Das Ende der Welt - Christian Schüle - E-Book

Das Ende der Welt E-Book

Christian Schüle

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Beschreibung

Was ist dran am Weltuntergang im Jahr 2012? Ist es mehr als ein Gemisch aus Magie und Wunderglaube? Oder doch nur ein Medienhype? Christian Schüle begibt sich auf Spurensuche und erzählt die Geschichte von der Lust am vorhergesagten Untergang. Er beschreibt esoterische Hysterie und befragt die Religionen über Das Ende der Welt, die Psychologen über die Untergangsangst und die Naturwissenschaftler über den Zustand unserer Erde – und gelangt zu dem Ergebnis, dass der Weltuntergang im Unterbewusstsein jedes Menschen angelegt und deshalb so leicht abrufbar ist. Doch Schritt für Schritt gerät seine Spurensuche zu einer beunruhigenden Zeitdiagnose. Denn der Weltuntergang könnte ganz anders daherkommen als von seinen Verfechtern beschrieben …

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Seitenzahl: 441

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Christian Schüle

Das Ende der Welt

Von Ängsten und Hoffnungen in unsicheren Zeiten

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

MottoAufzug1. Betrachtung: Immer naht das Ende der Welt2. Betrachtung: Die absolute Herrschaft der ApokalypseOffenbarung3. Betrachtung: Die Apokalypse als Blaupause himmlischer Gerechtigkeit4. Betrachtung: Das Christentum als apokalyptische PhilosophieVergangenheit5. Betrachtung: Geschichte als Geschichte der Weltuntergangsprophetien6. Betrachtung: Der Höhenflug der Wissenschaft aus dem Geist des Untergangs7. Betrachtung: Weltuntergang im MainstreamEmpirie8. Betrachtung: Die Simulation des Untergangs9. Betrachtung: Die totale Ordnung des Alls10. Betrachtung: Das Ende der Welt und der Anfang des GlaubensDer Mensch glaubt, weil er spüren willDer Mensch glaubt, weil er auffahren willDer Mensch glaubt, weil er sich überwinden willDer Mensch glaubt, weil er gesehen werden willDer Mensch glaubt, weil Gott im oberen Scheitellappen wohntDer Mensch glaubt, weil seine Gene es ihm befehlenDer Mensch glaubt, weil Glaube gesund hältDer Mensch glaubt, weil er vertrautFazit: Der Mensch glaubt, weil er hoffen willGegenwart11. Betrachtung: Warum für Apokalyptiker heute herrliche Zeiten herrschen12. Betrachtung: Der Maya-Kalender undkeinerlei Weltuntergang13. Betrachtung: Fortschritt bringt stets Panik mit sich14. Betrachtung: Die Kultur der Gegenwart15. Betrachtung: Medien und Apokalypse1. Der Boulevard ist keine Tatsache, er ist eine Geisteshaltung2. Der Boulevard simuliert und stimuliert die niederen Instinkte3. Der Boulevard ist ein geschlossenes System4. Der Boulevard als Keilriemen der Erlösung übernimmt die säkulare Fortschreibung der Heilsgeschichte5. Der Boulevard verweigert sich per definitionem intellektuellem Erkenntnisgewinn6. Der Boulevard ist das Betriebssystem der spätmodernen Erregungsgesellschaft7. Der Boulevard setzt die Sprechthemen der Gesellschaft8. Der Boulevard setzt gezielt auf Kurzfristigkeit9. Der Boulevard ist nicht nur totalitär, er ist auch total10. Die politische Klasse unterwirft sich den Regeln des Boulevards, und Politik wird zum Theater16. Betrachtung: Die Politik der Apokalypse17. Betrachtung: Das Ende der Welt als deutsches GeschäftZukunft18. Betrachtung: Morgenröte hinterm Höllenfeuer19. Betrachtung: Die Wiedereroberung der Welt20. Betrachtung: Weltrettung durch Wertschöpfung21. Betrachtung: Das Ausbleiben der Zukunft
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»Geht am 21. 12. 2012 die Welt unter?Ja – nein – weiß nicht«

 

(Voting auf der Homepagewww.Weltuntergang-2012.de)

 

 

 

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

in allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Dachdecker stürzen ab und geh’n entzwei

und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

 

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

 

Jakob van Hoddis (Weltende, 1911)

 

 

 

»Was wir heute sehen und bestaunen,wird verbrennen im universellen Feuer, das hineinführtin eine neue, gerechte, glückliche Welt.«

 

Seneca (1–65 n.Chr.)

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Aufzug

Das Ende der Welt als Begleiter der Menschheit

1. Betrachtung: Immer naht das Ende der Welt

Setzen wir Zeit und Raum für den Moment eines absurden Gedankens außer Kraft, der da lautet: Es naht das Ende der Welt. Alles wird zugleich kommen. Zugleich stürzen, fallen, krachen. Der Furor des Verschwindens ist unbestechlich – weder gibt es Abfolgen noch Ursache-Wirkungs-Verhältnisse, es gibt nur noch Gleichzeitigkeit. Und blicken wir mit dieser Gewissheit kurz zurück auf die Jahre 2010 und 2011 als einen besonderen Abschnitt der Zeitläufte, ein gut verschnürtes Bündel Weltgeschichte: In selber Zeit und selbem Raum wie die Völker in Tunesien, Ägypten, Libyen gegen ihre Unterdrücker rebellierten, erschienen in Frankreich Bücher, die den Aufstand prophezeiten und die Empörung gegen die Herrscher übers Kapital forcierten. Und zur selben Zeit verschleierten Aschewolken aus einem isländischen Vulkan den Himmel über halb Europa und paralysierten bei ausbleibendem Flugverkehr die globale Just-in-time-Ordnung. In Japan gab es Tsunami, Erdbeben und Kernschmelze, in Deutschland wütete der sogenannte EHEC-Erreger, und auf der Sonne ereignete sich eine gigantische Eruption, woraufhin 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt ein dramatischer Sturm einsetzte, bei dem riesige Partikelmengen ins All geschleudert wurden, mit, wie es hieß, verheerenden Auswirkungen auf unseren Planeten. Dann bebte im Kurdengebiet der Osttürkei die Erde in einer amtlichen Stärke von 7,2 auf der Richterskala, massenweise Tote waren zu beklagen, und zur selben Zeit brauchte das marode Griechenland im Endspiel um seine Existenz abermals einen einige Milliarden Euro prallen Rettungsschirm, während der deutsche Zeitgenosse noch immer in dem seit Jahrzehnten schlimmsten Verhängniszusammenhang von Krisen und Hyperkrisen gefangen war. Europa war in der Krise, der Euro war in der Krise, das Politische war in der Krise, die Politik war in der Krise, die Koalition, die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen, der Finanzmarkt, der Kapitalismus, die Banken waren in der Krise, die Hoffenden, die Liebenden, ja, der Mensch an sich war in der Krise.

Ist das menschliche Leben nicht vielmehr der fatale Gesamtzusammenhang einer einzigen, großen, alles überwölbenden Krise, die jeder Einzelne zu bewältigen hat und nicht bewältigen kann? Vielleicht könnte man sagen: Das Leben ist eine Krise an sich. Ein System an unermüdlicher, nie gelöster Krisenprophetie, Krisenangst, Krisenprävention, Krisentherapie. Permanent Strategien zur Krisenbewältigung zu entwerfen und anzuwenden – im Sinne der Bewältigung eines vom Unglück bedrohten Lebens –, ist mühsam, auszehrend, verunsichernd und vor allem existenziell bedrohlich. Mit nichts scheint der Mensch schlechter zurechtzukommen als mit Komplexität und Unberechenbarkeit – beides aber charakterisiert den Fortschritt, und Fortschritt ist der Gott des Systems aus Gläubigern und Schuldnern. Jedem Fortschritt inhärent ist die Panik vor dem Fortschreiten. Mal äußert sie sich dezent, mal unüberhörbar. Man gibt gewohntes Terrain auf, löst den Anker und stellt sich den Wogen des unberechenbaren Meers: So ist des Fortschritts Risiko seit Jahrhunderten. Und Unberechenbarkeit, die Tochter des Fortschritts, übt ungehörig, wie sie ist, gegenüber dem Drang zu Kontrolle und Ordnung veritablen Ungehorsam.

Deuten also nicht alle inneren und äußeren Umstände des vergangenen Jahrfünfts auf die nahenden letzten Tage der Menschheit hin? Während der Finanzkrise stand die Welt augenscheinlich einen Fußbreit vor dem Abgrund – innere Aushöhlung, Kollaps des Systems, Bruch der Organisationsstruktur. Dann bebte in Haiti die Erde und ließ ein ganzes Land verschwinden, es bebte die Erde in Neuseeland, und der Schlund verschlang ganze Dörfer. Es schwoll die Angst vor einem Beben im Yosemite-Nationalpark und in San Francisco, und irgendwo zuckte immer ein Boden. Zeitgleich geschahen weitere Katastrophen, nicht bedingt durch den fatalen Klimawandel, sondern durch Kollision der Platten unter den Weltmeeren, auf die Eingeweihte schon lange gewartet hatten; beständig arbeitete die Tektonik fort – Überschwemmungen, Zerstörungen, Tod und Trauer bedrohten Abertausende von Existenzen und Leben, die Medien brachten unendliche Geschichten von Leid, Schmerz, Trauer und innerer Verwüstung. Dann kam der siebenmilliardste Mensch auf die Welt, und der Ökonom Wolfgang Fengler schrieb aus seinem Büro der Weltbank in Nairobi in einem Zeitungsaufsatz: »Der Bevölkerungstheoretiker Thomas Malthus weissagte Ende des 19. Jahrhunderts, den Menschen werde die Nahrung ausgehen, wenn die Weltbevölkerung so rasant wachse. Damals hatte die Welt weniger als eine Milliarde Menschen. … Im Augenblick erhöht sich die Zahl der Weltbevölkerung jedes Jahr um 80 Millionen Menschen.« Was anderes als das Ende ist daraus zu schließen?

 

Schließlich passierte es. Elfter März 2011. Ein Horror-Beben im Pazifik. Eine tektonische Plattenverschiebung. Gigantische Tsunamis, sechs, acht, zehn Meter hohe Wellen, Tausende Tote, Zehntausende Vermisste, zahllose Traumatisierte. Der Reaktor war geborsten, es drohte eine radioaktive Verseuchung ungeahnten Ausmaßes, es drohte die Kernschmelze. Das Endzeit-Fanal der jüngsten Geschichte hatte einen Namen: Fukushima.

Es war die stärkste jemals registrierte Erschütterung. Sie löste einen Tsunami aus. Bis zu 40 Meter hohe Wellen verwüsteten die Nordostküste der Insel Honshu. Orte wurden weggerissen, Straßen fortgespült. 19 000 Menschen starben. Es war die teuerste Naturkatastrophe aller Zeiten: 210 Milliarden Dollar. Der Vorstand der Munich Re, Torsten Jeworek, sagte Anfang 2012: »Eine Serie schwerster Naturkatastrophen wie im abgelaufenen Jahr gibt es nur selten. Es handelt sich hierbei um Ereignisse, deren Wiederkehrperioden zum Teil bei einmal in 1000 Jahren liegen.«

Der Nordosten Japans wurde zuletzt im Jahr 869 von einer vergleichbar verheerenden Flutwelle getroffen. Fukushima aber wurde zur Katastrophe durch jene Technik, die angetreten war, das Leben berechenbar zu machen.

 

Deutete also nicht alles auf das Ende der Welt hin, vielleicht tatsächlich am 21. Mai 2011, wie der amerikanische Laienprediger Harold Camping seit langem raunte? Doch was geschah an diesem Tag? Nichts. Er verging, ohne dass in der Welt Umstürzenderes geschah als die üblichen Morde und Totschläge, die kleinen geschäftlichen oder zwischenmenschlichen Katastrophen, die bunte Phänomenologie des menschlichen Leids als kreatürliches Schicksal. Kein Höllenfeuer, kein speiender Drache, keine Eruption, kein Asteroid, nicht einmal ein kleines Erdbeben, geschweige denn die Epiphanie des Bösen in Gestalt eines Vulkanausbruchs oder einer Homosexuellenparty. Nein, schlichtweg nichts. Auf phänomenale Weise versagte Campings Vorhersage des »Judgement Day«, mit dem auf großflächigen Plakaten in amerikanischen Großstädten oder auf den Philippinen, in Vietnam, Mexiko und Neuseeland geradezu polternd das Ende der Welt angekündigt wurde – begleitet von audiotonen Prophezeiungen via »Family Radio« und auf »Judgement Day«-Fahrten des entsprechend lackierten Family-Radio-Busses. Das Motto der Hörfunkwelle lautete: »Feeding God’s sheep«, wahlweise »Weide meine Schafe«, ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes. Der Weltuntergangshörfunk, so wurde aus den USA berichtet, trieb sein Anliegen gar so weit, dass der Text »Gay Pride: Sign of the End« wegen seiner die Schwulen verhetzender Sprache von der Homepage genommen werden musste.

Doch dieser 21. Mai ging zu Ende, wie er begann: als kalendarisches Faktum. Und er mündete freundlich in den 22. Mai, und die freudentaumelnde Entrückung der Gerechten, wie sie die Radioprediger vorhergesagt hatten, blieb aus. Mit der sogenannten »Entrückung« freilich sollte das dramatisch umflorte Ende der Welt seinen Lauf nehmen; Aberhunderte christlicher Fundamentalisten warteten an jenem Samstag vergeblich auf das schwere Erdbeben, mit dem der Weltuntergang um Punkt 18 Uhr amerikanischer Ortszeit eingeläutet werden sollte. Weil auch Propheten irren (autodidaktische zumal) und weil Irren womöglich menschlich ist, korrigierte sich der damals 90-jährige amerikanische Radioprediger und selbsternannte Bibelforscher Harold Camping, ein gelernter Bauingenieur und Vater von sieben Kindern, in peinvoller Zerknirschung und stufte die angekündigte »Entrückung« auf ein »geistliches Gericht« herunter – nicht allerdings, ohne auf den definitiven Weltuntergang am 21. Oktober 2011 zu verweisen, der dann aber, wie der gute Mann dröhnte, noch viel dramatischer als angenommen ausfallen werde: »Am 21. Oktober«, prophezeite Camping, »wird die Welt zerstört. Und es wird alles auf einmal passieren.«

In wahrscheinlich absichtsvoller Ironie gab die amerikanische Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control (CDC) in Atlanta daraufhin Verhaltensregeln für den Weltuntergang aus und ließ wissen, dass es im Fall einer Invasion der Zombies zunächst ratsam sei, eine Notfall-Ausstattung mit Wasser- und Lebensmittelvorrat im Haus zu haben. Zuletzt folgte das Versprechen der Regierungsbehörde: »Sollten Zombies durch die Straßen schlendern, wird das CDC, wie beim Ausbruch jeder anderen Seuche auch, Ermittlungen durchführen.«

Einige Tage nach der verweigerten Entrückung, am Abend des 9. Juni 2011, erlitt Harold Camping, der Präsident und Geschäftsführer von Family Radio, einen leichten Schlaganfall. Mister Camping, ließ man die Anhängerschaft wissen, erhalte ausgezeichnete medizinische Versorgung, die Ärzte seien mit den Fortschritten, die er in seiner Genesung mache, sehr zufrieden.

Wer weiß, ob Harold Campings Herz den größten Fehler, den ein Prophet begehen kann, nicht verkraftet hat, denn ein wahrer Prophet legt sich niemals fest. Die Festlegung auf ein konkretes Datum kann nur mit übermenschlicher Hybris, übermenschlicher Weisheit, übermenschlicher Dummheit oder herzerfrischendem Dilettantismus erklärt werden. Fast 20 Millionen Dollar Spenden hatte Camping eingetrieben, und ihm standen an die 100 Millionen Dollar Rücklagen zur Verfügung, um den »Judgement Day« würdig begehen zu können. Anfang der 1990er Jahre hatte der unermüdliche Prediger schon einmal einen Weltuntergang angekündigt, für das Jahr 1994, dies damals allerdings noch mit einem Fragezeichen garniert. Wird ein Prophet älter, verzichtet er augenscheinlich auf derlei Verunsicherung, was ihn nicht unbedingt weiser oder prophetisch glaubwürdiger macht, in jedem Fall aber die Not aufzeigt, vor dem Ende des eigenen Lebens noch das Ende der Welt erleben zu können.

Man könnte die Aktionen des irrenden Radiopredigers nun als einsame Spinnerei eines präapokalyptisch Entrückten abtun, wäre sie nicht Legion in einem Land, das sich, wie später zu sehen sein wird, großteils als ein himmlisches Jerusalem betrachtet und den Segen der Auserwähltheit Gottes für sich in Anspruch nimmt.

Am 21. Oktober 2011 also geschah genau genommen: gar nichts. Man darf sich Harold Camping als sehr ratlosen Ritter der traurigen Gestalt vorstellen und inständig hoffen, dass das Herz wohlauf ist.

 

Bei entsprechender Veranlagung könnte ein Fatalist (nicht einmal notwendigerweise ein Möchtegern-Prophet der Güteklasse Camping) die sich ballenden Naturkatastrophen der vergangenen Jahre – Tsunami, Hurrikan Katrina, Fukushima, die Erdbeben in China, Haiti, der Türkei und im Iran – mit gewisser Berechtigung und Logik als Vorboten des nahenden Weltuntergangs lesen. Jedes Ereignis für sich scheint Indiz des Untergehenden, Stürzenden, Fallenden, des furorhaften Verschwindens genug zu sein. Schließlich könnte man auf die Idee kommen, dass man, hätten sich beispielsweise Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze von Fukushima nicht im März 2011, sondern ein Jahr später, im März 2012, zugetragen, gespenstisch nah an die konkreteste Vision planetarischer Dunkelheit gekommen wäre: die medial so eifrig umflorte Weltende-Prophezeiung durch den Kalender der mittelamerikanischen Maya aus der späten Antike.

Oder kommt es noch, das Ende, kommt es doch Ende dieses Jahres?

 

Angeblich, so behaupten Legionen erregter Bürger und selbsternannter Experten, sei auf Freitag, den 21. Dezember 2012 hin eine sehr seltene Planetenkonstellation zu beobachten. Angeblich soll an jenem 21. Dezember die Sonne die Milchstraße einnehmen und dort zur selben Zeit mit der Erde in einer ominösen Linie stehen. Angeblich soll der von den Sumerern vor Jahrtausenden entdeckte Himmelskörper Nibiru Ende des Jahres unheilvoll auf die Erde zusteuern. Angeblich gibt es ein erhöhtes Auftreten von Gammastrahlen im Milchstraßenzentrum. Angeblich soll der Stern Beteigeuze explodieren und zur zweiten Sonne werden. Angeblich steht der Ausbruch des weltweit größten Vulkans im Yellowstone-Nationalpark kurz bevor. Angeblich findet in Kürze ein Polsprung statt. Angeblich ändert sich das Magnetfeld der Erde. Angeblich gibt es auf der Sonne weitere heftige Explosionen. Angeblich bedrohen Asteroiden die Erde und steht Pluto im Zeichen des Steinbocks, weswegen – astrologisch gedeutet – Krusten aufbrechen, Strukturen zusammenfallen und die gewohnte Ordnung kollabieren könnten. Angeblich steht zur Wintersonnenwende 2012 die Sonne am Schwarzen Loch; angeblich wird sie dann aufgesogen und samt Sonnensystem in eine neue Dimension rutschen.

Angeblich werden zur Rettung der Menschen in Norwegen bereits unterirdische Bunker gebaut. Angeblich haben Ehepaare bereits Haus und bürgerliche Existenz aufgegeben und sind in angeblich sichere Höhlen gezogen. Angeblich legen Menschen Vorratskammern und Wasserzisternen an, um den Weltenbrand zu überstehen. Angeblich bereitet sich in den Wäldern von Oregon eine Gruppe Menschen auf die Invasion der Untoten vor. Angeblich lernen wieder andere in einem Zweitages-Crashkurs, wie sie der erwarteten »Zombies-Apokalypse« entgehen können, Kurse für Kinder inklusive.

Und dann gibt es die unglaublich wahre Geschichte des 200-Einwohner-Dorfes Bugarach am Fuße der französischen Pyrenäen, in dem sich seit Monaten Menschen aller Länder versammeln, um am magischen Felsmassiv Pic de Bugarach vor dem Untergang der Welt errettet zu werden – in der festen Überzeugung, in besagtem Berg befinde sich eine Garage für jene außerirdischen Wesen, die sie, die Auserwählten von Bugarach, bevor alles niedergeht, mit auf den Weg ins himmlische Morgen des weiten Kosmos nehmen.

Amerikanische Websites bieten Reisen nach Bugarach an, Gurus und Schamanen sind bereits da, Workshops werden organisiert, Meditationsabende angeboten, Seminare geplant. Von Seiten der Kommunalverwaltung heißt es, die Nachfrage nach Häusern im Dorf wachse stark an, die Immobilienpreise stiegen kontinuierlich, und reiche In- und Ausländer kauften – um sich die besten Plätze für die Rettung zu sichern – das Ackerland um das Dorf herum auf. Dessen Bürgermeister erwartet und fürchtet im Laufe des Jahres den Ansturm Tausender Weltuntergangsflüchtlinge, schon jetzt sind alle verfügbaren Pensionszimmer für den 21. Dezember ausgebucht.

Dieses magische Datum! Haben sich nicht auch die okkulten Seher darauf kapriziert? Vom spätmittelalterlichen Arzt Nostradamus ist überliefert, er habe für unsere Epoche den großen Wendepunkt ebendann vorhergesagt; der einflussreiche amerikanische »2012-Autor« John Major Jenkins kündigt seit Jahren eine Renaissance des Mayaglaubens mit den Prophezeiungen vom Weltuntergang an, und der streitbare Schweizer Bestsellerautor Erich von Däniken erwartet in Kürze Dämmerung und Wiederkunft der Götter, die alles neu ordnen werden. Internationale Massenmedien aller Art greifen die 2012-Erregung auf, stimulieren und befördern sie dadurch, fast jeder hat von diesem heillosen Datum schon einmal gehört, und nicht wenige – eingefasst ins Korsett technischer Rationalität und bürokratischer Lebensgesamtverwaltung – spüren angesichts des Ungewissen einen Schauder …

Und in der Tat: Auf der Inschrifttafel eines königlichen Sarkophags im mexikanischen Tortuguero aus dem 15. Jahrhundert heißt es wörtlich: »Es wird sich ereignen das Jahr 2012.« Und weiter heißt es: »Es wird herabkommen der Gott Bolon Yokte.« Und auch das ist richtig: Am 21. 12. 2012 endet tatsächlich ein bedeutender Zyklus im Kalender der Maya.

 

Ich selbst muss zugeben, an Weltuntergänge nie geglaubt zu haben, aber ich war immer schon fasziniert vom Glauben daran. Genauer gesagt: von den kollektiven Psychosen der Gesellschaften und Gemeinschaften, sich diesem Glauben zu verschreiben. Verstörend ist, dass dies über die Jahrhunderte hinweg in Europas Kulturen konsistent geblieben ist – zu allen Zeiten rechnete man stets mit dem Untergang. Eine schlichte, empirisch schwachbrüstige, aber aufschlussreiche Umfrage unter Freunden und Bekannten führte zu der verblüffenden Erkenntnis, dass gerade die, denen man Endzeit-Neigungen zuletzt zugetraut hätte, merkwürdig empfänglich für die Anrufungen des Weltendes waren. Es ist und bleibt mir ein Rätsel, wie ein mitteleuropäisch geschulter Verstand derart in eine Denkfigur vernarrt sein kann, die so offenkundig zu allen Zeiten durch die real existierende Realität widerlegt wurde: Das immer wieder prophezeite Ende der Welt, das so alt ist wie die Menschheit selbst, ist ja nachweislich niemals eingetreten. Es muss also andere, den Verstand transzendierende Gründe für die ewige Lust am Untergang geben, kulturelle Prädispositionen und psychische Befindlichkeiten. Genau die sind es, deren Verborgenheit hinterm Schleier der funktionalen Wohlstandsexistenz mich gereizt haben, eine lange Reise durchs Universum des Weltuntergangs zu machen – auf den Spuren meiner eigenen Seelenverfassung im Übrigen und stets in seismographischer Geistesgegenwärtigkeit, um exakt zu prüfen, ob und inwieweit durch Reflexionen, Gespräche und die permanente Beschäftigung mit dem Weltuntergang in mir selbst ein psychokulturell angelegtes Muster getriggert und freigelegt wird.

Man kann es wie folgt sagen: Endzeit- oder Endwelt-Szenarien sind insofern eine Grundkonstante des zivilisatorischen Daseins, als sie die Auslöschungsphantasie des Menschen mit seiner Heilserwartung verknüpfen. Der Zusammenhang zwischen Aufstieg und Untergang ist evident: Dem zivilisatorischen Aufstieg der Menschheit dank Technologie und Naturbeherrschung aus den Niederungen von Sterblichkeit und Darbnis folgt die Angst vor dem Untergang durch ebenjene Maschinen und technischen Errungenschaften, die trotz aller Herrschaftsansprüche letztlich unbeherrschbar sind. Im Laufe des Studiums seiner Heilserwartungen ist eine Menge über den Menschen an sich (und auch über uns selbst) zu lernen, vornehmlich über jenen der westlichen Industriegesellschaft, der, um sich selbst zu verstehen, um seine Herkunft zu reflektieren, um seine Prägung zu erklären, gern auf archaische Muster und Mythen zurückgreift. Vielleicht hat das Individuum, wenn es obenauf ist – sich im Wohlstandskarussell drehend, im Existenzglück juchzend –, in der Tat einen unbestechlichen Instinkt für die Möglichkeit, dass dies nicht so bleiben könnte. Denn sein Leben lang steht der Einzelne vor der schwierigsten aller schwierigen Aufgaben des Lebens – der Bewältigung seiner größten narzisstischen Kränkung: dem Skandal des eigenen Todes.

Auf den Weg gemacht habe ich mich mit dem Rüstzeug des Skeptikers und der Neugier des Unbestechlichen. Zurückgekommen bin ich verändert, so viel schon hier. Die Geschichte von der ewigen Lust am Untergang begann für mich und beginnt zwangsläufig immer mit einem der schillerndsten Begriffe aller Zeiten.

2. Betrachtung: Die absolute Herrschaft der Apokalypse

Wer den »Weltuntergang« im Munde führt, spricht zugleich über die »Apokalypse«, auch wenn er das Wort nicht explizit ausspricht und womöglich nicht einmal weiß, was dieser Begriff im Eigentlichen bedeutet. Apokalyptik, die Philosophie und Theologie der Apokalypse, ist eine der geistigen Blaupausen der Gegenwart und ihrer Kultur und das apokalyptische Denken eine der großen Sinnformationen der europäischen und amerikanischen Zivilisationen. Der Begriff »apokalyptisch« fungiert als Begriff des maximalen, nicht steigerbaren, finalen Erregungszustands einer Katastrophe oder auch als superlativischer Superlativ, ohne sprachlich ein Superlativ zu sein (und erhält damit in seiner Wirkmächtigkeit ähnliche Maximalität wie etwa das apokalyptisch getönte Wortsymbol »Auschwitz«).

Verstörend ist die Lust auf das Ende der Welt als eine Art Guerilla-Strategie in einer Zeit, deren Genossen (uns eingeschlossen) ja alles dafür tun, jede Manifestation eines Endes zu vermeiden. Die Apokalypse ist bis heute die Chiffre für die auf legendäre Weise paradoxe Todessehnsucht des Menschen, der das menschlich Klügste aufbietet, um das Leben zu verlängern. Eine Chiffre, die alles vereint, was mit Grausamkeit, Tod, Sterben, Chaos, Vernichtung, Untergang, Weltherrschaft zu tun hat und in der Sprache der Testamente der Antichrist ist.

Sehnsucht nach dem Untergang ist eigentlich ein Widerspruch in sich, denn Sehnsucht bezeichnet Neugier und Trieb nach Neuem, Anderem, Kommendem – oder, und dann wäre sie melancholisch bis destruktiv, Trauer über das unerfüllt Gebliebene. Der Untergang hingegen bereitet das vollkommen erfüllte Ende vor, nach dem es, vermutlich, nichts Neues mehr gibt. Oder doch? Und wenn es nach dem Ende der Welt etwas Neues geben sollte, was genau wäre das? Und kann man sich danach sehnen? Und setzen hier nicht schlicht die Gnade des Glaubens und der Herrschaftsbereich der Religionen an?

 

Für mich persönlich war immer klar, dass man – Differenzierungen mit eingerechnet – die Welt grundsätzlich nur auf zweierlei Weise betrachten kann: Entweder hält man sie für schlecht oder für gut. Man kann natürlich auch keinerlei Haltung zur Welt haben, was reichlich fad und für apokalyptische Belange uninteressant ist. Wer die Welt nun für schlecht hält, denkt aus dem Geist der Negation heraus; wer sie für gut hält, mag womöglich naiv sein, ist aber konstruktiv und in jedem Fall optimistisch. Gegen den Optimismus, etwa in Gestalt eines ambitionierten Gutmenschentums, ist im Zuge der Jahrhunderte reichlich Häme gespritzt worden, und nie mehr wird der Spott darüber so ätzend sein können wie im Voltaireschen »Candide« von 1759, jener satirischen Novelle, die die Illusion der Welt als bester aller Welten genüsslich aufspießte: Der reisende Held erlebt auf seiner Suche nach dem Paradies nichts als Unglück und unausrottbare Bosheit.

Die nun, welche die Welt als Offenbarung des Schlechten betrachten, sind Gemüter von apokalyptischem Geist. Die Apokalyptik ist der metaphysische Schmierstoff ihres Fatalismus, jener grundsätzlich schlechten Sinnlosigkeit und sinnlosen Malaise der Welt. Das metaphysische Wetterleuchten am Ende aller Vernunft kommt dem apokalyptischen Höllenfeuer zum Ende der Welt gleich. Apokalyptik ist Dialektik: Auf die Diagnose der schlechten Realität folgt die Antithese ihrer totalen Zerstörung, ehe sich im Künftigen ein neues Himmelsreich des Gerechten und Guten öffnet. Nun ist die Frage: Wer diagnostiziert auf Basis welcher Erfahrung einen Zustand als schlecht? Und wer legitimiert mit welchen Mitteln die Zerstörung? Und wer legt fest, was das himmlisch Neue ist?

 

Die List der Apokalypse besteht ja bis heute in ihrer Unbegriffenheit. Das Wort ist ein semantisches Rätsel und in seiner Geschmeidigkeit derart vielfach ausdeutbar, dass man es ständig neu aufladen, uminterpretieren und füllen kann wie ein Wunderhorn, in das jeder steckt, was er für die Projektion seiner Stimmungen braucht. Und zwar deshalb, weil niemand genau weiß, was der Begriff »Apokalypse« tatsächlich bedeutet, weil er in den Sprachschatz der Menschheit eingegangen ist als semantisches Ungefähr einer höchsten Gefahr. Apokalypse ist das schlechthin Ungefähre, das absolut Ungesicherte, das niemals Sichere, aber in jedem Fall das absolut Schlimmste. Das macht sie für politische Instrumentalisierung verlockend: Das Kommen eines Reichs, des zweiten, dritten oder sonst eines, ist immer eine Projektion in die unverortbare, zeitenthobene, womöglich glor- und heilsreiche Zukunft, in die man im Geborgenheitsraum jener Bewegung oder an der Hand dieses Führers schreitet.

 

Das Wort Apokalypse (verstanden als Theologie und Philosophie vom Ende der Welt) trägt eine assoziative und existenzielle Wucht in sich und reißt einen eminenten Deutungshorizont auf. Der Begriff apokalyptisch wird stets mit katastrophal, unheilvoll oder grauenhaft gleichgesetzt. Diese einseitigen Assoziationen stimmen aber nur zur Hälfte, wie man in Kürze sehen wird, denn Apokalypse heißt etymologisch dechiffriert und aus dem Griechischen stammend, wörtlich verstanden (apo = weg/fort, und kalyptein = verbergen, etwas unter der Decke halten) nichts anderes als etwas entschleiern. Das bedeutet: Vorhandenes ist zugedeckt, und durch seine Nichterkennbarkeit und Unsichtbarkeit ist das Zugedeckte unbekannt. Ziel der Apokalypse ist also die Entbergung des Verborgenen; der Apokalyptiker stellt sich in einen edlen Dienst und leistet die Aufdeckung des Unbekannten. Wer aber hat Kraft und Fähigkeit, das Verborgene zu entbergen?

Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Antwort klar: Gott allein. Oder eine menschliche Instanz mit göttlicher Hilfe. Die irdischen Wesen warteten – mal leidend, mal hoffend – auf den Tag der Entscheidung, an dem ihnen durch den Propheten das Verborgene enthüllt wurde, durch zuerst Entrückung und dann Errettung. Solange das nicht geschah, waltete wilde Phantasie.

Für mich persönlich, das darf ich anmerken, besteht der Grundgedanke des Apokalyptischen in der Erlösung durch Vernichtung. Die Anwendung von Gewalt für den Frieden, gegen Unrecht und Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung ist durch Religion, Theologie, Philosophie und Kulturgeschichte der vergangenen zwei Jahrtausende gedeckt und macht das apokalyptische Denken zu einem überaus zweischneidigen Schwert – wie es im Übrigen auch Revolutionen sind, da sie so gut wie immer apokalyptisch durchtönt sind.

Die Apokalypse selbst ist ja eine Form der Revolution: die plötzliche, radikale, gewaltsame Umkehr zu neuen, gerechten, ja himmlischen Verhältnissen, der eine Diagnose der bestehenden Realität vorausgeht, welche wiederum diese Umkehr legitimiert. Anfangs ist die Apokalypse nichts Konkretes, sondern ein Fiebertraum, eine Vision, eine Schau, im Besitz der Wahrheit dessen, was kommen wird. Generalbass, Grundtenor und Sopran des Apokalyptischen ist stets das Futur: Die Erlösung sei nicht mehr weit entfernt, die Zeit nahe, es werde etwas geschehen, das Gericht werde richten – und jeder kann sich aussuchen, wann was wo passieren wird …

Das Gericht ist Anfangs- und End-, Dreh- und Angelpunkt des apokalyptischen Denkens, ein hochherrschaftliches freilich, ein absolutes, von keiner Instanz mehr hinterfragbares, von dem niemand weiß, wann genau es wo in welcher Besetzung stattfindet. Bevor Recht zu einer Angelegenheit von Gesetzen, Verfassungen und Anwälten wurde, war Rechtsprechung die Sache Gottes, wofür der griechische Begriff Eschatologie bereitgestellt wurde. Eschatologie, die Lehre vom Jüngsten Gericht, unterschied sich insofern von Apokalyptik, als eschatologisches Denken das legitime Vertrauen auf das zukünftige Rettungshandeln Gottes war, Apokalyptik dagegen als überzogene Form der Zukunftsforschung galt. Mit der Aufwertung des eschatologischen wurde im Zuge der Jahrhunderte das apokalyptische Denken abgewertet, theoretisch zumindest.

Heute ist das anders. Wenn Eschatologie und Apokalyptik aus gänzlicher Unkenntnis oder Vagheit des Wissens nicht ohnehin gleichgesetzt werden (gesetzt den Fall, der spätmoderne Zeitgenosse kann mit derlei Bildungsbegrifflichkeit überhaupt noch etwas anfangen), hat das apokalyptische Denken dem eschatologischen wieder den Rang abgelaufen. Apokalypse ist heute weniger ein theologisches Motiv als vielmehr ein säkulares Geschäftsmodell. Jeglicher religiöser, im eigentlichen Sinn biblischer Dimension entledigt, zielt es auf Ängste, Unsicherheiten und die große Leerstelle der menschlichen Seele: das zerstörte Ur-Vertrauen in den guten Gang der Dinge. Warum glaubt der Mensch an ein höheres Gericht, auch wenn er nicht mehr an Gott glaubt? Warum glaubt er überhaupt an etwas Übermenschliches? Er glaubt, lautet ein erster Antwortversuch, weil er vertrauen will. Wem oder was er vertraut, spielt eine Nebenrolle; entscheidend ist, dass er vertrauen kann. Aber dazu später mehr. Wenn Apokalypse heute wieder ein Motiv der Hoffnung ist, und sei sie auch noch so latent, sublim und intim, dann spricht das Bände über den Geist der Gegenwart und den sozialpsychologischen Zustand der Gesellschaft.

 

Die vielfältige Ausdeutbarkeit und Interpretationsbedürftigkeit der Apokalypse ist das willkommene Rüstzeug selbsternannter Deuter und Interpreten. Waren die Apokalypse-Unternehmer in früheren Zeiten Propheten, Sektierer, Erweckungsprediger und später evangelikale Millenaristen, sind es heute – der theologischen, nicht aber religiösen Transzendenz enthoben – Angstmacher aller Art: Wissenschaftler, Experten, Prognostiker, Trendforscher, Buchautoren, Redakteure, Politiker, Boulevardisten, allesamt Betreiber von Frühwarnsystemen, die ihre Legitimation aus der Sorge um die schützenswerte Menschheit ableiten. Jeder von ihnen hat mit der Apokalypse Bestimmtes im Sinn – zumal sich bei reiflicher Assoziationsakrobatik mit ihr allerlei waghalsige Nummern im Circus Maximus der Aufmerksamkeit inszenieren lassen.

Obwohl die Welt nachweislich noch nie untergegangen ist, ist die Faszination des Weltuntergangs ungebrochen und stets präsent. Warum?

Es geht in den folgenden Betrachtungen, deren Streitbarkeit dem Autor bewusst ist, im Wesentlichen um die Denkfigur des Apokalyptischen in der Gegenwart und die zeitgenössischen Variationen einer ewigen Lust am Untergang. Die Behauptung, das Apokalyptische sei prägend für Kultur und Lebensstil der heutigen westlichen Zivilisation, mag auf den ersten Blick verstören, auf den zweiten hoffentlich erhellen. Aufgeklärte, durch Verwaltung, Systeme und Recht gesteuerte, durch Wissenschaft und Wissen weltfähig gemachte Individuen ringen trotz aller Rationalitätskontrolle stets mit dem Unbehagen. Es ist eine unbewusste Ahnung, dass die existierende Welt doch nicht total beherrschbar ist, gekoppelt mit dem Auftrag der individuellen Kontingenzbewältigung – der Erklärung jener Tatsache also, dass der Mensch zwar ist, aber nicht sein müsste.

 

Vorausgesetzt, das Leben ist ein Zusammenhang aus Krise und Problemlösung, so ist das apokalyptische Denken als Modus Vivendi in der Krise eine anthropologische Problemlösungskonstante. Jede Krise produziert naturgemäß apokalyptische Szenarien, also ist apokalyptisches Denken eine Reaktion auf Krisensituationen. Was nach Zusammenbruch und absolutem Chaos kommt, wissen nur die Götter – das entlastet. Das enthebt. Das lässt Verantwortung delegieren. Der existenziellen Bedrohung des alltäglichen Lebens durch die Möglichkeit von Finanzkrise, Krieg, Kernschmelze, Naturkatastrophe und Systemkollaps ist der Einzelne hilflos ausgeliefert. Wie er mit dem Numinosen, dem Schicksal umzugehen hat, hat er nicht gelernt. Er ist eingezwängt in eine hochdifferenzierte Verwertungsindustrie, die sich permanent selbst entwertet und das Schicksal eliminiert hat. Die Maxime des Corriger la fortune, der Schicksalskorrektur, heißt: Wert hat allein, was sich verwerten lässt.

Es ist wahrlich kein Wunder, dass die Denkfigur der Katastrophe, des Nieder-, wahlweise Untergangs, typisch für die westlichen Gesellschaften am Anfang des 21. Jahrhunderts ist. Sie sind weitestgehend entgöttlicht, entspiritualisiert und geprägt von Optimierung und einem Relativismus in Wertfragen, der nahe an praktischen Nihilismus herankommt. Der Sinn des Lebens generiert sich heute meist über den Kontext, über Projekte oder kurzfristige Bindungen; absolute Wahrheiten, strukturüberwölbende Metaphysiken haben so gut wie keine Konjunktur mehr. Je rationaler, optimierter und effektiver eine Gesellschaft aber organisiert scheint, desto hysterischer sind ihre Reaktionen auf die kleinste Funktionsuntüchtigkeit dieser Ordnung. Um in einer auf zerbrechlichen Übereinkünften basierenden Umwelt zu überleben, muss sich der Mensch von vornherein auf den guten Gang der Dinge verlassen, auf die prästabilierte Harmonie. Er muss mit der Stabilität seiner Umwelt rechnen können, dieses Vertrauen schafft Sicherheit. Das Ur-Vertrauen, das vor-monotheistische Religionen in die Natur legten, legen entmythologisierte Säkulargesellschaften heute in die Technik. Gerät irgendetwas aus dem Rhythmus, gibt es Energie-Blackouts, Zusammenbrüche des Nahverkehrs, Börsencrashs und dergleichen, geht mit der Entwertung der Währung Ur-Vertrauen auch der Glaube verloren. Der Mensch fühlt sich austauschbar. Unwissend. Ohnmächtig. Entbehrlich. Nutzlos. Das Kontingenzgefühl steigt, das Bedürfnis nach Transzendenz wächst, die Sehnsucht nach Führung schwillt. Das macht ihn anfällig für das Apokalyptische.

Hysterische Reaktionen sind kalkulier- und steuerbar, jedenfalls generieren sie ökonomisches wie politisches Kapital, das sich in Quote, Auflage, Aufmerksamkeit oder Wahlsieg ausdrückt, um das verlorene Ur-Vertrauen der Zeitgenossen für sich verwerten zu können. Nichts eignet sich zur Ausübung von politischer oder wirtschaftlicher Macht besser als Angst. Waren Berichterstattung und anschließende Atomwende der Bundesregierung unter Angela Merkel nach der Katastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011 nicht ein Paradebeispiel für das Versagen der Vernunft und die Herrschaft der Hysterie? Oder war jenes 9000 Kilometer entfernte Ereignis nur der willkommene Anlass für eine Kanzlerin, ihre eigentliche Politik geschickt durchzusetzen, weil ihre eigene Partei und die parteiinternen Kritiker im Angesicht des Realapokalyptischen keine guten Argumente mehr gegen einen Atomausstieg vorbringen konnten, einen Ausstieg, den der große Teil der Bevölkerung ohnehin und zu Recht wollte?

Hysterie ist die dunkle Schwester der Vernunft und zudem eine deutsche Eigenart, deren Gründe noch zu erörtern sein werden. Jedenfalls korrespondiert Hysterie auf interessante Weise mit Todesangst und Endzeitglaube, weshalb die Apokalyptik quer durch alle Denkformationen, Ideologien und Utopien verläuft. Das Apokalyptische ist der Ursprungsmythos unserer Zivilisation, weil er zugleich ihr Endzeitmythos ist. Andere Kulturen haben zwar Ursprungsmythen, aber keine Endzeitmythen – von Römern und Griechen ist dergleichen nicht bekannt, und im Hinduismus versteht man Welt und Leben zyklisch. Der Endzeitmythos als Ursprungsmythos aber ist ein sehr jüdisch-christliches Geschäft, man könnte sagen: das Erbe der monotheistischen Reduktion des Weltlichen auf einen einzigen göttlichen Ursprung.

 

Ich selbst, so viel persönliches Bekenntnis muss sein, stehe jedem apokalyptischen Denken grundsätzlich fern. Als kühler Skeptiker, den eher die kulturelle Kraft von Theoremen, Denkfiguren und Sinnformationen als die subjektive Versunkenheit ins Ungefähre erregt, lasse ich mich im Folgenden dennoch von der Annahme leiten, dass die Kultur der zu allen Epochen von Endzeiterwartungen faszinierten Geschichte maßgeblich von der Lust am Untergang geprägt wurde. Meine Leitfrage für den anstehenden Ritt auf dem apokalyptischen Gaul durch die Gefilde der Astronomie, Astrologie, Kulturwissenschaft, Theologie, Philosophie, Psychologie und Politik war folgende: Welche Auswirkungen hat das apokalyptische Denken vom Ende der Welt auf das existenzielle Selbstverständnis des heutigen Individuums?

Der Weg, auf den ich mich – stellvertretend für die Zeitgenossen und als selbstsezierende Versuchsperson im Vollzug – mit heiterster Neugier begab, um die Weltende-Vorstellungen bis in die Epoche der spätmodernen Gegenwart aufzuspüren, beginnt notwendigerweise im Jahr 95 nach Christus.

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Offenbarung

Das Ende der Welt als Testament der Theologen

3. Betrachtung: Die Apokalypse als Blaupause himmlischer Gerechtigkeit

Wer über die Apokalypse spricht, bezieht sich, ob beabsichtigt oder nicht, zwangsläufig auf die Offenbarung des Johannes – die Blaupause aller Endweltpoetiken und ausgerechnet das finale, relativ kurze, nur 22 Kapitel umfassende Buch des Neuen Testaments, das womöglich deshalb eines der wirkmächtigsten ist, weil es, wie der englische Schriftsteller D. H. Lawrence einst anmerkte, das am wenigsten christliche Buch ist.

Um die apokalyptischen Denkfiguren der Gegenwart, die Einkleidung ihrer Hysterien, Ängste und Unsicherheiten in endzeitliche Gewänder zu verstehen, scheint es mir unabdingbar, die Genese des apokalyptischen Denkens nachzuvollziehen. Geradezu unumgänglich ist es, sich mit jenem Text zu beschäftigen, auf den alles zurückgeht, auf den sich alles beziehen lässt, der die Denkfigur entworfen, ausgeschmückt und festgelegt hat – eine theopoetische Fiktion, die als Gründungsurkunde der antiken Kultur dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit unvergessliche Bilder und Metaphern eingebrannt hat. In einer kurzen Synopsis lautet die Geschichte der Apokalypse in der Offenbarung des Johannes wie folgt:

 

Als der Mann mit dem Namen Johannes auf der Insel Patmos weilt, kommt plötzlich der Heilige Geist über ihn, und hinter sich hört er eine posaunenhaft laute Stimme, die da spricht: »Was du siehest, das schreibe in ein Buch und sende es zu den sieben Gemeinden.« Und der Mann sieht Schreckliches: einen Thron im Himmel, den Thron Gottes, um ihn herum 24 weitere Throne mit 24 Ältesten samt goldener Kronen. Er sieht, wie Blitze, Stimmen und Donner von diesem Thron ausgehen. Er sieht das Buch mit sieben Siegeln in der Hand Gottes, er sieht das Lamm, das die Siegel zu öffnen ganz allein würdig ist. Er sieht die Öffnung der ersten sechs Siegel und hört die Zahl der 144 000 (von allen 12 Stämmen Israels je 12 000), die da versiegelt waren. Er sieht das Lamm das siebente Siegel auftun und hört die sieben Posaunen der sieben Engel, und als der erste posaunte, kommt Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, und der dritte Teil der Erde verbrennt, alles grüne Gras verbrennt. So geht es weiter: Beim zweiten Posaunenschall fährt ein großer Berg im Feuer brennend ins Meer, auf dass der dritte Teil des Meeres Blut ward und der dritte Teil der lebendigen Kreaturen im Meer starb und der dritte Teil der Schiffe zugrunde ging. Und so geht es weiter: Die Sonne verfinstert sich, ein Stern fällt vom Himmel auf die Erde, der Brunnen des Abgrunds tut sich auf, die Luft ist erfüllt vom Rauch eines großen Ofens, aus dem Rauch kommen machtvolle Heuschrecken auf die Erde nieder, Heuschrecken mit Panzern und Stacheln, die die Menschen fünf Monate lang so schmerzvoll quälen, als stäche sie der Skorpion. Zwei weitere Plagen folgen, die Rosse und vier gewaltbereite Engel, und alle drei zusammen raffen ein Drittel der Menschen dahin durch Feuer, Rauch und Schwefel. Als die siebente Posaune erschallt, erheben sich große Stimmen im Himmel, die 24 Ältesten fallen auf ihr Angesicht und beten vor Gott und sagen: »Die Völker sind zornig geworden und die Zeit, zu richten die Toten und zu geben den Lohn deinen Knechten, den Propheten, und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten, den Kleinen und den Großen, und zu verderben, die die Erde verderbt haben.« Es öffnet sich der Tempel Gottes, man sieht die Bundeslade mit den Zehn Geboten, es kommen Blitze, Stimmen, Donner, Erdbeben und ein großer Hagel. Dann erblickt der Seher zwei Tiere: Eines steigt aus dem Meer, mit zehn Hörnern samt zehn Kronen und sieben Häuptern mit lästerlichen Namen. Panthergleich mit Löwenrachen ist das Tier, der Prophet des Antichristen, des Drachen auf dem Thron. Dann sieht er das Lamm auf dem Berg Zion und hört dazu Gesänge und Harfenklänge, und dann verkündet ein zweiter Engel: »Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die große Stadt; denn sie hat mit dem Zorneswein ihrer Unzucht getränkt alle Völker.«

Sodann beginnt das Gericht.

Die Zeit zu ernten ist gekommen, verkünden die Engel, und der Seher sieht den Menschensohn auf einer weißen Wolke. Aus dem Himmelstempel und vom Altar kommen die Engel, und der eine befiehlt dem anderen, das scharfe Messer an den Weinstock der Erde anzulegen, da die Beeren reif sind, und der Engel schneidet und wirft die Trauben der Erde in die große Kelter des Gotteszorns. Das Blut von der Kelter geht bis an die Zäume der Pferde. Nach den letzten sieben Plagen der sieben Engel wird der Zorn Gottes vollendet sein, da befiehlt den Engeln eine Stimme aus dem Tempel, die sieben Schalen des Zorns Gottes auf die Erde auszugießen: Blut fließt, die Menschen mit dem Malzeichen des Tiers befallen Geschwüre, alles Leben im Meer erstirbt, Wasser wird zu Blut, und das Feuer der Sonne versengt die Menschen ohne Buße; die Teufelsgeister des Drachen, des Tiers und des falschen Propheten gehen, und der Allmächtige hat seine Truppen versammelt an einem Ort, der auf Hebräisch Harmagedon heißt, am Berg von Megiddo in Palästina, da gießt der siebente Engel seine Schale in die Luft, da kommen Blitze, Donner, und darauf folgt ein großes, noch nie da gewesenes Erdbeben. Inseln verschwinden, Berge stürzen, und Hagel wie Zentnerstücke fällt vom Himmel auf die Menschen. Dann ist das große Babylon, das Weib, das die Herrschaft hat über die Könige auf Erden, die Behausung der Teufel und das Gefängnis aller unreinen Geister, untergegangen. Halleluja im Himmel, Christus ist der Sieger! Der Seher sieht einen Engel vom Himmel fahren und greift den Drachen, die Schlange, also Teufel und Satan, und bindet ihn tausend Jahre, wirft ihn in den Abgrund und verschließt ihn mit einem Siegel, auf dass er in den nächsten tausend Jahren die Völker nicht mehr verführen kann.

Nach tausend Jahren ist der Satan wieder frei, bricht auf, die Völker wieder zu verführen an den vier Enden der Erde, versammelt die Gog und Magog zum letzten Kampf. Sie ziehen zum Heerlager der Heiligen und umringen die geliebte Stadt, da fällt Feuer vom Himmel und verzehrt sie. Der Teufel wird in einen Pfuhl von Feuer und Schwefel geworfen, in dem auch das Tier und der falsche Prophet Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit gequält werden.

»Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde«, schreibt der Seher nach dem Weltgericht, »und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Mann.« Siehe da, sagt eine Stimme: Die Hütte Gottes bei den Menschen! Der, der auf dem Thron sitzt, sagt dem Seher: »Siehe, ich mache alles neu!«

Diese neue Stadt ist aus reinem Gold, ihre Mauern bestehen aus Jaspis, geschmückt mit Smaragden, Saphiren, Chalzedonen. Der neue Herr sagt zum Seher: »Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.« Der Seher bezeugt: »Ja, ich komme bald. Amen, ja komm, Herr Jesus.«

 

So geht, in nuce, die Geschichte der Apokalypse. Theologisch gesagt heißt das: Im Himmel liegt der fixierte Plan für die irdische Geschichte, und der Seher nimmt, mit der Perspektive auf die Jetztzeit und das alltägliche Leben der kleinen westasiatischen Kirchen, Einblick in diesen geheimen Plan Gottes zur Rettung der Geknechteten und schreibt seine Visionen in eine Buchrolle, die wie ein Rundbrief an sieben Gemeinden Kleinasiens verschickt wurde, adressiert an die jeweiligen Engel von Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodicea. In der Johannes-Apokalypse ist die Zahl 7 omnipräsent: sieben Siegel, sieben Trompeten, sieben Visionen, sieben Engel, sieben Deckel, siebenköpfige Drachen. »Sieben« ist die symbolische Zahl der Fülle und bedeutet »alle«. Die sieben Gemeinden vertreten repräsentativ die Gesamtheit. Sie lagen an einer durchgängigen Straßenverbindung an der Westküste der heutigen Türkei. Die Buchrolle – eine Art Erzählung, ein Lehrgedicht, eine poetische Fiktion mit politisch brisantem Inhalt – ging von einer Gemeinde zur nächsten, wurde vorgelesen, ging weiter und hinterließ mächtigen Eindruck.

 

Über Johannes, den Autor der Apokalypse, gibt es keine verlässlichen Angaben. Dass er die Offenbarung kurz vor dem Tod des für seine Grausamkeit berüchtigten römischen Kaisers Domitian um das nachchristliche Jahr 95 auf der heute griechischen Insel Patmos geschrieben hat, gilt der Mehrheit der Forscher als sicher; was für ein Mensch der Seher war, ist nicht bekannt. Ein Text dieser Wucht setzt, so ist anzunehmen, einen äußerst selbstgewissen Autor voraus, einen Gesinnungsschriftsteller, der das Katastrophische, das sein Werk grundiert, womöglich am eigenen Leib erfahren, ein Zeitzeuge, der das Unheil, das er schildert, selbst gesehen hat und insofern glaubwürdig die Katharsis formulieren kann. Bernhard Heininger von der Universität Würzburg, der sich über jüdische Apokalyptik habilitiert hat und als Exeget der historisch-kritischen Bibelauslegung nahesteht, hält den Apokalyptiker für einen Judenchristen aus Palästina, den die Zerstörung des Tempels, die Verwüstung Jerusalems und Palästinas durch die Römer zwischen 70 und 90 nach Christus traumatisiert hat.

Er war, wie vor ihm Jesus und Paulus, ein Wanderprophet, der sich in den matthäischen Kirchenraum aufgemacht hat und so in Kontakt mit ursprünglich paulinischen Gemeinden gekommen ist. Die sieben Adressatengemeinden seiner Schrift liegen alle im Missionsgebiet des Paulus, einer eher liberalen Christenheit, die im Zentrum des sogenannten Kaiserkults lebt, zum Beispiel in Pergamon. Die Christen dort hatten sich mit den römischen Besatzern arrangiert: Offiziell verehren sie den Kaiser und erhalten dafür Privilegien und Sicherheit. Für den Apokalyptiker aber, der das Wüten der kaiserlichen Römer selbst erfahren hat und in radikaler Distanz zum oktroyierten Kaiserkult steht, ist dieses Arrangement eine Schmach, eine unverzeihliche Demütigung.

 

In der Johannes-Apokalypse spielt das zweite große Drama des Judentums die tragende Rolle: die Zerstörung des Tempels und die Erfahrung einer rigiden ausbeuterischen, unterdrückerisch agierenden Macht durch das flavische Geschlecht, den Kaiser Vespasian und seine Söhne Titus und Domitian, eine Zeit also, die die Juden Palästinas als äußerst bedrückend erleben. Antike Historiker berichten von Deportationen Zehntausender Juden, von endlosen Hinrichtungen, vom Schleifen der Stadtmauern, von Sklaverei. Rom war ein imperialistischer Staat mit dezidiert imperialistischer Politik, deren Ziel es war, die Provinzen auszusaugen. Die Gewalt und Brutalität, die Diskriminierung und Verfolgung der ersten Juden- und Heidenchristen Kleinasiens wird als extrem sinnlos und den Glauben erschütternd erfahren – denn wenn die Frommen, die sich ans göttliche Gesetz halten, das gleiche Schicksal wie jene erleiden, die sich nicht daran halten und gehalten haben, entsteht eine absolute Sinnkrise. Aufs Neue keimt dann auch die große Frage der Theodizee: Warum lässt Gott das zu?

In diese heikle, brisante, gefährliche und identitätserschütternde Situation hinein fällt das apokalyptische Denken – neben einer Reihe jüdischer Apokalypsen vor allem die christliche des Johannes. Ausgangspunkt aller Apokalypsen ist die Erfahrung, in einer generell schlechten Zeit mit existenziellen Nöten, Krieg, Leid und Tod zu leben – in einer fundamentalen Krise also, die seelisch verarbeitet werden muss. Brauchte die junge Christenheit, unter Fremdbeherrschung und Unterdrückung der eigenen Kultur leidend und sich dennoch mit dem Herrscher arrangierend, brauchten die Christen Kleinasiens und überhaupt alle Christen der Welt, die derartiges Leid wo auch immer erfuhren, nicht Trost, Hoffnung, Erlösung?

 

So politisch die Apokalypse in ihrem Wesen ist, so eindeutig verhandelt sie zwei christologische Leitmotive: erstens das Postulat von Gott als unsichtbarem Allherrscher, der durch den Menschen Jesus Christus sichtbar wird. Zweitens die Überzeugung des nahenden Gerichts: das Ende des Schlechten und Niederkunft des Guten, noch nie Dagewesenen, einer neuen, paradiesischen Welt. Zuletzt (und zuvorderst), als Alpha und Omega, ist die Apokalypse alles in allem eine Hoffnungsschrift, ein österliches Trostbuch, das die traumtrunkene Überzeichnung einer politisch katastrophalen Wirklichkeit leistet. »Wie lange noch, Herr, zögerst du, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?«, fragt der Apokalyptiker und eröffnet den Opfern erlittener Gewalt und Unterdrückung durch die Jahrhunderte hindurch eine religiöse, theologische Deutung, indem er ihrer Verzweiflung Gottvertrauen entgegensetzt. Die Offenbarung enthülle, lautet der Befund des Trierer Neutestamentlers Hans-Georg Gradl, die unbedingte Parteinahme Gottes für die Geknechteten. Dieser Gott ist der Souverän schlechthin. Er ist der Richter. Er richtet die Schlechten als Anwalt ihrer Opfer. Majestätisch auf dem Thron sitzend, schweigt er lange, sieht tatenlos zu, hält dann am Tag des Zorns aber Gericht über das Böse und vernichtet es mit Gewalt: »Seht, ich mache alles neu.«

Es ist offensichtlich: Die Offenbarungsschrift ist pure Agitation, die das Geschehen heilsgeschichtlich auflädt und mythologisch fundiert. Sie schildert ein höllenbreughelhaftes Traumfieber, eine Eruption an Brutalitäten, die auf verdrängte Traumata ihres Autors schließen lässt, der an seiner Botschaft keinen Zweifel lässt: Für den Apokalyptiker, der die Schreckensherrschaft Roms in Palästina miterlebt hat, kann es nur eine klare Opposition zu den Besatzern geben. Seine Schrift warnt die ersten Juden- und Heidenchristen vor einer Auf-Du-und-Du-Kumpanei mit den römischen Besatzern und rät ihnen – als Sprachrohr im Auftrag Gottes –, die Stadtgesellschaft zu meiden, die Städte zu verlassen, ein Leben auf dem Land zu führen.

Man kann in Johannes den Vertreter einer Minderheitengruppe erkennen, die sich in keiner Weise mit der Weltmacht Rom anlegen konnte, keine Handhabe für Gewalt hatte, keine Chance außer dem Wort und der Beschwörung besaß. Die Schrift ist hingegen Sublimation und Metapher, machtvoller Widerstand. »Ich würde das Gewalttätige der Offenbarung nicht überbetonen«, befindet Bernhard Heininger. »Natürlich gibt es eine fast minutiöse Abrechnung, nach und nach werden die alle hinweggerafft. Aber es sind nur Visionen, die da geschaut werden, ich würde sie modern psychologisch als Verarbeitung von Traumata betrachten.« Das heißt: Die Johannes-Offenbarung ist geistiger Widerstand, ein subversives Buch. Sein Kern ist die Hoffnung, dass es so, wie es ist, nicht auf Dauer sein wird. Die in eine Bilderwelt der Grausamkeit verpackten Vernichtungsvorstellungen sind etwas Vorgelagertes, ein Instrument auf dem Weg des Heils, das erst am Ende zu erreichen ist. Kurzum: Der Apokalyptiker verheißt den Christen, die auf Distanz zur heidnischen Stadtgesellschaft gehen, das irdische Paradies; im neuen Jerusalem ist das irdische mit dem himmlischen Paradies gleichgesetzt. In dieser neuen Stadt existieren Gleichheit, Gerechtigkeit und reine Demokratie, dort ist alles neu, dort ist alles anders als bisher.

 

Weltuntergangs-Visionen sind immer poetisch und politisch zugleich und haben, in als schlimm empfundenen Zeiten verfasst, mit Verzweiflung oder Aussichtslosigkeit zu tun. Der Prophet Daniel lebte während der Judenverfolgungen unter Antiochos Epiphanes; Esra nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels; Johannes unter Neros Christenhatz. Die »Seher« beschäftigen sich mit Phantasien und Hoffnungen einer göttlichen Intervention, die zu Strafe, Vergeltung, Entgeltung und Belohnung führen. Das Setting eines von imperialistischen Herrschern besetzten Landes und einer von Invasoren unterdrückten Minderheit ist ja heute nicht anders als im ersten nachchristlichen Jahrhundert zu verstehen: Die Palästinenser mögen Israels Herrschaft so erleben, Teile der Afghanen und Iraker jene der Amerikaner, Tibeter jene Chinas. Fast immer wurden und werden, um Widerstand zu artikulieren, apokalyptische Motive herangezogen. Sie sind bei allen existierenden Apokalypsen der Weltliteratur vergleichbar, von Daniel über Johannes bis zum äthiopischen Henoch und der Himmelfahrt des Moses des Propheten Esra, und sie stellen sich stets auf die Seite der Unterdrückten, verfasst aus der Sicht der Opfer von Gewalt und Fremdbeherrschung. Immer ist deren Situation eines: hoffnungslos. Mehr als Visionen und Hoffnungen sind jene Apokalypsen freilich nicht; zwar stellen sie Herrschaftskritik und Kritik aktueller politischer Verhältnisse vor, sind aber keine Revolutionsliteratur, da zur Revolution notwendig der aktive Kampf gehört.

Über die Jahrtausende hinweg hat sich die Definition dessen, was apokalyptisch sei, nie verändert. Man kann die Johannes-Offenbarung als berühmteste Blaupause des Apokalyptischen zwar losgelöst und durch sich selbst verstehen, sinnhaft einordnen lässt sie sich jedoch nur in Kenntnis der alttestamentlichen, der jüdischen Apokalypsen. Es finden sich bei Johannes bis zu 580 Reflexionsanklänge an die Bücher der Propheten Daniel, Ezechiel, Jesaja und die Psalmen. Bibelwissenschaftler können nachweisen, dass über 270 der 404 Verse in der Offenbarung von älteren jüdischen Apokalypsen beeinflusst sind. In Hinsicht auf das Motivrepertoire, die Allegorie-Sprache und Drastik hat besonders stark das Buch Daniel die Gerichtsvorstellungen der Apokalypse beeinflusst.

Bei Daniel, dessen Name »Gerichtet durch Gott« bedeutet, heißt es etwa: »Ich hörte aber einen Heiligen reden, und ein anderer Heiliger sprach zu dem, der da redete: Wie lange gilt dies Gesicht vom täglichen Opfer und vom verwüstenden Frevel und vom Heiligtum, das zertreten wird? Und er antwortete mir: Bis zweitausenddreihundert Abende und Morgen vergangen sind; dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden.«

Das ist konkrete Prophetie: In 2300 Tagen kommt das Ende der Welt. Für jede Vorbereitung auf den Untergang wäre es also gut zu wissen, wann genau Daniels Buch verfasst wurde. Oder doch nicht? Kommt es auf Präzision und Berechenbarkeit gar nicht an? Sind Zahlen rein symbolisch gemeint und im Vorderen Orient, wo die Testamente verfasst wurden, eher narrativ als dezimal zu verstehen?

Daniel, dessen Schrift womöglich im zweiten Jahrhundert vor Christus – zu Zeiten blutiger Verfolgung und Widerstand – verfasst wurde, war der erste jüdische Autor, der eine Apokalypse konkret thematisierte, wenngleich das heutige Judentum ihn, anders, als die Christen es tun, nicht als Prophet betrachtet.

Daniel erzählt folgende Geschichte.

Aus Judäa stammend, war der junge Mann mit drei Freunden von Nebukadnezar an den babylonischen Königshof deportiert worden. Schnell fällt auf, dass Daniel und seine Gefährten zehnmal klüger und verständiger als alle Zeichendeuter und Weisen im ganzen babylonischen Reich sind. Sie werden ausgebildet und in den Dienst des Königs am Hof gestellt. Als Nebukadnezar seinen Traum hat, deutet Daniel den wie folgt (36ff.): »Nach dir wird ein anderes Königreich aufkommen, geringer als deines, danach das dritte Königreich, das aus Kupfer ist und über alle Länder herrschen wird. Und das vierte wird hart sein wie Eisen, denn wie Eisen alles zermalmt und zerschlägt, ja, wie Eisen alles zerbricht, so wird es auch alles zermalmen und zerbrechen.« Und dann: »Aber zur Zeit dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Reich wird auf kein anderes Volk kommen. Es wird alle diese Königreiche zermalmen und zerstören; aber es selbst wird ewig bleiben.«

Nach dieser Deutung warf sich Nebukadnezar vor seinem Gefangenen nieder und befahl, man solle ihm Speise- und Rauchopfer darbringen.

 

Rom als der »Hure Babylon« bei Johannes entspricht bei Daniel die Herrschaft Antiochos’ und der Seleukiden. Gesellschaftspolitisch sah sich der Daniel-Autor mit dem Problem der sogenannten »makkabäischen Krise« konfrontiert: der Überfremdung der jüdischen Kultur durch den hellenistischen Kultus in Jerusalem während der vorchristlichen Jahre 175–168. Was stand auf der Agenda? Die Beschneidung sollte verboten werden, die Juden hatten Schweinefleisch zu essen, die gesamten jüdischen Speisetabus wurden verletzt. Antiochos III. und auch sein Sohn, Antiochos IV., versuchten die hellenistische Kultur über ihr Reich zu legen, um die Probleme eines multiethnischen Staates zu entschärfen. Alle sollten sich durch Kultur und Sprache einander verbunden fühlen, doch vor allem die konservativen jüdischen Hardliner machten gegen diese Form der Fremdbeherrschung Front. Es ging damals um nichts weniger als um die jüdische Identität, festgemacht am Sabbatgebot, an Beschneidung, Speisegeboten und Monotheismus. Immer dann, wenn jüdische Kultur bedroht erscheint, gab und gibt es Bestrebungen, sie zu retten – durch die Intervention Gottes …

 

Der Schluss des Buches Daniel ist die Quintessenz einer Theologie der Endzeit, die zugleich eine Theologie der Macht ist: »Er aber sprach«, heißt es, »›Verborgen und versiegelt sind die Worte bis auf die Zeit des Endes. Es werden auserlesen werden und gereinigt und geläutert viele, und freveln werden Frevler, aber nichts verstehen all die Frevler; doch die Verständigen werden verstehen. Und seit der Zeit, dass eingestellt wurde das beständige Opfer, und aufgestellt der entsetzliche Greuel, sind 1290 Tage. Heil dem, der da harrt und erreicht 1335 Tage! Du aber, Daniel, geh dem Ende zu, und du wirst ruhen, bis du auferstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage.‹«