Wie wir sterben lernen - Christian Schüle - E-Book

Wie wir sterben lernen E-Book

Christian Schüle

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Beschreibung

"Die Tragödie des Menschen an sich besteht darin, dass sein Kampf gegen den Tod schon bei der Geburt verloren ist. Der Mensch kämpft nicht gegen den Tod, er kämpft um das Leben und weiß von vornherein, dass er es dennoch verlieren wird. Der menschliche Verstand kann sich sein eigenes Ende nicht vorstellig machen. Jahrzehnte hat der Zeitgeist uns gelehrt, Tragödie und Drama des Menschen zu ignorieren. Sterben und Tod waren der Tyrannei ihrer Verdrängung ausgeliefert. Trügen jedoch die Zeichen nicht, hat seit kurzem ein revolutionärer Wandel die Republik erfasst: Der Zeitgenosse lässt sich seinen Tod nicht mehr aus der Hand nehmen. Bis in die Haarspitzen selbstbestimmt, will er die letzten Dinge gestalten: sein Sterben, seinen Tod und die Weise der Erinnerung an ihn. Man hat Sterben, Tod und Trauer neu zu denken, und alles beginnt damit, dass der Tod ins Leben zurückkehrt." Christian Schüle

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Christian Schüle

Wie wir sterben lernen

Ein Essay

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Über dieses Buch

Seit einigen Jahren vollzieht sich in Deutschland ein bemerkenswerter Kulturwandel. Mit den gleichen Mitteln der Selbstverfügung und Optimierung, mit denen die Menschen ihr Leben gestalten, bestimmen sie mehr und mehr auch ihr Sterben. Neue Formen von Bestattung, Trauer und Erinnerung, ein verändertes Selbstbild der Ärzte, Fortschritte in der Schmerzlinderung, Willensäußerungen wie die Patientenverfügung sowie die Befreiung von weltanschaulichen Dogmen haben neue Perspektiven für den Blick auf das Ende des Lebens eröffnet. So heißt menschenwürdig sterben heute vor allem: selbstbestimmt sterben.

Inhaltsübersicht

MottoSicherheitshinweisI Der Zeitgenosse im Sog seiner Gegenwart1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelII Der Zeitgenosse als Regisseur seines Todes14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. KapitelIII Der Zeitgenosse zwischen Recht und Sitte19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. KapitelIV Der Zeitgenosse als Objekt seiner Bestattung30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. KapitelV Die allerletzten DingeDank
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Die Beschäftigung mit dem Tode ist die Wurzel der Kultur.

Friedrich Dürrenmatt

 

 

 

Kann man überhaupt zum richtigen Zeitpunkt sterben?

Julian Barnes, »Flauberts Papagei«

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Sicherheitshinweis

Was in diesem Essay zur Sprache kommt, mag nicht auf jeden zutreffen und nicht für jeden stimmen. Nicht jeder wird sich in der Figur des »zeitgenössischen Individualisten« wiedererkennen, und nicht alles, was verhandelt wird, lässt sich empirisch beweisen. Manches mag dem einen übertrieben, dem anderen verstörend erscheinen. An keiner Stelle wird es eine Handlungsanleitung geben, und alles, was gesagt sein wird, ist streitbar. Religiöses Pathos, missionarischer Eifer oder eine Absicht zu belehren sind zu jeder Zeit ausgeschlossen. Die Vermutung aber, jedes Nachdenken über Sterben, Tod und Trauer münde logischerweise in Trübnis und Verzweiflung, wird am Ende mit einem fulminanten Bekenntnis zur Freude am Leben widerlegt sein.

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I Der Zeitgenosse im Sog seiner Gegenwart

1

Die Tragik des Menschen besteht darin, dass der Kampf gegen den Tod schon bei der Geburt verloren ist. Der Mensch lebt auf den Tod hin. Man könnte sagen: Er stirbt sein Leben lang. Der Tod ist die erzwungene Zielvereinbarung des Lebens mit sich selbst. Kampf bestimmt dieses Leben zum Tode hin, aber der Mensch kämpft nicht gegen den Tod. Er kämpft mit dem Tod um das Leben und weiß, dass er es trotz allem sterbend verlieren wird. Diese Erkenntnis ist nicht neu, war aber bis vor kurzem peinlich verdrängt.

Das Glück des Menschen besteht darin, dass er den Tod überlisten kann. Er setzt Kreativität, Wissen und Verstand dafür ein, das Schicksal bestmöglich zu korrigieren. Weil der Tod nach wie vor seine größte narzisstische Kränkung ist, organisiert der Mensch mit großem Aufwand die Verzögerung seines Endes durch Technik, Chirurgie, Chemie, Pharmazie und Verbotsgesetze. Er errichtet ein Kontroll-Regime, um den Tod aus dem Leben zu verdrängen. Täglich ist er damit beschäftigt, sein Sterben zu ignorieren, in der Verdrängung mutet der Tod beherrschbar an. Der Mensch suspendiert mit ihm, dem Tod, auch das Schicksal und, sagen wir es pathetisch, mit dem Schicksal die Herrschaft der Götter. Er entmystifiziert das Heilige und heiligt so den Mythos von der Unsterblichkeit. Das Glück dieses anti-antiken Lebens aber ist nur ein scheinbares. Es ist geborgt. Keine Neuigkeit ist das für jene, die zu sterben verstehen. Die anderen aber werden das Sterben lernen müssen.

Das Drama des Menschen besteht darin, sein Ende geistig nicht bewältigen zu können. Das Nichts des Todes übersteigt die Mächtigkeit des Verstandes. Der Verstand kann sich das eigene Ende nicht vorstellig machen, weil der Verstand über jedes Ende hinausdenkt, um es überhaupt fassen zu können. Das Betriebssystem des Lebens ist der Wille: Was lebt, will. Es drängt. Es vibriert. Es will voran und aus sich heraus. Als definitives Ende des Lebens ist der Tod Herrscher über den Willen zum ewigen Anfang. Nie wurde es dem wollenden Menschen leichter gemacht, sein Ende zu verleugnen, als in unserer Epoche der totalitären Ökonomie, die einzig und allein den ewigen Aufbruch im Sinn hat und uns die dafür verbrauchte Zeit in Rechnung stellt.

Das Verhängnis des Zeitgenossen schließlich besteht darin, in der totalen Gegenwart zu leben. Totale Gegenwart ist gekennzeichnet sowohl durch die Verdichtung von Raum und Zeit wie durch die Herrschaft der Sachverhalte. Diese Sachverhalte sind Positiva und dem Wort gemäß all das, was da ist, verfüg-, ge- und verbrauchbar.

Tragik, Glück, Drama und Verhängnis des zeitgenössischen Menschen programmieren das Paradoxon der späten Moderne, in der wir zu Beginn des dritten Jahrtausends schon eine ganze Weile leben: hysterische Todessensibilität bei gleichzeitiger Todesverdrängung. Die archaisch-antiken Menschheitsmythen, die das Leben stets vom Tod her dachten und das Individuum in eine höhere Transzendenzgewissheit hievten, scheinen passé. Die Geschichts- ist so groß wie die Herkunfts-, diese so groß wie die Traditionsvergessenheit. Allgemeingültige Übereinkünfte erodieren in dem Maß, in dem das Gespräch über sie verstummt. Wertsysteme sind erfasst vom Furor des permanenten Wandels, wodurch der Wandel an sich zum Wert geworden ist: Wandle dich, dann hast du Wert! Wandle dich, dann bist du! Sei flexibel, sei mobil! Sei niemals still!

Lange hat der Geist der Zeit uns gelehrt, Tragik, Drama und Verhängnis des eigenen Menschseins zu ignorieren. Sterben und Tod waren der Tyrannei ihrer Verleugnung ausgeliefert. Trügen jedoch die Zeichen nicht, hat seit kurzem ein Wandel die Gesellschaft erfasst – nicht flächendeckend, aber zunehmend breiter, nicht stürmisch, aber böig, nicht radikal, aber stetig. Im Fahrwasser des ökonomischen Sogs durch Funktionstüchtigkeit, Fitness und Flexibilität haben denkwürdigerweise die letzten Dinge an Bedeutung gewonnen: Funktionsuntüchtigkeit, Verfall und Vergänglichkeit. Ein neuer Geist bildet neue Vorstellungen, Bilder und Begriffe von Leben und Sterben aus. Er formatiert die Matrix eines neuen Todesbegriffs und formuliert bisher ungewohnte Aussagen über Leid, Schmerz, Trauer und Erinnerung. Das paternalistische Denken im Umgang mit Tod und Trauer schwindet, Ideologien verebben, Dogmen erodieren. Der Zeitgenosse will Trost im Diesseits, weil ihn ein Jenseits nicht mehr überzeugt. Diese Beobachtung ist keine empirisch belastbare Wahrheit, sie ist eine Tendenz.

Kulturhistorisch betrachtet ist in Deutschland in den vergangenen fünfzehn Jahren eine kleine Revolution geschehen: Der Mensch von heute lässt sich seinen Tod nicht mehr aus der Hand nehmen. Er denkt Sterben, Tod und Trauer neu.

Das hat erhebliche Konsequenzen für Medizin, Rechtsphilosophie, Ethik und Politik. Weltanschauliche Fragen spielen dabei eine immer kleinere Rolle, allgemeinverbindliche Regeln im Umgang mit Tod und Trauer stehen nicht mehr zur Verfügung. Am gewandelten Umgang mit dem Skandal der Sterblichkeit lässt sich schließlich ein verändertes Selbstverständnis ablesen. Das Bild des Menschen ist im Begriff, sich zu verändern. Inwieweit dadurch ein neues Menschenbild bereits entstanden ist oder just entsteht, ist eine Frage der Perspektive; wie tief- und ausgreifend jene Veränderungen sind, steht folgerichtig in den Sternen. Im Spannungsfeld von Optimierung, Optionalität und Ökonomie über die letzten Dinge des Lebens zu sprechen heißt, die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Tod auf der Höhe des Zeitgeists neu zu stellen. Sterben und Tod sind nach wie vor die größte Herausforderung des Individuums, und ihre Bewältigung beginnt mit der Erkenntnis, dass der Tod ins Leben zurückkehrt.

2

Wer das Ende inspiziert, muss nach dem Anfang fahnden. Er hat, so versteht sich dieser Essay, eine Biographie des Todes in Zeiten totaler Gegenwart zu verfassen. Er hat – um die Modalitäten des Finales zu begreifen – die zeitgemäßen Umstände des zeitgenössischen Lebenslaufs zu kennen. Er hat zu fragen, auf welche Weise, unter welchen Umständen und in welchen Kontexten heute gestorben wird und welche Bedeutung der Tod in unserer Epoche hat – vor dem Hintergrund sozialer, philosophischer und ökonomischer Kontexte. Lesen wir Sterben und Tod also auf der Basis der ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse; verstehen wir Sterben, Tod und Trauer in Zeiten von Wachstum, Gewinn und Steigerung. Räumen wir ein, dass uns die Angst vor Scheitern, Leid und Vergehen sprachlos gemacht hat.

Zu allen Zeiten wurde gestorben, und zu allen Zeiten wurde es unterschiedlich getan, obwohl am Ende des Sterbens immer der Tod stand und steht. Beide, Sterben und Tod, sind eingebettet in das je kulturelle Selbstverständnis einer Epoche, und die Art, wie der Mensch stirbt, ist bedingt durch individuelle Wertvorstellungen, gesellschaftliche Normen und eine konventionelle Moral. Der sozioökonomische und soziokulturelle Gesamtzusammenhang seiner Zeit bettet den Einzelnen in eine immer schon bestehende Lebenswelt ein, mit der er sich zu arrangieren hat. Die Ausgangsfrage aller Betrachtungen scheint also einigermaßen simpel zu sein: Was ist Leben generell, und was ist Leben unter den Bedingungen und Beschreibungen der Gegenwart?

Oliver Sacks, schriftstellernder Psychiater und Neurowissenschaftler, gibt einen guten Hinweis auf die anthropologische Besonderheit des Menschen, die er im geistig-seelischen Bedürfnis der Steigerung erkennt. »In den Tag hinein zu leben«, schreibt Sacks, »ist für Menschen unbefriedigend; wir brauchen Transzendenz, Entrückung und Flucht; brauchen Sinn, Erkenntnis und Erklärung; brauchen allgemeingültige Muster, die in unserem Leben sichtbar werden. Wir brauchen Hoffnung und das Gefühl, eine Zukunft zu haben. Und wir brauchen die Freiheit (oder zumindest die Illusion der Freiheit), über uns selbst hinauszugelangen – egal, ob mit Teleskopen, Mikroskopen und anderen Erfindungen unserer unermüdlich fortschreitenden Technik, oder in Bewusstseinszuständen, die uns ermöglichen, in andere Welten zu reisen, unsere unmittelbare Umgebung zu überschreiten. Wir brauchen diesen inneren Abstand genauso wie die intensive Teilnahme am Leben.«

Die aktuelle Epoche leistet sich einen bemerkenswerten Widerspruch: Sie feiert das Leben und ist dennoch eine Todeskultur. Wir, ihre Zeitzeugen, leben zwischen Todesverdrängung und Todespräsenz. Die Kultur der totalen Ökonomie, der Optimierung und des Exzesses ist eine Todeskultur, weil sie sich permanent auf den Tod bezieht, um ihn auf alle Fälle zu vermeiden. Wir verleugnen und verdrängen den Tod, um uns nicht eingestehen zu müssen, dass das Ende des Lebens immer schon gegenwärtig ist. Wir maskieren unseren Todesbezug mit der Diktatur der Gegenwart, um uns nicht anmerken zu lassen, dass das Ende jeder Zukunft immer schon begonnen hat. Wer denkt schon daran, sterben zu müssen?

Die Kunst der Todesverleugnung ist eine andere als die Macht der Todesverdrängung. Wird etwas verleugnet, leistet man sich eine Täuschung über Tatsachen: Ein Glas steht entweder auf einem Tisch oder nicht. Man könnte sagen, das Glas stehe nicht auf dem Tisch, sondern existiere nur in der Einbildung. Was gemäß dem Gesetz der Logik folgte, wäre eine Prüfung auf die materielle Existenz des Glases anhand seiner Gegenständlichkeit. Wenn das Glas auf dem Tisch steht, wird man es anfassen und fühlen können. Die sinnliche Erfahrung gilt als objektiver Beweis.

Wie aber verhält es sich mit dem Tod? Man könnte sagen: Es gibt den Tod nicht. Was soll das sein, Tod? Nicht-mehr-Leben? Ein Zustand? Eine Behauptung? Ein kühler Terminus? Gibt es den Tod als solchen überhaupt, oder ist er nur die Negation von etwas Daseiendem? Und wie kann man legitimerweise vom Tod als Ereignis sprechen, wenn er doch dadurch definiert ist, dass er keinen objektiven Status besitzt?

Jenseits dieses Sprachspiels ist für einen lebenden Menschen mit den Instrumenten des Verstandes nicht in Erfahrung zu bringen, ob es den Tod gibt oder nicht. Er kann den Tod nicht wissen, er kann nur vom Tod wissen, dem Tod anderer. Der Tod könnte also auch ein Gerücht sein. Man kann ihn nicht anfassen, nicht spüren. Man hat von ihm gehört, ja, und womöglich hat man Menschen gesehen, die von ihm ergriffen wurden. Man hat Leichen gesehen und sie vielleicht angefasst. Für einen selbst aber könnte man all das nicht behaupten, denn noch lebt man und hat den Tod nicht erfahren, und wenn man ihn erfahren haben wird, kann man über ihn nicht mehr sprechen. Was nicht da ist, lässt sich verleugnen.

Weil aber die Verleugnung ein riskantes und letztlich unsicheres Geschäft ist, bietet sich die Verdrängung an. Sie drängt sich geradezu auf. Der Tod wird vom Leben abgespalten und ins Verlies des eigenen Ichs gesperrt. Die Verdrängung negiert den Tod nicht, wie die Verleugnung es tut. Sie schiebt ihn fort. Stünde ein Glas auf dem Tisch (und dieses Glas wäre das Symbol für den Tod), so würde der Verdränger das Glas in die Hand nehmen, unter den Tisch stellen und sagen: Ich sehe kein Glas.

3

Alles, was wir gegenwärtig tun, zielt auf Sichtbarkeit. Und alles, was wir tun, zielt auf Aufbruch. Ideal ist die Sichtbarkeit des Aufbruchs in der permanenten Performance. Die konvertible Währung der Performance ist der ewige Anfang. Wir leben, könnte man sagen, im permanenten Anfang. Wir leben im totalen Anfangsbezug. Der unausgesetzte Anfang ist der andauernde Aufbruch. Das zeitgenössische Individuum ist immer im Aufbruch. Es kommt nie an ein Ziel, nie an ein Ende, nie an die Grenze. Es fängt stets neu an und bricht stets wieder auf. Sein aktueller Standpunkt ist immer schon Vorspiel des nächsten. Ruhe wäre Stillstand, und nichts verachtet der Geist der Gegenwart mehr, als stillzustehen. Im permanenten Sog des Ökonomischen zu sein heißt ja, im Strom eines stets unternehmerischen Geists zu treiben. In diesem Strom zu treiben heißt aber auch, ohne Halt von ihm getrieben zu werden. Der Sog des Ökonomischen bedeutet, dass alles und jedes auf seinen Ge- und Verbrauch hin betrachtet wird. Selbst der Mensch wird insofern ökonomisiert, als nicht Würde und Wert seiner Persönlichkeit höchste Priorität genießen, sondern seine ver- und gebrauchbare Leistungsfähigkeit.

Wenn von der Ökonomisierung des Menschen und des Lebens die Rede ist, ist implizit die Rede von Einsatz und Rückgabe. Der Einzelne investiert sich, um sich wieder einsetzen zu können. In volkswirtschaftlicher Logik gesprochen: Jeder Mensch ist seine Aktie. Als Teil des Ganzen besitzt er einen gewissen Wert. Die Höhe dieses Werts definiert sich über sein Können, oder besser: über sein Könnenwollen. Die ganze Leistungsethik des unternehmerischen Geistes zielt auf ein Ethos des Könnens ab, das ein Könnenwollen voraussetzt. Dem moralischen Sollen unterliegen anerkennungspflichtige Regeln, dem individuellen Wollen sind subjektive Grenzen gesetzt. Können hingegen ist per definitionem unbegrenzt. Können scheint unendlich steigerbar zu sein. Können impliziert immer die Steigerungsfähigkeit ad infinitum.

Können heißt immer auch, dass das Individuum gänzlich auf sich selbst zurückgeworfen ist, denn niemand anderer als es selbst kann das Können können. Sein Kapital besteht in der Potenzialität. Es besteht im Können. Dem Können geht immer schon ein Sollen und Wollen voraus. Können ist die grenzenlose Möglichkeitsform. Prinzipiell hat Können keinen Anfang und kein Ende, und was genau Können ist und sein soll, bleibt unbestimmt. Woher der Mensch sein Können bezieht, ist seine Sache. Beziehen aber muss er es unbedingt. Können hat nur ein Ziel: noch mehr Können. Die Steigerung um ihrer selbst willen. Die Ökonomisierung des Menschlichen bemisst den Menschen am Wert seines Könnens, nicht am Wert seiner Persönlichkeit und insofern am Wert seines Körpers, als der Körper (worin begriffen auch die Psyche steckt) materialer Garant fürs Können ist. Vom Menschen erfordert das Könnenwollenmüssen bislang nicht bewährte Fertigkeiten. Der Einzelne muss sich sein Können abringen; der eine ringt sich dabei mehr ab, der andere weniger. Als Individuum, als unteilbare Einheit, muss er die Könnenskompetenz (eine Art Lebensführungskompetenz) mühsam erlernen. Nur: Wann ist Können ein Können und also eine Kompetenz, die als Wert verhandelbar ist? Wie viel Können ist nötig, um als »Können« bestehen zu können? Und was hat all das mit Sterben und Tod zu tun?

Vieles, wenn nicht alles.

Den permanenten Aufbruch und das undefinierte wie infinite Können zum Maßstab des Menschseins gemacht zu haben ist eine der tragenden Eigenschaften des gegenwärtigen Lebensgesamtverwaltungssystems westlicher Marktgesellschaften. Scheitert das Individuum an diesen Anforderungen, scheitert es automatisch an seinen. Niemand anderes ist für das Scheitern an den Könnens-Ansprüchen haftbar zu machen als das nichtkönnende oder nichtmehrkönnende Individuum selbst. Die Selbstausbeutung ist, wie der koreanische Philosoph Byung-Chul Han zu Recht bemerkt, die große Leistung der gegenwärtigen Ökonomie. Deren System ist klug genug, weder Entscheidungen noch Erlösungen anzubieten; es verlagert die Entscheidung und Erlösung in die Sphäre des Subjekts und somit in die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen. Die Logik des Systems besteht darin, dass der Einzelne für jeden Schaden, den er erleidet, selbst verantwortlich ist. Keine Instanz erlöst ihn durch Aufhebung in ein höheres Vergeben. Insofern ist die kapitalistische Ordnung eine religiöse, als sie den Glauben an die Möglichkeit des Könnens voraussetzt, ohne eine Ethik des Scheiterns anzubieten.

Dieses Leistungsethos aber etabliert ein Menschenbild, das den Menschen bei der Hälfte zurücklässt. Sterben und Tod sind nicht vorgesehen. Sterben und Tod sind das Nichtmehrkönnen par excellence.

4

Vielleicht glauben wir an Gott, vielleicht nicht, vielleicht ein bisschen, fast sicher aber glauben wir alle an die unbedingte Zukunft als Rendite fürs pure Dasein der Gegenwart. Wir sind Gläubiger unserer selbst und stellen unserem Leben einen ungedeckten Scheck aus: Vertrauen auf Zeit, verbunden mit dem Zins, der in der Zeit wächst: brauchbares Leben. Brauchbares Leben ist Leben, das sich einsetzen lässt, um dafür weiteres Leben zu bekommen. Eine Form biologischer Rendite also.

Die Gesellschaftsform einer Ökonomie, die auf der permanenten Bereitstellung von brauchbarem Leben beruht, hat nichts anderes im Sinn als Anfang und Aufbruch, Addition und Akkumulation brauchbaren Lebens. Die Lebenswelt dieser Gesellschaftsform – in der Erscheinungsweise des liberalen Rechts- und Wohlfahrtsstaats womöglich die freiheitlichste aller Zeiten – definiert sich über totale Gegenwart und strebt ausschließlich nach Zukunft. Sie setzt auf den Faktor Wachstum. Die so gekennzeichnete späte Moderne unterscheidet sich von allen Epochen vor ihr dadurch, dass in ihr das Sterben nicht vorgesehen ist. Im ständig wachsenden und nachwachsenden Leben ist die Möglichkeit des Sterbens nicht vorgesehen (und doch ist das Sterben des Lebens notwendig vorausgesetzt: würde es kein Sterben geben, hätten wir nicht nur ein Raumproblem, sondern auch die demographische Inflation).

Alle Energie des Lebens richtet sich nach vorn, um für den ständigen Aufbruch verbraucht zu werden. Sterben und Tod aber lassen sich nicht ge- und verbrauchen. Beides steht dem Regime der Verwertbarkeit entgegen. Sterben und Tod sind Bruch und Abbruch. Sie sind die totale Negation der totalen Positiva einer totalen Gegenwart, deren Ziel totale Zukunft als neue totale Gegenwart ist. Da die Ökonomie allein Produktion, Herstellung, Schaffung und Schöpfung dessen im Sinn hat, was sich ge- und verbrauchen lässt, stellen Sterben und Tod in ihrer unproduktiven, unschöpferischen, unbrauchbaren Negativität das Ende jeder ökonomischen Realität dar. Sie stellen nichts weiter her als die Abschaffung des Menschen als Konsumenten. Sterben und Tod produzieren Unbrauchbarkeit. Drehte man das Vorzeichen um, würde es heißen: Das Leben als Sterben definiert sich über den Ge- und Verbrauch seiner selbst mit dem Faktor Schrumpfung.

Introspektion 1

Ich weiß nicht, wann, wie und wo ich sterben werde. Gewiss ist nur, dass es geschieht. Mein Tod wird kommen, das Ende ist vorgezeichnet. Stürbe ich nicht, wäre ich kein Mensch. Das Ungewisse an der Gewissheit des eigenen Todes setzt jedes Individuum in den existenziellen Konflikt mit sich; auch der größte Eigensinn wird daran nichts ändern. Im eigenen Tod wird die Illusion der Selbstmächtigkeit zur Idiotie.

Seit jeher lebe ich in der Vorstellung, mir meinen eigenen Tod nicht vorstellen zu können. Deswegen kann ich ihn auch nicht fürchten. Was ich fürchte, sind die Umstände meines Sterbens. Ich weiß nicht, ob irgendwann mein Herz versagt und ob dies, wenn es versagt, durch ein Zerren, Reißen oder Ploppen geschieht. Vielleicht zieht sich der Muskel ein letztes Mal zusammen, vielleicht ziehe ich mir eine Entzündung dieses Muskels zu, vielleicht erschlägt mein Herz sich tief drinnen in der Brust selbst, vielleicht hört es einfach zu schlagen auf. Ich weiß nicht, ob sich Teile der Zellen eines Organs zu entdifferenzieren beginnen und Krebs in Leber, Lunge oder Pankreas diagnostiziert werden wird. Ich kann für keines meiner Organe bürgen, obwohl ich alles für sie tue. Ich habe keine Ahnung, was das ist: Sterben, wie Sterben geht, wie Sterben vor sich geht. Ich weiß nur, dass ich keinen Einfluss auf mein Sterben habe, obwohl ich großen Einfluss auf mein Leben zu haben glaube.

Ich weiß nicht, ob ich in naher, mittlerer oder ferner Zukunft nach der Diagnose des kommenden Todes vier oder acht oder hundert Wochen lang passabel lebe und dann mit einem Schlag zu leben aufhöre. Ich weiß nicht, wie es so weit kommen kann, dass meine Organe in einer bis heute geheimnisvoll verschlüsselten Binnen-Kommunikation beschließen, gemeinsam zu versagen. Ich weiß nicht, ob ich über Monate und Jahre hinweg gegen immer neue Geschwüre kämpfen werde. Ich weiß nicht, ob Metastasen mein Rückenmark, mein Gehirn, meine Prostata befallen werden, ob ich dahinvegetiere, verrecke, vor Schmerzen schreie, nach Luft saugend, nach Zukunft ringend. Ich weiß nicht, ob irgendetwas (und was wäre das?) in mir beschließt, nun sei Schluss mit dem Sterben, nun sei Zeit für den Tod, obwohl ich den Tod gar nicht will.

Dass Gott oder ein Gott mein Leben nimmt, glaube ich nicht, was daran liegt, dass ich an keinen handelnden Gott glaube, weder an einen Leben gebenden noch einen Leben nehmenden. Ich glaube an die Unbestechlichkeit der Natur, die ich ständig zu übervorteilen hoffe, aber ich respektiere jede und jeden, die oder der überzeugt ist, ein oder der Gott schöpfe das Leben an sich und ihr oder sein Leben im Besonderen und also nehme er dasselbe, weil nur der, der es gegeben hat, es auch nehmen kann.

Ich weiß nicht, ob ich bis zur letzten Sekunde meines Lebens gesund sein und den schönsten aller Tode haben werde, der im Glück besteht, ein letztes Mal unbeschwert zu atmen und danach nie wieder. Mein Tod wird meine lebenslange Ohnmacht gegen sein Eintreten definitiv beenden; die vorausgeahnte Ohnmacht über diesen Eintritt aber ist ein Zeichen meines vitalen Verstandes. Um den Tod hinauszuzögern, ernähre ich meinen Körper, der mich irgendwann verraten wird, mit strengem Gehorsam gegenüber dem großmütterlichen Menschenverstand, gegenüber den Weisungen der Weisen und Wissenschaftlern der Ökotrophologie, Medizin und Psychologie von reichlich Obst und Gemüse, meide Giftstoffe, rauche nicht und trinke kaum, und wenn, dann nach dem Lustprinzip, das ja, glaubt man den Lehren des Bacchus, sich lebenssteigernd auswirken soll. All das tue ich natürlich auch, um den Tod hinausschieben zu können, um ein paar weitere und natürlich möglichst viele Jahre Leben zu haben, in denen ich dann dennoch und ohne Unterlass ohnmächtig darauf warte, dass mich das Sterben ereilt und etwas in mir (außerhalb meiner selbst kann ich es nicht denken) beschließt, die Sackgassenfahrt in den Tod zu beginnen, wodurch, genau genommen, nichts gewonnen ist, wenn es mir nicht gelingt, die ertrotzten Jahre mit Sinn und Sinnlichkeit, Lust und Schönheit, Dynamik und Bewusstsein zu begehen.

Ich könnte natürlich rauchen und trinken, mich kaum bewegen, reichlich Fett, Cholesterin und zuckerreichen, schwarzen Kaffee zu mir nehmen und mit der Geste der Gelassenheit des Ungläubigen sagen: In Gottes Namen, dann kommt der Tod eben ein paar Jahre früher, aber ich habe das Trinken und Rauchen und Schlemmen, den ganzen Aufstand des angeblich schlechten gegen das angeblich gute Leben bis zur Neige genossen. Ich könnte weiter sagen, wenigstens habe ich mein eigenes Sterben genossen, ohne mich lust- und libidofrei durch ein todvermeidendes, todverleugnendes, todverdrängendes Leben zu quälen. Ja, ich könnte sogar sagen, es genossen zu haben, mit jedem Tag eines ignoranten Lebens einen Tag schneller zu sterben, denn immer ist es freilich so, dass der Mensch die Rechnung seines Lebens ohne den Tod macht. Ja, natürlich, das Ende ist immer schon da, und jedem Anfang wohnt das Ende inne.

5

Der Schlüsselbegriff für gelingendes Leben in der Gegenwart ist der Begriff der Selbstbestimmung. Selbstbestimmung ist der normative Nukleus unseres Selbstverständnisses. Selbstbestimmung ist dann gegeben, wenn die Handlungsinitiative nicht von einem anderen, sondern von mir selbst ausgeht; wenn ich selbst als Ausgangspunkt meiner eigenen Handlungsinitiativen agiere. Selbstbestimmung heißt kurzum, dass der Einzelne sein Leben in die eigene Hand nimmt. Das heißt aber auch, dass er sein Leben eigenhändig zu verantworten hat. Eigenverantwortung ist der Preis der Freiheit, das eigene Leben zu gestalten.

Das Selbst im Begriff der Selbstbestimmung verweist auf das reflexive Moment des Ich-Konzepts (wenn wir darin übereinkommen sollten, etwas noch längst nicht abschließend Geklärtes wie eine Ich-Identität voraussetzen zu können). Immer schon ist eine Differenz zwischen Ego und Welt gesetzt, und immer schon geht es um den Bezug des Ego zum außerindividuellen Rest in dieser Welt. Selbstbestimmung ist also immer Selbstbezüglichkeit des Einzelnen in Abgrenzung zum Rest. Es ist die Ausweitung der Ich-Zone zu einer Identität oder zumindest ihrer Konstruktion.

Was einst den Menschen durch Religion und Mythos überindividuell umflorte – die Bedingungen für Anfang, Glück und Ende des Lebens –, hat das selbstbestimmte Individuum in sich hineinverlegt. Wer oder was ist verantwortlich dafür, dass der Mensch wird, was er wird? Er, der Mensch selbst! Wer oder was entscheidet, wie das Leben verläuft? Er, der Mensch selbst! Wer oder was gestaltet die Bedingungen, die ihn gestalten? Der Mensch selbst. Über die Jahrhunderte hinweg wurde der Einzelne aus allen externen Traditionszusammenhängen herausgelöst (oder hat es aktiv selbst getan) und steht nun normativ nackt vor sich selbst. Diese Nacktheit ist das Pfund, mit dem er wuchert. Selbst die Moral schafft er sich selbst. Diskurs und Gesellschaftsvertrag haben Transzendenz und göttlichen Willen ersetzt.

Die moderne Selbst-Ermächtigung ist das Resultat eines Begriffs doppelter Freiheit, der den Möglichkeitsraum des Einzelnen auskleidet: der negativen Freiheit von Krieg, Zwang, Gewalt, Fremdherrschaft und Fremdbestimmung einerseits und der positiven Freiheit zu