Das Ende der Erschöpfung - Katharina Mau - E-Book

Das Ende der Erschöpfung E-Book

Katharina Mau

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Beschreibung

Wir sind am Ende - also fangen wir anders an: Denken wir eine Welt ohne Wachstum! Die Klimakrise verändert die Welt unwiederbringlich. Unser Wirtschaftssystem gerät an seine Grenzen und die Ungleichheiten verstärken sich weiter. Unser Alltag, unser Weltbild und unser Vorstellungsvermögen werden von multiplen Krisen erschüttert. Woher also die Kraft nehmen, sich jetzt auch noch mit Wirtschaftstheorie zu beschäftigen? Ganz einfach: Unsere Existenz ist davon abhängig. Katharina Mau stellt Lösungsansätze und Ideen vor, die wirtschaftliche, ökologische und soziale Ressourcen berücksichtigen und sich nicht nur an höher, schneller, weiter orientieren. Denn sich vorzustellen, wie eine gerechtere Zukunft funktionieren kann, macht Mut. Kein Wachstum ist auch eine Lösung Unsere Wirtschaft ist auf Wachstum ausgerichtet - nicht darauf, dass Reichtum möglichst gleich verteilt ist oder dass es allen Menschen möglichst gut geht. Genau an diesem Punkt setzt Katharina Mau an und zeigt, wie stark unsere Art zu wirtschaften mit alltäglichen Dingen verknüpft ist. Und hier kommt Degrowth ins Spiel. Dabei geht es weniger um Verzicht als um eine neue Denk- und Wirtschaftsweise, in der das Wohlergehen von Menschen, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit im Fokus stehen. Große Themen, die Katharina Mau auf unseren Alltag umlegt und zeigt, in welche Richtungen wir uns entwickeln können, um eine faire, lebenswerte Basis für alle zu schaffen. Alltag im Wandel – wie schaut das jetzt konkret aus? Katharina Mau stellt Menschen und konkrete Konzepte vor, die zugänglich machen, wie unsere Gesellschaft funktionieren kann. Dazu gehören Ideen wie: Arbeitszeitverkürzung, Grundversorgung für alle, günstigere Mieten, freier Zugang zu Medien und Internet, Vermögensbegrenzungen sowie die Neubewertung von Care-Arbeit. Reden wir z. B. darüber, warum die Pflege von Älteren oder die Verantwortung für eine Familie einen höheren Stellenwert bekommen sollte, und das nicht nur in der Theorie. Darüber hinaus lädt dieses Buch dazu ein, sich auf neue Gedankenmodelle einzulassen und Utopien zuzulassen. Denn ohne sie, ist es gar nicht möglich, über eine neue Welt zu sprechen und der kollektiven Erschöpfung entgegenzuwirken. - Realutopie - eine neue Welt zum Anfassen: Wie leben bereits in der Veränderung, die Welt ist im Wandel - also fragen wir uns gemeinsam: Wohin soll es gehen? Wie will ich leben? Was ist wirklich wichtig? Dieses Buch ist ein Leitfaden zum Nachdenken darüber, wie das Morgen funktionieren kann. - Wir sind alle erschöpft - Natur, Mensch und Wirtschaft: Zeit für Lösungen - Katharina Mau bietet in ihrem Buch eine einfache Problemanalyse, sie erklärt, warum unsere Gesellschaft so verunsichert und überfordert ist, und: wagt einen Blick in eine Welt, in der wir nicht mehr vom Wachstum abhängig sind. - Ich habe keinen Bock mehr - und jetzt soll ich auch noch die Welt retten? Wenn wir nicht über eine gute Zukunft nachdenken, gibt es sie auch nicht - und das betrifft jede*n Einzelne*n von uns. Die Auseinandersetzung mit einem positiven Ausweg und realen Projekten motiviert. Die Entdeckung der vielen Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet eine Alternative.

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Seitenzahl: 272

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KATHARINA MAU

Das Ende der Erschöpfung

WIE WIR EINE WELT OHNEWACHSTUM SCHAFFEN

Inhalt

Einleitung

TEIL 1Unsere Wirtschaft ist auf Wachstum ausgerichtet, nicht auf Wohlbefinden

1. WIRTSCHAFTSWACHSTUM ZERSTÖRT UNSERE LEBENSGRUNDLAGEN

Emissionen steigen mit dem BIP

Auch erneuerbare Energien brauchen Rohstoffe

Neue Technologien werden es nicht richten

2. REICHE LÄNDER BEUTEN DEN GLOBALEN SÜDEN AUS

Vom Kolonialismus zum ökologisch ungleichen Tausch

Der Globale Süden muss wachsen dürfen

3. GELD IST SEHR UNGLEICH VERTEILT

Wohlstand durch Wachstum: aber für wen?

Wer trägt wie viel zur Klimakrise bei?

4. WIR HABEN SCHWIERIGKEITEN, UNS GUT UM ALLE ZU KÜMMERN

Pseudo-Wachstum: Care-Arbeit verlagert sich

Schlechte Arbeitsbedingungen und Fachkräftemangel

Pflegekräfte aus dem Ausland fehlen oft in ihren Heimatländern

Viele Menschen leiden unter der Doppelbelastung von bezahlter und unbezahlter Arbeit

5. WIR STECKEN IM HAMSTERRAD

Statuskonsum ist wie ein Wettkampf

TEIL 2Degrowth: eine neue Art zu wirtschaften

Wünsche sind unbegrenzt – Bedürfnisse nicht

Das gute Leben

Genug für alle: Konsumkorridore

1. SCHLUSS MIT ARMUT: ALLGEMEINE GRUND-VERSORGUNG

Wieso nicht lieber ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Auf einen Blick

2. ARBEIT NEU DENKEN

Was bedeutet ernsthafter Klimaschutz für Arbeitsplätze?

Arbeit im Kapitalismus

Wenn Arbeit zerstört

Arbeit für das gute Leben

Endlich mehr Zeit: Ciao, 40-Stunden-Woche

Sollte der Staat Jobs für alle garantieren?

Auf einen Blick

3. DER STAAT HAT (EIGENTLICH) IMMER GENUG GELD

Der größte Richtungsstreit des 20. Jahrhunderts

Der Staat schöpft Geld aus dem Nichts

Die Inflation ist die Grenze

Keine eigene Währung: die Eurozone

Willkürlich festgelegte Schuldengrenzen: Regierungen machen sich selbst arm

Auf einen Blick

4. WAS WÄRE, WENN WIR REICHTUM ABSCHAFFEN?

Reichtum gefährdet die Demokratie

Weniger Reichtum, weniger Emissionen

Vermögen: Obergrenze, Abgabe, Steuer?

Sollten Menschen unbegrenzt viel verdienen können?

Auf einen Blick

5. DEMOKRATIE MITGESTALTEN

Vom Gesetzesvorschlag zum „Heiz-Hammer“

Politik mitgestalten, statt bloß zu konsumieren

Bürger*innenräte fordern mehr Maßnahmen für Klimaschutz

Deliberative und repräsentative Demokratie kombinieren

Von den Bedürfnissen der Menschen ausgehen

Auf einen Blick

6. GUT LEBEN DURCH GESELLSCHAFTLICHE GRENZEN

Von planetaren zu gesellschaftlichen Grenzen

Von globalen zu lokalen Grenzen

Der Markt verteilt weder ökologisch noch gerecht

Auf einen Blick

7. GRENZEN EINHALTEN: DEMOKRATISCH PLANEN

Investitionen in eine ökologische Gesellschaft

Emissionen müssen teurer werden

Subventionen für klimaschädliche Industrien stoppen

Wir sollten mehr über Verbote sprechen

Fossile Brennstoffe im Boden lassen: sozialer Widerstand und Kompensationen

Auf einen Blick

8. DEGROWTH IN DER PRAXIS

Was macht ein transformatives Unternehmen aus?

Von der Nische in die Breite?

Auf einen Blick

9. REPARATIONEN FÜR DEN GLOBALEN SÜDEN

Entschädigungen für die Folgen der Klimakrise

Auf einen Blick

AUSBLICK: IST DAS NICHT SUPER UNREALISTISCH?

Wir haben nicht genug Zeit

Es wäre eine Befreiung

DANKE

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Für meine Eltern. Eure Küchenbank istfür mich immer noch zuhause.Für Stef. Danke, dass du tröstest,anstatt Probleme zu lösen.Für Alina, meine Wahlschwester.

Einleitung

Ich sitze im Wohnzimmer meiner Schwiegereltern in Athen. Ein paar Tage, nachdem heftige Regenfälle große Teile Griechenlands in einen See verwandelt haben. Mein Schwiegervater hat den Fernseher angemacht, ohne Ton, um niemanden zu stören. Auf dem Bildschirm sehe ich 2 Menschen in einem Ruderboot. Ein Mann, der vielleicht ein Helfer vor Ort ist – und die Reporterin, die ihm immer wieder ihr Mikro hinhält. Das Wasser ist ruhig, es ist etwas bewölkt, aber es regnet nicht. Langsam gleitet das Boot zwischen Häusern hindurch. Ich sehe Balkone, hier und da Bäume.

Es könnte eine der Reisereportagen sein, die ich als Kind manchmal mit meiner Oma angesehen habe. Ein Trip durch Venedig, wo sich Menschen auf Kanälen wie auf Straßen bewegen. Musik, die ich jetzt nicht höre und immer wieder eine Anekdote des Reiseführers. Wenn die Balkone nicht zu niedrig über dem Wasser hängen würden, wenn nicht nur die Spitzen des schwarzen Eisenzauns zu sehen wären.

Knapp 2 Monate früher fliehen Menschen auf der Insel Rhodos zu Fuß vor Waldbränden – bei der größten Feuer-Evakuierung in der griechischen Geschichte.1 Während Bewohner*innen ihre niedergebrannten Häuser besuchen und anfangen zu begreifen, wie viel sie verloren haben, bemüht sich der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis, den Image-Schaden für den Tourismus zu begrenzen. „Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Rhodos heute gastfreundlicher ist als je zuvor“, sagt er eine gute Woche nach den Bränden einem britischen Fernsehsender. „Die Insel ist zur Normalität zurückgekehrt.“2 Wer wegen der Waldbrände seinen Urlaub habe abbrechen müssen, bekomme im kommenden Jahr von der griechischen Regierung einen Aufenthalt geschenkt.

Ich habe in diesen Tagen im Sommer 2023 viel darüber nachgedacht, wie absurd das alles ist. Durch die Klimakrise werden Extremwetterereignisse wie Waldbrände und Überschwemmungen heftiger. Tourismus ist Teil des Problems. Jeder Urlaubsflug nach Griechenland erhöht die globalen Treibhausgasemissionen. Eigentlich müsste die griechische Regierung darauf hinarbeiten, Flüge und ihre Emissionen zu verringern. Gleichzeitig sind die Menschen in Griechenland auf den Tourismus angewiesen. Sie brauchen ihn, um Jobs zu finden und ihre Miete zu bezahlen.

Das ist natürlich nur ein Beispiel, ein kleiner Ausschnitt. Nicht nur Flüge verursachen Emissionen und Griechenland könnte nicht allein die Klimakrise lösen. Aber das gleiche Dilemma finden wir in vielen anderen Bereichen. Viele Ökonom*innen und Politiker*innen behaupten, wir könnten das Problem mit neuen Technologien lösen. Synthetische Kraftstoffe würden die Flugbranche klimaneutral machen. Wir könnten so weitermachen wie bisher – nur eben ohne Emissionen.

Sehr viel deutet darauf hin, dass das nicht funktionieren wird. Was genau, erkläre ich im Abschnitt Wirtschaftswachstum zerstört unsere Lebensgrundlagen ab Seite 14. Aber selbst, wenn es funktionieren würde: Was für ein Wirtschaftssystem verteidigen wir, wenn wir an dem festhalten, was wir gerade haben? Es ist ein System, das auf der Ausbeutung von Menschen im Globalen Südeni basiert. Ein System, das Reiche immer reicher macht, während sich gleichzeitig mehr und mehr Menschen bei den Tafeln anstellen, um etwas zu essen zu bekommen. Es ist ein System, in dem wir uns nicht ausreichend um alle kümmern können und zu wenig Zeit für Freund*innen haben. Im ersten, kurzen Teil dieses Buches möchte ich festhalten, was in unserem Wirtschaftssystem nicht gut funktioniert.

Der zweite, größere Teil ist für Lösungen reserviert. Welche Möglichkeiten gibt es, um die Wirtschaft so umzubauen, dass nicht mehr Geld und Machtinteressen im Mittelpunkt stehen, sondern das Wohl aller Menschen? Die Ideen und Konzepte, die ich vorstelle, basieren auf der Forschung von Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen, die man zum Großteil dem Bereich Degrowth zuordnen kann.

Was beutet Degrowth? So wie ich es verstehe und in diesem Buch beschreibe, heißt es: in einem demokratischen Prozess die Produktion und den Konsum in reichen Ländern herunterzufahren, um die Erderhitzung und Naturzerstörung zu stoppen. Und dabei gleichzeitig die Wirtschaft gerechter zu gestalten und darauf hinzuarbeiten, dass alle Menschen weltweit gut leben können.3 Was bedeutet gut leben? Darauf gehe ich ab Seite 46 ein.

Degrowth wird im Deutschen auch mit Postwachstum übersetzt, manche verwenden die Begriffe synonym. Allerdings ist der Begriff Postwachstum auch stark von einer Degrowth-Strömung geprägt, die sich vor allem auf individuellen Konsumverzicht fokussiert. Deshalb verwende ich den Begriff Degrowth.

Einige wachstumskritische Konzepte finden Anklang in der rechten Szene, etwa die Idee, wieder mehr lokal zu produzieren. Degrowth-Forschende grenzen sich an mehreren Stellen klar von einer Vereinnahmung durch rechte Gruppen ab und das möchte ich an dieser Stelle auch tun.

Ich möchte dich dazu einladen, dich auf die Vorschläge in diesem Buch einzulassen. Die meisten Gesellschaften im Globalen Norden sind so sehr vom Streben nach Wachstum durchdrungen, dass viele sich ein anderes System nur schwer vorstellen können: ein System, in dem es keine Sanktionen bei der Grundsicherung gibt, in dem wir weniger erwerbsarbeiten und mehr Zeit für uns und andere haben, in dem zum Beispiel Öl- und Gasunternehmen nicht mehr die Freiheit haben, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören.

Die ersten 3 Kapitel des zweiten Teils (ab Seite 44) drehen sich um die Frage: Was brauchen wir, damit es Menschen gut geht, alle teilhaben können und niemand zurückfällt? Hier schwingt auch mit: Wie können Menschen offen gegenüber Veränderungen sein? Wie kann Klimaschutz geben, statt wegzunehmen? Und das, ohne sich nur darauf zu stützen, dass alles schlimmer wird, wenn wir nichts tun. Das stimmt, aber es ist nicht besonders motivierend.

Die 4 darauffolgenden Kapitel (ab Seite 117) fragen: Wer hat Macht zu entscheiden, was wir mit unseren begrenzten Ressourcen tun? Wieso dürfen Milliardäre in den Weltraum fliegen und Tonnen an Treibhausgasen in die Welt pusten, während andere versuchen, nur noch am Wochenende Fleisch zu essen und im dicken Pulli in der Wohnung sitzen, anstatt die Heizung hochzudrehen? Ich stelle Vorschläge vor, um den Reichtum und damit die Macht Einzelner zu begrenzen. Es geht um Ideen, wie unsere Demokratie demokratischer werden könnte. Und um Mittel, die sicherstellen sollen, dass Investitionen dort hinfließen, wo wir sie brauchen und nicht, wo sie am meisten Geld erwirtschaften. Gegen Ende des Buches analysiere ich am Beispiel der Solidarischen Landwirtschaft, wie sich Degrowth-Ansätze in die Praxis übertragen lassen (Seite 190). Außerdem gehe ich darauf ein, wieso eine faire Transformation echte Reparationen für den Globalen Süden beinhaltet (Seite 204).

Das Buch hat nicht den Anspruch, DEN Masterplan für eine Degrowth-Transformation vorzulegen. Nicht alles ist schon 100-prozentig durchdacht. Und auch innerhalb der Degrowth-Bewegung gibt es zu vielen Details Kontroversen, unterschiedliche Ansätze und Meinungen. Ich stelle die Vorschläge so vor, wie ich sie verstehe. Dabei beziehe ich mich auf zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, Gespräche mit Forschenden und Menschen aus der Praxis.

Meine persönliche Perspektive ist die einer weißen Frau, die finanziell sehr privilegiert ist. Wenn ich über Armut spreche, dann nicht aus eigener Erfahrung. Wenn ich über Reichtum spreche, meine ich mich oft mit.

Für viele der Ideen, die ich beschreibe, müssten wir Gesetze ändern und Details klären. Und natürlich können das alles nur Vorschläge sein. Am Ende können wir nur demokratisch entscheiden, in welcher Welt wir leben wollen. Deshalb möchte ich dich auch dazu einladen, mir zu widersprechen, kritisch zu sein, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Denn was wir aus meiner Sicht dringend brauchen, sind andere Debatten über die Krisen, in denen wir stecken, und vor allem über passende Lösungen. Eine gerechtere Wirtschaft ist möglich – wenn mehr und mehr Menschen daran arbeiten.

 

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i Die Begriffe Globaler Norden und Süden sind jeweils Sammelbegriffe für privilegierte Länder (Norden) und solche, die im globalen System benachteiligt sind (Süden), sowohl in gesellschaftlichen als auch in politischen und ökonomischen Bereichen.

TEIL 1

Unsere Wirtschaft ist auf Wachstum ausgerichtet, nicht auf Wohlbefinden

Ich weiß, dass die Klimakrise die Welt unwiederbringlich verändert. Ich weiß, dass Extremwetter häufiger werden. Ich weiß, dass Menschen darunter leiden, ihr Zuhause verlieren, sogar sterben. Ich kenne die Fakten und wenn ich es zulasse, fühle ich sie auch. Trotzdem verändert sich im Sommer 2023 etwas. Weltweit folgt ein Extremwetterereignis auf das andere und die Klimakrise fühlt sich für mich noch einmal anders nah an.

Anfang Juli, nur ein paar Wochen vor den Waldbränden auf Rhodos, wird die spanische Stadt Zaragoza nach heftigen Regenfällen überflutet. Die Straße hat sich in einen Fluss verwandelt, der mehrere Autos mit sich reißt. Auf einem davon kniet eine Frau. Sie schaut nach vorne, duckt sich etwas, beide Hände flach auf das Autodach gestützt. Ihr Auto schiebt ein anderes zur Seite. Es sieht fast aus wie bei einer Wildwasserbahn im Freizeitpark – als wären hier nicht Menschen in Lebensgefahr. Ich sitze am Schreibtisch und sehe das Video auf Social Media.4 Und wieder ist da diese Angst, die gerade immer öfter in mir hochkommt.

In diesem Juli 2023 wird auch der weltweit heißeste Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gemessen – nur um gleich danach von noch heißeren Tagen übertroffen zu werden.5 Forschende stellen fest, dass die extremen Temperaturen bei Hitzewellen in den USA, Mexiko und Südeuropa ohne die Klimakrise praktisch unmöglich gewesen wären.6

Auf Social Media sehe ich immer wieder ähnliche Grafiken: Sie zeigen die Oberflächentemperatur des Nordatlantiks.7 Dutzende Linien stehen für die Entwicklungen der Vorjahre. Die Linie für das Jahr 2023 entfernt sich deutlich von allen anderen. So deutlich, dass Wissenschaftler*innen sich eindeutig Sorgen machen – so unwahrscheinlich ist solch eine Abweichung statistisch gesehen. „Habe selten meine Klimawissenschaftler-Timeline so nervös gesehen wie angesichts der gerade sprunghaft steigenden Temperaturen“, schreibt der Journalist Rico Grimm.8

Die Klimakrise ist schlimm genug, wenn die Dinge so passieren, wie die Wissenschaft sie seit Jahrzehnten voraussagt. Dass die Temperaturen nun unerwartet so plötzlich ansteigen, zeigt nur einmal mehr, in was für einem riesigen Experiment wir uns gerade befinden. Anfang Februar 2024 teilte der EU-Klimawandeldienst Copernicus mit: Die globale Durchschnittstemperatur der vergangenen 12 Monate habe zum ersten Mal 1,5 °C höher gelegen im Vergleich zur vorindustriellen Zeit. Mit anderen Worten: Im Zeitraum von Februar 2023 bis Januar 2024 haben wir die 1,5-Grad-Grenze überschritten.9

Ab 1,5 °C wird es immer wahrscheinlicher, dass wir sogenannte Kipppunkteii überschreiten und die Welt, auf der wir leben, unwiederbringlich verändern – mit schrecklichen Folgen für die meisten Lebewesen auf der Erde, auch uns Menschen. Aber wann das genau passiert, wissen wir nicht. Es ist klar, dass wir die Emissionen schnellstmöglich drastisch senken müssen. Doch bisher passiert das nicht.

Deshalb habe ich mich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie eine Wirtschaft aussehen könnte, die uns hilft, die Klimakrise einzudämmen. Bevor ich Lösungen vorstelle, möchte ich darauf eingehen, was in unserem Wirtschaftssystem alles schiefläuft. Denn auch wenn „die Wirtschaft“ auf den ersten Blick vielleicht abstrakt erscheint, trägt der Fokus auf Wirtschaftswachstum dazu bei, dass viele nicht genug Zeit für Hobbys und Freund*innen haben. Dass Menschen erschöpft sind, obwohl wir kollektiv weniger erwerbsarbeiten könnten. Dass Pflegekräfte sich nicht in Ruhe um alte Menschen kümmern können. Und dass die Erde sich immer weiter erhitzt.

 

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ii Forschende gehen davon aus, dass es im Erdsystem verschiedene Kippelemente gibt. Dazu gehören etwa der Grönländische und der Westantarktische Eisschild, der Amazonas-Regenwald, die Korallenriffe oder die Atlantische Umwälzströmung (AMOC). Es gibt jeweils einen bestimmten Punkt, den Kipppunkt, an dem diese Systeme in einen neuen Zustand überwechseln – mit erheblichen Auswirkungen. Bei den Eisschilden bedeutet das zum Beispiel, dass sie, wenn sie den Kipppunkt überschreiten, einfach weiter abschmelzen, auch wenn wir es danach schaffen, die globale Erhitzung zu stoppen. Würde die Atlantische Umwälzströmung zusammenbrechen, würde sich das Klima in Europa komplett verändern.

1. WIRTSCHAFTSWACHSTUM ZERSTÖRT UNSERE LEBENSGRUNDLAGEN

Es gibt diesen schönen Satz, den Robert Kennedy, der Bruder des US-Präsidenten John F. Kennedy, bei einer Rede 1968 gesagt hat: „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“10 Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, entspricht dem Wert der Waren und Dienstleistungen, die ein Land innerhalb eines Jahres produziert.11 Wenn das BIP wächst, sprechen wir von Wirtschaftswachstum. Das BIP ist der bekannteste Indikator, mit dem wir über die Wirtschaft sprechen. Vielleicht hattest du auch schon einmal eine Push-Nachricht auf deinem Handy, dass die Wirtschaft, und damit das BIP, im vorigen Quartal um soundsoviel Prozent gewachsen oder geschrumpft ist. Wir messen dem BIP unglaublich viel Bedeutung bei.

Vor der Einführung des BIP berechneten Staaten vereinzelt ihr Volkseinkommen. In der politischen Debatte war dies aber vollkommen unwichtig.12 Erst mit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das. Damals wollten die Regierungen in Großbritannien und den USA wissen, wie sich die Produktion von Waffen, Panzern und Kampfflugzeugen auf andere Wirtschaftsbereiche auswirken würde. Dazu mussten sie die Produktivität der Wirtschaft berechnen und dafür entwickelten Wissenschaftler*innen den Vorläufer des BIP.13 Der wirtschaftliche Boom nach dem Krieg hat vor allem Menschen im Globalen Norden Wohlstand gebracht. Und der wiederum ist in vielen Köpfen eng mit dem Wirtschaftswachstum verknüpft. Dabei ist das BIP kein besonders guter Indikator für Wohlstand.

Wenn sich etwa Eltern Zeit für ihre Kinder nehmen und deshalb weniger arbeiten, sinkt das BIP. Wenn sich ein Investmentbanker entscheidet, seinen Beruf aufzugeben, von seinem Ersparten zu leben und ehrenamtlich Menschen im Altersheim zu besuchen, sinkt das BIP. Dabei würden viele zustimmen, dass eine Gesellschaft, in der Eltern ihren Kindern vorlesen und alte Menschen nicht einsam sein müssen, eine gute Gesellschaft ist.

Nachdem die Flut im Ahrtal das Zuhause von Tausenden Menschen zerstört hatte, stieg das BIP. Denn Handwerker*innen begannen, Häuser wieder aufzubauen, Menschen kauften neue Möbel. Doch die Flut war eine Katastrophe: Mehr als 130 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt.14 Viele Häuser waren auch 1,5 Jahre später noch unbewohnt.15 Wenn an heißen Tagen mehr Menschen kollabieren, weil die Klimakrise Hitzewellen verschlimmert, geht es zwar den Menschen schlechter, aber das spiegelt sich kaum im BIP wider. Wenn sie anschließend im Krankenhaus eine Infusion bekommen, steigt das BIP sogar.

Wir sprechen davon, dass unsere Wirtschaft floriert, wenn das BIP wächst. Dabei spielt es keine Rolle, ob Einkommen und Vermögen möglichst gleich verteilt sind oder es allen Menschen möglichst gut geht. Und vermutlich haben Politiker*innen die Folgen der Klimakrise auch deshalb so lange ignoriert, weil sie im BIP erst auftauchen, wenn sie auch der Wirtschaft schaden. Dabei ist der Zusammenhang klar: Das massive Wirtschaftswachstum des vergangenen Jahrhunderts hat die Klimakrise verursacht. Um das zu verstehen, nehme ich dich mit auf eine kurze Reise in die Vergangenheit.

Emissionen steigen mit dem BIP

Über Jahrtausende hinweg wuchs das globale BIP kaum. Menschen arbeiteten auf dem Feld, bauten Häuser, stellten Werkzeuge und Dinge für das tägliche Leben her. Dafür benutzten sie ihre eigene Muskelkraft und die von Ochsen und Pferden. Windmühlen halfen dabei, Mehl zu mahlen und manchmal auch ein Wasserrad. Auf den Feldern landete natürlicher Dünger und um ihre Häuser zu heizen, hackten die Menschen Holz.

Wirtschaftswachstum, wie wir es heute verstehen, begann mit dem Kapitalismus. Und der hängt eng mit dem Kolonialismus zusammen: Was ich in der Schule als „Kolumbus entdeckt Amerika“ gelernt habe, waren teure Reisen, die nur durch die Investitionen von Kapitalgeber*innen möglich wurden. Die investierten nicht, weil sie sehen wollten, wer sonst noch auf der Welt lebt. Sie erhofften sich, ihre Investitionen und noch mehr zurückzubekommen. Die frühen Expansionsreisen brachten Rohstoffe und vor allem Silber nach Spanien – ein Boost für die europäische Wirtschaft. Der Beginn des Kapitalismus ist untrennbar mit dem Leid von Menschen, insbesondere im Globalen Süden, verknüpft. Darauf werde ich später noch genauer eingehen (ab Seite 23).16

Eine wichtige Rolle für die Ausbreitung des Kapitalismus spielten die Erfindung und Weiterentwicklung der Dampfmaschine. Sie konnte Kohle in Energie umwandeln. Diese Energie betrieb verschiedenste Maschinen, die nach und nach entwickelt wurden. Ein Mensch konnte auf einmal an einem Tag viel mehr produzieren als vorher. Die Eisenbahn transportierte Menschen und Güter in (für damalige Verhältnisse) rasender Geschwindigkeit von einem Ort zum anderen. Die Wirtschaft wuchs. Das hieß aber auch: Arbeiter*innen verbrannten mehr und mehr Kohle, die jahrtausendelang unter der Erde gelegen hatte – und jetzt in Form von CO2 in die Luft gelangte.

Seitdem steigt das BIP immer weiter an und relativ parallel dazu auch die Emissionen. Besonders stark steigen die beiden Kurven ab den 1950er Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg produzierten Fabriken im Globalen Norden, zunehmend aber auch im Globalen Süden, immer mehr Maschinen, Fernseher, Autos und Küchengeräte. Mehr Menschen konnten es sich leisten, in den Urlaub zu fahren. Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen ist der Kern des menschengemachten Klimawandels.

Entwicklung des weltweiten Bruttoinlandsprodukts

Datenquelle: World Bank (2023); Maddison Project Database 2020(Bolt and van Zanden, 2020); Maddison Database 2010 (Maddison, 2009) – mit wesentlicher Bearbeitung durch Our World in Data.OurWorldInData.org/economic-growth | CC BY17

Jährliche CO2-Emissionen weltweit

Datenquelle: Global Carbon Budget (2023)– mit wesentlicher Bearbeitung durch Our World inData.OurWorldInData.org/co2-and-greenhouse-gas-emissions | CC BY18

Wir wissen also, dass die Emissionen mit dem BIP steigen. Wir wissen auch, dass die Emissionen so schnell wie möglich sinken müssen, um die Erderhitzung aufzuhalten. Da wäre ein naheliegender Schluss: Um die Emissionen zu reduzieren, muss das BIP sinken. Viele Politiker*innen würden dem entgegnen, dass in Deutschland die Emissionen sogar sinken, während das BIP weiter steigt. Das stimmt. Eine solche sogenannte absolute Entkopplung können wir in einigen Ländern des Globalen Nordens beobachten. Viele sprechen dabei auch von grünem Wachstum.

Die Emissionen senken Länder zum Beispiel, indem sie von Kohle- auf Gaskraftwerke umsteigen, mehr Windräder und Solaranlagen bauen oder dadurch, dass die Industrie effizienter wird, also für ihre Produktion weniger Energie verbraucht.19

Durch solche Veränderungen haben es Länder geschafft, Wirtschaftswachstum und Emissionen zu entkoppeln. Das gilt auch für die sogenannten konsumbasierten Emissionen. Dabei schauen sich Wissenschaftler*innen die Emissionen an, die mit dem Konsum in einem Land zusammenhängen. Selbst, wenn Fabriken in China also Autos und Smartphones für den deutschen Markt produzieren, werden die Emissionen Deutschland zugerechnet.

Allerdings zeigen verschiedene Studien, dass diese Entkopplung bisher nicht schnell genug funktioniert: Die Emissionen sinken nicht so stark, wie es notwendig wäre, um die Erhitzung auf 1,5 °C zu begrenzen.20 Eine Studie kommt zu dem Ergebnis: Wenn die Entkopplung in den untersuchten Ländern so weitergeht wie bisher, würde es im Schnitt 223 Jahre dauern, bis sie klimaneutral sind.21 Wenn wir die Klimakatastrophe noch irgendwie verhindern wollen, sind aber die nächsten Jahre die entscheidendsten.

Nun kann man sagen: Bloß, weil die Entkopplung in der Vergangenheit nicht schnell genug ging, heißt das nicht, dass das in Zukunft genauso sein muss. Und es stimmt: Staaten wollen die erneuerbaren Energien deutlich schneller ausbauen als bisher.22 Wenn steigende CO2-Preise dazu führen, dass es immer teurer wird, Emissionen auszustoßen, wird auch die Industrie mehr und mehr daran arbeiten, auf erneuerbare Technologien umzusteigen. Trotzdem hat die Erzählung vom grünen Wachstum noch einige Haken.

Stellen wir uns einmal (sehr optimistisch) ein Deutschland in gut 20 Jahren vor: Die Regierung hat sich an ihr eigenes Gesetz gehalten, wonach Deutschland bis 2045 klimaneutral sein muss. Alle Hochöfen, die Stahl herstellen, laufen mit grünem Wasserstoff oder direkt mit grünem Strom, Traktoren fahren mit Solarund Windenergie und in der Gummistiefelherstellung, die nicht ganz ohne CO2-Emissionen funktioniert, holen Maschinen das CO2 direkt wieder aus der Luft. Könnte die Wirtschaft dann nicht ewig weiterwachsen? Dagegen spricht schlichte mathematische Logik.

Auch erneuerbare Energien brauchen Rohstoffe

September 2020 in Deutschland. Nachdem die erste Corona-Welle zum Sommer abgeflaut ist, steigen die Fallzahlen erneut an. Angela Merkel, die damals noch Bundeskanzlerin ist, erklärt in einer Pressekonferenz die Exponentialfunktion.23 Auf einmal sind viele Menschen froh, eine Physikerin als Bundeskanzlerin zu haben. Sie versteht Mathe. Sie weiß, was es bedeutet, wenn sich eine Zahl innerhalb eines bestimmten Zeitraums immer wieder verdoppelt.

Was sehr selten jemand sagt, auch nicht Angela Merkel: Auch Wirtschaftswachstum ist exponentiell. Wenn das Bruttoinlandsprodukt eines Landes jedes Jahr um 2 Prozent wächst, hat es sich innerhalb von 35 Jahren verdoppelt.24 Wenn dann Hochöfen mehr klimaneutralen Stahl herstellen und mehr elektrisch betriebene LKWs oder Züge mehr Dinge durch die Gegend fahren, brauchen wir mehr erneuerbare Energien, mehr Speicher, mehr grünen Wasserstoff.

Dass wir für all das genügend grüne Energie produzieren, ist unrealistisch, erklärt Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann in ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“.25 Für mehr Windräder, Solarpanels und Batteriespeicher brauchen wir eben auch mehr Rohstoffe, wie zum Beispiel Lithium. Zuerst werden Rohstoffe abgebaut, an die wir leicht herankommen. Je mehr wir benötigen, desto aufwendiger wird der Abbau – und dadurch steigen auch die Kosten.

Außerdem führt der Run auf Rohstoffe im Globalen Süden koloniale Muster fort. Reichere Länder bedienen sich einfach an den Rohstoffen. Oft werden Menschen, die vor Ort leben, von ihrem Land vertrieben oder lei-den unter den Umweltfolgen. Die Abbauländer profitieren häufig kaum vom wirtschaftlichen Gewinn. In einer Folge ihres Podcasts „Mehr als Mate“ widmen sich die Journalistinnen Lisa Pausch und Sophia Boddenberg den Protesten von indigenen Gemeinschaften in Argentinien gegen den Lithiumabbau. „Es wird oft von einem Wettlauf um Rohstoffe wie Lithium gesprochen, bei dem China gerade weiter vorne sei als Deutschland“, sagt Boddenberg in dem Podcast. „Diese Wettlaufmetapher klingt, als wäre die Welt ein riesiger Spielplatz, auf dem die Industrieländer, wie China, Deutschland oder die USA, einfach herumrennen und sich nehmen, was sie wollen. Wer das Wettrennen gewinnt, bekommt am meisten.“26

Doch der Lithiumabbau kann dazu führen, dass das Trinkwasser im Umkreis versalzen wird. Indigene Menschen, die in den Regionen leben, würden ihre Lebensgrundlage und ihr Zuhause verlieren. In Argentinien haben die indigenen Gemeinden deshalb gegen eine Verfassungsreform protestiert. Sie befürchten, dass diese ihre Landrechte einschränken und weiteren Lithium-Projekten den Weg ebnen könnte.27

Neue Technologien werden es nicht richten

Hätte man meiner Oma in der Schule erzählt, dass ihre Enkelin einmal ein kleines Gerät haben würde, mit dem sie fast überall Filme sehen, Nachrichten schreiben und Fotos machen kann, hätte sie es wahrscheinlich nicht geglaubt. Neue Erfindungen können unser Leben komplett verändern. Und es hat immer neue Erfindungen und Technologien gegeben. Könnten wir also nicht einfach darauf vertrauen, dass wir schon noch die Super-Technologie finden, die CO2-Emissionen aus der Luft saugt – sicher, günstig und ohne schädliche Nebenwirkungen? Zum einen wäre es fahrlässig, das Überleben von Millionen von Menschen vom Zufall abhängig zu machen. Zum anderen fehlt uns die Zeit. „Selbst wenn es demnächst zu bahnbrechenden Erfindungen käme, dürften Jahrzehnte vergehen, bis diese sensationellen Ökoideen marktreif wären“, schreibt die Journalistin Ulrike Herrmann.28

Diese Zeit haben wir nicht. Wenn wir eine 50-prozentige Chance haben wollen, die globale Erderhitzung auf 1,5 °C zu begrenzen, müssen sich die weltweiten CO2-Emissionen (ausgehend von 2019) bis 2030 etwa halbieren und bis 2035 um zwei Drittel sinken.29 Seit 2019 sind die Emissionen abgesehen von einem Einbruch durch die Corona-Lockdowns weiter gestiegen.30 Bis 2030 sind es nur noch wenige Jahre. Wir rasen auf einen Abgrund zu. Und anstatt aufs Bremspedal zu steigen und uns mit einer Abkehr vom Wachstumsdogma mehr Zeit zu verschaffen, sprechen wir darüber, wie wir ein kleines bisschen an der Handbremse ziehen könnten. Oder wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, bei der Klimakonferenz 2022 sagte: „Wir sind auf einem Highway in die Klimahölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal.“31

2. REICHE LÄNDER BEUTEN DEN GLOBALEN SÜDEN AUS

Ich habe mich mit 19 Jahren dazu entschieden, Volkswirtschaftslehre zu studieren, weil ich verstehen wollte, wieso die globale Wirtschaft so ungerecht ist. Wieso manche Länder reich sind und andere arm und wie sich das ändern könnte. Turns out: Das lernt man im klassischen VWL-Studium in Deutschland nicht.

Erst später habe ich verstanden, dass es kein Zufall ist, dass klassische BWL- und VWL-Studiengänge nur eine bestimmte wirtschaftswissenschaftliche Richtung behandeln. Es hat mit Macht zu tun. Die Modelle und Theorien, die ich in meinem Bachelor-Studium kennengelernt habe, stützen den Kapitalismus und das Wachstumsdogma. Dinge, die ein Loch in die Fassade des Kapitalismus reißen, kommen kaum vor – zum Beispiel die Klimakrise oder globale Ungleichheit.

Immer wieder wird der Kapitalismus damit gerechtfertigt, dass am Ende alle profitieren: Die Weltwirtschaft muss nur immer weiterwachsen und irgendwann kommt auch genug bei den Armen an. In den Modellen, die ich im Studium kennengelernt habe, funktioniert das auch. Darin gibt es nämlich keine Natur, keine Ökosysteme, keine Kipppunkte, die durch zu viel Treibhausgas in der Atmosphäre ausgelöst werden können. Dadurch kann man in diesen Modellen unbegrenzt produzieren. Es gibt keine Machtverhältnisse, keinen Kolonialismus, kein Patriarchat. Menschen maximieren ihren Nutzen. Dass einige Menschen dafür sehr viel mehr Spielraum haben als andere, ist dem Kapitalismus egal.

Vom Kolonialismus zum ökologisch ungleichen Tausch

Die Geschichte des Kapitalismus lässt sich nicht ohne den Kolonialismus erzählen. Europäer*innen enteigneten zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert auf brutale Weise Land in Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. Sie verübten Genozide an der indigenen Bevölkerung. In afrikanischen Ländern wurden Millionen von Menschen versklavt und verschleppt.32 Die Arbeit von versklavten Menschen und indigenen Arbeiter*innen sowie die Ausbeutung von Rohstoffen trugen dazu bei, die europäische Wirtschaft zu entwickeln. „Gold und Silber aus Mittel- und Südamerika […] spielten eine entscheidende Rolle dabei, den Münzbedarf in der expandierenden kapitalistischen Geldwirtschaft in Westeuropa zu decken“, schreibt der guyanische Historiker Walter Rodney in dem Buch „How Europe Underdeveloped Africa“.33

In Großbritannien beruhte die schnell wachsende Textilproduktion auf der brutalen Ausbeutung von Land und Menschen im Globalen Süden. „Bis 1830 erforderten die britischen Importe von Baumwolle, Holz und Zucker die Ausbeutung von mehr als 10 Millionen Hektar Anbaufläche, 1,5- bis 2-mal so viel wie die verfügbaren Anbauflächen in Großbritannien“, heißt es im Weltungleichheitsbericht mit Bezug auf den amerikanischen Historiker Kenneth Pomeranz.34

In Bezug auf den Kapitalismus sprechen Fachleute dabei von „ursprünglicher Akkumulation“. Um das ständige Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, ist der Kapitalismus darauf angewiesen, sich Rohstoffe, Land, Energie und Arbeitszeit kostenlos oder günstig anzueignen. Die Ausbeutung des Globalen Südens begann mit dem Kolonialismus und dauert in anderer Form bis heute an.

In den 1970er Jahren argumentierte der Historiker Rodney deshalb, dass afrikanische Länder sich nur entwickeln könnten, indem sie mit dem „internationalen kapitalistischen System“ brechen.35 Solange Gewinne aus dem Abbau von Rohstoffen (mit der Arbeitszeit von Menschen vor Ort) hauptsächlich in den Globalen Norden fließen, kann der Globale Süden sie nicht nutzen, um die eigene Wirtschaft aufzubauen.

Solche Beobachtungen sind der Ausgangspunkt für eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie, die Austauschbeziehungen zwischen Globalem Süden und Globalem Norden greifbar machen soll: die Theorie des ökologisch ungleichen Tauschs.36 Die Grundidee: Um die Produktion und den Konsum im Globalen Norden zu ermöglichen, nutzen Unternehmen überproportional viele Rohstoffe, Energie, Land und Arbeitszeit aus dem Globalen Süden.

Wir sehen das bei Kleidung, die Näher*innen in Bangladesch herstellen, beim Lithium-Abbau für Akkus in Argentinien und Chile oder im Amazonas-Regenwald, den Unternehmen abholzen, um auf den Flächen Futter für Masttiere im Globalen Norden anzubauen. Aus der Sicht des Kapitalismus ist dieser Austausch gerechtfertigt, weil Unternehmen für die Rohstoffe, die Energie, das Land und die Arbeitszeit zahlen. Die Mainstream-Ökonomie beschäftigt sich kaum mit diesen Flüssen von ärmeren zu reicheren Ländern. Solange sie nicht gemessen werden, gibt es auch keine Ungleichheit. Dadurch wird es leicht, die globalen Machtverhältnisse auszublenden, die die Preise (zugunsten der reichen Länder) bestimmen. Und der vielleicht wichtigste Punkt: Geld kann wohl kaum kompensieren, dass Menschen ihr Land und ihre Lebensgrundlage verlieren.

Um sich die konkreten Zahlen anzusehen, hat eine Gruppe von Forschenden um den Sozialökologen Christian Dorninger zu den Computerprogrammen gegriffen und gerechnet.37 Die Grundfrage: Wie viel Rohstoffe, Energie, Land und Arbeitszeit nutzen Länder, um ihren Konsum zu decken? Und woher beziehen sie die Komponenten? Diese 4 Bereiche sind unabdingbar, um Dinge zu produzieren und damit auch Wirtschaftswachstum zu erzeugen. Das Ergebnis: Reiche Länder nutzen in allen 4 untersuchten Bereichen mehr, als ihnen bei einer gleichmäßigen Verteilung zustünde. Das heißt, sie nehmen Rohstoffe, Energie, Land und Arbeit von den ärmeren Ländern.

Das Wirtschaftswachstum im Globalen Norden beruht also zu einem Teil auf der Ausbeutung des Globalen Südens. Farhana Sultana, Geografin und Umweltwissenschaftlerin, sagte dazu auf der Beyond-Growth-Konferenz 2023 im Europäischen Parlament in Brüssel: „Die Weltwirtschaft stützt sich weiterhin auf die Ausbeutung von Ressourcen und Menschen aus marginalisierten Gemeinschaften, als ob dies die Norm und nichts anderes denkbar wäre.“38

Das Argument, dass wir bloß genug wachsen müssen, damit alle das Wohlstandsniveau des Globalen Nordens erreichen, funktioniert dann natürlich nicht mehr. Denn der Globale Süden bräuchte wiederum ärmere Länder, die er ausbeuten könnte und diese wieder andere Länder. Das geht nicht auf. Zudem hat schon jetzt der Konsum des Globalen Nordens die Welt in die Klimakrise getrieben. Seit 1850 haben Nordamerika und Europa etwa die Hälfte der globalen Treibhausgasemissionen verursacht.39

Der Globale Süden muss wachsen dürfen

Wenn ich über Degrowth spreche oder schreibe, kommt schnell das Argument: „Der Globale Süden muss doch wachsen dürfen.“ Das stimmt. Und es ist eher ein Argument für Degrowth als dagegen. Ursprünglich wurde der Begriff unter anderem von Ideen aus dem Globalen Süden inspiriert. Serge Latouche, einer der Vordenker der Degrowth-Theorie, bezieht sich zum Beispiel auf ein Werk des beninischen Autors und Politikers Albert Tévoédjrè.40 Auch die südafrikanische Philosophie „Ubuntu“ oder das südamerikanische Konzept des „Buen vivir“ werden immer wieder als Einflüsse genannt. Danach haben Wissenschaftler*innen Degrowth in erster Linie als Konzept für den Globalen Norden weiterentwickelt. Denn es sind insbesondere die Produktion und der Konsum des Globalen Nordens, die für die Klimakrise verantwortlich sind.

Wenn wir unser Wirtschaftssystem so verändern, dass wir die Klima- und die Biodiversitätskrise eindämmen können, würde das BIP der Länder des Globalen Nordens wahrscheinlich schrumpfen. Länder im Globalen Süden hätten dagegen Raum, um ihr BIP zu steigern. Hilfreich finde ich hier das Bild des Donuts von der britischen Ökonomin Kate Raworth.41 Im Loch des Donuts sind die Menschen, die nicht genug zu essen und keine Gesundheitsversorgung haben, die nicht zur Schule gehen können. Unser Wirtschaftssystem sollte alle Menschen aus dem Loch heraus und in den Donut hinein holen. Außerhalb des Donuts sind aber die Bedrohungen, die unsere stetig wachsende Wirtschaft verursacht hat: Klimakrise, Luftverschmutzung, Versauerung der Meere. In dem süßen Teig des Donuts ist also der Sweet Spot zwischen Zuviel und Zuwenig. Da wollen wir hin. Momentan gibt es allerdings kein Land, das die Bedürfnisse seiner Bewohner*innen erfüllt, ohne zu den genannten Krisen beizutragen.42

Damit Menschen ihre Grundbedürfnisse decken können, braucht es Investitionen in sanitäre Einrichtungen, Zugang zu Bildung, Rentensysteme, eine Arbeitslosenversicherung, eine öffentliche, kostenlose Gesundheitsversorgung und auch entsprechende Industrien, die etwa Medikamente herstellen. Wichtig ist: Der Globale Norden hat kein Vorbild geschaffen, an dem sich der Globale Süden orientieren muss. Er „löst“ Probleme, indem er anderswo neue schafft, indem er die Natur, Ressourcen oder Menschen ausbeutet, besonders jene, die in ärmeren Ländern leben.