Lass mich glücklich sein! - Jana Frey - E-Book

Lass mich glücklich sein! E-Book

Jana Frey

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Beschreibung

Lisa und Lela sind die besten Freundinnen - unzertrennlich, schon von klein auf. Doch ihre Freundschaft ist zerbrechlicher, als sie denken. Nach einem Drogenversuch mit Crystal Meth driften die beiden auseinander. Lela nimmt die Droge immer wieder, braucht das Highsein, um nicht an ihrem Leben zu verzweifeln. Lisa dagegen schafft den Absprung und findet ihre erste Liebe. Doch darf sie ihr Glück genießen, während es Lela immer schlechter geht? Diese Geschichte erzählt einfühlsam, welche Schäden der Konsum von Drogen wie Crystal Meth anrichten kann. Dabei begleiten die Leser die beiden Mädchen abwechselnd und erleben so das Was-wäre-wenn-Gefühl hautnah.

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Das Gefühl von jemandem. Jemandem, der im Raum ist. – Das fühlt … sich furchtbar an. Das ist, als ob er eine Tür aufgemacht hätte und ich krieg die nicht mehr zu.

(Lela von Puldorf)

1

Lisa

Groß. Definitiv groß. Zu groß. Und überhaupt …

„Du bist keine Mutation, Lisa“, sagt meine Mutter ärgerlich, wenn ich mal wieder vor dem Spiegel stehe und gänzlich unzufrieden mit mir selbst bin.

„Das sagst du“, antworte ich darauf immer gereizt. „1,78 m? Schuhgröße 42? So gut wie keine Oberweite? – Was denn sonst, wenn keine Mutation?“

Meine Mutter ist zart. Apart. Smart. Anders kann man sie nicht beschreiben.

Was also ist mit mir los? Wo sind meine Mutterseitengene abgeblieben?

„Du kommst eben mehr nach deinem Vater“, sagt Lela manchmal. Lela ist meine beste Freundin, schon immer. Also seit vielen, vielen Jahren jedenfalls. Ich kann mich an ein Leben ohne sie nicht erinnern.

„Na bravo“, sage ich, wenn Lela das mit meinem Vater sagt. Hallo, mein Vater? Immerhin ist er ein Mann, was Körperlänge, Schuhgröße und Busenlosigkeit plausibel macht. Außerdem ist er ein abwesender Mann, der Enge nicht erträgt, wie er es mir mal erklärt hat.

Meine Mutter sagt, das mit der Enge sei Blödsinn, mein Vater sei lediglich mit seinem „inneren Kind“ nicht in Berührung und litte an der Unfähigkeit, seine Emotionen zu verbalisieren.

Aha.

Aber meine Mutter muss es ja wissen, sie ist immerhin Paartherapeutin und hat ihre Praxis direkt bei uns im Haus. Unten. Im Erdgeschoss, das sonst zu nichts gut ist. Wenn ich nach Hause komme, muss ich mich immer sehr leise und sehr rasch nach oben schleichen, wo wir wohnen, weil ich nie genau weiß, ob sich gerade Patienten im Erdgeschoss herumtreiben oder nicht.

„Ich bin total gerne bei euch“, sagt Lela oft, wenn wir auf meiner kleinen, schäbigen, von irgendeinem Vorbesitzer dieses Hauses angebauten Dachterrasse herumfläzen. Von dort aus lauschen wir, ob wir wollen oder nicht, den Negativenergieentladungsschreien, die hin und wieder aus Cosimas Praxisraum zu uns heraufschallen. Je nachdem, in welchem Level die Hilfe suchenden Paare, die meine Mutter so aufsuchen, eben gerade stecken.

„Ja, befreit euch! – Ja, lasst es raus, lasst es raus! – Wow, so ist es gut! Jaaaaa!“, ruft meine Mutter in solchen Momenten gerne ermutigend. Die zugezogene Gardine des offenen Praxisfensters bauscht sich leicht im Wind, und Herr Buxtehude, unser versteinerter Nachbar, der in Wirklichkeit Schmidt heißt, schließt dann immer ärgerlich seine drei Fenster zur Gartenseite. Schön eins nach dem anderen. Mit einem nachdrücklichen Krachen. Er hasst Cosimas Negativenergieentladungsschreiprogramm.

Aber: „Aaaaaaahhhhhhhhhh! Aaaahhh! Aaaahhhhh!“, schreien die Paare, die im normalen Leben Ärzte, Rechtsanwälte und keine Ahnung was noch sind, gehorsam.

„Dass man so Beziehungen kittet“, murmelt Lela beeindruckt in dieses wilde Schreiinferno hinein. „Warum hat das eigentlich bei deinem Vater nicht funktioniert?“

Ich seufze, weil mir das auch sehr leidtut, und erkläre Lela zum wiederholten Mal, dass Therapeuten in ihren eigenen Familien oft nicht viel ausrichten können.

Meine Mutter hat zwar mehrere Bücher übers Eheretten geschrieben und führt auch einen sehr erfolgreichen Onlineblog zu dieser Thematik, aber in Bezug auf meinen Vater ist sie eben doch nur die verlassene, gereizte Ex-Ehefrau – und keineswegs die coole Dr.Cosima Amarell, Psychotherapeutin, wie es auf dem mattgrauen Schild neben unserer Haustür zu lesen ist.

* * *

Meine Mutter nennt mich Lisa, wie es die meisten tun. Lisa Amarell, wie es auf meiner Geburtsurkunde steht. Mein Vater hingegen nannte mich früher meistens Lissy – schon alleine um sich von meiner Mutter abzugrenzen, nehme ich mal an.

Lela nennt mich, warum auch immer, gerne Lisbeth. Hahaha, also echt.

„Das klingt total bescheuert“, sage ich manchmal und versuche, ihr das zu verbieten, aber Lela lässt sich so leicht nichts verbieten. „Die liebe Lela schleppt eine Menge aufgestaute Wut und Aggression mit sich herum“, meint meine Mutter. „Kein Wunder, bei dieser ungewöhnlichen und komplizierten Lebenskonstellation.“

Oh Mann! Manchmal wünschte ich, meine Mutter wäre einfach Friseurin oder würde in einem Supermarkt Regale einräumen.

„Warum bescheuert?“, sagt Lela achselzuckend, wenn ich versuche, ihr Lisbeth zu verbieten. „Hör doch mal: Lisbeth – Lisbeth – Lisbeth. Es kommt auf die Betonung an. Du sagst Lisbeth. Ich dagegensage Lisbeth. Hörst du den Unterschied? Mein Lisbeth gegen dein Lisbeth?“

„Quatsch, das klingt beides völlig gleich beknackt“, antworte ich.

„Weil du ein Gehör wie ein Schuhschrank hast, echt!“

Lela grinst mich an.

Sie ist fast genau drei Monate älter als ich. Sie und ihre Brüder Erik und Henri.

„Erwähn das bitte nicht in der Öffentlichkeit“, hat Lela mich früher mal gebeten. Erik und Henri sind das, was meine Mutter meint, wenn sie von Lelas komplizierter Lebenssituation spricht.

„So was Beklopptes“, stöhnt Lela, wenn das Thema doch mal darauf kommt. „Zwillinge? Okay, meinetwegen. Aber he, Drillinge? Das ist doch nur idiotisch. Idiotisch und peinlich und megabeknackt!“

Als kleines Kind war ich völlig geflasht davon. Drillinge? Hey, ich hatte vor Lela und ihren beiden irgendwie merkwürdigen Brüdern gar nicht gewusst, dass es so was überhaupt gibt.

„Besser wäre das. Also, wenn es so was gar nicht gäbe“, ist Lelas trockener Kommentar dazu. „Als wenn meine Mutter ein verdammtes Meerschweinchen wäre, das einen Haufen Babys auf einmal geworfen hat!“

* * *

Als wir zwölf waren, haben meine Mutter und ich zum ersten Mal in voller Breitseite mitbekommen, wie sehr Lela von Erik und Henri angekotzt ist. Drei komplette Tage war sie damals bereits hintereinander bei uns gewesen, weil sie irgendwie einfach keine Lust mehr hatte heimzugehen.

„Darf ich bei Lisa schlafen? – Darf ich noch mal bei Lisa schlafen? – Darf ich, äh, noch mal bei Lisa schlafen?“, hatte sie ihre Mutter dreimal in Folge am Telefon gefragt. Und gedurft und gedurft und gedurft, was kein Wunder war, wie Lela mir hinterher erklärte, da ihre Mutter eben permanent und immerzu müde und erschöpft sei. Aber dann kam am Abend des dritten Tages unverhofft ihr Vater auf dem Heimweg von seiner Arbeit bei uns vorbei, um Lela endlich mal wieder einzusammeln und mitzunehmen. Und da flippte Lela einfach aus.

„Ich will nicht!“, schrie sie. „Will nicht, will nicht, will nicht!“

„Nun mach keinen Aufstand“, sagte ihr Vater, der als Investmentbanker arbeitet.

„Nein! Kein Bock!“, brüllte Lela. „Ich bleibe hier!“

„Schrei nicht so rum!“, schnauzte ihr müder, beschlipster Erzeuger genervt zurück.

„Ich bleibe hier, verdammt!“, schrie Lela weiter und fing plötzlich an zu weinen, dass sie nicht mehr richtig weiterschreien konnte.

„Oh, zur Hölle“, knurrte ihr Vater und warf meiner Mutter nervöse Blicke zu. Er, Lelas Mutter und meine Eltern waren früher mal fast befreundet gewesen, aber das war schon lange vorbei, wie mir in diesem Moment zum ersten Mal auffiel. „Was hat sie bloß? So ist sie doch sonst nicht. Mensch, Lela! He!“

Langer Rede kurzer Sinn, meine Mutter brachte Lelas Vater an diesem Abend behutsam dazu, noch mal ohne seine Drillingstochter nach Hause zu fahren, und Lela blieb verheult bei uns.

„Danke“, sagte sie, als sie wieder reden konnte, zu meiner Mutter, und putzte sich die Nase.

„Schon okay, Lela“, antwortete meine Mutter. Dann aßen wir zu dritt irgendetwas Vegetarisches, Gesundes, wie wir es meistens am Abend tun. Also wie meine Mutter mich zwingt, es zu tun. Ich glaube, an diesem Abend waren es vegetarische Dim Sums mit gebratenen, grünen Bohnen und Knoblauchsoße.

„Warum bist du eigentlich so ausgeflippt?“, fragte Cosima etwas später, als Lela sich wieder beruhigt hatte, und reichte auch noch Fenchel mit Olivenöl herum. „Ich meine, warum genau möchtest du nicht nach Hause gehen?“

„Wegen der beiden – Schwämme, natürlich“, war Lelas knappe Antwort. „Henri und Erik saugen alles auf, was nicht niet- und nagelfest ist.“

* * *

Mein Vater heißt Jakub Amarell. Er stammt aus Tschechien. Tschechei sagt er allerdings meistens flapsig. Seine verrückte Mutter, also meine Vaterseitenoma, sagt weder Tschechien, was politisch korrekt wäre, noch Tschechei, was laut meines Geschichtslehrers so garstig ist, wie wenn man Negerzu Schwarzen sagt. Sie sagt, sie komme aus Böhmen, was wiederum völlig neben der Spur, weil veraltet, ist. Dazu zieht sie vornehm ihre ausgeleierte Augenbraue hoch und sieht irgendwie mitleiderregend aus. Sie hat jede Menge Amyloid-Plaques im Gehirn, was im Volksmund schlicht Alzheimer heißt, und sagt dauernd merkwürdige, mitleiderregende Sachen wie: „Seht mal die hübschen Puschen dort an den Bäumen!“, oder: „Ich hatte heute jede Menge Knirkse in meinem Ripplala! Es ist eine Zumutung, was man hier serviert bekommt! Gestern waren Bringse in meinem Tutut!“ Sie lebt in einem Pflegeheim in Berlin und ich sehe sie praktisch nicht mehr. Sie muss wieder Windeln tragen, seit sie vergessen hat, was Toiletten sind.

Mein Vater ist in Prag geboren und zwei Jahre älter als meine Mutter, die fünfundvierzig ist. Er ist gelernter Gitarrenbauer, arbeitet aber auch als freier Journalist und ist wirklich ständig unterwegs.

„Ruhelos“, sagt meine Mutter missbilligend.

Außerdem hat er praktisch überall auf der Welt abgelegte Freundinnen.

„Affären“, korrigiert meine Mutter und zieht ihre zum Glück noch nicht allzu ausgeleierte Augenbraue ebenfalls nach oben. Sie selbst hat, seit mein Vater endgültig bei uns ausgezogen ist, noch nie eine Affäre oder einen Freund gehabt, jedenfalls habe ich, sollte da doch mal was gewesen sein, nichts davon mitbekommen.

* * *

Lelas Eltern sind noch zusammen und manchmal beneide ich sie darum.

„Zusammen? Na ja“, sagt Lela und streichelt Portobello, meinen Hund. „Sie leben halt im selben Haus. Wenn du das zusammen nennst.“

Sie zupft Portobello, für den sie sich verantwortlich fühlt – und dazu hat sie echt jeden Grund! –, ein paar Kletten aus dem gelblichen Strubbelfell. „Aber Sex haben die beiden garantiert nicht mehr. Uhhhh, gruseliger Gedanke aber auch!“

Lela verzieht das Gesicht. Ihr Bankervater ist baumlang und sehr, sehr hager. Ihre Mutter dagegen ist klein, jetzt schon deutlich kleiner als Lela, die nach ihrem Vater kommt, und nach der viele Jahre zurückliegenden Drillingsschwangerschaft war sie rund und weich geblieben. Sie hat ein hübsches, herzförmiges, immer besorgtes, müdes Gesicht, umrahmt von weichen, rötlichen Haaren, und ich mag sie. Sie opfert sich für Erik und Henri echt auf.

„Ja, du magst sie. Du musst ja auch nicht mit ihr leben!“, schnaubt Lela gereizt.

Der Raum hängt voll Unausgesprochenem.

* * *

Mein Vater hat mir mal wieder – wie nett von ihm! – eine Postkarte von einer seiner Reisen geschickt. Aus Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.

Hahaha, also echt.

„Äh?“, macht Lela, runzelt die Stirn und dreht die Karte an der Ecke unten rechts um.

„Irgendwo in Wales“, sage ich und seufze. „Lies ruhig. Er hat’s erklärt. Irgend so ein durchgeknallter Schuster hat sich den irren Namen wohl vor zweihundert Jahren oder so ausgedacht, um das Kaff für die Welt interessanter zu machen …“

Lela grinst und liest. Sie mag meinen Vater. Schon immer. Lieber als ihren eigenen, wie sie sagt.

Hi, Lissy! Ist das nicht ein lustiges Ortsschild? Ein hier ansässiger Schuhmacher hat sich den Spaß im 19.Jhd. mal ausgedacht, um die Eisenbahngesellschaft dazu zu bewegen, an der Hauptstrecke London-Manchester-Holyhead einen Bahnhof einzurichten. Hier die Übersetzung: Marienkirche (Llanfair) – in einer Mulde (pwll) – weißer Haseln (gwyn gyll) – in der Nähe (ger) – eines schnellen Wirbels (chwyrn drobwll) – und der Thysiliokirche (llantysilio) – bei der roten Höhle (ogo goch).

Irre, oder? Marilyn, mit der ich mich hier rumtreibe und die mir alles zeigt, weil sie von hier stammt, hat allerdings gesagt, die Engländer nennen den Ort einfach nur „Gogogoch“!

Windiger Gruß aus Wales, Jakub

Ganz unten in der letzten Zeile steht in einer fremden, spitzen, schrägen Schrift Warmly, Marilyn mit einem Smiley daneben. Oh mein Gott.

Ich nenne die Freundinnen meines Vaters, sofern er die Güte hat, sie mir hin und wieder vorzustellen, üblicherweise einfach nur Hey.

„Hey, ich bin Lisa.“

„Hey, kann ich bitte mal das Nutella haben?“

„Hey, hast du vielleicht zufällig mein Handy irgendwo gesehen?“

„Hey, ich muss dann mal wieder … Ciao.“

Hannah? Laura? Elvira? Sandra? Noura? Ramona? Delphine? Steffi? Mali? Carnella? Alisha? Bonny? Janina? Helena? Ilonka? Ayoka? Ute? Olga? Biggy? Amy-Lee? Und jetzt noch Marilyn? Sorry, nein! – Und das sind ja längst nicht alle, leider.

„Er muss eine Libido wie Superman haben“, hat Lela mal gesagt. Nein, nicht Lela. Der Satz stammt von Hakan.

Aber, halt, Hakan ist eine andere Sache.

Hakan und ich.

Hakan und Lela.

Hakan, Lela und ich.

Davon will ich eigentlich nichts erzählen.

Denn wenn ich von Hakan erzähle, kommt alles hoch. Wirklich alles. Und ich glaube nicht, dass ich das will.

Jedenfalls gehört Hakan auch dazu. Zu mir und meinem komischen, großen, busenlosen und merkwürdig bleiernen Leben.

Ich, Lela, unsere nervigen Familien, Portobello, Lelas Golden Retriever Cleo – und eben Hakan.

* * *

Und dann – das andere.

Das Land Außerhalb.

Er.

Verdammt – er.

Wir versuchen nicht mehr, ihn zurückzuholen. Aber er, er kommt, wenn ihm danach ist. In Gedankensplittern. In Scheißträumen.

(Lela von Puldorf)

2

Lela

Queen Elisabeth die Zweite winkte. Und lächelte. Winkte und lächelte und betrachtete dabei mit kühlem, überheblichem Blick den leicht verwilderten, aber romantischen Garten der Familie von Puldorf.

Lela verabscheute ihren Nachnamen.

„Was ist so schlimm daran?“, hatte Hakan mal leicht irritiert gefragt. „Mann, ich heiße Öztürk, das ist mal ein beknackter Name, wenn du mich fragst. Echt. Heutzutage. Mitten in Deutschland. Wo aus allen Nischen und Ecken wieder Nazis aus ihren braun verseuchten Wohnzimmern herauskriechen. Und dann direkt gegen Hakan Öztürk, den völlig Harmlosen,den Hundertproantisalafisten, prallen! Kacke – türkischer geht es ja wohl kaum! Dauernd muss ich sagen: ‚Hey Leute, chillt mal euer Leben, ich habe nichts mit irren, islamischen Terroristen zu tun! Von mir aus könnt ihr den alten, vorsintflutlichen Mohammed überall und jederzeit nackig oder sonst wie auf Plakate und Zeitungen pinseln. Ich bin Atheist! Und lammfromm!‘ Dagegen ist Puldorf doch voll der harmlose Name. Dazu noch mit einem vornehmen von vornedran. Jammere also bitte nicht rum, Lela von Puldorf!“

Aber Lela wusste es besser. Und Lisa auch.

„Haha, da kommt ja die Frau Puldorf! Das muss ja ein scharfes Dorf sein, aus dem du da kommst! Pult ihr da den ganzen Tag an euch rum? Wie geil ist das denn? Rudelbumsen bei Lela und ihren schrägen Brüdern! Inzestpulen, ja? Bepulen sie dich von beiden Seiten? Der Blinde und der Verrückte.“

* * *

Hakan nannte Lela Lela. Aber Lisa nannte er Amarell. Von jeher. Als wäre Amarell ihr Vorname.

Lisa – Lissy – Lisbeth – Amarell.Lela musste grinsen beim Gedanken, wie Lisa sich immer noch und immer wieder gegen Lisbeth sträubte.

Die Queen winkte weiter. Weil die Sonne zum Fenster hereinschien. Bei schlechtem Wetter ließ Elisabeth das Winken mal eine Weile sein und schaute mit erschlafftem Arm reglos ins Freie hinaus. Dann wirkte sie nicht überheblich, sondern eher nachdenklich, was sympathischer rüberkam.

„Solarqueen“, hatte Erik erklärt und die englische Königin direkt nach seiner Klassenreisenrückkehr aus London aufs Küchenbord gestellt.

Erik war blind. Henri, sein zwei Minuten jüngerer Bruder, war nur sehbehindert. Dafür hatte er ein kompliziertes Loch in einer Herzklappe und war die ersten beiden Jahre seines Lebens praktisch nicht aus dem Krankenhaus herausgekommen.

Der Familiensaga nach soll er eines Tages, mit knapp zwei Jahren, als ersten vollständigen Satz überraschend: „Ich will nicht mehr im Krankenhaus sein – ich will jetzt in ein Gesundenhaus gehen!“, gesagt haben, klein, dünn, piepsig und schwer krank, wie er war.

„Und bis heute ist – wenn auch inzwischen mehr auf zwischenmenschlicher Ebene“, hatte Lela leise hinzugefügt, als ihre Mutter Lisa diese Geschichte einmal erzählt und dabei feuchte Augen bekommen hatte. Lisa hatte verstohlen zu Henri und Erik geschaut. Man sah auf den ersten Blick nicht, dass die beiden eineiige Zwillinge waren. Zwar hatten sie ähnlich dunkle Locken, aber Henri war viel käsiger, kleiner und schmächtiger als Erik. Außerdem lagen seine unruhigen, dauergereizten, grünlichen Augen in tiefen Höhlen, während Erik deutlich hübscher, größer und muskulöser war. Dafür war sein Blick leer und er sah dauernd (extra? – jedenfalls glaubte Lela das) in die falsche Richtung, weil er außer Licht und Dunkelheit nichts sehen konnte.

* * *

Lela schnappte sich ein Glas Wasser und ging auf ihr Zimmer. Am Schreibtisch starrte sie in ihr Ethikheft. Was für eine absolut idiotische Hausaufgabe: Ich bin ich! Positionierung der eigenen Persönlichkeit.

Von unten erklang die Stimme ihrer Mutter. „Lela? Ich hole Erik vom Sport und Henri bei den Schlauen Füchsen ab! – Hast du gehört? Füttere bitte Cleo, sie winselt schon, und rech mal im Garten das Laub. Die Wiese sieht furchtbar aus! Und denk an die Spülmaschine, du bist dran! Seit gestern schon!“

Lela runzelte die Stirn. Als sie zur Welt gekommen war, war sie ein dickes, gesundes Baby gewesen, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr genau das alle übel nahmen.

Verdammt, was konnte sie denn dafür? Die ganze Schwangerschaft war sowieso bescheuert. Zuerst waren nur sie und ein weiterer Embryo dagewesen, zweieiige Zwillinge also. Davon gab es immerhin ein Ultraschallbeweisbild. Ein Junge und ein Mädchen wären sie geworden, was man damals natürlich noch nicht hatte sehen können. Aber trotzdem. Zwei Babys. Zwei. Eine lockere Sache. Lela versuchte sich das vorzustellen. Sie selbst und dazu – eine Mischung aus Erik und Henri. Einfach nur ein netter, unkomplizierter, dunkellockiger Junge, mit dem sie hätte – Spaß haben können. Aber so war es nicht gekommen. Stattdessen hatte sich der Erik-Henri-Embryo, warum auch immer, ein weiteres Mal geteilt und so zwei identische Jungs geschaffen. Die Teilung war nur nicht so richtig gut geglückt: Henris Herz hatte dabei, wie es schien, einen Knacks wegbekommen, und außerdem hatten die beiden Jungen im Bauch irgendwie Hunger gelitten. Während sie selbst wuchs und gedieh und in Ordnung war, kränkelten Henri und Erik schon damals vor sich hin.

„Und dann haben sie uns einfach so per Kaiserschnitt geholt, damit H & E nicht völlig vor die Hunde gingen“, hatte Lela Lisa einmal erzählt und widerwillig auf ein Foto der drei Babys gedeutet, das ganz hinten auf der alten Biedermeierkommode im Wohnzimmer stand.

„Ich schiebe es immer dahin“, sagte Lela. „So eine grässliche Aufnahme. Wer will die sehen, frage ich mich.“

Auf dem Bild lagen drei Babys nebeneinander auf einem Untersuchungstisch.

„Die dicke Wurst da bin natürlich ich“, seufzte Lela. „Ich war nur ein paar lumpige Tage im Brutkasten. H & E, die Verkabelten, lagen über zwei Monate drin. Mit Magensonde, Herzlungenmaschine, und allem, was dazugehört.“

Sie sahen wirklich schlimm aus. Winzig, zerknittert, rot – und mehr tot als lebendig.

„Wie Portobello damals, weißt du noch?“, sagte Lisa zu Lela und stellte das Bild zurück an seinen Schattendaseinsplatz.

Sie grinsten sich an, als sie an Portobellos unrühmlichen Start ins Leben dachten.

* * *

Portobellos Entstehen und Auftauchen war grotesk, in irgendeiner Form geradezu cineastisch, und wie ein Schlag vor den Kopf gewesen.

„Wer hätte denn ahnen können, dass das so schnell geht“, sagte Lela beschämt.

Portobello war der unverhoffte, unerwartete Sohn von Cleo, Lelas Golden-Retriever-Hündin, die mal einen Haufen Geld gekostet hatte, weil sie eigentlich als Eriks Begleithund gedacht gewesen war. Sein Blindenhund. Zwei Jahre lang hatte Lelas Familie sehnsüchtig auf Cleo gewartet, die Erik das Leben leichter machen sollte, weil er mit seinem Langstock nicht besonders gut zurechtkam. Zuerst hatte die Krankenkasse die teure Anschaffung bewilligen müssen, und dann war da noch die lange Warteliste gewesen, auf der Erik von Puldorf Stück für Stück nach vorne gerückt war.

Aber dann war Cleo gekommen, lieb, sanft, herzensgut, zweijährig und mit einem hervorragenden Diplom als unfehlbare Blindenbegleithündin. Aber es kam, wie es kommen musste. Henri verdarb mit seinen berüchtigten Wutanfällen und Aggressionsausbrüchen alles. Cleo reagierte verängstigt und wurde unzuverlässig, und zum Schluss hatte Erik, der sowieso schnell an vielem die Lust verlor, keine Lust mehr auf seinen Hund. Das war ungefähr der Zeitpunkt, als sich herausstellte, dass Henri, (wer hätte das gedacht?) zwar herzkrank, jähzornig, sehbehindert, aber dazu hochintelligent war. „Er soll tatsächlich einen IQ von über 160 haben – fast wie Einstein!“, berichtete Lela Lisa am Telefon verblüfft. Von Puldorfs im stolzen Ausnahmezustand überließen Lela den Hund.

„Das war aber mal nett von deinen Eltern“, sagte Lisa.

„Ach was, sie brauchten einfach jemanden, der sie füttert und regelmäßig mit ihr Gassi geht.“

„Sie hätten sie auch abschaffen können.“

Lela zuckte mit den Schultern, schwieg und kraulte Cleos honigfarbene Ohren.

Und dann war vor anderthalb Jahren die Sache mit dem Chihuahua passiert. Der Chihuahua war der grässlichste Köter, den Lisa und Lela je gesehen hatten. Er war ein ewig kläffender Chihuahua mit riesigen, pfützenfarbenen Quellaugen. Er gehörte der ebenso grässlichen Frau Buxtehude, der Frau von Lisas Linkes-Haus-Nachbarn Herrn Buxtehude, der in Wirklichkeit Schmidt hieß. Cäsar war schlicht ein meerschweinchengroßes, meganervöses und recht bissiges Exemplar von Miniaturhund, dem, wenn er sich fürchtete, büschelweise das Fell ausging. Darum war er eher unbehaart und fast überall an seinem winzigen Körper sah man runzelige, rosagräuliche Hundehaut durchscheinen.

„Wie eine mutierte Rosine auf Stummelbeinen. Wie kann man sich nur so einen Hund zulegen?“, murmelte Lela träge, die an dem verhängnisvollen Tag bei Lisa im Garten war. Cäsar japste unterdessen hechelnd am Gartenzaun herum und war nahe daran, sich an seiner Hundeleine zu strangulieren.

„Warum dreht er heute nur so am Rad und winselt wie blöde?“, fragte Lisa. „Sonst knurrt er doch eher, wenn er uns sieht, und fletscht seine idiotischen Minizähne.“

Lela deutete mit dem Daumen auf Cleo, die schlafend im Schatten unter dem alten, knorrigen Birnbaum lag.

„Heiß“, sagte sie erklärend. „Also eigentlich nur noch ein bisschen, aber für das kleine Ekelpaket im Nachbargarten scheint’s auszureichen.“

Sie lachte leise. „Wer hätte gedacht, dass in so einem überzüchteten Wahnsinnssubjekt dann doch ganz normale, testosterongesteuerte Instinkte schlummern.“

Cäsars Fiepsen steigerte sich. Er zitterte inzwischen von Kopf bis Fuß, stand wackelig auf den winzigen Hinterbeinen und zerrte abwechselnd an seiner neongrünen Kunststoffleine und seinen zerzausten Fellresten.

„Der kann einem fast leidtun“, sagte Lisa. „Er kann ja nichts für sein beknacktes Aussehen und seine beknackte Rasse.“

Sie stand auf. „Klo. Bin gleich zurück. Auf dem Rückweg bring ich was zu trinken mit.“

Lela nickte und blätterte lustlos in ihrem Mathebuch herum. Sie waren dabei, mehr oder weniger intensiv für die morgige Mathearbeit zu lernen.

„Oh mein Gott“, murmelte sie, als sie zwischendurch kurz den Kopf hob und ihr Blick auf den Ausnahmezustand-Chihuahua am Gartenzaun fiel.

„Da, Bionade. Willst du Litschi oder Holunder?“, fragte Lisa, die in diesem Moment zurückkam.

„Guck doch mal, Lisbeth“, antwortete Lela, ohne auf Lisas Frage zu achten.

Lisa stellte die beiden Glasflaschen ins Gras.

„Hast du so was, äh, Gruseliges schon mal gesehen?“ Lela schüttelte sich.

„Was meinst du?“

„Na, sein – igittigitt!“

„Sein was?“

„Sein Ding. Beziehungsweise in seinem Fall sein Dinglein! Er hat’s voll ausgefahren. Guck doch mal! Feuerrot! Schrumpelig! Oh. Mein. Gott!“

Lisa musste lachen. „Na und? Natur halt, oder? So was nennt man Geschlechtsteil und Fortpflanzungstrieb.“

Lela rollte auf den Bauch, schob das lästige Mathebuch zur Seite, und stützte das Kinn in die Hände.

„Armer Irrer. – He, Hund!“, rief sie dann. „Vergiss es einfach! Du würdest ja im besten Falle nicht mal an Cleo rankommen.“

Einen Moment war es still im Garten bis auf Cäsars Jammern, Cleos leises Schnarchen und dem obligatorischen Sommervögelgezwitscher in den Bäumen über ihren Köpfen.

„… obwohl“, sagte Lela plötzlich grinsend und stand auf. Und ehe Lisa etwas sagen konnte, war sie am Zaun und befreite den winzigen Hund von seiner Plastikleine. Cäsar stürzte los wie bekloppt. Cleo wachte auf und hob verwundert den Kopf, als er praktisch wie ein Geschoss gegen sie prallte.

„Spinnst du?“, zischte Lisa. „Die Buxtehude kriegt einen epileptischen Anfall, wenn ihr komischer Köter uns abhaut. Der muss sauteuer gewesen sei.“

Lela prustete los. Der Chihuahua war wie von Sinnen. Er sprang gegen Cleos Seite, kroch schnaufend über sie, versuchte es von der anderen Seite, und überschlug sich, als Cleo aufstand.

Lisa verzog das Gesicht. „Los, fangen wir ihn ein und bringen ihn rüber, ehe ihn irgendein Testosteronschlag trifft.“

Cleo schnaubte irritiert und legte sich wieder hin. Lelas Golden Retriever war eben immer die Ruhe in Person, bis auf dieses eine besagte Mal, als Henri sie mit seinem Irrengeschrei in Panik versetzt hatte und sie Hals über Kopf aus dem Haus geflohen war, nur um draußen auf der Straße fast vor ein Auto zu rennen. Aber das war lange her und seitdem war Cleo immer ruhig und besonnen gewesen. Genau wie jetzt. Sie hatte die Situation fest im Griff, kehrte dem aufgebrachten Chihuahua den Rücken und hatte sich wieder gemütlich eingerollt.