Das Einhorn tanzt - Melissa Simeoni - E-Book

Das Einhorn tanzt E-Book

Melissa Simeoni

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Beschreibung

Für viele Menschen ist es ganz normal, angestarrt, belästigt oder ausgelacht zu werden. Viele ecken in ihrem Leben irgendwo an, aber nicht, weil sie es wollen. Es ist nicht ihre Absicht, anders zu sein. Solche Menschen gibt es zwar auch, aber um sie geht es in diesem Buch nicht. Es geht vielmehr um diejenigen, die einfach etwas an sich haben, das ihr Umfeld faszinierend, abstoßend oder bewundernswert findet. Meist sind es Kleinigkeiten, in manchen Fällen aber auch große Dinge.

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Für Flower

Gut gemacht, Mädchen!

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Intro

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6 - Flower

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

VORWORT

Fast genau sechs Jahre, nachdem ich dieses Buch zu schreiben begann, habe ich es wütend in die Ecke geschmissen.

Selbstverständlich, habe ich die mittlerweile lektorierte und verlegte Version gelesen und geschmissen. Die sich auch gut verkauft hat und tatsächlich auch großen Anklang gefunden hat.

Nur nicht bei mir!

Ich habe sie vor zwei Tagen das erste Mal in die Hand genommen. Nachdem mein Mann sie ebenfalls das erste Mal gelesen hat. Ich dachte mir, wenn er schon etwas in der Vergangenheit herumwühlt, dann will ich das auch. Als ich ihn dann fragte, wie er das Buch gefunden hat, kam nicht das erwartete „super, mein Schatz". Nein, es kam zuerst eine Denkpause. Damit war ich selbstverständlich nicht zufrieden und bohrte nach. Das Endresultat dieser Unterhaltung war, dass er meinte, das Buch klinge nicht wirklich nach mir. Was furchtbar wäre, denn ich habe es ja geschrieben.

So sehr ich mich jetzt darüber ärgere, um so froher bin ich aber auch, diese Kritik bekommen zu haben, denn nur so konnte ich es jetzt ändern.

Ich weiß, ich hätte nachdem ich die lektorierte Version zurückbekommen habe, gleich noch einmal ein Auge darauf werfen sollen. Aber nachdem ich damals, was meinen Plan betrifft, schon Verspätung hatte und dieses Buchjmeine Version) schon elendiglich oft gelesen und überarbeitet hatte, dachte ich mir „es wird schon passen". Natürlich passte es nicht ganz, so wie alles, was man zu eilig macht.

Jetzt werde ich ihn allerdings wieder gut machen, diesen Fehler. Diese Version wird nicht gefühlsbeschnitten, undeutlich und „perfekt".

Diese Version wird so, wie ich bin: nicht perfekt, manchmal etwas gefühls-überschäumend und aber dafür klar, deutlich und intim.

Für den Fauxpas bitte ich um Entschuldigung. Ich würde ja sagen „ich war jung und brauchte das Geld" Aber ganz so war es nicht. Ich war jung und extrem ungeduldig. Außerdem war ich damals alles andere als „fertig" mit dem Thema dieses Buches. Ich hatte drei Jahre daran gearbeitet und drei Jahre können eine seeeeehr lange Zeit sein, wenn man ständig in den Wunden,- Flowers Wunden, herumbohren muss. Soll also heißen, wir waren schon ziemlich angestrengt und wollten endlich einen Schlussstrich ziehen. Hinzu kam noch ein Lektorenwechsel in der Finalphase und das Chaos war perfekt.

Aber manche Dinge brauchen eben Zeit, um zu reifen. Jetzt verstehe ich das wohl etwas besser.

Das war und ist bei mir auf alle Fälle so!

Daher haben Flower und ich uns nach drei Jahren Verschnaufpause wieder zusammen gesetzt und aus einer „schnellen Überarbeitung" wurden wieder einige anstrengende Monate.

Aber nun sind wir beide vollends glücklich damit!

INTRO

Wie siehst du andere und dich selbst?

Ist diese Frage einfach zu beantworten?

Leicht und schnell gestellt ist sie, aber eine Antwort zu geben kann manchmal sehr schwierig sein. Denn immerhin muss ich zuerst darüber nachdenken und mir dann eine Meinung darüber bilden. Auch wenn das gelegentlich automatisch geht, oder man es flott macht, heißt das trotzdem nicht, dass die Frage einfach zu beantworten ist. Vor allem dann, wenn ich das Ganze bewusst mache und mehr in die Tiefe gehe.

Aber warum ist es manchmal sehr interessant diese Frage zu stellen?

Um es ganz einfach zu beantworten: Wenn ich das tue, wachse ich in meiner Persönlichkeit weiter. Wenn ich hinterfrage, was mein Gegenüber in mir auslöst, verändere ich mich. Ich beginne mich vielleicht selbst zu reflektieren.

Ähnlich wie bei dem all-morgendlichen Spiegel-Check, bevor man außer Haus geht. Man schaut noch einmal schnell hinein, um zu entdecken, ob da noch irgendwo Brösel vom Frühstück hängen. Oder hat man sich die Zahnpaste auch brav vom Kinn gewischt?

So können wichtige Korrekturen vorgenommen werden, was das Aussehen betrifft.

Aber genau das passiert auch, wenn man in den Menschen-spiegel, sein Gegenüber blickt. Vielleicht kann man dann auch ganz essentielle, charakterliche Korrekturen vornehmen, die das zwischenmenschliche Leben erleichtern und das eigene Leben bereichern.

Da sind wir genau bei dem Thema, das mich dazu gebracht hat, dieses Buch zu schreiben.

Wir nehmen es zur Hand und schauen hinein, in unser Spiegel-Buch. Dabei können wir ganz viele Dinge in uns spüren und entdecken. Sicher werden uns sofort einige schöne und positive Seiten an uns auffallen. Die sind es wert nicht nur anerkannt, sondern auch ausführlich gelobt zu werden.

Vielleicht entdecken wir aber auch Seiten an uns, die uns nicht gefallen, weil wir uns für sie schämen oder weil sie einfach nicht so toll sind.

Geht unser Gerechtigkeitsempfinden manchmal mit uns durch und walzt jede andere Meinung tot? Etwas zu viel Eifersucht? Sehe ich da versteckte Hinterlist? Oder vielleicht erschlägt meine Arroganz andere sichtlich?

Aber selbst wenn das so ist, haben wir den ersten Schritt schon gemacht, wir haben sie erkannt und können so an ihnen arbeiten. Vorausgesetzt wir wollen das.

Manchmal will man diese Seiten mit niemand teilen. Es kann sogar vorkommen, dass wir sie versuchen zu verstecken, damit sie bloß niemand sieht. Also setzen wir eine schöne nette Maske auf, die möglichst alles für uns Unangenehme verbergen soll. Die Maske lacht für uns, wenn wir eigentlich weinen wollen. Sie ist höflich, wenn wir unserem Gegenüber die schlimmsten Flüche an den Kopf werfen möchten. Oder sie ist wütend, um die tiefe Traurigkeit zu verstecken, die so massiv ist, dass wir Angst haben sie zu zeigen.

Doch das geht nicht immer. Denn irgendwo müssen doch diese Energie und diese Gefühle hin, die unser Spiegel auslöst. Ob nun das Buch, ein anderer Mensch oder der tatsächliche Spiegel uns so in Fahrt bringt. Alles lässt sich nicht in die Verdrängungskiste sperren und manchmal ist selbst eine komplette Gesichtsmaske nicht groß genug.

Da kann es nun passieren, dass all das aus uns heraus bricht, egal wie diese Entladung aussehen mag. Sie verschafft sich einfach Luft. So ist das mit Gefühlen, man kann sie Jahre lange ignorieren oder versuchen, sie in eine Kiste zu stopfen. Aber irgendwann geht das nicht mehr. Irgendwann ist die Kiste voll und es macht: Plopp!

Also will ich Sie hier bitten, egal welche Gefühle dieses Buch bei Ihnen ganz persönlich auslöst. Bitte stecken Sie sie nicht einfach in eine Kiste, bitte fühlen Sie hinein und versuchen Sie mit mir, und mit Flower ein Stückchen weiter zu wachsen!

Wenn wir nun unseren Blick beginnen etwas zu schärfen, und uns vor allem auf unsere menschlichen-Spiegeln konzentrieren, können wir erkennen, dass uns nicht jeder Mensch gleich stark zu Reflexion anregt.

Es gibt allerdings eine Gruppe Menschen, die ganz bemerkenswert spiegeln kann, in diesem Buch werden sie DIE ANDEREN genannt. Eine genaue Beschreibung, wer sie sind, flogt selbstverständlich.

Falls Sie sich jetzt gedacht haben, dieses Buch wird ein Ratgeber der Reflexion, und es schon als Psychoscheiß in die Ecke werfen wollten, muss ich Ihnen sagen, dass dem nicht so ist und Sie es gerne in der Hand behalten können.

Denn ich will hier eine Person, stellvertretend für viele Menschen, die ANDERS sind, zu Wort kommen lassen. Sie hat mit diesem Buch die Möglichkeit, jedem der es liest zu sagen, wie schwer sie sich im Leben tut, und getan hat und wie schön es wäre, wenn man wieder etwas netter und einfühlsamer miteinander umgehen würde. Sie steht für ganz viele Menschen, von denen man nicht weiß, was hinter ihrer ANDERSARTIGKEIT steht.

Einzuwenden gibt es allerdings, dass NORMAL und ANDERS immer eine subjektive Sache sind, da jeder Mensch etwas anderes als NORMAL und als ANDERS bezeichnen würde, wenn man ihn fragt. Doch da uns die Gesellschaft im Großen und Ganzen gewisse Richtlinien vorgibt, habe ich diese Einteilung nach langem Überlegen doch gewählt.

Dieses Buch ist wie ein Baby. Dieses Baby appelliert mit seinen Schreien daran, die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineindenken zu können auszugraben, zu entdecken oder weiter so fantastisch einzusetzen wie bisher.

Es soll an unser aller Fähigkeit appellieren, Respekt gegenüber unserer Umwelt auszuleben. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch diese Fähigkeit hat, er muss sie nur finden und einsetzen.

Also lassen Sie sich von mir mitnehmen in die Welt der ANDEREN. Es geht nicht darum, sie zu bejubeln und zu feiern, sondern einfach einmal dem Ganzen neutral gegenüber zu stehen, sie nicht vorschnell zu verurteilen. Vielleicht werden die Erkenntnisse, die Sie unweigerlich bekommen, Ihnen ganz persönlich etwas bringen.

Ich hoffe, es wird so sein, denn dann habe ich genau das erreicht, was ich mir so sehr gewünscht habe: Das in sich selbst Gehen, um sich selbst als Person besser kennen zu lernen. Ganz ohne Wertung, denn wie gesagt, jede Reaktion und ihre Analyse lässt uns etwas kennenlernen.

Also begegnen Sie Flower und beobachten sie, was es mit Ihnen macht. Überlegen Sie, wie Sie in ihrer Situation gehandelt und gefühlt hätten und wie ihr Leben sich dadurch verändert hätte.

KAPITEL 1

Es ist Sommer.

Langsam öffnet sie die Augen, die Sonne scheint schon durchs Fenster herein. Aber trotzdem ist es noch sehr früh. Naja, zumindest für die meisten. Für sie nicht. Sie ist es gewohnt, früh aufzustehen, um ihren Tag möglichst ruhig zu beginnen. Denn Stress ist etwas, was sie nicht gebrauchen und leiden kann. Immer wenn sie Stress hat, vergisst sie die Hälfte von dem, was sie eigentlich tun möchte oder muss. Dann steht sie wieder da, wundert sich über ihre eigene Dummheit und ärgert sich furchtbar. Alles unnötig, eigentlich, daher lieber früher aus den Federn.

Sie steht auf und ihr erster Blick geht in Richtung des Hundebettes, das da in der Ecke ihres Schlafzimmers steht. Zwei Augenpaare schauen verschlafen in ihre Richtung und ein kurzes Wedeln der Ruten können sich die beiden Hunde nicht verkneifen, bevor sie wieder die Augen zudrücken. Niemals könnte sie auch nur die Augen aufmachen, ohne, dass die zwei es merken würden. Es ist schön zu wissen, dass es immer jemanden gibt, der aufpasst, manchmal sogar böse Träume verjagt und jeden Morgen wartet, um gemeinsam den Tag zu bestreiten. Die zwei haben noch 10 Minuten, aber dann geht auch der Tag für sie los, egal ob sie wollen oder nicht. Doch zum Glück sind sie sowieso von allem schnell zu begeistern.

Vom Schlafzimmer geht es direkt in die Küche, dort wird erst einmal ein halber Liter lauwarmes Wasser getrunken, denn ihre Mama sagt immer, dass lauwarmes Wasser besser für den Magen ist als kaltes. Vor allem, wenn man sonst noch nichts im Magen hat. Auch ihre heiß geliebte Kaffeekanne wird aufgeweckt und zur Arbeit gerufen. Sie füllt sie schon einmal mit Kaffee und stellt sie auf den Herd.

Die Kaffeekanne, so ein altes Zink-Ding, das man noch zuschrauben muss. Sie könnten sich natürlich auch eine neue Maschine kaufen, die bloß wenn man sie anschaut, beginnt Kaffee zu machen, aber irgendwie ist sie von dieser kleinen Schraubkanne gefesselt. Sie hat ihren Platz in ihrem Leben und vermutlich genau deshalb darf sie bleiben und wird nicht ersetzt.

Bindungen oder gar Beziehungen zu scheinbar Leblosem aufzubauen, das hat sie immer schon gemacht, meistens haben die Gegenstände, wie die Kaffeekanne, sogar Namen. Denn sie hat die Welt immer schon anders gesehen. Flowers Ansicht nach steckt in allem Leben und ein Gedanke, und deshalb kann man auch mit allem kommunizieren und eine Beziehung zu allem haben. Das, sowie der Name der Kaffeekanne, bleibt aber ihr Geheimnis, denn würde sie irgendjemandem sagen, dass sie eine Beziehung zu ihrer Kaffeekanne hat, würde sie derjenige noch komischer finden, als dies eh schon meist der Fall ist. Man muss ja nicht alles erzählen.

Dann geht es ins Bad. Dort findet sie wie jeden Morgen Post it-Zettel auf den Spiegel geklebt. Auch heute Morgen hat er ihr wieder liebe Worte hinterlassen, bevor er ging. Sie kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie liest, wie wunderschön er sie findet und, dass es für ihn keine tollere Frau auf der ganzen Welt gibt. Sie verzieht das Gesicht zu einer seltsam verliebt aussehenden Grimasse und gluckst lachend, leise vor sich hin.

Heute ist ein guter Tag, heute bringen sie die Zettel zum Lachen und nicht zum Weinen, weil sie sich so unheimlich schlecht, doof und hässlich vorkommt. Heute fühlt sie sich auch einmal schön. Ein Gefühl, dass man in ihrem Kopf sehr selten antrifft. Was für ein Start in den Tag!

Nachdem sie alles noch einmal gelesen hat, klebt sie es in ihren Kalender auf ihrem Schreibtisch und danach geht es mit vollem Elan und Freude ins Schlafzimmer, um die Schlafmützen zu wecken. Es gibt für sie keinen besseren Tagesbeginn als die beiden Hunde anzuschauen, guten Morgen zu sagen und dann zu sehen, wie sie freudig aufhüpfen und auch sie mit einem „Guten-Morgen-Frauchen-lass-uns-Dinge-erleben-Tanz" nach einer langen Nacht begrüßen.

Die zwei wissen das aber schon, daher haben sie sich schon aufgesetzt und warten. Nun springen die 10 Beine ganz glücklich im Kreis. Nachdem das allmorgendliche Begrüßungsritual vollendet ist, schlüpft sie in ihre Laufsachen und es geht auf die Straße.

Ganz ungeduldig ziehen die zwei an den Leinen. Doch Ordnung muss sein, denn man darf sich ja am Anfang nicht gleich verbrennen. Das gilt für Menschen genauso wie für Hunde. Daher gibt sie das Tempo vor und die zwei Wilden müssen einen Gang runter schalten. Das fällt ihnen meistens schwer, aber nach den ersten 5 Minuten, wenn sie merken, dass es auf die gewohnte Laufroute geht, werden sie ruhiger. Dann können sie zu dritt nebeneinander laufen, ohne Ziehen, ohne Drängeln, ohne Worte, geführt alleine durch ganz kleine Signale von ihrem Körper und ihren Gedanken. Manchmal kommt es ihr so vor, als würden die Hunde schon ganz genau wissen, an was sie gerade denkt, und sich dann auch so bewegen.

Der Lauf jeden Morgen ist das, was sie braucht, das, was sie die Tage meistens überstehen lässt. Schon am Morgen die ganze Energie der Nacht und der bösen Träume loswerden und neue, frische tanken. Und auch heute hat sie wieder Glück, denn es sind Sommerferien und die meisten Kinder sind mit ihren Eltern weg, und die, die da sind, schlafen noch. Während ihre Eltern sich gerade für die Arbeit fertig machen, liegen sie noch im Bett. Das ist ihr Glück, ihre Chance, denn so sind alle beschäftigt und keiner hat Zeit, in den Wald zu gehen, oder zu laufen. Somit ist sie auch heute wieder ganz alleine im Wald unterwegs. Schöner kann es gar nicht sein. Auch wenn sie es hin und wieder sehr gerne hat, andere Hundebesitzer zu treffen, damit die Hunde spielen können, ist es ihr immer noch am liebsten, wenn der Wald so still ist. Sie sagt sich immer wieder, dass sie doch viel zu asozial, für diese Welt ist. Am liebsten wäre es ihr, wenn sie nur den fremden Hunden begegnen würden und nicht den Menschen dazu!

Eigentlich ist alles perfekt.

Alles, was man hört, ist das Schnaufen von zwei Hunden und einem Menschen. In diese Stille ist sie voll und ganz eingetaucht, jetzt kann sie beginnen loszulassen, um dann in absolute Freiheit einzutauchen, das Korsett lockern, wenn nicht sogar ganz ausziehen oder sich vom Leib reißen, je nach Gefühlslage. Das Beste daran ist, niemand kann es ausnutzen, dass sie jetzt alle Masken fallen lässt, denn es sieht ja niemand. So kennen sie nur die zwei Hunde, niemand sonst. Das ist auch gut so, denn Hunde können Menschen nicht bewusst antriggem oder irgendwie missbrauchen, daher braucht sie sich auch vor ihnen nicht zu fürchten.

Das Loslassen ist anfangs etwas schwierig, denn sie kann es nicht schrittweise, sondern wenn sie alle Mauern in ihrem Kopf zum Einsturz bringt, strömen erst einmal alle Gedanken auf sie ein. Manchmal wird ihr sogar schlecht und schwindelig dabei. Jemand wie sie, der so gut wie in jeder Situation eine Maske trägt, hat viel an eigenen Gedanken im Kopf. Die erst wirklich dann rausgelassen werden, wenn sie sicher ist, dass niemand versucht, an ihrem Gesicht zu lesen, was sie gerade denkt, oder sie beobachtet.

Doch das kennt sie schon. Sie lässt die Gedanken sich austoben. Es geht unheimlich schnell, doch wenn sie das macht, ist die Garantie da, dass jeder Knoten im Kopf gelöst wird, und dann erst ist sie frei. Frei von allen Knoten und belastenden Gedanken. Frei für Neues.

Sie kann es förmlich spüren, wie mit jedem Mal Vom-Boden-Abfedern ihre Füße und ihr Kopf leichter werden und wie sie sogar wieder beginnt, ihren Rücken zu strecken und gerade zu machen. Da knackst und grammelt es immer ganz schön und sie hofft insgeheim, dass alles bitte noch etwas länger halten soll und an seinem Platz bleibt. Sie stellt sich dann immer vor wie ihre Fußabdrücke, voll von Atommüll, sich in den Boden einbrennen. Stück für Stück rinnt der Dreck von ihren Füßen in den Boden, bis sie irgendwann keinen Dreck mehr in sich hat. Vielleicht schafft sie es tatsächlich, irgendwann dadurch vollkommen sauber zu sein.

Das ist Leichtigkeit.

Sie hat oft nach einem Grund gesucht, warum sie immer eine Maske trägt oder es ihr ganz wichtig ist, ihre Fassade aufrecht zu erhalten. Auf einen grünen Zweig ist sie erst gekommen, als sie erkannt hat, dass sie schon ihr ganzes Leben so war, also dass es ein gewisser Teil ihrer Persönlichkeit sein muss. Oder sie hat es so verinnerlicht, als sie ein Kind war, dass es wohl noch einige Zeit brauchen wird, bis sie ohne ihre lieben Masken leben kann.

Erst als sie das herausgefunden hatte, war es in Ordnung für sie, und es war keine Last mehr. Nein, das ist sie, so war sie immer und das ist vollkommen okay und sollte sich etwas ändern, dann auch das in Ordnung. Mittlerweile erstaunt sie ihre heutige Gelassenheit immer mehr, schön langsam wird sie sich selbst unheimlich. So positiv war sie schon lange nicht mehr!

Nach einer Stunde intensiven Laufens und Fühlens stehen sie wieder vor der Haustüre. Alle haben Durst und sie freut sich schon auf die kalte Dusche. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie gar nicht gemerkt hat, dass sie schon wieder zu Hause sind, zum Glück kennen die Hunde den Weg, sonst hätten sie sich heute sicher verlaufen. Gemeinsam flitzen sie ins Haus hinein, in der Hoffnung auch jetzt auf niemanden zu treffen. Wieder haben sie es geschafft. Sie sind wie Geister jedem Blick entkommen.

Ein Geist sein, das wäre genial. Nie wieder gesehen werden .... trübe Gedanken, die sie versucht zu verjagen, denn sie haben an so einem schönen Morgen keinen Platz.

Im trauten Heim angekommen, wird einmal der Herd aufgedreht. Die Kanne steht ja schon bereit und so geht alles schnell. Dann hüpft sie schnell ins Bad. Das Duschen geht schnell. Denn wer ist schon gerne in einer eiskalten Dusche?

Sie hört, während sie sich den Kopf abtrocknet, wie die alte Kaffeekanne den Kaffee in ihrem Inneren zum Kochen bringt, und schon verbreitet sich ein leichter Kaffeegeruch in der ganzen Wohnung. Er ist so stark, dass er sogar unter der Tür ins Badezimmer hinein kommt, wo er ihre Nase erfreut und sie zu einem wohligen Lächeln bringt. Das ist doch wirklich der Duft, mit dem man am liebsten jeden Tag aufstehen würde, denkt sie sich, während sie sich eincremt und dann anzieht. Schade nur, dass Kaffee immer besser riecht, als er schmeckt. Mit dem Handtuch zu einem Turban um den Kopf gewickelt geht sie in die Küche und richtet sich ihr Frühstück her. Das besteht wie immer aus einer Tasse Kaffee mit Milch und Honig (eigentlich könnte man Milch mit etwas Kaffeegeschmack dazu sagen, so wenig Kaffee ist tatsächlich drinnen, denn Kaffee riecht göttlich, aber sie könnte ihn niemals pur trinken), einem Glas Smoothie und ein paar Löffeln Nutella mit Butter und Erdnussbutter mit Butter und Marmelade, selbstverständlich ohne Brot, denn wer braucht Brot?

Das Essen wird wie immer eher kurz gehalten. Denn sie isst zwar öfter und nicht ungerne alleine, aber zelebrieren braucht sie die Mahlzeiten nun auch wieder nicht. Das machen sie nur zu zweit am Wochenende und selbst das ist nie so lange. Denn meistens ist es so, dass sie das Essen schnell in sich hineinstopft, sie hasst es nicht nur, vor anderen zu essen, sondern sie findet auch, dass es unheimlich dämlich und unappetitlich aussieht, wenn sich jemand anderer Essen in den Mund steckt. Irgendwie kommt sie sich beim Essen immer beobachtet vor, auch wenn dem nicht so ist. Einer ihrer zahlreichen Spinner, oder Sprünge in der Schüssel, wie die Allgemeinheit so schön sagt. Oder eines der Zahlreichen Einhorn-Kacke-Häufchen in ihrem Kopf, das dieses wohl in seiner Longierbahn verloren hat, vor lauter Anstrengung.

So stellt sie sich ihr Hirn vor, den ganzen Tag läuft ein Einhorn in einen Longierkreis, wenn alles normal läuft, natürlich. Selbstverständlich sollte das dumme weiße-Glitzer-Ding auch immer nur in diesem Kreis laufen und nichts anderes tun, doch manchmal tut es das leider. Dann springt es verrückt durch die Gegend, reißt Sträucher und sogar Bäume aus, die rund um den Kreis stehen, legt einfach einmal einen Haufen hin, wo es ihm gerade passt, oder aber es tanzt seinen wilden Einhorntanz. Diesem komischen Tier fällt leider nur zu oft Blödsinn ein, und so passiert es halt, dass es gelegentlich das ganze Hirn lahm legt. Immer wenn das passiert, macht sie einen riesigen Blödsinn. Oder aber sie beschwört einen Tanz herauf. Das geht nämlich auch. Zum Beispiel wenn sie raucht oder trinkt, dann beginnt das Einhorn auch aufmerksam zu werden, weil es denkt, dass es gleich wieder loslegen kann. Zum Tanzen bringen kann sie das Einhorn, nur das Stoppen hat sie noch nicht wirklich im Griff. Weshalb es gelegentlich zu sehr turbulenten Situationen kommen kann.

Die zwei Hunde zu ihren Füßen haben auch schon ihren Morgenschmaus bekommen und sind nun für die nächste Stunde einmal zufrieden.

Alles ist verräumt und nun geht es an die Arbeit. Es muss noch einiges vorbereitet werden, bevor es zu den heutigen Coachings gehen kann. Also setzt sie sich erst einmal an den Schreibtisch.

Als sie das nächste Mal auf die Uhr schaut, ist es leider später als gedacht, und vor allem als geplant. Zu spät, um alles ohne Stress erledigen zu können. Sie flucht und regt sich über sich selbst auf, warum sie eigentlich so früh aufsteht, um dann erst recht in Eile alles erledigen zu müssen.

Kein Weltuntergang, aber groß genug, um sie in Stress zu versetzen. Sie hasst Stress!

So schnell war sie noch nie fertig angezogen und aus der Haustür draußen, mit den zwei Hunden, versteht sich. Zum Glück hat sie es nicht weit zu ihrem ersten Termin. Pünktlichkeit, schon wieder eines dieser Worte, bei dem sich alles in ihr zusammenzieht, es wäre so viel leichter, wenn sie endlich umziehen würden, an einen Ort, an dem sie ihre Arbeit zu Hause machen könnte, irgendein Haus mit Garten, das wäre super. Doch für Träume bleibt jetzt schon gar keine Zeit!

Es sind mittlerweile doch schon einige Leute unterwegs, daher fällt es schwer, sich in der Straßenbahn einen Sitz zu ergattern. Aber für sie war das eigentlich noch nie ein Problem, denn meistens ist sie ohnehin mit den Hunden unterwegs und auch sonst wollen sich die Leute nicht so gerne in ihre Nähe setzen. Sie schiebt es auf ihre Ausstrahlung, wohl wissend, dass es eher mit ihrer Erscheinung zu tun hat.

Doch anscheinend liegt es nicht nur an ihrer Ausstrahlung, weil die wäre heute ja ziemlich gut und glücklich, okay vielleicht etwas gestresst, aber durchaus zufrieden. Offensichtlich liegt es an ihren zerschnittenen und vernarbten Armen.

Meist schauen die Leute nur, doch heute sind offenbar nicht alle so gut gelaunt wie sie. Zumindest eine der Frauen, die auf dem gleichen Viererplatz sitzt wie sie. Diese Dame kann offenbar gar nicht mit ihr und muss ihren Unmut unbedingt laut herausreden. Wobei reden etwas untertrieben ist. Sie redet sehr, sehr laut, vermutlich um irgendwelche anderen auch noch auf ihre Seite zu ziehen.

Anfangs bekommt Flower gar nicht mit, dass es um sie geht, sie ist doch etwas in ihre Träumereien versunken, außerdem ist sie heute nicht schlagfertig genug. Sie ist meist nur dann schlagfertig, wenn überhaupt, wenn es ihr schlecht geht, oder sie in einer sehr aggressiven Stimmung ist. Doch wie gesagt, das ist sie jetzt ganz und gar nicht.

Die wenigen Straßenbahnstationen sind geschafft. Fast fluchtartig verlässt sie die Straßenbahn, sie wird sich nun auf ihren ersten Termin konzentrieren, erst später wird sie über diese Situation in der Straßenbahn nachdenken. Denn sie weiß ganz genau, wenn sie sofort beginnt, die Situation zu durchdenken und zu analysieren, ist ihr ganzer Tag verloren, weil sie sicher wieder traurig wird, oder gar wütend. Beides kann sie jetzt nicht gebrauchen. Aufschieben heißt die Devise. Aber eines ist klar, was da gerade abgegangen ist, versteht sie nicht. Vermutlich wird sie es nie verstehen, warum Menschen so unangenehm zueinander sein müssen.

Endlich zu Hause. Die Tür hinter sich zugeschmissen, die Welt ausgesperrt.

So toll hat der Tag begonnen!

Sie hatte einen wundervollen Lauf in der Früh mit ihren zwei Lieblingen. Hat wieder Zettelchen von ihrem Wundermann im Bad gefunden, mit denen er ihr wieder einmal seine Liebe ausgedrückt hat. Hatte drei tolle Termine, und jetzt ist alles so schmerzhaft.

„Ist es Schmerz oder ist es Wut?" will das Einhorn wissen und lächelt herausfordernd.

Sie fragt sich, wo ihre ganze positive Stimmung hingekommen ist.

„Ist sie von der Wut gefressen worden, oder war es vielleicht ich? Ich hatte heute ziemlich Hunger." jetzt wird es langsam etwas sarkastisch.

Warum kann sie nicht einfach nach Hause kommen, und der Tag wird als normaler oder sogar schöner Tag zu viert beendet? Sie möchte auch am Abend nach Hause kommen und erzählen, was sie alles Schönes an diesem Tag erlebt hat, doch ihr fällt momentan gar nichts Schönes ein.

„Oh ja, die Wut hat sich wieder einmal satt gefressen. Oder hat sie sie nur in ihre dunkle Speisekammer gestellt? Sind sie noch da, die schönen Momente? " jetzt sitzt es auf seinem weißen Einhornpo und beginnt sich aus drei Regenbogenlocken ein Zöpfchen zu flechten.

Vielmehr sind die ganzen schönen Erlebnisse von einem schwarzen Schleier überzogen. Von einem Schleier aus Wut, Unverständnis, dem Gefühl, unfair behandelt zu werden und Angst, Angst vor dem nächsten Tag, vor den nächsten Tagen, Wochen und Jahren. Sie beschließt schnell in ihrem Kopf, sie will nie wieder hinausgehen. Aber zugleich weiß sie selbst, dass das nicht möglich ist und das bringt sie zum Verzweifeln.

„Ich weiß, du willst auch fair behandelt zu werden, aber meine Süße, das wird nichts, du bist ein Freak!" sagt es gespielt gelangweilt, aber mit einem bösen Grinsen um den Mund, während es weiter mit dem geßochtenen Zöpfchen spielt.

„Was ist denn los?" hört sie ihn sagen.

Doch sie kann nicht antworten, viel zu viel hüpft gerade in ihrem Kopf herum, an viel zu vielen Gefühlstüren wird gerade gerüttelt und viel zu viele öffnen sich und lassen ihren ganzen Inhalt in Herz und Kopf strömen. Alles, was sie jetzt noch will, ist sich in ihrem Bett verkriechen und weinen. Denn es tut einfach so entsetzlich weh!