab und sie in einen neuen Kontext stellte.34

Aber die »Rede« bildete nicht den Hauptteil des Pamphlets. Kruschewan merkte in seiner Ausgabe der Protokolle an, dass sie wenigstens zum Teil aus dem Französischen übersetzt seien, und tatsächlich waren einige Abschnitte weitgehend einem 1864 erschienenen Buch des französischen Schriftstellers Maurice Joly entnommen. Das Buch war alles andere als antisemitisch; vielmehr war es eine linke Attacke auf das manipulative, diktatorische Regime Napoleons III. in Form eines imaginären Gesprächs zwischen Montesquieu, der für den Liberalismus spricht, und Machiavelli, der viele der zynischen Rechtfertigungen der Diktatur vorbringt, die sich in den Protokollen wiederfinden und die Joly Napoleon III. unterstellte. Es dürfte kaum überraschen, dass zumeist die Argumente Machiavellis als Rechtfertigungen der politischen Ziele und Methoden der vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung herhalten mussten.35 Höchstwahrscheinlich wurden die Protokolle 1902 in Südrussland (die Sprache früher Ausgaben weist starke ukrainische Anklänge auf) zusammengestellt. Der unbekannte Kompilator fügte Abschnitte aus der »Rede des Rabbiners« und Jolys Satire – die Mitte der 1890er Jahre durch französische Antisemiten nach Russland gelangt war, wo sie übersetzt wurde – mit einem Hirngespinst über die angeblichen Beschlüsse des Zionistenkongresses in Basel zusammen.36 Auch in ihrer Besessenheit von Finanzfragen, insbesondere dem Goldstandard, machen sich die gemischten Ursprünge der Protokolle bemerkbar. Sie enthalten eine verzerrte Version einiger Maßnahmen, mit denen der russische Finanzminister Sergei Witte zur Zeit ihrer Entstehung die russische Wirtschaft modernisieren wollte und die in konservativen Teilen der russischen Elite auf erbitterten Widerstand stießen.

In ihrer endgültigen Form stellten die Protokolle also eine hastig zusammengestellte Mischung aus französischen, deutschen und russischen Quellen dar, und ihr konfuser, chaotischer Stil zeugt davon, mit welcher Eile und Unfähigkeit sie fabriziert wurden.37 Für Norman Cohns These, sie hätten 1897 oder 1898 bereits vollständig auf Französisch vorgelegen, fehlt in den dokumentarischen Belegen jeder Hinweis. Die endgültige Fassung wurde definitiv in Russland zusammengestellt. Leider ist immer noch unklar, wer dies erledigt hat; obwohl Pawel Kruschewan beteiligt gewesen sein könnte, gibt es dafür keinen Beweis, und die Identität des Kompilators bleibt zumindest für den Augenblick ein Geheimnis.38

Praktischen Ausdruck fand der russische Antisemitismus vor 1914 in den konterrevolutionären »Schwarzen Hundertschaften«, gewalttätigen Banden, die nach der gescheiterten Revolution von 1905 durchs Land streiften und Juden ermordeten, die in ihren Augen böswillige Agenten des Aufruhrs waren. In den Wirren nach der Revolution von 1917 kam es erneut zu antisemitischer Gewalt, insbesondere in der konterrevolutionären »weißen« Bewegung gegen die Bolschewiki, die durch die Revolution an die Macht gelangt waren und den Zaren und seine Familie gefangen genommen und später ermordet hatten. Als sich im Herbst 1918 der Bürgerkrieg ausbreitete, flohen zwei »weiße« Offiziere, Pjotr Schabelski-Bork und Fjodor Winberg, beide fanatische Antisemiten, mit einem Eisenbahnzug, den die Deutschen für die Evakuierung jener Gebiete in der Ukraine bereitgestellt hatten, die sie während des Ersten Weltkriegs erobert hatten und bis zum Abschluss des Waffenstillstands am 11. November besetzt hielten. Kaum in Deutschland angekommen, das sich nach der erzwungenen Abdankung des Kaisers selbst in revolutionärem Aufruhr befand, machten sie ihre Ansicht publik, dass sowohl die russische als auch die deutsche Revolution das Werk der »Weisen von Zion« sei. Sie hatten ein Exemplar der Protokolle aus Russland mitgebracht und druckten in der dritten Ausgabe ihres Jahrbuchs Lutschsweta (Lichtstrahl) Nilus’ Endfassung des Pamphlets von 1911 in voller Länge ab.39

Außerdem gaben sie einem gewissen Ludwig Müller von Hausen ein Exemplar. Müller von Hausen, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu den Gründern einer obskuren rechtsextremen Organisation namens »Verband gegen die Überhebung des Judentums« gehört hatte, ließ das Pamphlet, finanziert von einigen adligen Spendern, unter denen höchstwahrscheinlich auch Angehörige des abgesetzten Kaiserhauses waren, übersetzen und gab es unter dem Pseudonym Gottfried zur Beek, mit dem Erscheinungsjahr 1919 versehen, im Januar 1920 heraus. In der gewalttätigen Nachkriegsatmosphäre, in der das frühere kaiserliche Establishment zusammen mit vielen seiner bürgerlichen Anhänger und Nutznießer gegen die deutsche Revolution und die in ihrer Folge gegründete Weimarer Republik wetterte, war das Pamphlet in rechten Kreisen ein durchschlagender Erfolg. Bis Ende 1920 kamen fünf Auflagen heraus, und binnen weniger Monate wurden insgesamt 120 000 Exemplare verkauft. Bis 1933 erschien es in dreiunddreißig Ausgaben, von denen viele mit Anhängen und Illustrationen ausgestattet waren.40 »Die Verschwörungsthese«, stellt Volker Ullrich in seiner Hitler-Biographie fest, »war seit Veröffentlichung der deutschen Ausgabe … in der völkischen und rechtskonservativen deutschen Publizistik allgegenwärtig.«41 Für rechtsextreme Antisemiten waren die deutsche Niederlage von 1918, der Sturz des Kaisers und die Entstehung der Weimarer Republik Beweise dafür, dass die Behauptungen der Protokolle zutrafen. Die Juden hatten triumphiert, weshalb sie das Dokument nicht mehr geheim zu halten brauchten, wie sie es angeblich bis dahin getan hatten.42

Zu den ersten deutschen Lesern des Buchs gehörte Erich Ludendorff, der in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs praktisch der Militärführer des Deutschen Reichs war und bei zwei gewalttätigen, aber erfolglosen Versuchen, die Weimarer Republik zu stürzen, eine führende Rolle spielte – beim rechtsextremistischen Kapp-Putsch von 1920, in dessen Verlauf die Putschisten vorübergehend Berlin einnahmen, sowie beim »Hitlerputsch« in München von 1923. Als ihm ein Exemplar der Protokolle in die Hände fiel, hatte er seine Kriegserinnerungen bereits geschrieben, konnte aber noch eine Fußnote einfügen, in der er die Protokolle seinen Lesern empfahl und erklärte, im Licht ihrer Enthüllungen müsse die neuere und insbesondere die zeitgenössische Geschichte völlig neu geschrieben werden. Das »Werk«, fügte er hinzu, werde »von gegnerischer Seite stark angegriffen und als geschichtlich nicht richtig bezeichnet«.43 Doch letztlich blieben sie ohne Bedeutung; Ludendorff hatte seine Ansichten bereits ausformuliert, und die Protokolle hatten letzten Endes keinen großen Einfluss auf sie.

Den hatten sie allerdings eindeutig auf eine geheime, konspirative Sammlungsbewegung junger Rechtsextremisten in der Anfangszeit der Weimarer Republik, die als »Organisation Consul« bekannt ist. Die Gruppe war unter anderem verantwortlich für die Ermordung des Unternehmers, Intellektuellen und Politikers Walther Rathenau, der während des Krieges eine Schlüsselstellung in der Leitung der deutschen Wirtschaft innegehabt hatte. 1922 zum Außenminister ernannt, hatte er bald darauf einen Vertrag mit der Sowjetunion geschlossen, in dem die beiden Außenseiter der Weltordnung alle gegenseitigen territorialen und finanziellen Ansprüche aufgaben. Das Abkommen war ein wichtiger Schritt auf Deutschlands Weg zurück auf die diplomatische Bühne. In den Augen der extremen Rechten war eine Verständigung mit den Bolschewiki allerdings Verrat, von der Aufgabe aller Ansprüche auf sowjetische Gebiete ganz zu schweigen. Insbesondere die Organisation Consul sah in dem Abkommen ein Werk der jüdischen Weltverschwörung, die in den Protokollen beschrieben wurde. Rathenau war Jude und zudem 1909 so unvorsichtig gewesen, in einem Zeitungsartikel zu beklagen: »Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents und suchen sich Nachfolger aus ihrer Umgebung.«44 Sein Ziel war damals eine Erweiterung der Wirtschaftseliten Deutschlands, Frankreichs und anderer europäischer Länder, und er sprach nirgendwo in dem Artikel von den Juden, aber nach Ansicht der jungen Fanatiker von der Organisation Consul, und sie fühlten sich darin von Ludendorff bestärkt, konnte seine Feststellung nur eines bedeuten: Er war, wie Ernst-Werner Techow, eines ihrer Mitglieder, behauptete, »einer der 300 Weisen von Zion …, deren Zweck und Ziel es sei, die gesamte Welt unter jüdischen Einfluss zu bringen, wie es bereits das Beispiel des bolschewistischen Russland zeige«. Auf eine entsprechende Frage des Richters im Rathenau-Prozess erklärte Techow, er habe die Idee von den »300 Weisen« aus einer »Broschüre«, den Protokollen. In seiner Zusammenfassung des Falls lenkte der Richter die Aufmerksamkeit der Gerichte und der Medien darauf, dass die »gemeine Schmähschrift ›Die Geheimnisse der Weisen von Zion‹ … Mordinstinkte in unklare und unreife Köpfe sät«.45

Die Protokolle