Verrückt vor Angst - Jana Frey - E-Book

Verrückt vor Angst E-Book

Jana Frey

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Beschreibung

Eigentlich sehnt Nora sich nach Spaß und Verliebtsein und Pläneschmieden. Doch sie hat Angst. Die Angst schleicht sich in ihr Leben und lässt sie nicht mehr los. Immer häufiger werden ihre Panikattacken, bis Nora den Kampf aufgibt. Erst, als es fast zu spät ist, findet sie einen Weg aus ihrer Verzweiflung und schöpft neue Hoffnung.

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Adressen

Für Nora

Prolog

Toter Mann, sag,

wie geht das Sterben an?

Tut es weh

oder ist es angenehm?

Geht man fort

oder kommt man

nach einer langen Reise an?

Toter Mann,

warum fürchte ich mich dann?

(Klaus Hoffmann)

Nora ist heute siebzehn Jahre alt, und zu unserem ersten Treffen bringt sie ihren Hund mit. Wir fahren in den Stadtwald und machen dort einen langen Spaziergang. Nora scheint sich in diesem Wald gut auszukennen, denn obwohl wir kreuz und quer durchs Dickicht stapfen, verliert sie nie die Orientierung. Wir laufen und laufen und laufen, und ich komme kaum hinterher, denn Nora macht Riesenschritte. Noch nie bin ich derartig schnell durch einen Wald gestürmt.

Nora hat im vergangenen Jahr sechs Monate in einer Jugendpsychiatrie gelebt.

Sie hat eine schwere Zeit hinter sich, auch wenn man sich das heute kaum vorstellen kann. Sie lacht und ist ein bisschen überdreht, und ihre Geschichte sprudelt nur so aus ihr heraus. Ängstlich wirkt sie überhaupt nicht, dabei ist ihr größtes Problem ihre schreckliche Angst.

In den darauf folgenden Wochen treffen wir uns öfter, reden sehr viel miteinander, in Noras Wohnung, bei ihrem Lieblingsitaliener und immer wieder im Wald. Wenn sie erzählt, kommt es mir so vor, als erzähle sie die Geschichte einer anderen Person, und doch war sie es, die das Leben nicht mehr ertrug und deren Ängste sie schließlich so weit trieben, dass sie versuchte, sich das Leben zu nehmen.

„Ich hasse den Tod. Ich hasse den Tod wirklich. Oft wünsche ich mir, ich wäre nie geboren worden, denn dann müsste ich nicht eines Tages sterben.

Rolli ist gestorben. Er war mein Meerschweinchen. Ticktack ist gestorben. Er war mein Hund. Tante Fiona in Amerika ist gestorben. Meine beiden Omas sind gestorben. Mein Onkel Severin ist gestorben, dabei war er erst dreißig Jahre alt.

Und Lea ist gestorben.

1

Es war März, und der Winter ging zu Ende, so wie er es jedes Jahr irgendwann tut. Ich saß auf meiner Fensterbank und sah nach draußen in den Himmel, sah zu, wie langsam die Sonne aufging. Allerdings ging sie irgendwo hinter den letzten Winterwolken auf. Direkt sehen konnte man sie nicht, aber die Wolken leuchteten sehr hell, so hell, dass man fast die Augen zusammenkneifen musste. Und die Luft roch nach Frühling, sogar die Luft in meinem Zimmer.

Ich habe den Winter viel lieber als den Frühling. Ich mag es, wenn die Bäume kahl sind, ich finde sie so am schönsten. Sie sehen dann sehr verletzlich und zart aus. Ich habe es gerne, wenn man sich jeden einzelnen Zweig anschauen kann, bis hin zum allerkleinsten. Ich mag auch die Luft im Winter. Ich liebe es, wenn es kalt ist. Am besten ist es natürlich, wenn Schnee liegt, weil der Schnee die Welt leise und friedlich und überschaubar macht. Aber auch ohne Schnee ist der Winter die beste Jahreszeit. Ich mag eisigen Regen und kalte, nasse Luft. Und ich finde matschige Wiesen und düsteren Nebel und Warmangezogensein schön.

„Du bist ja verrückt“, sagt meine Freundin Verena jeden Sommer, wenn ich mich bereits auf den nächsten Winter freue. Verena und ich sind schon seit vielen Jahren befreundet, und ich bin immer wieder überrascht darüber, dass sie mich tatsächlich mag, obwohl wir so unterschiedlich sind und eigentlich gar nicht zusammenpassen.

Eigentlich passe ich nirgends so richtig hin, und ich glaube, es liegt daran, dass ich fast nie richtig fröhlich bin. Ich fühle mich immer ernst und ein bisschen unwirklich, und ich bin gerne alleine.

Meine Mutter hat eine kleine Buchhandlung, in der sie den ganzen Tag steht und Bücher verkauft. Wenn sie ausnahmsweise einmal nicht in ihrem Laden ist, dann ist sie meistens im Bürgerzentrum oder im Institut für politische Bildung. Sie liebt es, unter Menschen zu sein, und hat immerzu tausend Ideen im Kopf. Sie engagiert sich gegen rechte Gewalt und hat ein Elternhaus für krebskranke Kinder mitgegründet. Solange ich zurückdenken kann, ist es so gewesen, und als ich klein war, nahm sie mich überall dorthin mit.

Mein Vater ist Architekt. Er hat ein Büro in der Stadt, in dem er von morgens bis abends sitzt und Häuser und Kaufhäuser und moderne Bürokomplexe entwirft. Früher gehörte das Büro nicht nur meinem Vater, sondern auch seinem jüngeren Bruder Severin, und darum steht auf dem Firmenschild auch immer noch „Architekturbüro Michael & Severin Esslin“. Aber mein Onkel ist seit vier Jahren tot. Das Schild ist trotzdem hängen geblieben. Und an der Magnetwand neben dem großen Konstruktionscomputer, an dem er früher immer gesessen hat, hängen sogar noch ein paar eilig hingekritzelte Notizzettel in seiner Handschrift. Keiner hat sie abgehängt, weder mein Vater noch seine Sekretärin noch der neue Angestellte, den mein Vater nach Severins Tod eingestellt hat und der jetzt an Severins Computer neben der Magnetwand sitzt. Ich glaube, mein Vater will die ganze Geschichte immer noch nicht wahrhaben. Oder er will sie vergessen.

Es ging alles sehr schnell damals. Mein lustiger, vergnügter Onkel fühlte sich plötzlich abgespannt und müde. Dabei war er immer kerngesund gewesen. Jeden Abend nach Büroschluss zog er sich seine Joggingsachen an und machte einen langen Lauf durch den Park. Ein paar Mal war er sogar beim Stadtmarathon mitgelaufen.

„Ich glaube, ich werde alt“, sagte Severin damals, als er nach einem Lauf bei uns vorbeischaute und sich mit einem Handtuch seine verschwitzten Haare trockenrubbelte. „Meine Kondition lässt in den letzten Tagen wirklich sehr zu wünschen übrig.“

Mein Vater lachte. „Das ist die Krise, die alle mit dreißig durchmachen“, sagte er und warf meinem Onkel gut gelaunt einen Apfel zu. Ich kann mich noch genau daran erinnern. „Da, iss mal ein paar Vitamine, du Greis“, sagte er.

Es war der letzte Besuch meines Onkels bei uns. Und es war auch sein letzter Lauf durch den Stadtpark, denn am nächsten Morgen wurde er beim Aufstehen ohnmächtig und kam ins Krankenhaus. Zwei Wochen später war er tot.

Bis heute kann ich nicht daran zurückdenken, ohne dass mir schwindelig wird vor Entsetzen.

„Es war Krebs“, erklärten meine Eltern allen Freunden und Bekannten und Nachbarn. „Ein Gehirntumor, ganz tief im Kopf.“

Ich werde diese Worte nie vergessen. Sie sind auch ganz tief in meinem Kopf. Damals habe ich mich immer wieder vor den Spiegel gestellt und mir mein Gesicht und meinen Kopf betrachtet. Wie oft hatte ich gehört, dass ich weder meiner Mutter noch meinem Vater ähnlich sehe, dafür aber meinem Onkel wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Die gleichen grüngrau gesprenkelten Augen, die gleiche sommersprossige Nase und die gleichen Haare. Ich schaute mich besorgt an. Vielleicht ging die Ähnlichkeit noch weiter. Vielleicht hatte ich ja auch einen Tumor tief in meinem Kopf, an dem ich sterben würde. Ich war zwölf damals, und ich wurde fast verrückt vor Angst. Tagelang zitterte ich von Kopf bis Fuß. Ich zitterte, und ich biss die Zähne fest aufeinander, denn wenn ich das nicht tat, schlugen sie laut klappernd aufeinander wie bei einem Menschen, der entsetzlich friert.

„Nora, was ist denn?“, fragte mich meine Mutter besorgt.

„Nichts …“, murmelte ich und schlich mich in mein Zimmer.

Abends kam mein Vater zu mir.

„Nora, was ist los mit dir? Ist es wegen Severin?“

Ich zuckte mit den Achseln und dachte an das, was in Severins Kopf passiert war. Ich horchte in mich hinein, und mir wurde eisig vor Angst.

„Mein Kopf fühlt sich so komisch an in den letzten Tagen“, flüsterte ich der Zimmerwand zu. „Vielleicht habe ich ja auch …“

„Unsinn“, sagte mein Vater und legte seinen Arm um meine Schulter. „Du hast gar nichts.“

„Aber vielleicht doch?“, murmelte ich verzweifelt, schloss die Augen und biss die Zähne wieder fest zusammen.

Mein Vater saß noch lange an meinem Bett und sagte mir wieder und wieder, dass ich ganz und gar gesund sei und mein Kopf in Ordnung und dass mir nichts passieren würde. Irgendwann schlief ich erschöpft ein, und als ich mitten in der Nacht aufwachte, war mein Vater schlafen gegangen, und mein Zimmer still und leer und dunkel.

Benommen lag ich da und horchte in mich hinein. Mein Kopf fühlte sich schwer an, merkwürdig schwer. Vorsichtig richtete ich mich auf und stieg aus dem Bett. Ich stand in meinem dunklen Zimmer und versuchte herauszufinden, ob ich nun auch ohnmächtig werden würde wie mein Onkel, als er morgens aus seinem Bett aufgestanden war.

In meinem Kopf rauschte es beunruhigend, und ich spürte meinen Herzschlag bis in den Hals hinein. Und wieder begannen meine Zähne, klappernd aufeinanderzuschlagen. Ich stolperte bis zu meinem kleinen Dachfenster und lehnte meine Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. Ob ich ebenfalls starb? Ich fühlte mich so unwirklich, so schwindelig und zittrig. Fühlte sich Sterben so an? Wie spät es wohl war? Neben meinem Bett stand mein kleiner Radiowecker, aber ich konnte meine Beine nicht dazu bringen, den kurzen Weg zurückzulegen. Verzweifelt klammerte ich mich an das Fensterbrett. So blieb ich lange, lange stehen. Und als ich morgens aufwachte, lag ich zusammengerollt vor dem Fenster auf dem Teppich. Erleichtert richtete ich mich auf und fühlte mich wieder lebendig.

Und immer war da Lea. Ein Schatten über meinem Leben und vor meinem Leben. Schon lange, bevor das mit meinem Onkel geschah.

Meine Mutter sagte oft, im Grunde sei ich Lea.

Und mein Vater sagte gar nichts dazu. Er schwieg, wenn Leas Name fiel, und presste höchstens die Zähne fest aufeinander, wie ich es nach Onkel Severins Tod getan hatte. Vielleicht tat er es einfach so, vielleicht aber auch, um seine Zähne daran zu hindern, laut zu klappern vor Traurigkeit.

Lea hat nicht viel hinterlassen. Ein Foto von ihr hängt in unserer Küche und daneben ein kleines Paar Babyschuhe an einem kleinen Nagel.

Meine Freundin Verena schaut das Bild manchmal an, im Gegensatz zu mir, ich habe mir Leas Babygesicht noch nie richtig gründlich aus der Nähe angesehen.

Meine Oma, die letztes Jahr auf Mallorca gestorben ist, kam jedes Jahr an Leas Todestag nach Deutschland, um ihr Grab zu besuchen. Sie sagte dann: „Ich besuche Lea …“, aber natürlich ging sie nur zum städtischen Friedhof, stellte sich vor dieses winzige Babygrab und schaute das kleine Holzkreuz an, auf dem Leas Geburts- und Sterbedatum steht und sonst nichts.

„Ich werde diesen Moment nie vergessen“, sagte sie oft und meinte damit den Moment, als Lea starb. Denn dieser Moment ist ihr Moment gewesen. Mein Vater, der tagelang und wochenlang und monatelang an Leas Bett gesessen hatte, war an diesem Tag durch meine Ankunft verhindert gewesen. Zumindest glaubten meine Eltern das, denn meine Mutter war schwanger mit mir und hatte Wehen. Also rief mein Vater seine Mutter an und bat sie, sich an Leas Krankenhausgitterbett zu setzen, solange er meiner Mutter auf der Entbindungsstation zur Seite stehen müsse.

Und dann war es aber so, dass meine knapp einjährige Schwester genau in dieser Nacht starb, während ich doch noch nicht geboren wurde, sondern erst ganze drei Tage später.

Lea war mit einem schweren Herzfehler zur Welt gekommen und nach einer langen und komplizierten Herzoperation an einer Lungenentzündung gestorben.

Ich war da, und Lea war fort, und meine Mutter sagte, ich sei die wiedergeborene Lea, und mein Vater sagte gar nichts dazu, sondern litt still darunter, dass er nicht bei Lea gewesen war, als sie starb.

Ich wollte nicht an Lea denken, und ich wollte nicht die wiedergeborene Lea sein, und ich wollte nicht schuld daran sein, dass mein Vater nicht bei ihr war, als sie starb. Ich wollte kein Geburtsdatum haben, das so nah am Sterbedatum meiner mir unbekannten Schwester war.

Ich wünschte mir jahrelang, Lea hätte nie existiert.

Ich wollte mit dem Tod nichts zu tun haben.

Ich hasste den Tod.

2

Ich heiße Nora Esslin. Nora Leanne Esslin. Leanne haben sie mich genannt, weil Leanne ähnlich klingt wie Lea, aber doch nicht ganz gleich. Meine Mutter hat das so gewollt damals.

„Du warst Lea ganz ähnlich als Baby“, meinte meine Mutter oft.

Mein Vater sagt, das ist Unsinn, denn Lea sei das dünnste und blasseste Baby gewesen, das er jemals gesehen hätte. Außerdem hätte sie immer blaue Lippen gehabt und war leise und verschlafen.

„Und du warst dick und rund und laut und stämmig“, hat mein Vater gesagt. „Und außerdem das vergnügteste Baby der Welt.“

„Aber ihre Augen waren wie Leas Augen“, sagt meine Mutter in solchen Momenten stur.

Auch meine Oma hat mir immer erzählt, was für ein süßes, sonniges Baby ich gewesen sei. „Alle Leute hast du angelacht, und geweint hast du so gut wie nie. Ein richtiger Sonnenschein bist du damals gewesen. Und ein Trost für uns alle nach der schrecklichen Geschichte mit Lea.“

Ich saß immer noch an meinem Fenster und sah in den frühlingshellen Himmel hinauf. So zu sitzen und bewegungslos hinauszusehen, war schön. Ab und zu flog ein Vogel vorüber, dem ich nachschauen konnte, bis er hinter irgendeinem Baum oder Strauch verschwand.

Ewig konnte ich so sitzen und in meinen Erinnerungen kramen. Hunderte davon stapelten sich in meinem Kopf.

In der hintersten Ecke unseres Gartens, von hier oben nicht zu sehen, liegt mein Meerschweinchen Rolli begraben. Onkel Severin hatte ihn mir zu meinem ersten Schultag geschenkt. Er hatte ihn tatsächlich in eine kleine Pappschultüte gesetzt, auf ein kleines Knäuel Zeitungspapier und mit einer Mohrrübe zum Zeitvertreib.

Bis zum Abend bauten Onkel Severin und mein Vater an einem Meerschweinchenstall für den Garten. Sie benutzten dazu sämtliche alten Holzlatten und verstaubten Bretter, die sie in unserem Keller auftreiben konnten, und weil das immer noch nicht genug war, zerlegte mein Vater schließlich heimlich einen unserer wackeligen Gartenstühle und baute daraus blitzschnell ein Meerschweinchenstalldach, ehe meine Mutter noch begriffen hatte, was hier geschah.

Die Ruine dieses wackeligen Stalles steht heute noch in unserem Garten, obwohl Rolli schon viele Jahre nicht mehr am Leben ist. Sein Grab ist gleich daneben, und früher stand dort auch ein kleines Kreuz, das Onkel Severin zusammengenagelt hatte. Aber das ist natürlich längst verwittert und kaputt. Wie merkwürdig, dass ich mich immer so gut an den Tod erinnern kann. Die Zeit mit meinem lebendigen Meerschweinchen ist mir dagegen nur undeutlich in Erinnerung. Ich weiß noch, wie weich Rollis schwarzes Fell war und dass er einen einzigen kleinen weißen Fleck an seiner rechten Hinterpfote gehabt hat. Aber an mehr erinnere ich mich nicht. Nur an den Tag, an dem er starb. Er hatte einen kleinen Nagel gefressen und war verblutet. Ich weiß noch genau, wie ich ihn fand. Er sah aus, als ob er schliefe. Er lag einfach ganz friedlich auf der Seite und rührte sich nicht. Aber dann bemerkte ich, dass auf seinem kleinen Meerschweinchenmaul ein bisschen getrocknetes Blut klebte. Ich erinnere mich genau, wie ich ganz starr wurde vor Entsetzen und wie ich ins Haus rannte und meinen Vater holte. Und mein Vater entdeckte dann den Nagel. Er steckte immer noch irgendwo hinten in Rollis winzigem Mund. Aus weiter, sicherer Ferne schaute ich zu, wie mein Vater Rolli in einen Schuhkarton legte und anschließend das kleine Grab für ihn aushob, gleich neben dem Meerschweinchenstall.

„Möchtest du vielleicht ein neues Meerschweinchen?“, fragte mich meine Mutter am Abend, aber ich schüttelte den Kopf und redete nie wieder von Rolli.

„Nora, komm runter, Verena ist schon da!“, hörte ich in diesem Moment die Stimme meiner Mutter. Eilig verdrängte ich meine Erinnerung an das tote Meerschweinchen. Vage schaute ich zu einer anderen dämmrigen Stelle unseres Gartens hinunter. Dort lag Ticktack begraben.

Gleich darauf steckte meine beste Freundin ihren Kopf zur Tür herein.

„Na, grübelst du wieder mal?“, fragte sie kopfschüttelnd. „Und das schon so früh am Morgen. Hast du vergessen, dass wir heute eine Matheklausur schreiben?“

Das hatte ich tatsächlich vergessen.

„Immer dasselbe mit dir“, sagte Verena und warf mir meine Schultasche zu. „Los, beeile dich, sonst kommen wir nicht nur ein bisschen, sondern richtig zu spät …“

Unten in der Küche saß meine Mutter am Frühstückstisch.

„Ich habe bestimmt zehnmal nach dir gerufen“, knurrte sie mir entgegen.

„Tut mir leid“, murmelte ich und trank einen Schluck Mineralwasser aus der Flasche.

„Kein Frühstück?“, fragte meine Mutter und machte ihr So-beginnt-man-aber-keinen-Tag-Gesicht.

„Keine Zeit“, sagte ich.

„Warum die plötzliche Hetze?“, erkundigte sich meine frühstückende Mutter.

„Matheklausur in der ersten Stunde“, sagte ich seufzend und packte mir zwei Äpfel für die großen Pausen in die Tasche.

„Und mal wieder null Komma gar nichts dafür gelernt“, murmelte meine Mutter kummervoll. „Hast du wenigstens ein bisschen gebüffelt, Verena?“

Verena zuckte mit den Achseln. „Bei mir ist jede Lernerei für die Katz“, erklärte sie und nahm einen Schluck Tee aus der Tasse meiner Mutter. „Das ganze Haus voller Irrer. Tausend Leute zwischen zwei und zwanzig auf einem Haufen – der helle Wahnsinn. Da kann man sich nicht mal das kleine Einmaleins merken.“

Sie schwieg einen Augenblick. „Es ist wirklich die Hölle“, fuhr sie dann fort. „Warum meine Eltern auf dem Trip waren, rund um mich herum noch fünf andere Kinder produzieren zu müssen, werde ich wahrscheinlich nie begreifen. Sei froh, dass du keine Geschwister hast, Nora.“

Ich zuckte zusammen und schaute zu Leas Minifotografie hinüber. Armes, dünnes, totes Baby, dachte ich. Dann warf ich einen kurzen, vorsichtigen Blick auf meine Mutter. Sie war bei Verenas Worten nicht zusammengezuckt, und sie hatte sich auch nicht nach Leas Bild umgeschaut. Stattdessen belegte sie sich ein neues Knäckebrot. Meine Mutter hat eine Brotbelegleidenschaft. Nie würde sie ein Brot einfach nur mit Butter bestreichen und anschließend eine öde Scheibe Käse darauf plumpsen lassen. Nein, sie schmückt ihre Brote wie andere Leute ihren Weihnachtsbaum, ehe sie sie verspeist. Sie rollt Salamischeiben und tupft Senftupfer und steckt Petersiliensträußchen und streut Sesamkörnerinseln und baut Wäldchen aus Sojasprossen, ehe sie auch nur einen Bissen abbeißt.

Verena und ich gingen in die Diele.

„Bei mir wird es heute Abend übrigens spät“, rief meine Mutter mir hinterher. „Ich habe nämlich eine interessante Lesung von einem Überlebenden des Holocaust in meinem Laden.“

Ich schlüpfte in meine Jacke.

„Wenn ihr Lust habt, könnt ihr auch kommen. Es gibt ein vegetarisches Büfett und …“

„Jaja“, unterbrach ich sie ungeduldig. „Wir müssen jetzt los. Tschüss, Mama.“

Ich zog Verena hinter mir her, und wir gingen schweigend die Straße hinunter. Verena warf einen prüfenden Blick auf ihre Uhr. „Wir sind schon ein bisschen später als ein bisschen zu spät“, erklärte sie seufzend. „Los, am besten, wir joggen …“

Verena rannte los. Ich ging langsam hinter ihr her. Die Bäume am Straßenrand hatten schon dicke hellgrüne Knospen. Schön sah das aus. Trotzdem beunruhigte mich ihr Anblick. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. Bloß nicht an den kommenden Frühling denken. Denn die Blumen im Frühling machten mir Angst. Es war jedes Jahr dasselbe, mal schlimmer und mal etwas weniger schlimm. Der April war der gefährlichste Monat. Die vielen Tulpen in allen Farben, die Osterglocken in ihrem blendenden Gelb und dazu die noch viel gelberen Forsythiensträucher in allen Gärten und an den Hecken und in sämtlichen Parks, sie machten mir Angst.

„Nun trödle doch nicht so elendig!“, rief Verena und winkte mir von Weitem ungeduldig zu.

Ich blieb stehen und holte tief Luft. Jetzt nur nicht nervös werden. Erstens blühten noch keine Blumen, höchstens ein paar vereinzelte Krokusse und Schneeglöckchen, und zweitens hatten wir es eilig, weil der Mathe-Werner sehr grantig werden konnte, wenn man sich mehr als ein bisschen in seinen Stunden verspätete.

Ich rannte los. Verena rannte auch schon wieder. Fast sofort bekam ich Seitenstechen. Ich erinnerte mich an meinen Onkel, der mich früher ein paar Mal mit zum Joggen genommen hatte und der mir erklärt hatte, dass man gleichmäßig laufen und ruhig atmen müsse. Er hatte mich an die Hand genommen, und wir waren gelaufen und gelaufen und gelaufen. Damals hatte ich auch Seitenstechen bekommen, aber erst viel später und nicht schon nach ein paar läppischen Schritten. Wer weiß, was los war mit mir? Und jetzt wurde mir auch schon wieder so merkwürdig schwindelig …

Ich biss die Zähne zusammen, verdammt, was war nur los mit mir? Das war doch nicht normal.

„Nora, du Schlappschwanz“, rief Verena. „Los, rein in die Höhle des Löwen …“

Verena stand schon vor dem Schulgebäude. Ich blinzelte mit zusammengekniffenen Augen, weil sich mir alles drehte, die Straße neigte sich, und die Schule dümpelte unscharf hin und her. Ich dachte an Severins Krankheit, an den still in seinem Kopf herangewachsenen Tod, und mir wurde übel.

Trotzdem lief ich weiter.

„Mensch, was hast du denn?“, fragte mich Verena, als ich sie endlich erreicht hatte. Ich lehnte mich zitternd an die Mauer.

„Nur mein Kreislauf, glaube ich …“, murmelte ich. „Das habe ich manchmal.“

Verena sah mich mit gerunzelter Stirn an. Aber sie sagte nichts, und dann liefen wir nebeneinander in die Schule hinein.

Mathe-Werner empfing uns ungnädig, wie wir es erwartet hatten.

„Die verehrten Damen sind leider fast zwanzig Minuten zu spät“, sagte er gereizt. „Das heißt für euch, ihr habt ärgerlicherweise zwanzig Minuten weniger Zeit, mit Spickzetteln und Abschreiben euer mangelndes Wissen zu vertuschen.“

Er drückte uns unsere Arbeitsblätter in die Hand und setzte sich dann zurück auf das Klassenfensterbrett. Der Mathe-Werner hatte, obwohl ich ihn verabscheute, die gleiche Leidenschaft wie ich. Sooft es ging, saß er am Fenster und schaute hinaus.

Ich ging langsam zu meinem Platz. Jakob sah hoch, als ich mich neben ihn setzte. Dann lächelte er und schob sein Heft näher an meines, zum Zeichen, dass ich mich seines Wissens bedienen dürfe, so wie immer.

Ich lächelte schwach zurück. Jakob rechnete eilig weiter. Er war ein merkwürdiger Typ, mit grün gefärbten Haaren und schwarzen Lederhosen und schmuddeligen Sweatshirts und schweren schwarzen Stiefeln, aber dem sanftesten Lächeln, das ich kannte. Er war der beste Rechner der Klasse, und den Mathe-Werner ärgerte das, er schien der Überzeugung zu sein, jemand, der herumlief wie Jakob, müsse eigentlich strohdumm sein und schlechte Klausuren schreiben und um seine Versetzung bangen, anstatt überall die besten Noten einzusammeln, wie Jakob es seit Jahren tat.

Ich schaute mich in der Klasse um. Alle anderen hatten die Köpfe über ihre Hefte gebeugt. Es war sehr leise, angenehm leise. Ich atmete auf und schlüpfte aus meiner Jacke. So schnell meine Angst gekommen war, so schnell konnte sie auch verschwinden. Ich war dann wieder ganz und gar normal. Das Zittern tief in mir drin und das schwindelige Gefühl in meinem Kopf waren einfach weg, so als hätte es sie nie gegeben.

Ich schaute zu Verena hinüber. Verena saß neben Antonio, mit dem sie seit etwa einem Jahr – mit Unterbrechungen – zusammen war. Antonios Eltern waren Portugiesen, und er hatte ebenfalls eine Menge Geschwister, genau wie Verena.

„He, träum nicht …“, flüsterte Jakob warnend und tippte mit seinem Zeigefinger auf die erste Aufgabe.

Mechanisch griff ich nach meinem Stift und schrieb die erste Rechnung in mein Heft. Ich verstand kein Wort von dem, was ich schrieb.

„Nora, ich muss gleich umblättern“, flüsterte Jakob. „Nun leg mal einen Zahn zu …“

Jakob schob sein Heft noch ein Stück näher an meines und tat, als prüfe er seine bisherigen Ergebnisse.

„Jakob, worauf wartest du?“, fragte in diesem Moment der Mathe-Werner und schaute zu uns hinüber.

„Ich werde ja wohl noch meine eigenen Aufgaben durchlesen dürfen“, murmelte Jakob und starrte weiter in sein Heft.

„Und das werte Fräulein Esslin prüft der Einfachheit halber gleich mit“, knurrte der Mathe-Werner und verließ seinen Fensterplatz, um sich stattdessen hinter Jakob und mir in Position zu stellen. Da schloss ich mein Arbeitsheft.

Und Jakob blätterte seines seufzend um und rechnete alleine zu Ende.

Verena warf mir einen mitleidigen und dem Mathe-Werner einen wütenden Blick zu. Ich zuckte mit den Achseln und verbrachte den Rest der Stunde damit, vor mich hin zu träumen.

Ruhige, friedliche und ganz normale Träume.

Ab und zu schaute ich Jakob von der Seite an, sah die vereinzelten Sommersprossen auf seiner Nase und die grünen zotteligen Haare, die ihm fast bis in die Augen fielen, und sein angewachsenes Ohrläppchen und den Drachenohrring darin.

Jakobs Augen waren so dunkel, dass man die Pupille nicht von der Iris unterscheiden konnte, und das sah schön aus. Überhaupt war Jakob schön, und es war schön, neben ihm zu sitzen.

Am rechten Daumen hatte er eine kleine Warze, an der er manchmal knabberte, wenn er nachdachte. Früher hatte er Geige gespielt, aber seit zwei Jahren spielte er Schlagzeug in einer Band.

Ich zuckte zusammen, als es klingelte und der Mathe-Werner die Hefte einzusammeln begann.

„Das ist ja blöd gelaufen“, sagte Jakob entschuldigend und warf sein Heft, anstatt es in die fordernde Hand unseres Mathelehrers abzugeben, im hohen Bogen auf das Lehrerpult vor der großen Wandtafel.

Der Mathe-Werner machte ein böses Gesicht und zischte mir zu, dass ich bei der nächsten anstehenden Klausur ganz und gar und garantiert an einem Einzeltisch sitzen würde. Dann schritt er davon.

„Für den Fall wäre es gut, wenn du dir den Kram endlich mal von jemandem erklären lässt“, sagte Jakob nachdenklich. „Zwei verhauene Klausuren hintereinander können echt Ärger machen.“

Ich nickte.

„Und du weißt ja, ich stehe jederzeit zur Verfügung.“

Ich nickte wieder.

Und dann gingen wir hinunter in die Pause, Verena und Antonio und Jakob und ich.

Wie so oft saßen wir zu viert auf der kleinen Schulwiese, ganz hinten an der Mauer, in einem Winkel, der eingekreist war von der seitlichen Sporthallenwand, der niedrigen Schulhofmauer und einem Kranz aus stacheligen Büschen, an denen noch die knitterigen braunen Blätter vom letzten Jahr hingen.

Ich hatte mich vorsichtshalber so hingesetzt, dass ich die kleinen gelben Krokusse unter der noch kahlen Birke nicht ansehen musste. Ich lehnte an der kleinen Pausenhofmauer, und wir unterhielten uns. Wir redeten darüber, was wir mochten, das heißt, Antonio, Jakob und Verena redeten, und ich hörte ihnen zu.

„Ich mag Antonio“, sagte Verena.

„Und ich mag Verena“, sagte Antonio. „Und ich mag es, wenn ich alleine zu Hause bin.“

„Ja, das mag ich auch“, sagte Verena und seufzte. „Alleine sein ist ein wahrer, gesegneter Luxus.“

„Ich mag mein Schlagzeug“, erklärte Jakob. „Und ich mag meine Band und den Sommer in Irland.“

„Ich mag Portugal“, sagte Antonio.

„Und ich mag Disneyland“, grinste Verena. „Nicht das Disneyland in Paris, sondern das echte Disneyland in Florida.“

In Florida hatte meine Tante Fiona gelebt, und dort war sie auch gestorben, und wir waren alle hingeflogen, denn meine Mutter hatte an ihrer alten Tante sehr gehangen. Ich hatte damals so gebettelt, auch ins Disneyland zu gehen, aber meine Mutter hatte von den schlimmen Zuständen in den amerikanischen Vorstadtslums gesprochen und von Millionen verschwendeter Dollar, die für blödsinnige Vergnügungsparks ausgegeben wurden. Aus diesem Grund hatte ich in Florida nicht Disneyland, sondern bloß einen Friedhof besucht.

„Was magst du gerne, Nora?“, erkundigte sich Jakob plötzlich.

„Ich weiß nicht“, sagte ich nervös.

„Du musst doch wissen, was du magst“, sagte Antonio.

Ich zog meine Jacke enger um mich und sah in den Himmel, in den blendenden Frühlingshimmel.

„Ich mag den Winter“, sagte ich schließlich. „Ich mag es, wenn es kalt ist. Dann gehe ich gerne spazieren …“

„Alleine oder darf man dich begleiten?“, fragte Jakob, und sein Arm berührte meinen Arm.

„Ich gehe meistens alleine“, gab ich zögernd zu.

„Ja, alleine mit deinem Walkman“, fügte Verena hinzu. „Und den drehst du so auf, dass du garantiert bereits einen Hörschaden hast.“