Das eiskalte Paradies - Jana Frey - E-Book

Das eiskalte Paradies E-Book

Jana Frey

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Beschreibung

Hannah ist 15 und Zeugin Jehovas. Was ihr früher ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hat, wird jetzt zunehmend zum Problem. Hannah will ausbrechen, normal sein wie andere auch, die Ketten ihrer Religionsgemeinschaft sprengen. Doch auf einmal muss Hannah feststellen, dass ihre bisher so behütete Welt von nahezu unüberwindbaren Mauern umgeben ist ... Einfühlsam und authentisch greift Autorin Jana Frey in "Das eiskalte Paradies" brisante Themen wie Religion und Sekten auf und bindet sie geschickt in die Lebenswelt der Jugendlichen ein. Ein Roman, der zum Nachdenken über Freiheit und Selbstbestimmung anregt.

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Für Hannah

Diese Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten.

Prolog

Ich treffe Hannah in ihrer kleinen Dachwohnung. Neben ihr sitzt ihr Freund Paul, der bei all unseren Gesprächen dabei sein wird.

„Ohne Paul könnte ich das alles nicht erzählen“, erklärt mir Hannah und rührt nervös in ihrer Teetasse. „Ohne Paul würde ich wahrscheinlich gar nicht hier sitzen“, fährt sie nachdenklich fort. „Ohne Paul wäre ich nämlich schon lange nicht mehr am Leben …“

Hannah, Paul und ich treffen uns in den nächsten Wochen immer wieder.

An manchen Tagen kann Hannah erzählen und erzählen und erzählen. Dann durchwühlt sie die Fotokisten ihrer Kindheit und liest ab und zu sogar kleine Abschnitte aus ihren, bisher streng geheimen, Tagebüchern vor.

An anderen Tagen ist Hannah still und traurig und nachdenklich. „Mir fällt heute gar nichts ein“, sagt sie dann immer wieder und starrt niedergeschlagen auf meinen kleinen mitgebrachten Kassettenrekorder, der leise quietschend ihr erschöpftes Schweigen aufzeichnet.

An solchen Tagen sind wir dann manchmal einfach ins Kino gegangen oder in ein Café in ihrer Straße. Oder wir haben Trivial Pursuit oder Scrabble gespielt.

„Dein Buch über meine Vergangenheit wird wahrscheinlich nie fertig werden“, entschuldigt sich Hannah dann jedes Mal nervös.

Aber schließlich schaffen wir es doch.

An einem nebelgrauen Regennachmittag im vergangenen November war es so weit. Wir saßen in Hannahs kleinem Wohnzimmer, umgeben von alten Fotografien, Tagebüchern und nass geweinten Taschentüchern, und Hannah sagte seufzend: „So, das war es …“

Wir lächelten uns zu, und ich begann am folgenden Tag, Hannahs Geschichte aufzuschreiben.

1

Meine Mutter war noch sehr jung, als ich geboren wurde. Und mein Vater war fast genauso jung wie sie. Die beiden sind schon zusammen in die Schule gegangen. Als mein Vater Abitur machte, ging meine Mutter in die zwölfte Klasse. Kennengelernt haben sie sich im Schulorchester. Das Schulorchester war mit Sicherheit auch der einzige Ort, wo die beiden sich überhaupt über den Weg laufen konnten, denn sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.

Meine Mutter war laut und lustig und immer ein bisschen überdreht. Sie spielte Saxofon, konnte Einrad fahren und hatte viele Freunde.

Mein Vater war leise und scheu und nachdenklich. Er spielte Klarinette und verbrachte seine Freizeit damit, ganz alleine für sich durch die Gegend zu streifen und über die Welt im Allgemeinen und sein leises Leben im Besonderen nachzudenken.

Aber im Schulorchester hatten die beiden dann eines Tages einen gemeinsamen Auftritt. Während sich die übrigen Schüler nämlich bereits auf ihre Orchesterplätze begeben hatten, mussten meine Mutter und mein Vater, die damals natürlich noch nicht meine Eltern waren, Seite an Seite durch den großen abgedunkelten Musiksaal laufen, mitten durch den schmalen Mittelgang, und dabei leise miteinander musizieren. Es sollte klingen, als unterhielte sich eine traurige Klarinette mit einem vergnügten Saxofon. Die Aufführung klappte ganz wunderbar, bis mein Vater, die Klarinette zwischen den Lippen, über eine Bühnenstufe stolperte und sich bei seinem Sturz den Ellenbogen brach.

Aber das bekam an diesem Abend keiner mehr mit, denn mein Vater stand wortlos auf und verließ den unruhigen Musiksaal, ohne ein Wort der Erklärung abzugeben. Dabei musste er furchtbare Schmerzen gehabt haben.

Und eines Tages trafen sie sich ganz zufällig wieder. Es war Herbst und es regnete, und die beiden trafen sich am Rhein, der enormes Hochwasser führte und weit über seine Ufer hinüberschwappte.

„Hallo, Michael“, rief meine Mutter vergnügt und winkte.

„Hallo …“, murmelte mein Vater, der den Vornamen meiner Mutter längst schon wieder vergessen hatte, und fuhr sich verlegen durch seine nass geregneten Haare, während er langsam auf sie zuging.

„Wie geht es deinem Arm?“, fragte meine Mutter, als sie sich endlich gegenüberstanden.

„Längst wieder in Ordnung“, sagte mein Vater verlegen.

„Wie war dein Abitur?“, fragte meine Mutter.

„Sehr gut, danke“, sagte mein Vater.

„Aber auf der Abifeier warst du nicht, ich habe nach dir Ausschau gehalten“, sagte meine Mutter.

Mein Vater schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?“, erkundigte sich meine Mutter.

„Ich mag keine großen Feiern“, sagte mein Vater knapp und hörte nicht auf, sich nach Steinen zu bücken, die er, einen nach dem anderen, ins dunkle, vorbeirauschende Flusswasser schleuderte.

„Ich kann sie springen lassen“, erklärte meine Mutter und führte meinem Vater vor, wie man flache Steine so über die Wasseroberfläche zischen lässt, dass sie erst eine kleine Weile über das Wasser hüpfen, ehe sie versinken.

Und so kamen die beiden nach und nach ins Gespräch. Und weil meine Mutter damals ziemlich schlecht in der Schule stand, überredete sie meinen Vater schließlich dazu, ihr Nachhilfestunden zu geben.

Mein Vater lebte bei seiner alten, schweigsamen Großmutter.

„Wo sind deine Eltern?“, fragte meine Mutter einmal.

„Ich weiß nichts von meinem Vater“, erklärte mein Vater zögernd. „Und meine Mutter lebt in Amsterdam. Sie ist dort verheiratet.“

„Warum wohnst du nicht bei ihr?“, fragte meine Mutter verwundert.

„Sie wollte mich nicht, weil ihr Mann mich nicht wollte“, sagte mein Vater knapp und dann mochte er nicht mehr über seine Mutter sprechen.

Und als eines Tages ganz plötzlich seine Großmutter starb, zog mein Vater niedergeschlagen in ein Studentenwohnheim und meine Mutter zog an ihrem achtzehnten Geburtstag zu ihm in sein enges Zimmer.

„Warum willst du nicht bei deinen Eltern bleiben?“, fragte mein Vater verwundert. „Du hast doch noch nicht einmal dein Abitur gemacht.“

„Ich verstehe mich nicht besonders gut mit ihnen“, erklärte meine Mutter achselzuckend und verteilte ihre Siebensachen in dem kleinen Raum. „Sie wollen mich nicht so haben, wie ich bin. Sie wollen aus mir am liebsten eine kleine, angepasste graue Maus machen …“

Und so blieben mein Vater und meine Mutter zusammen, sie machten miteinander Musik und lernten für das nahende Abitur meiner Mutter. Nebenher studierte mein versponnener Vater Philosophie und Psychologie und irgendwann in diesem ganzen Durcheinander entstand ich.

„Ich liebe dich, weil du so laut und verrückt bist“, sagte mein Vater eines Tages zu meiner Mutter. „Es kommt mir so vor, als hättest du mich erst zum Leben erweckt.“

Meine Mutter lächelte. „Und ich liebe dich, weil du der Vater von dem Baby bist, das ich im Bauch habe.“

Das alles geschah 1970, und es gibt eine Menge Fotos, auf denen meine kunterbunte Mutter stolz und vergnügt ihren kugelrunden Bauch präsentiert. Von meinem Vater gibt es nur sehr wenige Bilder, er kann es nicht leiden, wenn man ihn fotografiert. Ich habe tatsächlich bis heute nur drei Fotografien gefunden, auf denen mein Vater und ich zusammen zu sehen sind. Im Grunde sind es sogar nur zwei, denn auf der allerersten sitzt mein schmächtiger, ernsthafter Vater neben meiner lachenden Mutter unter einer windschiefen Trauerweide am Rheinufer und hat seine linke Hand sehr sachte und vorsichtig auf ihrem runden Bauch abgelegt.

Auf dem zweiten Bild hält er mich kurz nach meiner Geburt auf dem Arm und schaut mich so verblüfft an, als wäre ich ein wahres Wunder und nicht nur ein ganz und gar normales, zerknittertes Neugeborenes.

Auf dem dritten Bild steht mein Vater hinter mir und hat sich eben verheiratet. Allerdings nicht mit meiner Mutter, sondern mit Roswitha …

Aber davon erzähle ich später.

Bald nach meiner Geburt zogen meine Eltern aus dem lauten, vergnügten, aber zu eng gewordenen Studentenwohnheim aus und mieteten sich eine kleine Wohnung in der Innenstadt.

Meine Mutter hatte nun doch die Schule abgebrochen und arbeitete nachts als Kellnerin in einer Studentenkneipe.

Mein Vater studierte noch eine Weile weiter, aber als das Geld knapp wurde, nahm er eine Bürostelle in einer kleinen Firma an. Dort blieb er dann fast zwanzig Jahre, obwohl er seinen Job niemals leiden konnte.

Meine Eltern machten aber immer noch Musik zusammen und in meiner Erinnerung waren sie meistens vergnügt und stets sehr zärtlich miteinander. Ich kam in einen Kindergarten, und manchmal, wenn der Rhein Hochwasser führte, fuhren wir drei mit dem Bus zum Fluss, und meine Eltern warfen stundenlang Steine in das dunkle, vorüberrauschende Flusswasser.

„Du musst sie so schräg wie möglich schleudern“, rief meine Mutter meinem Vater lachend zu. „Siehst du? So!“

Zisch – zisch – zisch, machten die Steine meiner Mutter.

„Ich versuche es ja“, knurrte mein Vater und warf Stein um Stein.

Blupp – blupp – blupp, machten die Steine meines Vaters. „Ich lerne es nie“, murmelte er ärgerlich.

„Eines Tages wird es klappen“, tröstete meine Mutter ihn und legte ihm ihren Arm um den Hals.

Als ich gerade fünf Jahre alt geworden war und der Rhein mal wieder Hochwasser hatte, stellte ich mich ganz nah zu meinen Eltern an das dahinströmende Wasser und schleuderte meinen ersten Stein.

Zisch – zisch – zisch, machte mein Stein.

Ich erinnere mich daran, wie sehr meine Eltern sich freuten und wie mein Vater meine kalte Nasenspitze küsste.

„Du bist wirklich ein Tausendsassa“, sagte er stolz. „Aber kein Wunder, du hast ja auch die großartigste Mutter der Welt!“

Ich erinnere mich heute noch an diesen Satz. Er ist felsenfest in meinem Gedächtnis verankert. Denn ein paar Tage nach diesem Nachmittag am Rhein endete mein Leben. Und das Leben meines Vaters.

Es war ein verregneter Herbsttag. Meine Eltern hatten Geldsorgen, ich weiß nicht mehr warum, wir hatten schließlich nie viel Geld gehabt, aber in diesem Herbst redeten die beiden immerzu von Geld und keinem Geld und wenig Geld und von unbezahlten Rechnungen.

Und da beschloss meine Mutter, ihre Eltern, mit denen sie seit vielen Jahren zerstritten war, um Unterstützung zu bitten. Die Eltern meiner Mutter waren strenge, starre, finstere Leute, ich hatte sie bis dahin nur ein paarmal zu Gesicht bekommen.

Meine Mutter machte sich also auf den Weg zu ihnen und ich winkte ihr aus unserem Wohnzimmerfenster im fünften Stock einen Abschiedsgruß. Meine Mutter winkte zurück, sie lächelte und sie hatte lange, offene blonde Haare, die im Wind wehten. Aber ich sah trotzdem, dass meine Mutter nervös war, und sie tat mir leid, weil ich wusste, dass sie nicht gerne jemanden um Hilfe bat. Und schon gar nicht ihre griesgrämigen Eltern.

An diesem Tag kam meine bunte, heitere Mutter ums Leben. Ein Bus fuhr sie an, als sie auf dem Weg zur Bushaltestelle war. Es war die Linie 4, das hörte ich später zufällig und vergaß es nie wieder. Und bis heute bin ich niemals in diese Buslinie eingestiegen. Nicht mal in anderen Städten betrete ich einen Bus mit dieser Nummer. Ich hasse alle Busse Nr.4.

Am Abend saß mein Vater am Küchentisch und sagte immer wieder den gleichen Satz. „Du darfst nicht sterben“, sagte er. „Du darfst nicht sterben. Du darfst nicht sterben.“

Seine Stimme klang hohl und verzweifelt, und er sprach so, als wäre meine Mutter bei uns in der Küche. Ich fand das unheimlich und ich hatte Hunger und wollte ein Abendbrot haben.

„Mama ist nicht da, ich will was essen“, erklärte ich mit leiser Stimme.

„Du darfst nicht sterben“, antwortete mir mein Vater flehend und schaute starr durch mich hindurch. Mir kam es so vor, als wäre er gar nicht hier bei mir, sondern weit weg in Hamburg in der Uniklinik, in die man meine Mutter mit einem Hubschrauber geflogen hatte. Da setzte ich mich stumm zu ihm an den Tisch und hörte traurig seinem Dudarfst nicht sterben zu.

Irgendwann schlief ich ein. Dabei hatte ich gar nicht mitbekommen, dass ich eingeschlafen war, aber ich merkte es daran, dass ich plötzlich aufwachte. Ich wachte auf, weil mein Vater schrie: „DU DARFST NICHT STERBEN, HÖRST DU!“ Er stand mitten in der Küche und hatte den Telefonhörer in der Hand. Sein Gesicht war völlig verzerrt und er stöhnte und schwankte und schüttelte den grauen Telefonhörer.

„Papa, weinst du?“, rief ich erschrocken.

Aber mein Vater weinte nicht, stattdessen gefror sein Gesicht zu einer unbewegten, bleichen Maske.

Ich zitterte am ganzen Körper, weil ich so schrecklich müde und erschrocken und verfroren war. Ich wollte, dass mein Vater mich in den Arm nahm, ich wollte getröstet und beschützt werden, aber mein Vater nahm mich nicht in den Arm, stattdessen rannte er wie ein wilder Stier durch die Wohnung und brachte alles, aber auch alles in eine wüste Unordung.

„Nein, Papa – nicht, bitte nicht …!“, rief ich und rannte hinter ihm her. Aber mein Vater hörte mich nicht.

Ganz zum Schluss schnappte er sich seine Klarinette und Mamas Saxofon und schleuderte beides aus dem Küchenfenster.

„Papa!“, schrie ich entsetzt, als ich hörte, wie die Instrumente im Hof kaputtgingen.

„Sie ist tot, Hannah“, sagte mein Vater wirr und starrte mich an. Sein Gesicht war weiß vor Entsetzen und gleichzeitig rot gefleckt vor Aufregung.

„Das verstehe ich nicht“, sagte ich und ging langsam in mein Zimmer.

Es folgte ein totes Jahr. Aus diesem Jahr gibt es kein einziges Foto, nichts, gar nichts. Ich war nicht mal auf der Beerdigung meiner Mutter, mein Vater nahm mich nicht mit.

Aber die Eltern meiner Mutter kamen mich in dieser toten Zeit ziemlich oft besuchen. Sie hielten meine Hand fest und quetschten meine kleinen Finger dabei. Sie weinten und sie brachten mir eine Menge Geschenke mit. Außerdem wollten sie meinen Vater dazu überreden, mich bei ihnen wohnen zu lassen. Aber das erlaubte mein Vater nicht. Ich war erleichtert deswegen, meine Großeltern machten mir Angst mit ihren strengen, blassen, versteinerten Gesichtern. Und ich wusste ja, wie oft sie sich am Telefon mit meiner Mutter gestritten hatten. Sie hatten gestritten, weil meine Mutter die Schule nicht zu Ende gemacht hatte, weil meine Mutter in einer Studentenkneipe gearbeitet hatte, weil meine Mutter sich kunterbunt angezogen hatte und im Sommer oft barfuß gegangen war, weil meine Mutter nicht in ihrer kleinen chemischen Reinigung am Stadtrand mitarbeiten wollte, weil meine Mutter Zigaretten rauchte und nicht an Gott glaubte.

Also blieben mein Vater und ich alleine und lebten still und stumm und gelähmt und erschrocken nebeneinanderher.

Mein Vater verwandelte sich vor meinen Augen in ein blasses, dahinschleichendes Gespenst. Er schien nie ganz da zu sein, seine leisen Schritte erschreckten mich, wenn er plötzlich wie aus dem Nichts hinter mir auftauchte, um mich stumm in die Küche an den nachlässig gedeckten Abendbrottisch zu schieben oder ins Badezimmer zum Zähneputzen.

Er ging in die Firma und erledigte den Haushalt mehr schlecht als recht, und dann saß er lesend im Wohnzimmer und hörte mir nicht zu, wenn ich mit ihm sprach.

Eines Tages kam ich in die Schule, eines Tages bekam ich einen Platz im Kinderhort und eines Tages hatte ich die ersten Zahnlücken meines Lebens. Mein Vater merkte das alles nicht. Er las und las und las. Oder aber er hörte traurige Musik und starrte aus dem Fenster, aber nicht aus dem Wohnzimmerfenster, hinunter auf die laute Straße, wo das Leben stattfand, sondern er schaute aus dem Küchenfenster, in den einsamen, immer dämmrigen Hof, in dem er seine Klarinette und das Saxofon meiner Mutter zerstört hatte.

„Was guckst du denn da?“, fragte ich ihn manchmal.

„Ich weiß es nicht …“, antwortete mein Vater zerstreut.

„Papa, ich glaube, unter meinem Bett wohnt ein Monster“, sagte ich eines Tages.

„Unsinn“, sagte mein Vater.

„Ich bin mir aber ganz sicher“, sagte ich eindringlich.

„Unsinn, Hannah“, wiederholte mein Vater. „Es gibt keine Monster.“

„Aber es kaut und schmatzt“, sagte ich ängstlich. „Ich höre es jede Nacht.“

„Da kaut und schmatzt nichts.“ Mein Vater schaute weiter in den Hof.

„Könntest du bitte nachsehen?“, bat ich den Rücken meines Vaters.

„Also gut“, murmelte mein Vater und wir gingen nebeneinanderher in mein Kinderzimmer. Mein Vater bückte sich und warf einen kurzen, prüfenden Blick unter mein Bett.

„Nur Staub“, sagte er. „Sonst nichts.“

Er fuhr mir hilflos über den Kopf, so, als wolle er mich aufmuntern und habe nur vergessen, wie so etwas funktionierte, dann ging er aus dem Zimmer.

„Nur Staub“, wiederholte ich. „Nur Staub und mittendrin ein Monster, das kaut und schmatzt.“

Von da an machte ich es mir zur zwingenden Angewohnheit, immerzu unter mein Bett zu schauen. Wenn ich aus dem Kinderhort kam, wenn ich vom Herumstreifen auf der Straße heimkam, nach dem Abendbrot und nach dem Zähneputzen im Bad, immer warf ich einen kurzen, ängstlichen Blick unter mein Bett.

Eines Nachts wachte ich plötzlich auf und merkte, dass mein Kopf über den Bettrand nach unten hing. Mühsam rappelte ich mich auf und tat mir sehr leid. Sogar im Schlaf hatte mich meine Angst vor diesem Monster fest im Griff.

Ich begann, mein Leben zu hassen.

Ich glaube, ich habe eine Schlafkrankheit, schrieb ich damals in mein Tagebuch. Ich war inzwischen siebeneinhalb Jahre alt und ich war ein ziemlich einsames Kind. Nach der Schule wanderte ich jeden Tag still für mich alleine in den nahen Kinderhort, und dort malte ich, wenn ich meine Hausaufgaben gemacht hatte, den ganzen restlichen Nachmittag Bilder: Kreise, Streifen, Linien, Punkte, Schnörkel.

„Mal doch mal was Richtiges“, drängten mich die anderen Kinder manchmal.

Aber ich schüttelte nur traurig den Kopf und malte weiter meine menschenleeren Muster.

„Die ist ja langweilig …“, sagten die Kinder achselzuckend und ließen mich in Ruhe.

Ich spielte auch keine Ballspiele, kein Gummitwist, kein Verstecken im Hortgarten, keine Gesellschaftsspiele im Spielezimmer.

Ich denke, es lag daran, dass ich mich immer so schläfrig fühlte.

„Papa, ich glaube, ich habe eine Schlafkrankheit“, erklärte ich meinem Vater einmal beim Abendbrot.

Mein Vater warf mir einen zerstreuten Blick zu. „Von so einer Krankheit habe ich aber noch nie etwas gehört“, sagte er und trank sein Bier aus.

„Aber ich habe sie“, sagte ich stur. „Seit Mama nicht mehr da ist, da hat sie angefangen, und ich kann nicht mehr richtig aufwachen.“

Mein Vater verschloss augenblicklich sein Gesicht. Ich schaute ihm dabei zu und wurde noch viel müder. Sein zusammengekniffener Mund, seine unruhigen, trostlosen Augen, sein blasses Gesicht mit diesen merkwürdigen, unordentlichen Falten auf der hohen Stirn, das alles machte mich schläfrig.

Ich floh, wie so oft, in mein Bett.

Aber eines Tages kam mein Leben zurück. Die Sonne ging auf und meine Schlafkrankheit konnte heilen.

Denn eines Tages kam Roswitha.

Es begann damit, dass mein Vater mich ein paarmal im Kinderhort vergaß. Das waren natürlich schlimme Tage. Die Horterzieherin schaute, nachdem alle anderen Kinder bereits abgeholt waren, gereizt auf die Uhr und machte ärgerliche Augen.

„Wo bleibt nur wieder dein Vater?“, fragte sie mich.

Ich zuckte mit den Achseln, woher sollte ich das wissen.

Schläfrig saß ich auf meinem Platz und wartete. Und irgendwann kam er ja doch jedes Mal. Ich blinzelte ihm erschöpft entgegen, mein Vater entschuldigte sich kleinlaut bei der ungeduldigen Horterzieherin und dann gingen wir zusammen nach Hause.

„Warum kommst du immer so spät?“, erkundigte ich mich auf dem Heimweg. „Frau Gläser hat geschimpft. Sie sagt, du bist eine Zumutung und ein Problemfall …“

Meine Stimme klang vorwurfsvoll.

„Es tut mir leid, Hannah“, sagte mein Vater und streichelte mit seiner großen Hand für einen kurzen Augenblick meine kleine kalte Backe. Das hatte er schon eine Ewigkeit nicht mehr getan.

Und dann kam Roswitha und krempelte mein Leben um.

„Hallo, Hannah“, sagte die fremde Frau, die plötzlich in unserer Wohnung war, und lächelte mir zu. „Willst du vielleicht einen Pfannkuchen?“

Ich nickte schüchtern.

„Das ist Roswitha“, erklärte mein Vater, und ich beobachtete erstaunt, wie er diese fremde Frau ansah. Sein Blick war zufrieden und beinahe heiter in diesem Augenblick, es war ein ganz ähnlicher Blick wie der, mit dem er früher meine Mutter angeschaut hatte. Ich runzelte verwirrt die Stirn und schaute zu, wie die Hand meines Vaters nach der Hand dieser fremden Frau griff.

Später backte Roswitha einen hohen Turm Pfannkuchen, den ich ins Wohnzimmer tragen durfte. Wir aßen unsere erste gemeinsame Mahlzeit und ich lauschte erleichtert auf das leise, fast vergessene Lachen meines Vaters, er kam mir ganz verwandelt vor. Nachmittags überredete Roswitha meinen Vater zu einem Besuch im Zoo und wir kletterten zu dritt in Roswithas klapprigen, kleinen Opel und fuhren los.

Im Zoo kaufte mein Vater mir ein großes Eis und Roswitha kaufte mir eine Tierzeitschrift und ein eingepacktes Lebkuchenherz. Liebling, stand mit rosa Zuckerguss darauf.

„Hier, Hannah, für dich“, sagte sie und hängte mir das Herz um den Hals.

Ich hatte plötzlich Herzklopfen und konnte nichts antworten. Mir wurde ganz schwindelig, und ich sehnte mich danach, von Roswitha in den Arm genommen zu werden. Sie sollte mich streicheln, küssen, wiegen, neue Pfannkuchen für mich backen, Lieder für mich singen, meine Mutter sein.

Meine Mutter! – Mir war heiß und kalt zur gleichen Zeit und ich schloss für einen Moment die Augen. Die Erinnerung an meine Mutter …

Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, so sehr, dass ich mich krümmen musste.

„Was hast du, Hannah?“, fragte Roswitha verwundert. „Warum zappelst du so herum? Gefällt dir das Lebkuchenherz etwa nicht?“

Ich starrte Roswitha wie durch viel Nebel hindurch an, ich konnte sie nur verschwommen erkennen. Die Erinnerung an meine Mutter beutelte mich wie ein kleines schwer verwundetes Tier. Ich erinnerte mich plötzlich so sehr an sie, als wäre sie erst gestern winkend aus dem Haus gegangen.

Ihre weichen, langen Haare, ihr warmer, vertrauter Duft, ihr schmales, lachendes Gesicht mit den vielen goldgesprenkelten Sommersprossen.

„Mama …“, wimmerte ich verzweifelt und ließ mein Tiermagazin und mein Eis einfach fallen.

Ich sackte auf den Kiesweg und schlug mir die Knie blutig.

„Hannah, Kleines …“, rief Roswitha erschrocken. Und während mein Vater die verdorbene Eiswaffel in einen Papierkorb trug und meine Tierzeitschrift in seine Jackentasche steckte, nahm mich Roswitha in den Arm. Sie wiegte mich und streichelte mich, sie sang leise ein tröstendes Lied für mich und versprach mir schließlich, mich nie mehr alleine zu lassen.

Roswitha war klein und rundlich, sie hatte ein weiches, rundes Gesicht mit großen dunklen, ernsten Augen. Ihre Haare waren schwarz und sie trug sie glatt gekämmt und ordentlich frisiert.

Sie roch ganz anders als meine Mutter und ihre streichelnden Finger fühlten sich ebenfalls ungewohnt an, aber das war mir egal. Ich kuschelte mich fest an sie und begann, sie zu lieben.

An meinem achten Geburtstag heirateten mein Vater und Roswitha.

Ich habe wieder eine Mutter – eine Mutter – eine Mutter …, schrieb ich in mein Tagebuch und malte viele rosa Herzchen um dieses wunderbare Wort.

Roswithas Eltern kamen schon morgens bei uns vorbei und begutachteten mich. Ich wand mich unsicher unter ihren abschätzenden Blicken.

„Wir sind jetzt deine Großeltern“, sagte Roswithas Mutter schließlich und gab mir einen Kuss. Ich war ein bisschen verlegen, schließlich kannte ich die beiden noch gar nicht.

„Nenn mich einfach Oma“, fuhr Roswithas Mutter fort und dann ging sie in die Küche und begann dort, den Frühstückstisch abzuräumen.

Von meinem Geburtstag sprach merkwürdigerweise keiner. Nur mein Vater hatte mir am frühen Morgen ein kleines Päckchen auf meinen Nachttisch gelegt.

„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte er und küsste sanft meine Stirn.

Das war alles.

„Ich habe heute Geburtstag, Roswitha“, sagte ich, als ich meine neue Mutter in der Küche traf, und schaute sie erwartungsvoll an.

„Ich weiß“, erwiderte Roswitha nur. „Und ich wünsche dir von Herzen Gottes Segen.“

Ich schwieg und wartete auf meine Geschenke, auf meinen Geburtstagskuchen, auf meine Kerzen.

Aber es geschah nichts. Verwirrt ging ich ins Bad und putzte meine Zähne.

Am späten Vormittag fuhren wir zur Kirche. Die Fahrt dauerte eine ganze Weile und ich wunderte mich.

„Wo fahren wir denn hin?“, fragte ich Roswithas Mutter, die neben mir auf der Rückbank des alten Opel saß und meine Hand festhielt.

„Wir fahren in unsere Kirche, Herzchen“, sagte sie und drückte mich für einen Moment an sich.

Dann waren wir da. Wir gingen durch einen kleinen eingezäunten Garten in ein kleines unscheinbares Haus, das gar nicht wie eine Kirche aussah, und betraten gleich darauf einen großen Saal. Viele dunkelblaue Stühle waren dort aufgereiht und eine Menge Menschen waren bereits vor uns da. Sie drehten sich nach uns um, als wir hereinkamen.

„Eine komische Kirche“, flüsterte ich Roswithas Mutter zu und suchte mit meinen Augen vergeblich nach brennenden Kerzen oder doch wenigstens ein paar Bildern von Gott oder Maria oder Jesus.

„Das ist unser Königreichssaal“, erklärte Roswithas Mutter leise und schob mich durch die engen Stuhlreihen.

„Ich will lieber bei meinem Papa sitzen“, sagte ich verwundert.

„Psst, Herzchen“, machte Roswithas Mutter und drückte mich auf einen freien Stuhl.

„Warum müssen wir so weit hinten sitzen?“, flüsterte ich.

„Psst!“, machte eine fremde Frau in der Reihe vor mir und warf mir einen strengen Blick zu.

Dann begann der Gottesdienst.

„Der Mann redet ja gar nicht von der Hochzeit“, flüsterte ich so leise ich konnte.

„Psst!“, machte Roswithas Mutter wieder und legte ihren Zeigefinger auf meinen Mund.

Die Zeit wurde mir lang. Ganz vorne, in der ersten Reihe, saßen Roswitha und mein Vater. Ich schaute immer wieder zu ihnen hinüber. Einmal winkte mir Roswitha verstohlen zu. Ich winkte zurück.

„Psst!“, machte Roswithas Mutter und legte ihre Hand auf meine Hand. „Wir wollen leise sein, Herzchen.“

Ich schaute mich um. Außer mir waren noch einige andere Kinder in diesem merkwürdigen Saal, und sie alle saßen still da und hörten dem Mann zu, der ganz vorne auf einer kleinen Bühne stand und laut in ein Mikrofon sprach. Der Mann trug einen gewöhnlichen Anzug und er redete und redete und redete.

Ich lehnte mich verwirrt auf meinem Stuhl zurück und wartete ab. Wahrscheinlich war dies noch gar nicht die Hochzeit, kam es mir in den Sinn. Wahrscheinlich war dashier eine ganz andere Veranstaltung und die Hochzeit würde danach gefeiert werden. Ich wackelte ein bisschen mit meinem linken Bein, weil es eingeschlafen war.

„Psst!“, flüsterte Roswithas Mutter sofort.

Ich zappelte weiter.

Plötzlich hörte ich, wie mein Name aufgerufen wurde. Ich zuckte zusammen. Papas Name wurde ebenfalls aufgerufen. Die Leute drehten sich nach mir um und lächelten mir freundlich zu. Ich wurde rot und Roswithas Mutter legte sanft ihren Arm um meine Schulter.

Der Mann am Rednerpult wiederholte den Namen meines Vaters, dann sprach er von Roswitha. Die beiden standen von ihren Stühlen auf und gingen nach vorne. Der Mann im grauen Anzug redete noch eine Weile weiter und dann schüttelte er meinem Vater die Hand. Roswitha nahm er in den Arm.

Anschließend wurden ein paar Lieder gesungen.

Ich stand erschöpft neben meiner neuen Oma. Mir war heiß und ich war müde, mein Magen knurrte, und ich war traurig darüber, dass sie meinem Geburtstag so wenig Beachtung schenkten, dieser Tag war doch schließlich auch mein Tag.

Traurig und verwirrt schaute ich zu meinem Vater hinüber, der neben Roswitha stand und, während er sang, aufmerksam in ein kleines graues Gesangbuch schaute. Nach mir drehte er sich kein einziges Mal um.

Auf einmal musste ich wieder an meine Mutter denken. Ich schloss die Augen und wollte sie mit Roswitha vergleichen. In diesem Moment spürte ich, dass etwas Furchtbares geschehen war. Entsetzt riss ich die Augen auf und rutschte von meinem Stuhl.

„Papa“, rief ich ziemlich laut.

„Psst“, machte Roswithas Mutter verwundert.

Mein Vater und Roswitha drehten sich zu uns um. Viele Stuhlreihen, vielleicht zehn, waren zwischen uns.

„Papa, ich habe vergessen, wie sie aussieht“, flüsterte ich verzweifelt. Ich kniff die Augen zusammen, trotzdem war mein Gesicht Sekunden später tränenüberströmt.

„Hannah“, sagte Roswithas Mutter streng. „Was ist denn in dich gefahren?“

Ich presste mir fest meine Fäuste auf die Augen, aber es half nichts, ich weinte weiter und die vielen Menschen im Saal wurden unruhig. Plötzlich stand der Mann im grauen Anzug, der eben noch vorne am Pult geredet hatte, neben mir.

Ich ließ meine Hände sinken und machte mich so klein wie möglich.

„Ich bin Bruder Jochen“, sagte der graue Mann freundlich und legte seine große Hand auf meinen Kopf. „Komm, du Kummerkind, ich bringe dich zu deinem Papa.“

Und das tat er dann auch. Er nahm mich an die Hand und brachte mich zu meinem Vater und zu Roswitha.

„Am besten, du setzt dich zwischen deine Eltern“, sagte Bruder Jochen gutmütig und brachte mir einen Stuhl.

„Danke“, murmelte ich erleichtert und sank zitternd auf meinen neuen Sitzplatz.