Das eine bin ich, das andre sind meine Schriften - Rüdiger Schmidt-Grépály - E-Book

Das eine bin ich, das andre sind meine Schriften E-Book

Rüdiger Schmidt-Grépály

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Beschreibung

In Friedrich Nietzsches Biographie können wir uns bewegen wie in einer Einkaufs-Passage. Wir können uns die Auslagen der verschiedenen Geschäfte ansehen: Es gibt Zeitungsläden und Apotheken, es gibt Muße und es gibt Hektik. Wir finden dort allerlei. Nur Nietzsches Philosophie finden wir nicht. Wir können seinem Philosophieren folgen, seinem lebenslangen Prozess des Fragens. Seine Geschichte können wir als die Geschichte eines beliebten Professors lesen oder als die eines ununterbrochenen Scheiterns, eines langsam dem Wahnsinn verfallenden Denkers. Aber vor allem auch als die eines Schriftstellers. Und zwar eines Schriftsteller, der selbst die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften teilte: Die Geschichte vor 'Zarathustra' und die Geschichte nach 'Zarathustra'. Nietzsche bewegte sich 'jenseits von Gut und Böse', führte die Moral auf die Lüge zurück, schrieb Thesen gegen das Christentum und forderte, die Antisemiten aus Deutschland auszuweisen. Nietzsches Philosophieren lässt sich nicht systematisieren, es gibt nicht den Nietzsche, er manifestiert sich allenfalls im Prozess des Schreibens. Diesem Denk-Weg und seinen Denk-Orten können wir folgen, wenn wir Nietzsches Briefe nach seinem Werk befragen. Hier verknüpfen sich Biografie und Philosophie. In den Briefen an seine Verleger und Freunde gibt Nietzsche mehr als nur Fingerzeige auf sein Werk.

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Rüdiger Schmidt-Grépály (Hg.)

Friedrich Nietzsche

Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften

Nietzsches Werk im Spiegel seiner Briefe

L.S.D.

»das Ganze meiner Literatur, l’œvre de Frédéric Nietzsche, wie man sich in Frankreich ausdrücken würde«

(an Elisabeth Förster, 26. Januar 1887)

Für Irmgard Schmidt, Hans Georg Schmidt und György Grépály

INHALT

Cover

Titel

Widmung

Vorbemerkung

An Georg Brandes in Kopenhagen [Friedrich Nietzsche: Vita]

Briefauswahl: Von Röcken nach Basel

Unzeitgemäßes Bayreuth

Späte Aufklärung

Zarathustras utopische Sendung

Nietzsche in Cosmopolis

Ewige Wiederkehr und Der Wille zur Macht

Anmerkungen

Die Briefe Friedrich Nietzsches in chronologischer Folge

Vorstellung der Briefadressatinnen und Briefadressaten

Zur Auswahl der Briefe

Verzeichnis der erwähnten Werke letzter Hand

Namenverzeichnis

Danksagung

Impressum

VORBEMERKUNG

»wie ich jetzt selber, bis in’s Kleinste nach Wahrheit strebend lebe, während ich früher nur die Weisen verehrte und anschwärmte«

(Friedrich Nietzsche an Mathilde Maier am 13. Juli 1878)

Die Briefe Friedrich Nietzsches folgen seinem Denk- und Lebensweg. Einem Ariadnefaden gleich führen sie durch das Labyrinth seiner Gedanken.

Ein Weg, der nach Nietzsche zu einer Fahrt über das Meer werden sollte, zu einem Abschied von Vertrauten, von Sicherheiten, aber auch zu einer Fahrt ins Offene: »Inzwischen gehe ich meinen Gang weiter, eigentlich ist’s eine Fahrt, eine Meerfahrt – und ich habe nicht umsonst Jahrelang in der Stadt des Columbus gelebt. – –« (an Erwin Rohde am 22. Februar 1884).

Die Briefe zeugen von dem »ungeheuren Übermuth dieser ganzen Seefahrer-Geschichte« (an Franz Overbeck am 25. Januar 1884).

Die hier vorliegende Auswahl von Briefen Friedrich Nietzsches, die seinem von ihm veröffentlichten Werk folgen, schließt unsere Trilogie zur Vorbereitung auf »Nietzsches Nietzsche. Werke letzter Hand« ab.1 Sie hat die, gleichsam archäologische, Absicht, die Werke Nietzsches wieder freizulegen, das »Kontinuum der Geschichte« (Walter Benjamin), der Editionen und Interpretationen aufzusprengen.

Nietzsche liebte das Bild der schweizerischen Sprengmeister, die mit Dynamit einen Tunnel durch den Gotthard sprengten, um den Weg gen Süden freizulegen. Die Dynamitvorräte, »die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, führten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge« mit, schreibt der schweizerische »Bund« am 16. und 17. September 1886. In einem Brief an Malwida von Meysenbug vom 24. September 1886 zitiert Nietzsche ausführlich aus dieser Rezension.

Noch in der unvollendet gebliebenen Autobiographie Ecce homo schreibt Nietzsche über sich: »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit«.

Am Leitfaden seiner Briefe entfaltet sich Nietzsches Werk, werden die Motive seiner Veröffentlichungen transparent. Sie zeigen den Philosophen, der sein Denken als ein eingreifendes versteht, ein Denken, das ins Offene verweist.

Nietzsche beschreibt bis zum Zarathustra häufig seine Schriften als die Wiedergabe »innerer Erlebnisse«. Nach dem Zarathustra, dessen vierten Teil er nicht veröffentlichen will, auch davon zeugen seine Briefe, spricht er davon, in den nächsten fünf Jahren seine Philosophie entwickeln zu wollen (in einem Brief an Franz Overbeck vom 7. April 1884).

In einem Brief an seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche und seinen Schwager Bernhard Förster vom 2. September 1886 schildert Nietzsche sein Vorhaben, nun an seinem Hauptwerk arbeiten zu wollen: »Für die nächsten 4 Jahre ist die Ausarbeitung eines vierbändigen Hauptwerks angekündigt; der Titel ist schon zum Fürchten-Machen: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe«.

Die Briefe folgen Nietzsches philosophischen Entdeckungsfahrten, die ihn immer einsamer werden lassen: »ich bin in meiner Einsamkeit wie eingeschneit«, schreibt er am 25. Januar 1882 an Heinrich Köselitz.

– Und sie zeugen von der gescheiterten Hoffnung »einen Menschen gefunden zu haben […] der mit mir die ganz gleiche Aufgabe habe«, (6. Dezember 1883 an Franz Overbeck), er meint Lou von Salomé. Im selben Brief heißt es: »In jenen guten Stunden aber weiß ich, daß ich nicht umsonst jahrelang die einsamste aller Meer-Fahrten gemacht habe: ich habe mein »neues Land« entdeckt, von dem noch Niemand etwas wußte; nun muß ich’s mir freilich immer noch, Schritt für Schritt, erobern. –«

Am 3. Juli 1882 schreibt Friedrich Nietzsche an Lou von Salomé: »Ich will nicht mehr einsam sein und wieder lernen, Mensch zu werden. Ah, an diesem Pensum habe ich fast Alles noch zu lernen! –

Nehmen Sie meinen Dank, liebe Freundin! Es wird alles gut, wie Sie es gesagt haben.«

Diese Hoffnung bleibt.

Rüdiger Schmidt-Grépály

Black Prince Road, London im Juli 2017

An Georg Brandes in Kopenhagen [Friedrich Nietzsche: Vita]

Torino (Italia) ferma in posta den 10. April 1888.

Aber, verehrter Herr, was ist das für eine Überraschung! – Wo haben Sie den Muth hergenommen, von einem vir obscurissimus1 öffentlich reden zu wollen!.. Denken Sie vielleicht, daß ich im lieben Vaterlande bekannt bin? Man behandelt mich daselbst, als ob ich etwas Absonderliches und Absurdes wäre, etwas, das man einstweilen nicht nöthig hat, ernstzunehmen … Offenbar wittern sie, daß auch ich sie nicht ernst nehme: und wie sollte ichs auch, heute, wo »deutscher Geist« ein contradictio in adjecto2 geworden ist! –

Für die Photographie bedanke ich mich auf das Verbindlichste. Leider giebt es nichts dergleichen auf meiner Seite: die letzten Bilder, die ich besaß, hat meine Schwester, die in Südamerika verheirathet ist, mit davon genommen.

Anbei folgt eine kleine vita, die erste, die ich geschrieben habe. Was die Abfassungszeiten der einzelnen Bücher betrifft, so stehen sie auf dem Titel-Rückblatt von »Jenseits von Gut und Böse«. Vielleicht haben Sie das Blatt nicht mehr.

»Die Geburt der Tragödie« wurde zwischen Sommer 1870 und Winter 1871 abgefaßt (beendet in Lugano, wo ich zusammen mit der Familie des Feldmarschall Moltke lebte)

Die »Unzeitgemäßen Betrachtungen« zwischen 1872 und Sommer 1875 (es sollten 13 werden: die Gesundheit sagte glücklicher Weise Nein!)

– Was Sie über »Schopenhauer als Erzieher« sagen, macht mir große Freude. Diese kleine Schrift dient mir als Erkennungszeichen: wem sie nichts Persönliches erzählt, der hat wahrscheinlich auch sonst nichts mit mir zu thun. Im Grunde steht das Schema darin, nach dem ich bisher gelebt habe: sie ist ein strenges Versprechen.

»Menschliches, Allzumenschliches« sammt seinen zwei Fortsetzungen Sommer 1876–1879. Die »Morgenröthe« 1880. Die »fröhliche Wissenschaft« Januar 1882. Zarathustra 1883–85 (jeder Theil in ungefähr zehn Tagen. Vollkommener Zustand eines »Inspirirten«, Alles unterwegs, auf starken Märschen concipirt: absolute Gewißheit, als ob jeder Satz Einem zugerufen wäre. Gleichzeitig mit dem Gefühl größter körperlicher Elasticität und Fülle –)

»Jenseits von Gut; und Böse«, Sommer 1885 im Oberengadin u. den folg. Winter in Nizza.

Die »Genealogie«, zwischen dem 10. und 30. Juli 1887 beschlossen, durchgeführt und druckfertig an die Leipziger Druckerei geschickt.

(Natürlich giebt es auch Philologica von mir. Das geht aber uns Beide nichts mehr an.)

Ich mache eben einen Versuch mit Turin, ich will hier bis zum 5ten Juni bleiben, um dann ins Engadin zu gehn. Winterlich, hart, böse bis jetzt. Aber die Stadt superb ruhig und meinen Instinkten schmeichelnd. Das schönste Pflaster der Welt.

Es grüßt Sie Ihr dankbar ergebener

Nietzsche

Ein Jammer, daß ich weder Dänisch noch Schwedisch verstehe! – Vita. – Ich bin am 15. Okt. 1844 geboren, auf dem Schlachtfelde von Lützen. Der erste Name, den ich hörte, war der Gustav Adolfs. Meine Vorfahren waren polnische Edelleute (Niëzky); es scheint, daß der Typus gut erhalten ist, trotz dreier deutscher »Mütter«. Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza’s comme Polonais. Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matej[k]o’s vorkomme. Meine Großmutter gehörte zu dem Schiller-Goethe’schen Kreise Weimars; ihr Bruder wurde der Nachfolger Herders in der Stellung des Generalsuperintendenten Weimars. Ich hatte das Glück, Schüler der ehrwürdigen Schulpforta zu sein, aus der so Viele (Klopstock, Fichte, Schlegel, Ranke usw usw), die in der deutschen Litteratur in Betracht kommen, hervorgegangen sind. Wir hatten Lehrer, die jeder Universität Ehre gemacht hätten (oder haben –) Ich studirte in Bonn, später in Leipzig; der alte Ritschl, damals der erste Philolog Deutschlands, zeichnete mich fast von Anfang an aus. Ich war mit 22 Jahren Mitarbeiter des »litterarischen Centralblattes« (Zarncke) Die Gründung eines philologischen Vereins in Leipzig, der jetzt noch besteht, geht auf mich zurück. Im Winter 1868–69 trug mir die Universität Basel eine Professur an; ich war noch nicht einmal Doktor. Die Universität Leipzig hat mir die Doktorwürde hinterdrein gegeben, auf eine sehr ehrenvolle Weise, ohne jedwede Prüfung, selbst ohne eine Dissertation. Von Ostern 1869–1879 war ich in Basel; ich hatte nöthig, mein deutsches Heimatsrecht aufzugeben, da ich als Offizier (»reitender Artillerist«) zu oft einberufen und in meinen akademischen Funktionen gestört worden wäre. Ich verstehe mich, nichtsdestoweniger, auf zwei Waffen: Säbel und Kanonen – und, vielleicht, noch auf eine dritte … Es gieng Alles sehr gut in Basel, trotz meiner Jugend; es kam vor, bei Doktorpromotionen namentlich, daß der Examinand älter war als der Examinator. Eine große Gunst wurde mir dadurch zu Theil, daß zwischen Jakob Burckhardt und mir eine herzliche Annäherung zu Stande kam: etwas Ungewöhnliches bei diesem sehr einsiedlerischen und abseits lebenden Denker. Eine noch größere Gunst, daß ich vom Anfang meiner Basler Existenz an in eine unbeschreiblich nahe Intimität mit Richard und Cosima Wagner gerieth, die damals auf ihrem Landgute Tribschen bei Luzern wie auf einer Insel und wie abgelöst von allen früheren Beziehungen lebten. Wir haben einige Jahre alles Große und Kleine gemeinsam gehabt: es gab ein Vertrauen ohne Grenzen. (Sie finden in den gesammelten Schriften Wagners (Band 7) ein »Sendschreiben« desselben an mich abgedruckt, bei Gelegenheit der »Geburt der Tragoedie«) Von jenen Beziehungen aus habe ich einen großen Kreis interessanter Menschen (und »Menschinnen«) kennen gelernt, im Grunde fast Alles, was zwischen Paris und Petersburg wächst. Gegen 1876 verschlimmerte sich meine Gesundheit. Ich brachte damals einen Winter in Sorrent zu, mit meiner alten Freundin der Baronin Meysenbug (»Memoiren einer Idealistin«) und dem sympathischen Dr. Rée. Es wurde nicht besser. Ein äußerst schmerzhaftes und zähes Kopfleiden stellte sich heraus, das alle meine Kräfte erschöpfte. Es steigerte sich in langen Jahren bis zu einem Höhepunkt habitueller Schmerzhaftigkeit, so daß das Jahr damals für mich 200 Schmerzenstage hatte. Das Übel muß ganz und gar lokale Ursachen gehabt haben: es fehlt jedwede neuropathologische Grundlage. Ich habe nie ein Symptom von geistiger Störung gehabt; selbst kein Fieber, keine Ohnmacht. Mein Puls war damals so langsam wie der des ersten Napoleons (= 60) Meine Spezialität war, den extremen Schmerz cru, vert3 mit vollkommener Klarheit zwei bis drei Tage hintereinander auszuhalten, unter fortdauerndem Schleim-Erbrechen. Man hat das Gerücht verbreitet, als ob ich im Irrenhause gewesen sei (oder gar darin gestorben sei) Nichts ist irrthümlicher. Mein Geist wurde sogar in dieser fürchterlichen Zeit erst reif: Zeugniß die »Morgenröthe«, die ich in einem Winter von unglaublichem Elend in Genua, abseits von Ärzten, Freunden und Verwandten, geschrieben habe. Dies Buch ist eine Art »Dynamometer« für mich: ich habe es mit einem Minimum von Kraft und Gesundheit verfaßt. Von 1882 an ging es, sehr langsam freilich, wieder aufwärts: die Krisis schien überwunden (– mein Vater ist sehr jung gestorben, exakt in dem Lebensjahr, in dem ich selbst dem Tode am nächsten war) Ich habe auch heute noch eine extreme Vorsicht nöthig; ein paar Bedingungen klimatischer und meteorologischer Art sind unerläßlich. Es ist nicht Wahl, sondern Zwang, daß ich die Sommer im Oberengadin, die Winter an der riviera zubringe … Zuletzt hat mir die Krankheit den allergrößten Nutzen gebracht: sie hat mich herausgelöst, sie hat mir den Muth zu mir selbst zurückgegeben… Auch bin ich, meinen Instinkten nach, ein tapferes Thier, selbst ein militärisches: der lange Widerstand hat meinen Stolz ein wenig exasperirt. – Ob ich ein Philosoph bin? – Aber was liegt daran!..

VON RÖCKEN NACH BASEL WIE MAN NICHT WIRD, DER MAN NICHT IST

»Naumburg, Schulpforta, Thüringen überhaupt, Leipzig, Basel – ebensoviele Unglücks-Orte für meine Physiologie.« (Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so klug bin, 2.)

Der Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung widmet Nietzsche 1867 seine erste Veröffentlichung. Der junge Schriftsteller beginnt als Autobiograph: Aus meinem Leben heißt – wie bei Goethe – ein großer Rückblick des noch nicht vierzehnjährigen Nietzsche.

Thüringen überhaupt: Freundschaften, Bücher und Kompositionen bilden eine eigene Welt, eine andere gegen die vaterlose des Pfarrhauses. Ebensoviele glückliche Momente wie Unglücks-Orte werden in immer wiederkehrenden Reflexionen festgehalten. Los-Lösungen werden sichtbar.

Gegen die »wechselvollen und unruhigen« Neigungen sollte die strenge Kühle der klassischen Philologie ein Gegengewicht bilden. Der erzwungene Kompromiß, einen philologischen Stoff »musikalisch zu behandeln« (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik) sollte Nietzsche nur noch einige Jahre davor schützen, sich mit dem »verfluchten Idealismus« (Ecce homo, Warum ich so klug bin, 2.) seiner Kindheit, Jugend und der »Bayreuther Periode« auseinanderzusetzten.

»Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnerische Musik. Denn ich war verurtheilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig. Wohlan, ich hatte Wagner nöthig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence, – Gift, ich bestreite es nicht …«

(Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so klug bin, 6.)

An Erwin Rohde in Hamburg

[Leipzig, 9. November 1868]

Mein lieber Freund,

heute habe ich die Absicht, Dir eine Reihe von heiteren Dingen zu erzählen, lustig in die Zukunft zu blicken und mich so idyllisch-behaglich zu geberden, daß Dein böser Geist, jenes katzenartige Fieber, einen krummen Buckel macht und sich ärgerlich von dannen trollt. Und damit jeder Mißton vermieden werde, will ich die bekannte res severa4, die Deinen zweiten Brief veranlaßte, auf einem besonderen Blatt besprechen, das Du dann in besonderer Stimmung und auf besonderem Orte lesen magst. Die Akte meiner Komödie heißen: 1. Ein Vereinsabend oder der Unterprofessor, 2. der herausgeworfene Schneider. 3. ein Rendezvous mit +. Einige alte Weiber spielen mit.

Am Donnerstag Abend verführte mich Romundt zum Theater, für das meine Gefühle sehr erkalten: wir wollten ein Stück von unserm Zukunftsdirektor Heinrich Laube sehn und saßen wie thronende Götter im Olymp zu Gericht über ein Machwerk, genannt Graf Essex. Natürlich schimpfte ich auf meinen Verführer, der sich auf die Empfindungen seiner zehnjährigen Kindheit berief und war glücklich einen Raum verlassen zu können, in dem sich nicht einmal ΓΛΑΥΚΙΔΙΟΝ5 vorfand: wie sich bei mikroscopischer Durchsuchung aller Winkel des Theaters erwies.

Zu Hause fand ich zwei Briefe, den Deinigen und eine Einladung von Curtius, den jetzt näher zu kennen mir Vergnügen macht. Wenn sich zwei Freunde unserer Art Briefe schreiben, da freuen sich bekanntlich die Engelchen; und so freuten sie sich auch, als ich Deinen Brief las, ja sie kicherten sogar.

Am andern Morgen zog ich festlich aus, um mich bei der Curtia für die Einladung zu bedanken, da ich sie leider nicht annehmen konnte. Ich weiß nicht, ob Du diese Dame kennst; mir hat sie sehr gefallen, und es entstand zwischen dem Ehepaar und mir eine unverwüstliche Heiterkeit. In dieser Stimmung gieng ich zu meinem Redakteur en chef Zarncke, fand herzliche Aufnahme, ordnete mit ihm unsre Verhältnisse – meine Recensionsprovinz ist jetzt unter anderem fast die gesammte griechische Philosophie, mit Ausnahme von Aristoteles, den Torstrik inne hat und eines anderen Theiles, in dem mein ehemaliger Lehrer Heinze (Hofrath und Prinzenerzieher in Oldenburg) thätig ist. Hast Du beiläufig meine Anzeige von Rose’s Symposiaca Anacreontea gelesen? Nächstens kommt auch mein Namensvetter dran, der an der Eudocia zum Ritter geworden ist – langweilige Dame, langweiliger Ritter!

Zu Hause angelangt fand ich Deinen zweiten Brief, entrüstete mich und beschloß ein Attentat.

Am Abend war der erste Vortrag unseres philologischen Vereines für dies Semester angesetzt: und man hatte mich sehr höflich ersucht, diesen zu übernehmen. Ich, der ich Gelegenheiten brauche, mich auf akademische Waffen einzupauken, war auch gleich bereit und hatte das Vergnügen, bei meinem Eintritt bei Zaspel eine schwarze Masse von 40 Zuhörern vorzufinden. Romundt war von mir beauftragt, recht persönlich aufzupassen, damit er mir sagen könne, wie die theatralische Seite, also Vortrag, Stimme, Stil, Disposition beschaffen sei und gewirkt habe. Ich habe ganz frei gesprochen, bloß mit Zuhülfenahme eines Deminutivzettels6, und zwar über die Varronischen Satiren und den Cyniker Menippus: und siehe, es war alles 7. Es wird schon gehn mit dieser akademischen Laufbahn!

Hier nun ist zu erwähnen, daß ich beabsichtige bis Ostern mich hier aller Habilitationsscherereien zu entledigen und zugleich bei dieser Gelegenheit zu promovieren. Dies ist erlaubt: einen speziellen Dispens brauche ich nur, in sofern ich noch nicht das übliche quinquennium8 hinter mir habe. Nun ist sich habilitieren und lesen zweierlei: aber recht passend scheint es mir, nachdem ich mir die Hände frei gemacht habe, dann hinaus zu reisen in die Welt, zum letzten Male in nichtamtlicher Stellung! Ach lieber Freund, es wird die Empfindung eines Bräutigams sein, Freude und Ärger gemischt, Humor, 9, Menippus!

Im Bewußtsein eines guten Tagewerkes gieng ich zu Bett und überlegte mir die bewußte bei Ritschl aufzuführende Scene: als welche auch am andern Mittag aufgeführt wurde.

Als ich nach Hause kam, fand ich einen Zettel, an mich addressirt, mit der kurzen Notiz: Willst Du Richard Wagner kennen lernen, so komme um .4 in das Café théâtre. Windisch.

Diese Neuigkeit verwirrte mir etwas den Kopf, verzeih mir!, so daß ich die eben gehabte Scene ganz vergaß und in einen ziemlichen Wirbel gerieth.

Ich lief natürlich hin, fand unsern Biederfreund, der mir neue Aufschlüsse gab. Wagner war im strengsten incognito in Leipzig bei seinen Verwandten: die Presse hatte keinen Wind, und alle Dienstboten Brockhausens waren stumm gemacht wie Gräber in Livree. Nun hatte die Schwester Wagners, die Prof. Brockhaus, jene bewußte gescheute Frau, auch ihre gute Freundin, die Ritschelin, ihrem Bruder vorgeführt: wobei sie den Stolz hatte, vor dem Bruder mit der Freundin und vor der Freundin mit dem Bruder zu renommiren, das glückliche Wesen! Wagner spielt in Gegenwart der Frau Ritschl das Meisterlied, das ja auch Dir bekannt ist: und die gute Frau sagt ihm, daß ihr dies Lied schon wohl bekannt sei, mea opera10. Freude und Verwunderung Wagners: giebt allerhöchsten Willen kund, mich incognito kennen zu lernen. Ich sollte für Freitag Abend eingeladen werden: Windisch aber setzt auseinander, daß ich verhindert sei durch Amt, Pflicht, Versprechen: also schlägt man Sonnabend Nachmittag vor. Windisch und ich liefen also hin, fanden die Familie des Professors, aber Richard nicht, der mit einem ungeheuren Hute auf dem großen Schädel ausgegangen war. Hier lernte ich also besagte vortreffliche Familie kennen und bekam eine liebenswürdige Einladung für Sonntag Abend.

Meine Stimmung war wirklich an diesen Tagen etwas romanhaft; gieb mir zu, daß Einleitung dieser Bekanntschaft, bei der großen Unnahbarkeit des Sonderlings, etwas an das Mährchen streifte.

In der Meinung, daß eine große Gesellschaft geladen sei, beschloß ich große Toilette zu machen und war froh, daß gerade für den Sonntag mein Schneider mir einen fertigen Ballanzug versprochen hatte. Es war ein schrecklicher Regen- und Schneetag, man schauderte, ins Freie zu gehn, und so war ich denn zufrieden, daß mich Nachmittags Roscherchen besuchte, mir etwas von den Eleaten erzählte und von dem Gott in der Philosophie – denn er behandelt als candidandus den von Ahrens gegebnen Stoff »Entwicklung des Gottbegriffs bis Aristoteles«, während Romundt die Preisaufgabe der Universität »über den Willen« zu lösen trachtet. – Es dämmerte, der Schneider kam nicht und Roscher gieng. Ich begleitete ihn, suchte den Schneider persönlich auf und fand seine Sclaven heftig mit meinem Anzüge beschäftigt: man versprach, in 3/4 Stunden ihn zu schicken. Ich gieng vergnügter Dinge weg, streifte Kintschy, las den Kladderadatsch und fand mit Behagen die Zeitungsnotiz, daß Wagner in der Schweiz sei, daß man aber in München ein schönes Haus für ihn baue: während ich wußte, daß ich ihn heute Abend sehen würde und daß gestern ein Brief vom kleinen König an ihn angekommen sei, mit der Adr.: »an den großen deutschen Tondichter Richard Wagner.«

Zu Hause fand ich zwar keinen Schneider, las in aller Gemächlichkeit noch die Dissertation über die Eudocia und wurde nur von Zeit zu Zeit durch gellendes, aber aus der Ferne kommendes Läuten beunruhigt. Endlich wurde mir zur Gewißheit, daß an dem altväterlichen eisernen Gitterthor jemand warte: es war verschlossen, eben so wie die Haustür. Ich schrie über den Garten weg dem Manne zu, er solle in das Naundörfchen kommen: unmöglich, sich bei dem Geplätscher des Regens verständlich zu machen. Das Haus gerieth in Aufregung, endlich wurde aufgeschlossen, und ein altes Männchen mit einem Paket kam zu mir. Es war halb 7 Uhr; es war Zeit meine Sachen anzuziehn und Toilette zu machen, da ich sehr weit ab wohne. Richtig, der Mann hat meine Sachen, ich probiere sie an, sie passen. Verdächtige Wendung! Er präsentirt die Rechnung. Ich acceptire höflich: er will bezahlt sein, gleich bei Empfang der Sachen. Ich bin erstaunt, setze ihm auseinander, daß ich gar nichts mit ihm als einem Arbeiter für meinen Schneider zu thun habe, sondern nur mit dem Schneider selbst, dem ich den Auftrag gegeben habe. Der Mann wird dringender, die Zeit wird dringender; ich ergreife die Sachen und beginne sie anzuziehn, der Mann ergreift die Sachen und hindert mich sie anzuziehn: Gewalt meiner Seite, Gewalt seiner Seite! Scene. Ich kämpfe im Hemde: denn ich will die neuen Hosen anziehn.

Endlich Aufwand von Würde, feierliche Drohung, Verwünschung meines Schneiders und seines Helfershelfers, Racheschwur: während dem entfernt sich das Männchen mit meinen Sachen. Ende des 2ten Aktes: ich brüte im Hemde auf dem Sofa und betrachte einen schwarzen Rock, ob er für Richard gut genug ist.

– Draußen gießt der Regen. –

Ein viertel auf Acht: um halb acht, habe ich mit Windisch verabredet, wollen wir uns im Theatercafé treffen. Ich stürme in die finstre regnerische Nacht hinaus, auch ein schwarzes Männchen, ohne Frack, doch in gesteigerter Romanstimmung: das Glück ist günstig, selbst die Schneiderscene hat etwas Ungeheuerlich-Unalltägliches.

Wir kommen in dem sehr behaglichen Salon Brockhaus an: es ist niemand weiter vorhanden als die engste Familie, Richard und wir beide. Ich werde Richard vorgestellt und rede zu ihm einige Worte der Verehrung: er erkundigt sich sehr genau, wie ich mit seiner Musik vertraut geworden sei, schimpft entsetzlich auf alle Aufführungen seiner Opern, mit Ausnahme der berühmten Münchener und macht sich über die Kapellmeister lustig, welche ihrem Orchester im gemüthlichen Tone zurufen: »meine Herren, jetzt wird’s leidenschaftlich«, »Meine Gutsten, noch ein bischen leidenschaftlicher!« W. imitirt sehr gern den Leipziger Dialekt. –

Nun will ich Dir in Kürze erzählen, was uns dieser Abend bot, wahrlich Genüße so eigenthümlich pikanter Art, daß ich auch heute noch nicht im alten Gleise bin, sondern eben nichts besseres thun kann, als mit Dir, mein theurer Freund, zu reden und »wundersame Mär« zu künden. Vor und nach Tisch spielte Wagner und zwar alle wichtigen Stellen der Meistersinger, indem er alle Stimmen imitirte und dabei sehr ausgelassen war. Es ist nämlich ein fabelhaft lebhafter und feuriger Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft dieser privatesten Art ganz heiter macht. Inzwischen hatte ich ein längeres Gespräch mit ihm über Schopenhauer: ach, und Du begreifst es, welcher Genuß es für mich war, ihn mit ganz unbeschreiblicher Wärme von ihm reden zu hören, was er ihm verdanke, wie er der einzige Philosoph sei, der das Wesen der Musik erkannt habe: dann erkundigte er sich, wie sich jetzt die Professoren zu ihm verhalten, lachte sehr über den Philosophencongreß in Prag und sprach »von den philosophischen Dienstmännern.« Nachher las er ein Stück aus seiner Biographie vor, die er jetzt schreibt, eine überaus ergötzliche Scene aus seinem Leipziger Studienleben, an die ich jetzt noch nicht ohne Gelächter denken kann; er schreibt übrigens außerordentlich gewandt und geistreich. – Am Schluß, als wir beide uns zum Fortgehen anschickten, drückte er mir sehr warm die Hand und lud mich sehr freundlich ein, ihn zu besuchen, um Musik und Philosophie zu treiben, auch übertrug er mir, seine Schwester und seine Anverwandten mit seiner Musik bekannt zu machen: was ich denn feierlich übernommen habe. – Mehr sollst Du hören, wenn ich diesem Abende etwas objektiver und ferner gegenüberstehe. Heute ein herzliches Lebewohl und beste Wünsche für Deine Gesundheit.

FN.

Res severa! Res severa! Res severa!

Mein lieber Freund, ich bitte Dich, direkt an Dr. Klette nach Bonn zu schreiben und (ohne weitere Formen und Gründe) das Manuscript zurückzufordern. Wenigstens würde ich so handeln.

Die Ritschl’sche Taktlosigkeit ist zu stark: und in der stattgehabten Unterredung trat sie deutlich hervor: so daß ich etwas kühl mit ihm gesprochen habe, was ihn stark choquirte.

Das ist allerdings Wahrheit, daß das rhein. Mus. jetzt überhäuft ist: und das wird Dir das letzte Heft dieses Jahres bezeugen, das mit 4 Bogen über die gewöhnliche Seitenzahl hinausschießt.

Daß ich persönlich noch besonders über die Geschichte ärgerlich bin, liegt nahe. War ich es doch, der in bester Absicht und freundschaftlichster Meinung Dir den Vorschlag machte, Dein Mscpt dem rhein. Mus. anzuvertrauen: dem ich damit etwas recht Angenehmes zu erweisen glaubte. Besonders wurmt es mich, wenn ich daran denke, zu welchem Zweck die schöne Abhdl. zunächst bestimmt war.

Willst Du Dich rächen, so schicke die Schrift an den Hermes; doch bin ich selbst kein Freund einer derartigen Rache. Vom Philologus darf unter diesen Verhältnissen keine Rede sein: und mit Fleckeisens Jbh. steht es ähnlich wie mit dem rhein. Mus.

Also lieber Freund, muß ein Verleger gesucht werden (und wenn ich Dir rathen darf, gieb zugleich mit den 11 heraus, nach dem von Dir erkannten Handschriftenverhältniß) Natürlich wirst Du einen Verleger am liebsten in Deinem Hamburg suchen: sonst vertraue, daß ich mich mit Eifer nach einem noblen Buchhändler umsehen werde, falls Du mich dazu beauftragst.

Jedenfalls muß die Sache schnell gehn, ja in Monatsfrist muß das 3–4 Bogen starke Schriftchen gedruckt sein. –

Liegt Dir nichts an dieser Eile, so läßt sich vielleicht unter uns beiden ein kleiner Plan arrangieren: wir machen ein Buch mitsammen, genannt »Beiträge zur griechischen Literaturgeschichte« in dem wir einige größere Aufsätze vereinigen (von mir zB. über Demokrits Schriftstellerei, über den homerisch-hesiodischen 12, über den Cyniker Menipp) und auch eine Anzahl Miscellen beigeben.

Was denkst Du dazu?

In treuester Freundschaft und

Theilnahme in rebus secundis

et adversis13

der Leipziger Eidylliker. 14

An Wilhelm Vischer (-Bilfinger) in Basel

Leipzig, Lessingstr. 22, 2 Tr. am 1 Febr. 1869.

Hochverehrtester Herr Professor,

nach dem, was mir heute Herr Geheimrath Ritschl mitgetheilt hat, ist es mir nicht nur erlaubt, sondern geboten, mich an Sie persönlich zu wenden und Ihnen eine unumwundene Erklärung darüber zu geben, wie ich mich im Falle einer Berufung usw. verhalten werde. Da mir alle dabei in Betracht kommenden Bedingungen und Verpflichtungen ebenso bekannt als erwünscht sind, so glaube ich getrosten Muthes aussprechen zu dürfen, daß ich eine eventuelle Berufung abzulehnen keinen Grund habe. Vielmehr bitte ich Sie, versichert zu sein, daß ich mit frischen Kräften, redlichem Fleiße und bestem Willen meinem Berufe leben werde, zumal es mein herzlicher Wunsch sein muß, das ausgezeichnete Vertrauen, mit dem Sie mich geehrt haben, einigermaßen zu rechtfertigen.

Für den Fall nun, daß ich von Anfang Mai ab an der Universität Basel thätig sein dürfte, wäre es mir von besonderem Werthe, Ihre Wünsche betreffs meiner Vorlesungen zu kennen, da man, um Vorlesungen passend zu wählen, mit den Bedürfnissen und Zuständen der betreffenden Universität vertrauter sein muß als ich es gegenwärtig sein kann. Einstweilen hatte ich daran gedacht, über Hesiods 15 priv. und über Quellenkunde der griechischen Literaturgeschichte publ. zu lesen. Doch corrigieren sich diese Absichten von selbst, so bald ich etwas Näheres über Ihre Wünsche in Erfahrung gebracht haben werde.

Ich bin in dankbarer Verehrung

Ihr

ergebenster

Friedrich Nietzsche.

NB. Ich habe noch beizufügen, daß meine Promotion spätestens in vier Wochen erfolgt sein wird.

[Beilage]

Ich, der Sohn eines protestantischen Landgeistlichen, wurde am 15ten Oktober 1844 in dem Dorfe Röcken, unweit Merseburg, geboren und verlebte hier die ersten vier Jahre meines Lebens. Als aber der unzeitige Tod meines Vaters eine neue Heimat zu suchen nöthigte, war es Naumburg, auf das die Wahl meiner Mutter fiel. Hier bin ich in einem Privatinstitut für das Domgymnasium desselben Ortes vorgebildet worden, doch ohne diesem später dauernd anzugehören. Es bot sich nämlich bald eine Gelegenheit, in der benachbarten Schulpforte Aufnahme zu finden. Die Vorbedingungen zu einem Studium der Philologie werden einem Pförtner Schüler geradezu an die Hand gegeben. Es werden in dieser Anstalt mitunter spezifisch philologische Aufgaben gestellt zB. kritische Commentare über bestimmte sophokleische oder äschylische Chorgesänge. Dann ist es ein besondrer Vorzug der Schulpforte, daß unter den Schülern selbst eine angestrengte und mannichfache Lektüre griechischer und römischer Schriftsteller zum guten Ton gehört. Das Glücklichste aber war, daß ich gerade auf ausgezeichnete philologische Lehrer traf, auf Männer wie Steinhart, Corssen, Koberstein, Keil, Peter, die mir zum Theil auch ihre nähere Neigung schenkten:

Als ich nach einem sechsjährigen Aufenthalte der Schulpforte als einer strengen aber nützlichen Lehrmeisterin dankbar Lebewohl gesagt hatte, gieng ich nach Bonn. Hier richteten sich meine Studien eine Zeitlang auf die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung. Außer diesen theologischen Streifzügen war ich Zuhörer in den philologischen und archaeologischen Seminarien. Aus der Ferne verehrte ich die Persönlichkeit Friedrich Ritschl’s. So fand ich es ganz natürlich zu gleicher Zeit mit ihm Bonn zu verlassen und mir Leipzig als neue akademische Heimat zu wählen.

Hier fühlte ich mich sehr wohl; vor allem fand ich eine Anzahl gleichstrebender Kameraden, mit denen ich mich bald zu einem philologischen Vereine verband. In ihm habe ich fünf größere Vorträge gehalten, deren Titel aufzuzählen hier am Ort sein wird. »Die letzte Redaktion der Theognidea.« »Die Quellen des Suidas.« »Die aristotelischen Schriftenverzeichnisse.« »Die Gleichzeitigkeit Homers und Hesiods.« »Der Cyniker Menipp und die Varronischen Satiren.« Auf die Veranlassung Ritschl’s sind sodann im Rheinischen Museum folgende Aufsätze gedruckt worden: »Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung« »das Danaelied des Simonides« »de Laertii Diogenis fontibus.« Im Jahre 1866 machte ich mich daran, eine von der philosophischen Fakultät gestellte Preisaufgabe zu lösen. Die Nachricht, daß ich dies mit Glück gethan habe, bekam ich in Naumburg. Ich hatte mich nämlich im Sommer 1867 exmatrikulieren lassen, weil ich inzwischen als brauchbar zum soldatischen Dienste befunden worden war. Als reitender Artillerist hatte ich vollauf zu arbeiten und zu lernen; doch gerieth ich in Folge eines unglücklichen Sturzes in eine gefährliche Krankheit, die in ihrem Verlaufe wiederum das Angenehme mit sich brachte, daß ich zeitiger zu meinen Studien zurückkehren konnte, als es die militärische Regel erlaubt haben würde. Im Oktober 1868 verließ ich Naumburg als völlig Genesener, um in Leipzig meine Promotion und Habilitation vorzubereiten. Es war nämlich meine Absicht, beide Akte gleichzeitig zu bewerkstelligen; nach den bestehenden akademischen Gesetzen war mir aber die Habilitation nicht vor Ostern 1869 erlaubt. –

Friedrich Wilhelm Nietzsche.

An Erwin Rohde in Kiel

Basel Donnerstag. [23. November 1871]

Mein lieber Freund,

eben hatte ich mich etwas ermüdet auf das Sopha gelegt und die Hände über die Augen gelegt, als ich plötzlich an Dich denkend aufspringe, die Feder ergreife und somit wie Du siehst, an Dich schreibe. Mir fiel ein, daß Du lange von mir nichts gehört hast und vielleicht auch in speziellen Beziehungen wissen möchtest, wie es mir inzwischen, etwa rücksichtlich des Fritzsche-Nietzsche-Büchleins, ergangen ist. Hast Du denn irgend so etwas Passendes aus der Gemmen-region aufgespürt? Denn dann wäre es hohe Zeit, dem edlen Verleger Mittheilung zu machen. Oder wir schickten es dem Freunde Mosengel, der seiner Zeit mir erzählte, wie er zu den wenigen Malern gehöre, die auch »Radirer« wären. Ich weiß nicht, ob die Technik des Radirens gerade die in diesem Falle rechte ist, wie stehts damit? –

Erst seit vorigem Sonntag habe ich Bescheid von dem guten Fritzsch. Obwohl die Sache inzwischen mich beunruhigt hatte – that ich doch nichts, weder für, noch gegen, sondern wartete still, was meine Dämonen beschlossen hätten. Endlich kommt die Aufklärung: Fritzsch hatte mein Manuscript an einen Mitarbeiter seines Blattes zu kritischer Beurtheilung abgesandt, und dieser Bummler hatte so lange gebummelt! Jetzt scheint nun alles in Ordnung zu sein. Ausstattung, wie in Wagners »Bestimmung der Oper« ist garantirt und ich glaube daß noch nie ein Erstlingswerk so üppig eingehüllt, wie ein Prinzenkind, aus der Taufe gehoben worden ist.

Einen recht schönen Nachklang hatte ich noch von unserer Zusammenkunft, die mich innerlich und äußerlich, bei den mildwarmen Herbstsonnenwirkungen, so erquickt hatte, daß ich hinterdrein wieder einmal, nach 6 Jahren Pause, zum Componisten geworden bin. Eine längere vierhändige Composition, in der Dauer von 20 Minuten, ist in kurzer Zeit, gleich nach meiner Rückkehr nach Basel, fertig geworden, mit der ich recht zufrieden bin. Sie heißt, im Anschluß an eine Jugenderinnerung, so:

»Nachklang einer Sylvesternacht, mit Prozessionslied, Bauerntanz und Mitternachtsglocke.«

So etwas danke ich Euch, meine lieben Freunde und Du wirst es spüren, wenn Du dieselbe einmal hörst.

Die Dämonenweihe habe ich mit Burkhardt zusammen gefeiert: er hatte sich dem Opfer angeschlossen, und um 10 Uhr flossen zwei Gläser rothen dunkeln Weines in die Nacht hinab. – Am andern Tag hatte ich dämonischen Kater. –

Ich lese mit Vergnügen Plato und latein. Epigraphik16. Da fällt mir wieder etwas ein. Sage, lieber Freund, hast Du vielleicht einmal daran gedacht, selbst auch etwas über mein Tragödienbüchlein öffentlich verlauten zu lassen? Ich fürchte immer, daß die Philologen es der Musik wegen, die Musiker der Philologie wegen, die Philosophen der Musik und Philologie wegen nicht lesen wollen und bekomme dann für meinen guten Fritzsch Angst und Mitleid. Vielleicht könntest Du die Philologen coram17 nehmen, etwa in einem Briefe an den Redakteur des rhein. Museums oder in einer Zuschrift an mich. Kurz, es fehlt mir die »höhere Reklame«. Du weißt, wie sehr die Philologen auf alles gestoßen werden müssen, was nicht bei Teubner und ohne den Zubehör kritischer Noten erscheint. Stoße sie! Ich bitte Dich. –

Ein sehr schöner Brief Wagners über die Bolognaaufführung steht in dem letzten Sonntagbeiblatt der norddeutschen Allgemeinen. Hast Du denn mit Wagner brieflich angeknüpft? Deine Abhandlung ist ernsthaft gelesen worden. Der zweite Akt der Götterdämmerung ist vor 3 Tagen fertig geworden.

Erfreue mich bald durch einen Brief, mein lieber, lieber Freund.

Treulich

18.

Das Geld habe ich bekommen, aber c. 2 frs. zu viel. Was soll ich damit anstiften? Oder war es auf meine Bereicherung abgesehn? –

Ich denke eben daran, daß Du ja das Centralblatt »beherrschest«: dann aber müssen wir möglicherweise auf einen ernstlichen Widerstand der Redaktion bedacht sein? Oder nicht? Jedenfalls nimm Dir dann etwas Raum. – Du bekommst eins der ersten Exemplare zugeschickt. Etwa um Neujahr herum.

An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig

Basel, Montag. [27. November 1871]

Werthester Herr Verleger,