Ich, die Andere - Jana Frey - E-Book

Ich, die Andere E-Book

Jana Frey

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Beschreibung

Kelebek ist Deutsche. Und sie ist Türkin. Sie will mit ihren Freundinnen Spaß haben und gleichzeitig mit ihrer Familie den Ramadan begehen. Sie liebt die Blaue Moschee in Istanbul – und sie liebt Janosch. Ihre Gefühle sind zu kostbar, als dass sie jemandem davon erzählen könnte, zu zerbrechlich. Doch Sercan, ihr Bruder, mit dem sie früher alle Geheimnisse geteilt hat, merkt sofort, dass Kelebek plötzlich anders ist. Er beginnt, sie zu kontrollieren, eindringliche Fragen zu stellen. Als er endlich Gewissheit hat, ist Sercan voller Hass. Hass auf Janosch, Hass auf Kelebek – Hass, der außer Kontrolle zu geraten droht ...

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Inhalt

Was es ist

märz

april

mai

juni

juli

august

september

oktober

november

dezember

januar

februar

märz

april

mai

mai II

juni

juli

august

september

oktober

DUNKELHEIT

STILLE

HUNGER

LICHT

SONNE

Für Maria Gehrmann und

Zu diesem Buch steht eine Lehrerhandreichung zum kostenlosen Download bereit unter

„Das Schönste, was Allah auf Erden erschuf, ist die Gerechtigkeit. Sie ist Allahs Gleichgewicht auf Erden, und jeder, der diese Gerechtigkeit aufrechterhält, wird von Ihm ins Paradies getragen werden.“

Was es ist

Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Es ist Unglück

sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz

sagt die Angst

Es ist aussichtslos

sagt die Einsicht

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Es ist lächerlich

sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig

sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich

sagt die Erfahrung

Es ist was es ist

sagt die Liebe

märz

„Sercan …“

„Kelebek!“

„Sercan, nicht …“

„Kelebek, ich …“

Stille. Und Sonnenschein. Schatten an der Wand. Und Vögel am Himmel.

Stille. Stille. Stille.

Ich habe nie gewusst, dass Stille wehtun kann.

Ich bin ein Schmetterling. Der erste Schmetterling des Frühlings. Es ist der einundzwanzigste März.

Die Sonne scheint zu wissen, dass jetzt Frühling ist. Gestern tauchte sie am grauen, verhangenen Winterhimmel auf und gab ihr Bestes. Dünne Dunstschwaden schwebten wie freundliche Gespenster über unserem Garten.

Ich bin Siri und fünfzehn Jahre alt. Weil es noch so kalt ist, habe ich mich warm eingemummelt.

Ich bin auf dem Weg zu meiner Großmutter. Sie ist krank, und alle glauben, dass sie bald sterben wird. Sie liegt im Krankenhaus, im dritten Stock, Geriatrie.

Es gibt einen Aufzug, aber ich laufe lieber.

„Hallo, Anneanne …“, sage ich leise. In der Luft schwebt Krankheitsgeruch.

„Mein Liebling …“, sagt meine Großmutter und legt, als ich mich zu ihr setze, auf die Bettkante, eine Hand auf mein Knie.

Das Gesicht meiner Großmutter ist blass und faltig, und ihre Haare – mein Bruder sagt immer, unsere Großmutter habe Haare wie ein Stinktier: einen schwarzen Haarschopf mit einem weißen Streifen in der Mitte –, sie sind hochgesteckt, aber nicht sehr ordentlich hochgesteckt. Ein paar Strähnen liegen unordentlich auf dem weißen Krankenhauskissen.

„Wie geht es dir?“, frage ich vorsichtig.

„Ich bin so müde“, sagt meine Großmutter. Das sagt sie in der letzten Zeit immer, wenn man sie fragt, wie es ihr geht.

„Wie geht es den Eltern und Sercan?“, fragt sie zurück.

Die Stimme meiner Großmutter ist leise, viel leiser als früher. Früher war meine Großmutter eine große Frau. Fast ein Meter achtzig, größer als mein Großvater, größer als mein Vater.

„Es geht ihnen gut“, sage ich.

Mein Großvater ist schon lange tot. Er starb vor vielen Jahren, ich war damals fünf oder sechs.

„Wie läuft es in der Schule? Wie geht es Ana?“

„Gut und gut“, sage ich.

Meine Großmutter lächelt.

„Gut und gut?“

Ich nicke. „Ja.“

Dann kommt eine Schwester und bringt ein Tablett mit Kaffee und Kuchen.

„Helfen Sie Ihrer Großmutter ein bisschen?“, fragt sie und wartet meine Antwort gar nicht ab. Sie hat es eilig. Also füttere ich meine Großmutter mit kleinen Bissen Streuselkuchen und fühle mich wie eine Vogelmutter, die ihr Junges füttert.

„Hast du schon gehört, dass dein Großonkel Burhan nach Deutschland kommt?“, fragt meine Großmutter einmal.

Ich schüttele den Kopf. Ich kenne diesen Großonkel nicht einmal.

Wir sind eine riesige Familie, überall wohnt jemand, der irgendwie zu uns gehört.

„Ja, im Sommer. Er ist mein ältester Cousin. Als Kinder haben wir manchmal zusammen gespielt, im Sommer am Meer bei den gemeinsamen Großeltern. Er war ein wilder Junge, er brauste leicht auf, dann schlug er wie ein Besessener um sich und bekam vor Wut keine Luft mehr …“

Meine Großmutter lächelt leicht. „Manchmal hatten wir Mädchen beinahe Angst vor ihm. Sein Vater musste ihn in solchen Situationen mit eiskaltem Wasser begießen, damit er wieder zu sich kam. Aber später wurde es besser mit ihm, viel besser, er wurde ein freundlicher, umgänglicher Mann …“

Die Stimme meiner Großmutter wird leiser und leiser vor Erschöpfung.

Dann muss ich gehen.

„Schon?“, fragt meine Großmutter. Ich nicke wieder, küsse ihr die Hand und führe sie an meine Stirn, wie ich es immer tue. Als ich mich an der Tür noch einmal umdrehe, hat sie die Augen schon wieder geschlossen.

Ich bin Siri und gehe in den Sonnenschein hinaus.

Draußen atme ich auf. Ich will nie alt werden und sterben. Fröstelnd gehe ich die Straße hinunter.

In der Stadt sind eine Menge Menschen unterwegs, alle scheinen die ungewohnte, neue Frühlingssonne zu genießen.

„Hallo, Kelly“, sagen ein paar Mädchen aus meiner Klasse.

„Hallo“, sage ich.

Wir schlendern durch die Straßen der Altstadt.

„Wie geht es Sercan?“, fragt Freya, wie meine Großmutter gefragt hat.

„Gut“, sage ich. Ich weiß, dass Freya Sercan mag. Eine Menge Mädchen mögen Sercan.

Und dann sehe ich ihn:

einen Jungen aus Silber, ganz aus Silber. Mit silbernen Haaren, einem silbernen Zylinder, einem silbernen Gesicht, dünnen silbernen Händen, die eine silberne Geige halten, einer silbernen Jacke, einer ausgebeulten silbernen Hose und silbernen Schuhen. Nur seine Augen sind nicht silbern. Sie sind hellblau, frühlingshimmelhellblau.

Er steht reglos auf einem silbernen Sockel, einer Kiste, wie ich beim näheren Hinsehen erkenne.

Um ihn herum steht eine Traube aus Menschen. Ein kleiner Junge geht langsam auf ihn zu und wirft eine Münze in eine silberne Kappe, die am Boden liegt. Da beginnt der silberne Junge sich zu bewegen. Langsam, wie ein Roboter, wie eine Puppe.

Er lächelt, er verbeugt sich, er winkt dem kleinen Jungen, er hebt die Geige und beginnt leise und stockend zu spielen.

„Nicht schlecht“, sagt Freya.

„So was habe ich schon mal gesehen“, erklärt Emma achselzuckend. „In London, letztes Jahr, nur war der Typ damals aus Gold und schon ein ziemlich alter Knacker …“

Der silberne Junge erstarrt wieder, die Kapazität der Münze scheint aufgebraucht.

Emma zuckt erneut mit den Achseln, und dann gehen sie und Freya ins Starbucks gleich nebenan.

Und in der Menge, die den silbernen Jungen bestaunt, steht ein stilles, unscheinbares Mädchen mit einem blauen Kopftuch.

„Schreibt etwas auf über euch“, hatte unser Ethiklehrer zu uns gesagt in der letzten Stunde.

Das habe ich geschrieben:

Ich bin fünfzehn.

Ich bin ein Schmetterling.

Ich bin Türkin.

Ich bin Deutsche.

Fische ist mein Sternzeichen.

Ana ist meine beste Freundin.

Ich mag Sonnenblumen.

Und den Sommer am Schwarzen Meer.

Und die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart.

Und die Blaue Moschee in Istanbul.

Und Katzen.

Mein Vater ist Gärtner und Rosenzüchter.

„Man kann sich nicht wirklich in ein paar Sätzen beschreiben, man beschreibt nur Äußerlichkeiten“, sagte ich zu Ana, die den Nachmittag über da war. „Zeig mal, was du geschrieben hast.“

Sie gab mir ihr Heft und nahm sich meins.

Ana, hatte Ana geschrieben. 15Jahre. Einzelkind. Einzelenkel. Einzelurenkel. Blond. 1,66 m. Beste Freundin von Kelebek. Haustier: 1Katze namens Stromboli. Lieblingsessen: Köfte bei Kelebeks Familie. Braune Augen. Lieblingsbuch: Narziss und Goldmund. Lebensmotto: Lebe nach dem Lustprinzip!

Ich lächelte Ana zu und erinnerte mich daran, wie wir uns kennengelernt hatten.

Vor fünf Jahren war das gewesen. Ana und ich hatten uns bei der Einschulung ins Gymnasium angefreundet, gleich am ersten Tag. Per Zufall bekamen wir zwei Plätze in der Aula nebeneinander. Ana war gerade erst aus einer anderen Stadt hierhergezogen und kannte noch niemanden.

Schüchtern lächelte sie mir zu. Sie war klein und dünn und hatte hellbraune Augen und ein paar Sommersprossen unter den Augen und auf der Nase.

„Wie heißt du?“, fragte sie mich.

Ich sagte ihr meinen Namen.

„Das ist aber ein komischer Name“, sagte sie. „Bist du … Ausländerin?“

„Das ist ein türkischer Name“, sagte ich verlegen.

„Ich heiße Ana“, sagte Ana.

Wir lächelten uns an und wurden Freundinnen.

„Willst du zu meiner Geburtstagsfeier kommen?“, fragte Ana mich ein paar Wochen später auf dem Schulhof, während der großen Pause.

„In Ordnung“, sagte ich, und in der nächsten Stunde schrieb Ana mir ihre Adresse auf. „Es ist mitten in der Stadt, unten im Haus ist eine Eisdiele“, flüsterte sie und schob mir den Zettel zu.

Meine Mutter kaufte ein Geschenk für Ana, ich packte es ein, und mein Vater fuhr mich hin.

Ich klingelte und hatte Herzklopfen. Wie Anas Familie wohl sein würde? Ob sie mich mögen würden? Wie Anas Vater wohl war? Bisher hatte ich nur ihre Mutter gesehen, einmal, als sie Ana von der Schule abgeholt hatte.

Ana öffnete mir selbst die Tür, schüchtern schob ich mich in die fremde Wohnung.

„Wir sind alle im Wohnzimmer, komm …“, sagte Ana und zog mich mit sich.

Im Wohnzimmer waren nur zwei Personen. Und eine große Katze saß mitten auf dem Esstisch und putzte sich.

„Wo … wo sind denn alle?“, fragte ich verwirrt.

„Wer – alle?“, fragte Ana.

„Na, deine Familie …“, stotterte ich.

Einen Augenblick war es ganz still.

„Meine Uroma kommt erst später“, sagte Ana dann und setzte sich. „Und mehr Familie habe ich nicht!“

Ich konnte es kaum glauben. Das war Anas ganze Familie?

„Wir freuen uns, dich kennenzulernen, Kelebek“, sagte Anas Mutter in diesem Moment. „Wir haben uns ja schon mal in der Schule gesehen. Ich heiße Marlene.“

Sie lächelte mir zu. „Und das ist Anas Oma, meine Mutter. Sie heißt Charlotte.“

Sie wies auf die ältere Frau, die ebenfalls am Tisch saß.

„Und das ist Stromboli, unser Kater.“

Anas Mutter deutete auf die schwarze Katze auf dem Tisch. „Er stammt aus Sizilien, genauer gesagt von der Vulkaninsel Stromboli! Dort ist er uns als winziges Katzenbaby zugelaufen …“

Ich nickte, während sich in meinem Kopf alles drehte. Wie konnte man nur so eine kleine Familie haben? Und dann Marlene und Charlotte! Sollte ich Anas Mutter und ihre Großmutter tatsächlich beim Vornamen ansprechen?

Ich dachte für einen Moment an meinen eigenen elften Geburtstag im vergangenen Frühling. Das ganze Haus war voller Menschen gewesen.

Verlegen nahm ich neben Ana Platz und aß ein Stück Geburtstagstorte. Stromboli wanderte in der Zwischenzeit hoheitsvoll über den festlich gedeckten Tisch. Irgendwann blieb er vor mir stehen und starrte mich eine Weile aus seinen unheimlichen gelblichen Augen an. Noch nie war mir eine Katze so nah gewesen. In unserer Familie gab es keine Katzen oder Hunde.

„Du musst keine Angst vor ihm haben“, sagte Anas Mutter und füllte mein Glas zum zweiten Mal mit Apfelsaft.

Ein paar Sekunden später sprang der Kater ausgerechnet auf meinen Schoß und rollte sich dort zu einer warmen, schnurrenden Kugel zusammen. Ich saß stocksteif da vor Schreck.

Am späten Nachmittag kam dann auch noch Anas Urgroßmutter.

„Hallo, ich bin Wilhelmine“, sagte sie zu mir und reichte mir die Hand. „Viermal war ich verheiratet, einmal bin ich verwitwet und dreimal geschieden … ich hatte so viele Nachnamen – sag einfach Willy zu mir, das tun Charlotte, Marlene und Ana auch!“

Ich stand da und konnte es kaum glauben. So etwas hatte ich noch nie erlebt.

Bis es Zeit zum Abendessen war, spielten wir Monopoly.

Es war sehr lustig, vor allen Dingen, weil Anas Urgroßmutter zweimal die Bank ausraubte.

„Nicht doch, Willy!“, schimpfte Anas Mutter. „Immer machst du diesen Banküberfallblödsinn! Das ist nicht erlaubt! Es steht nicht in den Spielregeln!“

Anas Uroma zuckte ungerührt mit den Achseln. „Banküberfälle stehen nie in irgendwelchen Regeln“, knurrte sie und zählte zufrieden ihr geraubtes Geld. „Stellt euch vor, am Bismarckring in der Neustadt haben sie gestern auch schon wieder die Sparkasse überfallen …“

Und ohne mit der Wimper zu zucken, nahm sie sich ein paar weitere Hunderter aus dem Spielkastendeckel, in dem die Monopoly-Bank war.

Ana schaute mich entschuldigend an, aber ich war mir plötzlich sicher: Ich mochte Anas verrückte, kleine Familie.

Damals konnte ich noch nicht wissen, dass mal ein Abend kommen würde, an dem ich mich in dieses kleine, vollgestopfte Wohnzimmer flüchten und dort die ganze Nacht über weinen würde.

Mit Anas Urgroßmutter Wilhelmine, genannt Willy, an meiner Seite.

Ein paar weiche Abendwolken ziehen über den dämmrigen Frühlingshimmel.

Ich bin ein Frühlingskind, ein frühes Frühlingskind.

Ein zu frühes Frühlingskind.

Ich wurde an einem Märzabend in der Türkei geboren, in Sidanya am Marmarameer, im kleinen grauen Elternhaus meiner Mutter, in dem heute meine blinde Tante Ayse lebt.

„Das Baby, das Baby kommt!“, rief meine Mutter plötzlich wie aus heiterem Himmel.

Und dann kam ich, sechs Wochen zu früh.

Alle waren dabei, meine Großeltern, mein Vater, mein einjähriger Bruder, ein paar Tanten.

Ich wurde auf einem alten, knarrenden Sofa geboren, während draußen der Muezzin die Gläubigen zum Gebet rief.

Eine meiner Tanten schrie, als sie mich sah. Ich war weiß und glatt und faltenlos und winzig und am Bauch und in den Achselhöhlen so durchscheinend, dass man das geheimnisvolle Gewebe der Muskeln und das Netz der Adern sehen konnte.

„Allahu Akbar, Allah ist groß …“, sagte mein Großvater, der als Erster die Sprache wiederfand.

„Bismillahi, Rahmani, Rahim …“, flüsterte meine Mutter erschöpft. „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen, steh mir bei.“

Eine Tante wusch mich behutsam, während mein Vater nach dem Arzt telefonierte.

„Sie wird blau, sie bekommt keine Luft“, rief meine Tante plötzlich und brach in Tränen aus. Auch Sercan begann zu weinen, angesteckt von der Unruhe und Angst, die er nicht verstehen konnte.

Ich kam in ein Krankenhaus in Istanbul, und dort bekam ich den Namen Kelebek, Schmetterling.

Ich war klein und zerbrechlich, und meine Lunge war nicht in Ordnung, aber ich überlebte. Und als der Sommer kam, legten sie mich tagsüber nackt in die Sonne, damit sich meine durchscheinende Haut kräftigte.

Meine Mutter hatte zuerst Angst, mich hochzunehmen, das wurde mir oft erzählt. Sie fürchtete sich davor, den zerbrechlichen Schmetterling zu verletzen. Noch nie hatte sie so ein kleines, mageres Kind gesehen, aber schließlich rang sie sich dazu durch, mich mit sich herumzutragen, wo sie ging und stand. Und weil sie sich jeden Morgen Jasminblüten in den Büstenhalter steckte, um gut zu duften, roch mein ganzes Kleinkinderleben nach Jasminblüten.

april

„ICH HABE EUCH GESEHEN!“

„Sercan …“

Die Stille schrie mir schrill in den Ohren, im Kopf, überall …

Ich bin Siri, still und leise und scheu, eine einsame Sonnenanbeterin, es ist sonnig, und die Birken haben hellgrüne Knospen, die Forsythien blühen, die Primeln, Osterglocken und Narzissen.

Diesmal spielt er nicht Geige, diesmal spielt er Mundharmonika.

Ich lausche.

Ich lausche, während ich den silbernen Jungen anschaue.

Es ist ein Gefühl, als ob ich Hunger habe.

Seine dünnen Finger halten die silberne Mundharmonika, seine hellblauen Augen schauen scheinbar niemanden an.

Ein Mädchen neben mir summt leise mit.

Was ist das nur für ein Stück?

„Weißt du, was er spielt?“, fragt Siri das summende Mädchen.

„Cat Stevens“, sagt das Mädchen und summt weiter. So lange, bis der silberne Junge wieder erstarrt. Ein leises, kryptisches Lächeln ist alles, was auf seinem glitzernden Gesicht zurückbleibt.

Gerne würde ich eine Münze in die silberne Kappe legen, aber ich traue mich nicht.

Eine Gruppe Japaner macht ein paar Fotos, der silberne Junge verzieht keine Miene.

Die Japaner lachen leise und gehen weiter.

Ana war zu mir nach Hause gekommen.

„Eine oder mehrere Gleichungen werden so multipliziert, dass beim Addieren je zweier Gleichungen dieselbe Variable eliminiert wird. Dadurch entsteht ein Gleichungssystem aus zwei Gleichungen mit zwei Variablen, das wie bisher gelöst wird …“, las sie und verdrehte die Augen. „Ist ja irre logisch.“

Am Montag würden wir eine Mathearbeit schreiben.

„Ich gehe heute Abend übrigens mit Emma und Freya ins Dance Your Ass Off. Komm doch mal mit, es ist wirklich lustig dort!“

Das Dance Your Ass Off war eine neue Disco in der Innenstadt, und es war Freitag.

Ich schüttelte den Kopf.

„Das erlauben meine Eltern nie.“

„Aber Sercan geht auch manchmal hin“, fuhr Ana fort. „Ich habe ihn dort schon gesehen.“

„Das ist etwas anderes“, sagte ich.

„Warum?“

„Das habe ich dir doch schon tausendmal erklärt“, sagte ich und war auf einmal gereizt. „Weil er ein Junge ist – und ich ein Mädchen. Außerdem bekommen wir heute Abend Besuch.“

„Wer kommt denn?“, erkundigte sich Ana, legte das Mathematikbuch zur Seite und rollte sich auf den Bauch. Wir lagen nebeneinander auf meinem schmalen Bett in meinem rosa Zimmer. Um uns herum meine engen rosa Wände, mein Bücherregal, meine alte, geliebte Puppe aus Istanbul, ein Überbleibsel aus Kindertagen, Bilder aus der Türkei, die Blaue Moschee in einem blauen Rahmen, Kerzen in orientalischen Kerzenhaltern, getrocknete Rosen in struppigen, widerborstigen Sträußen, ein Plakat einer Zauberflöten-Inszenierung, die ich einmal besucht hatte, meine kleine Musikanlage, meine Schulsachen.

„Diese Unordnung, diese Unordnung“, sagt meine Mutter kopfschüttelnd, sooft sie hier hereinschaut.

Ich zuckte mit den Achseln.

„Nur meine Tante Burcu mit Fatih …“

„… für den du wieder den ganzen Abend über Kindermädchen spielen darfst, stimmt’s?“, unterbrach mich Ana. „Während Sercan mit seinen Freunden in die Stadt geht?“

Tante Burcu war die Schwester meiner Mutter, und ihr einziger Sohn Fatih war zehn Jahre alt und geistig behindert, keiner wusste, warum. Onkel Ugur, Tante Burcus Mann, hatte die beiden im letzten Jahr verlassen und war zurück nach Izmir gegangen.

Wir schwiegen für einen Moment, ich starrte gegen meine Zimmerwand. Auf einmal sah ich Siri durch die Stadt schlendern, eingehüllt in hellen, warmen, strahlenden Sonnenschein.

„Sag mal, kennst du Cat Stevens?“, fragte ich unvermittelt und hatte auf einmal Herzklopfen, warum auch immer.

„Klar.“ Ana nickte. „Meine Mutter fährt voll auf ihn ab, schon immer. Sie hat alle seine CDs. Ist ein ziemlich schräger Typ, wenn du mich fragst …“

„Wieso?“

Ana zuckte mit den Achseln.

„Na ja, früher war er ein abgefahrener Freak – aber dann ist er plötzlich eines Tages zum Islam konvertiert und hat sich einen irren Bart wachsen lassen und nennt sich jetzt …“

Ana überlegte einen Moment, aber dann gab sie es auf. „Keine Ahnung, Mustafa oder Mohammed Irgendwas oder so …“

Wir schauten uns an.

Die Melodie war noch in meinem Kopf, ich würde sie nie mehr vergessen, da war ich mir sicher.

In diesem Moment begannen Anas Wale zu singen.

Ana war mit Sicherheit der einzige Mensch weit und breit, dessen Handyklingelton singende Wale waren.

Sie warf einen prüfenden Blick auf das Display.

„Freya“, sagte sie dann und klappte das Handy auf.

„Hi. Ja, klar komme ich nachher mit. Wo wollen wir uns treffen?“

Am Abend kümmerte ich mich um meinen kleinen Cousin Fatih.

„Kelebek, Kelebek, Kelebek …“, nuschelte er und streichelte mit seinen heißen, klebrigen Fingern behutsam mein Gesicht.

Lieber, kleiner Fatih.

„Du bist ein gutes Mädchen“, sagte Tante Burcu und lächelte mir zu, ehe sie weiterweinte und wie immer von Onkel Ugur redete, der in Izmir eine neue Frau liebte.

Ganz deutlich sah ich Aviva tanzen. Tanzen und lachen und Spaß haben.

Sercan und ich.

Sercan heißt Geliebter, der Geliebte.

Der Geliebte und der Schmetterling.

Nach uns kamen keine Kinder mehr.

Es gab nur uns, Sercan und mich.

Sercan Aydirmir. Und Kelebek Aydirmir.

Die anderen Kinder gingen verloren, immer wieder.

Unsere Mutter verlor sie. Diese Kinder waren wie Geister, da und doch nicht da, herbeigesehnt und dennoch Furcht einflößend. Sie raubten meiner Mutter die Kraft und ließen sie vorzeitig altern.

Immer noch steckte sie sich morgens Jasminblüten in den Büstenhalter. Abends, wenn sie sich dann zum Schlafen fertig machte, fielen die verwelkten Blüten von ihren Brüsten.

Wie oft habe ich das gesehen? Viele Male.

Was morgens schön aussah, sah abends so traurig und trostlos aus.

Meine Mutter genierte sich nicht vor mir. Aber eines Tages begann sie, sich vor den Menschen außerhalb zu verhüllen.

„Ich bin eine gläubige Muslimin“, erklärte sie uns. „Allah möchte, dass ich mich verhülle.“

Damals war ich acht oder neun. Und von da an ging sie nie mehr ohne ihr Kopftuch aus dem Haus. Sie betete viel.

Sie wollte weitere Kinder.

Sie wollte Sercan und mich in Sicherheit wissen.

Sie wollte glücklich sein.

Mein eigenes erstes Kopftuch? In dem Sommer, nachdem ich meine erste Regel bekam.

„Warum?“, fragte ich meine Mutter.

„Es soll dich beschützen“, sagte meine Mutter, band es mir eigenhändig um und nahm mich anschließend fest in die Arme, Jasminblütenduft umhüllte mich.

Das Tuch war zartgrün, mit eingesponnenen, feinen Silberfäden, ich erinnere mich genau daran.

„Allah schütze dich auf allen deinen Wegen, mein Täubchen“, sagte auch Tante Ayse an diesem Abend und küsste meine Stirn.

Es fühlte sich eigenartig, ungewohnt an, ein Kopftuch zu tragen.

Aber ich gewöhnte mich daran.

„Wie siehst du denn aus?“, fragten die Mädchen in der Schule nach den großen Ferien verwundert.

Aber auch sie gewöhnten sich an meinen veränderten Anblick.

Und meine Mutter hatte recht. Die Jungen starrten mich zwar einige Tage verwundert an, aber dann ließen sie mich in Ruhe.

Und nie war ich Zielscheibe ihrer damals oft unflätigen Neckereien.

„He, Elena, Busenwunder!“

„Zoe, was kostet es, einmal mit dir …? Du weißt schon …“

„Ana, BMW! BMW! BMW!“

BMW hieß Brett mit Warze, die Jungen hatten sich das ausgedacht, um die Mädchen zu ärgern.

„Idioten!“, rief Ana ärgerlich in das Lachen der Jungen hinein und drehte ihnen den Rücken zu.

Ich aber war außen vor. Mein Kopftuch schützte mich, wie meine Mutter es gesagt hatte, ich war unsagbar erleichtert darüber.

Auf dem Rathausplatz in der Altstadt tummeln sich nun wieder die Tauben. Wo sind sie eigentlich den Winter über? Sie fliegen doch nicht in den Süden. Wo verkriechen sie sich, während es in Deutschland kalt und grau und ungemütlich ist?

Die Tauben gurren und staksen furchtlos über den gepflasterten Platz, als wäre er ihre Welt, als würde er ihnen gehören.

Sercan, die Taube!

Die tote Taube auf der Fahrt nach Istanbul.

Weißt du noch? Weißt du noch? Weißt du noch?

Nie hätten wir gedacht, dass Sterben so sein kann …

Wir haben so geweint, du und ich.

Weißt du noch? Weißt du noch? Weißt du noch?

Sercan und ich beobachteten den Himmel.

Es war der letzte Sommer, in dem wir fuhren. Ein Jahr später flogen wir zum ersten Mal.

Aber in diesem Sommer fuhren wir noch. Ich erinnere mich an Graz, an Zagreb und Sofia. Dann kam die Grenze zur Türkei.

In Gümüssuyu, nah bei Istanbul, besuchten wir immer einen Freund meines Vaters, der ebenfalls Rosen züchtete.

Er war klein und krumm wie ein Zwerg, sein Gesicht war runzelig, aber seine Rosen waren wunderschön. Wir Kinder durften bei diesen Besuchen überall spielen, es waren eine Menge anderer Kinder da, und mein Vater ging in aller Ruhe von Rose zu Rose und schaute sich alles an.

Wir tobten herum, in einem Sommer schoss Sercan versehentlich eine Fensterscheibe ein, und in einem anderen Sommer stieß ich gegen einen alten, kostbaren Samowar in der Wohnstube. Der Samowar war kaputt, aber wir bekamen keinen Ärger.

„Kann passieren, kann passieren“, sagte der Freund unseres Vaters jedes Mal gutmütig und zwinkerte uns zu. „Es sind Kinder, die kostbarsten Geschenke Allahs – gepriesen sei Er …“

Und in diesem Sommer, auf dieser letzten langen, langen Autofahrt passierte es. Unsere Mutter schlief, während unser Vater hinter dem Steuer saß und fuhr und fuhr und fuhr. Er summte leise vor sich hin, das weiß ich noch.

„Diese Wolke ist ein Bär“, sagte Sercan.

„Nein, ein Pferd“, sagte ich. „Siehst du nicht den langen Hals? Kein Bär hat so einen Hals.“

„Doch, dieser Bär schon“, sagte Sercan hartnäckig.

Da tat es einen lauten Schlag, und im nächsten Moment war die gesamte Windschutzscheibe voller Blut.

Mein Vater bremste so heftig, dass das Auto ins Schlingern kam. Die Bremsen quietschten, eine Staubwolke hüllte uns ein.

„Was war das? Was war das? Was war das?“, schrie Sercan erschrocken, er zitterte.

„Das war … ein Vogel, eine Taube“, sagte unser Vater leise. Er hatte die Hand auf den Arm unserer Mutter gelegt. Ich sah, dass seine Hand ebenfalls zitterte.

Schließlich öffneten wir unsere Türen und stiegen aus. Schweigend standen wir vor unserem Wagen. Überall war Blut, nicht nur auf der Windschutzscheibe, sondern auch auf der Motorhaube und dem Autodach. Blut und blutige Taubenfedern und merkwürdige, bluttriefende Schmiere.

„Aber wo ist die Taube geblieben?“, fragte Sercan mit dünner Stimme. „Wo ist sie hin?“

Keiner gab ihm eine Antwort. Wir schauten nur zu, wie unsere Eltern die Bescherung, so gut es eben ging, mit ein paar Papiertaschentüchern aufwischten.

Erst hinterher, als wir schon längst wieder fuhren, packte mich mein Bruder plötzlich am Arm.

„Kelebek, jetzt weiß ich es! Das Geschmiere, diese komischen Bröckchen, das war die Taube!“

Und dann fing er bitterlich an zu weinen. Ich weinte ebenfalls. Wir weinten, bis wir bei Tante Pembe ankamen und ins Bett gesteckt wurden.

„Morgen ist alles vergessen, morgen ist alles wieder gut, ihr kleinen Häschen“, sagte Tante Pembe, die älteste Schwester meines Vaters.

Aber so war es nicht.

Sercan und ich weinten noch lange um die türkische Taube, die so schrecklich gestorben war.

„Ich wusste gar nicht, dass Sterben so sein kann“, sagte Sercan immer wieder.

Seine schwarzen Augen schauten düster und verzweifelt in meine.

Wir trauerten den ganzen Sommer.

Well

If you want to sing out

sing out.

And if you want to be free

be free.

’Cause there’s a million things to be.

You know that there are.

And if you want to live high

live high.

And if you want to live low

live low.

’Cause there’s a million ways to go.

You know that there are.

You can do what you want.

The opportunity’s on.

And if you find a new way

you can do it today.

You can make it all true.

And you can make it undo

you see.

Ah

it’s easy.

Ah

you only need to know.

Well

if you want to say yes

say yes.

And if you want to say no

say no.

’Cause there’s a million ways to go.

You know that there are.

And if you want to be me

be me.

And if you want to be you

be you.

’Cause there’s a million things to do.

You know that there are.

Ich bin Aviva, und Aviva lacht. Lacht dem silbernen Jungen direkt ins Gesicht. Keine Geige, keine Mundharmonika. Nur seine Stimme. Ein ganzes Lied für eine Münze, eine Münze, die nicht mal Aviva selbst in die silberne Kappe geworfen hat, sondern eine ältere Frau in einer dunkelroten Jacke, schwarzen Hosen und hohen Schuhen.

Sie lauscht ebenfalls. Und noch ein paar andere, aber nicht viele. Aviva zählt für mich die Umstehenden.

Nur neun mit mir.

Als das Lied zu Ende ist, erstarrt die silberne Figur wieder. Heute hat sie einen silbernen Stock über der linken Schulter, einen silbernen Stock mit einem geschnürten silbernen Bündel daran.

So wie in Hänschen klein: Stock und Hut, steh’n ihm gut, ist auch wohlgemut …

Und dann ist nur noch Aviva da.

„Puh“, sagt der Junge und steigt unvermittelt vom Sockel.

„Pause …“

Aviva zuckt zusammen.

„Ich habe dich schon ein paarmal gesehen“, fügt der silberne Junge mit den hellblauen Augen hinzu. Und dann lächelt er.

Sogar seine Nasenlöcher sind innen silbern. Und das Innere, Schnörkelige seiner Ohren.

„Wie heißt du?“, fragt er.

„Aviva …“, sage ich leise.

„Aviva“, wiederholt der silberne Junge und lächelt erneut. Sein Gesicht macht kleine silberne Runzeln dabei.

Und was mache ich? Ich gehe schnell davon.

Ich schrieb eine schlechte Mathearbeit, genau wie Ana und Freya. Nur Emma schrieb eine Eins, sie schrieb immer Einsen in Mathe.

„Der Wahnsinn liegt mir einfach, keine Ahnung, warum“, sagte sie, als wir in der Pause auf der Mädchentoilette waren. Freya und Ana schminkten sich ihre Augen nach, während ich vor dem Spiegel mein neues rotes Kopftuch zurechtzupfte.

Elena, die ebenfalls in unsere Klasse ging, zündete sich eine Zigarette an.

„Der erste Zug ist immer der beste“, sagte sie und zog genüsslich.

Diese Toilette im obersten Stock war unser Pausenversteck, wenn wir keine Lust hatten, in den Hof zu gehen. Hier herauf verirrte sich nur selten jemand.

Aber an diesem Morgen kamen doch ein paar jüngere Mädchen aus der Achten. In ein Gespräch vertieft, schoben sie die quietschende Tür auf.

„Besetzt!“, riefen Elena und Freya ihnen ungehalten entgegen.

Die drei Mädchen blieben im Türrahmen stehen.

„Habt ihr nicht gehört?“, knurrte Elena, die beinebaumelnd auf dem Fensterbrett saß. „Zieht Leine, aber dalli!“

„He, wir können hier doch alle …“, sagte Ana, ganz wie sie es immer war: friedlich.

„Nein, ist schon okay“, fiel ihr eines der Mädchen mit kalter Stimme ins Wort und verzog das Gesicht. „Auf Türkentussis im Kopftuch haben wir sowieso keinen Bock!“

Und damit ließen sie die Tür laut zurück ins Schloss krachen.

„Bekloppte …“, war alles, was Elena achselzuckend dazu sagte.

mai

„Sercan …“, sagte ich leise. Sagte ich nicht.

Ich schaute ihn nur an.

In seinen Augen spiegelte sich die Sonne. Und Angst, große Angst.

Es war Frühling.

Frühling, Frühling, Frühling.

Über uns rief ein Vogel. Seine Stimme klang traurig.

Die Welt schien stillzustehen.

Sercan ist in Deutschland geboren. Genau wie unsere Eltern.

Aber die Familie meiner Mutter stammt aus Sidanya am Marmarameer. Die Familie meines Vaters aus Izmir.

Es war schön, an die Türkei zu denken. Wie bunte, glänzende Glasperlen zogen sich unsere Sommer dort durch meine Erinnerung. Ich kannte Istanbul und Izmir und Antalya und Ankara, die laute Hauptstadt der Türkei. Ich war in Pamukkale gewesen und liebte Sidanya, wo jetzt nur noch meine blinde Tante Ayse lebt, meine letzte Urgroßtante, die schon fast hundert Jahre alt ist.

Wir fuhren jeden Sommer nach Istanbul.

Ich erinnerte mich plötzlich an einen Tag am Strand. Ich war damals erst fünf oder sechs. Das Meer rauschte, und die Luft roch nach Sommer und Salz und Wasser und Sonnenschein und Fröhlichkeit. Wir machten ein großes Picknick, es gab Böreks und Köftes und eine große Karpuz, eine Wassermelone. Überall am Strand wuchsen riesige Pinienbäume. Unter ihnen pflegten wir sonntags zu picknicken. Einer meiner Onkel band für uns Kinder eine Schaukel in einen der Bäume.

„Willst du fliegen, kleiner Schmetterling?“, fragte er lachend und hob mich als Erste auf die Schaukel. Mit meinem roten Kleid flog ich durch die weiche, warme, türkische Luft.

„Ich will immer, immer, immer hierbleiben!“, rief ich meiner Mutter zu, die unser Mittagessen auftischte.

„Warum müssen wir überhaupt zurück nach Deutschland? Warum? Warum? Warum?“

Meine Mutter und die Tanten lachten. Eine Antwort gaben sie mir nicht.

Tante Pembe, die das ganze Jahr über in der Türkei lebt, heizte den Samowar und füllte kleine goldumrandete schmale Teegläser für die Erwachsenen. Wir Kinder bekamen Camlica, Zitronenbrause.

Plötzlich erhob sich die Stimme des Muezzins.

Steht auf und betet!, rief er. Sein Ruf klang schön und verlockend, und mein Großvater, der Vater meiner Mutter, erhob sich schwerfällig. Er war damals schon krank, aber das wussten wir Kinder nicht.

„Allahu Akbar …“, murmelte er und wischte sich gründlich den Sand von den Händen.

Wir Kinder waren still geworden. Wir wussten, wie gläubig unser Großvater war. Jetzt würde er zusammen mit den anderen Männern sowie meinem Bruder und meinen Cousins in die Moschee gehen.

„Komm, wir spielen weiter“, sagte meine Cousine Laila ungeduldig und griff nach meiner Hand. Ich saß immer noch auf der Schaukel, aber ich schüttelte den Kopf.

„Darf ich mit euch gehen?“, fragte ich meinen Großvater stattdessen und rutschte von der Schaukel, meine nackten Zehen versanken im warmen Sand. Ich spürte mein Herz klopfen.

Mein Großvater schaute mich an.

„Willst du nicht lieber noch ein Weilchen hier draußen bleiben und mit deinen Cousinen spielen?“, fragte er auf Türkisch. „In diesem herrlichen Sonnenschein?“

Ich schüttelte schnell den Kopf.

„Puh, nein, was für eine verrückte Idee, lass das kleine Würmchen mal besser hier bei uns“, rief da meine Tante Pembe. „Was soll das kleine, unvernünftige Ding beim Gebet? Sie ist nur ein Mädchen, und sie wird nichts als Unsinn machen und alle stören.“

Ich schwieg. Und mein Großvater? Er lächelte mir zu und nahm mich mit.

Aviva schlendert durch die Stadt, dort hinten ist das Dance Your Ass Off, da das kleine Kinocenter, eine Straßenbahn rattert vorbei. Eine kleine Stadt, eine zum Ungeduldigwerden kleine Stadt. Im Sommer kommen immer ein paar Touristen vorbei, um die Burg, das Schloss und das altertümliche Rathaus anzuschauen und ein paar Fotos zu knipsen und schwatzend in der Eisdiele zu sitzen.

Im Winter versinkt die Stadt in stiller, schläfriger Unbedeutendheit.

Frühling und Herbst sind bloß die Zeit davor und danach. Wenigstens kommt es Aviva so vor, und plötzlich ist sie ungeduldig.

Wo ist er?

Seit Tagen ist er verschwunden.

Aviva weiß nicht, was los ist mit ihr.

Ich werde diesen Tag in der Moschee niemals vergessen. Wir wuschen uns an einem kleinen Brunnen, ehe wir die kleine, dämmrige Moschee betraten. Anschließend band mir jemand, ich weiß nicht mehr wer, ein kleines Kopftuch um, dann gingen wir hinein. An der Hand meines Großvaters schaute ich mich neugierig um. Die anderen waren bereits aus ihren Schuhen geschlüpft und hatten kleine Gebetsteppiche ausgebreitet.

Sercan seufzte missmutig, er ging nicht gerne in die Moschee. Ich sah, wie seine Hand in seiner Hosentasche nach dem kleinen Computerspiel tastete, mit dem er in diesen Ferien fast immerzu spielte. Darin töteten kleine Ritter kleine Drachen.

Mein Großvater holte für mich keinen Gebetsteppich, er nahm mich einfach mit auf seinen. Überall um mich herum waren Männer jeden Alters. Und zwischen ihnen vereinzelt ein paar größere Jungen. Ich sah kein einziges Mädchen. Schüchtern senkte ich den Blick und kniete nieder. Mein Großvater betete bereits.

Was sollte ich tun? Ich hatte noch nie gebetet.

Da passierte es.

Kelebek, wie schön, dass du gekommen bist.

Ich erschrak. Wer war das, der da zu mir sprach? War jemand hinter mich getreten, und ich hatte es überhört? Ich drehte mich um, aber da war niemand.

Ich freue mich, dass du zu mir gekommen bist.

Bist du … bist du – Allah?, flüsterte ich auf Türkisch, in meinem Kopf drehte sich alles.

Ja, ich bin der aus sich selbst Lebendige, der Ewige.

Ich saß ganz still, während die Gläubigen um mich herum sich zu Boden warfen, um Allah, der hier war und mit mir sprach, ihre Demut zu zeigen. Anschließend hörte ich sie wie aus weiter Ferne um Vergebung ihrer Sünden bitten.

Ich werde von nun an immer bei dir sein und dich niemals verlassen, sagte die leise, sanfte Stimme, die überall um mich herum zu sein schien. Oder war sie tief in mir drin? Ich lauschte andächtig, während die Zeit stillstand.

Mein Großvater neben mir hatte sich aufgerichtet. Die letzte Phase des Gebetes nennt man Salam, Frieden.

Mein Großvater schaute zu meinem Vater hinüber.

„Friede sei mit euch und Allahs Erbarmen“, sagte er, und dann musste er husten, so sehr, dass mein Vater und einer meiner Onkel ihn stützen und ihm aufhelfen mussten.

Mein Großvater hustete den ganzen Heimweg über, und noch vor unserer Heimreise nach Deutschland starb er.

Er starb an einem heißen Augustabend. Es war eine Sommernacht, die so schwül war, dass sogar die Motten zu Boden taumelten, so schwer lastete die feuchte Hitze auf ihren Flügeln.

Alle hatten sich in der engen Wohnstube versammelt, nur Sercan und mich hatten sie ins Bett geschickt. Aber dort blieben wir nicht, die Unruhe im Haus trieb uns aus den Betten, und wir schlüpften auf den Flur und setzten uns auf die oberste Treppenstufe, von wo aus man alles hören konnte, was unten vor sich ging.

„Sie weinen“, stellte Sercan flüsternd fest.

Da weinten wir auch, Hand in Hand und sehr leise.

Du brauchst nicht traurig zu sein, kleine Kelebek, sagte Allahs Stimme, die auf einmal wieder da war. Wie an dem sonnigen, warmen Nachmittag in der Moschee.

Dein Großvater ist jetzt bei mir, es geht ihm gut, und er ist glücklich.

„Wir brauchen nicht traurig zu sein, Sercan“, sagte ich leise zu meinem Bruder, um ihn ebenfalls zu trösten.

„Aber er ist doch gestorben“, flüsterte Sercan.

Ich nickte, und dann schlichen wir uns nebeneinander vorsichtig in das kleine Schlafzimmer unserer Großeltern, in dem unser gestorbener Großvater immer noch in seinem Bett lag.

Der Mond schien zum Fenster herein, und eine Kerze brannte, und ein paar Fliegen brummten am Fenster hin und her.

Die ganze Zeit über war immer jemand hier gewesen, aber jetzt waren alle draußen.

Wir waren alleine mit unserem toten Großvater.

„Er lächelt“, stellte Sercan schließlich fest.

„Ja, er lächelt“, sagte ich.

„Meinst du, wir dürfen ihn anfassen?“, fragte Sercan.

Ich zögerte.

Ja, ihr dürft ihn ruhig anfassen, sagte Allah sanft.

Da schob ich behutsam meine Hand in die Hand meines Großvaters. Sie war kühl und rührte sich nicht. Die runzeligen, alten Finger fühlten sich merkwürdig steif an.

„Ich streichele mal seine Wange“, überlegte Sercan und fuhr im nächsten Moment mit seinem Zeigefinger über das blasse, eingefallene Gesicht unseres Großvaters.

„Hier durfte ich immer hüpfen, wenn ich wollte“, fuhr er anschließend nachdenklich fort. „Sogar wenn unser Büyükbaba sein Mittagsschläfchen gemacht hat. Es hat ihn nicht gestört, er fand es sogar lustig und hat gelacht …“

Sercan schaute mich an. „Glaubst du, es stört ihn, wenn ich noch einmal neben ihm hüpfe, Kelebek?“, fragte er leise. Seine dunklen Augen mit den langen Wimpern hingen bittend an meinen.

Nein, jeder darf auf seine Weise Abschied nehmen, sagte Allah.

Hatte Sercan es auch gehört? Denn ohne eine Antwort von mir abzuwarten, kletterte er auf das altmodische, hohe Bett und begann, darauf zu springen, als wäre es ein Trampolin. Das Bett quietschte und ächzte, und ein Kissen fiel zur Erde.

In diesem Moment ging die Zimmertür auf.

„Sercan! Kelebek!“, rief mein Vater aufgebracht. Einen Augenblick lang war er sprachlos, aber dann nahm er uns fest in die Arme.

Ärger bekamen wir nicht.

Kurz danach war der Sommer zu Ende.

Er ist definitiv nicht mehr da, und die Stadt ist leer ohne ihn. Noch leerer als sonst.

Ana wartet jeden Morgen auf mich. Sie steht da, an die Hauswand gelehnt, die Augen geschlossen, in den Ohren die Ohrstöpsel ihres iPods. Leise singt sie die Lieder mit, die sie hört. Sie hat über tausend Lieder gespeichert, sie kann alles hören.

Heute Morgen hört sie Cat Stevens, sie gibt mir einen Ohrstöpsel ab, nachdem wir uns zur Begrüßung geküsst haben, einen Kuss auf den Mund und je einen auf die Wangen.

„Alle seine Songs“, erklärt sie mir, während wir losgehen, und lächelt mir zu. „Habe sie zuerst von den CDs meiner Mutter auf meinen Computer kopiert und dann auf den iPod gespielt. Am besten gefällt mir Wild World.“

Wir steigen in den Bus, und manchmal stellen wir uns vor, wie es wäre, einfach woandershin zu fahren. Die Welt zu erkunden.

„In die Türkei“, schlage ich vor.

„Nach Amsterdam“, schlägt Ana vor.

„Da kannst du ja gleich nach Chicago fahren“, sage ich. „In Amsterdam wimmelt es nur so von Kriminellen.“

„Wer sagt das?“, fragt Ana.

Ich zucke mit den Achseln. „Das weiß doch jeder. Außerdem hat Sercan mir neulich erzählt, dass dort …“

„Sercan, natürlich!“, fällt mir Ana ins Wort und zieht eine Augenbraue hoch. „Mann, Kelebek, echt …“

„Was?“, frage ich.

Ana schaut mich an, schaut mir ins Gesicht, schaut mein Kopftuch an, seufzt und winkt ab.

„Schon gut.“

Dann sind wir da.

„Sein Name ist übrigens Yusuf Islam“, sagt Ana in das Klingeln der Schulglocke hinein. Wir gehen nebeneinander über den Hof. Hinten, beim Pavillon, warten Freya, Emma und Elena.

„Wessen Name?“, frage ich verwirrt.

„Cat Stevens’“, sagt Ana, mehr nicht.

Wir haben Kunst. Ich bin nicht gut in Mathe, Physik und Chemie. Auch mit Biologie habe ich in diesem Schuljahr Probleme. Ich mag Sprachen und Geschichte und Musik und Deutsch und Kunst.

Kunst ist am besten.

„Ich kann dir eigentlich gar nichts beibringen, Kelebek“, hat Frau Nehemias, unsere Kunstlehrerin, einmal gesagt.

„Das verstehe ich nicht“, antwortete ich.

Frau Nehemias lächelte. Sie ist lesbisch, das weiß die ganze Schule und die ganze Stadt, sie hat eine Frau, mit der sie seit über zwanzig Jahren zusammen ist und die sie jeden Tag von der Schule abholt.

„Alles ist schon in dir, Kelebek“, sagte Frau Nehemias zu mir. „Du solltest eigentlich den ganzen Tag nur malen und malen und malen. In dir sind so viele Bilder, die hinauswollen. Lass dich nie verbiegen, versprich mir das, Kelebek.“

Ich nickte und versprach es, ohne genau zu wissen, was eigentlich, und war verwirrt und verlegen.

Ich liebe auch die Geschichte der Kunst; Picasso, van Gogh, Monet, Klimt, Kokoschka, Hundertwasser.

Aber am liebsten male ich.