Was ist Gerechtigkeit heute? - Christian Schüle - E-Book

Was ist Gerechtigkeit heute? E-Book

Christian Schüle

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Beschreibung

Gerechtigkeit ist zum Schlagwort verkommen. Fast jeder fühlt sich ungerecht behandelt, und jeder klagt Gerechtigkeit ein. Die aktuelle Politik liefert die Stichworte: Mindestlohn und Bankerboni, Rente mit 63 oder Generationengerechtigkeit, Betreuungsgeld oder KiTa-Plätze … Christian Schüle fragt provozierend, ob Gerechtigkeit wirklich mehr ist als nur eine Fiktion. Er misst die gegenwärtigen Debatten an moralischen Prinzipien, philosophischen Konzepten und politischen Positionen und versucht, eine zeitgemäße Idee von Gerechtigkeit zu entwickeln. Denn wie sollten wir ohne Gerechtigkeit auskommen? Sie ist der Kitt, der eine zunehmend fragmentierte Gesellschaft zusammenhält.

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Christian Schüle

Was ist Gerechtigkeit heute?

Eine Abrechnung

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Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

MottoI. Annäherungen1. Immer geht es zugleich um allesEinführendes Bekenntnis2. Gerechtigkeit zielt immer auf Steigerung3. Die Kraft der Gerechtigkeit4. Eine quantitative AngelegenheitBekenntnis zur Selbsterkenntnis5. Der Maßstab für Gerechtigkeit6. Gerechtigkeit ist ein Gefühl7. Die verführerische Unschärfe des BegriffsBekenntnis zur RatlosigkeitII. Im Reich der LüfteDas Beispiel vom Kuchen1. Das Verhältnis von Gerechtigkeit und GleichheitBekenntnis zu einem Phantom2. Die Herkunft der NormenVon der Aufteilung des Kuchens3. Was ist gerecht, was ungerecht?Bekenntnis zum Wesentlichen4. Der gerechte Gott5. Das höchste Prinzip6. Gerechtigkeit und MoralVon der verteilenden Gerechtigkeit7. Gleich ist nicht gleichBekenntnis zum GerechtigkeitshandwerkDas Beispiel von der Fischtheke8. Ist Gerechtigkeit eine Tugend?PlatonAristotelesJeremy BenthamJohn Rawls9. Gerechtigkeit als IdeologieBekenntnis zur Differenzierung10. Der Wert des Relativen11. Gerechtigkeit und GleichheitBekenntnis zur Freiheit12. Glück durch Gerechtigkeit13. Der Wert der Differenz14. Marx und der KapitalismusVon der Ungleichverteilung durch Einsicht15. Das Recht auf ein gutes LebenBekenntnis zur eigenen Sozialisation16. Gerechtigkeit und Ehrgeiz17. Die Crux der Wahrnehmung18. Sehnsucht nach EntlastungBekenntnis zur Redlichkeit19. Die Mechanismen der Gerechtigkeit20. Die ewig bessere WeltBekenntnis zur Debatte21. Kleiner Exkurs über Geld und Zeit22. Geld und MachtBekenntnis zur DemutIII. Auf dem Boden der TatsachenVon der Wertsteigerung des Kuchens1. Diskurs über Gerechtigkeit von untenBekenntnis zur GleichberechtigungDie Umgehungsstraße2. Deutung der Wirklichkeit3. Klassen und Klassenlose4. Der Hass auf die ReichenBekenntnis zum Relativen5. Wohl und Wehe der Kapitalismen6. Der entscheidende Denkfehler7. Die Angemessenheit der AnsprücheBekenntnis zur Freiheit der Lebensführung8. Der planende und der hedonistische MenschVon der Komplexität des Lebensglücks9. Das Verhältnis von Geben und Nehmen10. Kann Mindestlohn gerecht sein?Bekenntnis zu Mindeststandards11. Bevorzugung impliziert Benachteiligung12. Immer geht der Blick nach oben13. Der Konflikt der WerteBekenntnis zur Abrüstung14. Der Kapitalismus auf der Anklagebank15. Das Problem mit dem ProfitVom Kauf des Kuchens16. Das Problem des Kapitalismus sind seine AnforderungenBekenntnis des postmodernen Zöglings17. Ideale im Wettstreit18. Thomas Pikettys Attacke auf das Eigentum19. Kritik am KritikerVon der Ersetzung des Kuchens durch Geld20. Die Unlogik des Zukurzkommens21. Verdienen und verdienenBekenntnis zur Gleichgültigkeit22. Kleiner Exkurs über die Gier23. Was ist angemessen?24. Das Kriterium für Marktwert25. Die Ökonomisierung des Geistes26. Kleiner Exkurs über den NeoliberalismusBekenntnis zur wachsenden Unsicherheit27. Ideologische Strömungen im MeinungsklimaVon der Steigerung des Anteils28. Die Heroisierung des Individuums29. Schattenwurf der Siegerkultur30. Das doppelte Gesicht der Gerechtigkeit31. Kleiner Exkurs über die Geburtenrate32. Gerechtigkeit führt zu Ungerechtigkeit33. Kleiner Exkurs über das Glück34. Grenzen der Gerechtigkeit35. Das Modell vom MenschenVom Nachbarssohn im Jobcenter36. Das kulturelle Erbe37. Vom Ende des sozialdemokratischen ZeitaltersBekenntnis zur Sakralität der Person38. Die Essenz einer zeitgemäßen GerechtigkeitIV. Im Angesicht der Morgenröte1. Wie die Ordnung verfasst sein soll2. Die entzauberte Welt3. Die Herrschaft der Angst4. Wir leben pluralistisch, personalistisch und im PatchworkBekenntnis zur Wertschöpfungsgerechtigkeit5. Teilhabe setzt Teilnahme vorausVon der Verantwortung gegenüber dem Staat6. Ein neues Narrativ7. Das Ideal des aktiven Staatsbürgers8. Bildungsexpansion oder BildungsinflationVon der Wirkung eigener Erwartungen9. Die Kompetenz der Verantwortung10. Wertverlagerung ist wichtiger als Herkunft11. Der Wert des Vertrauens12. Die Aufgabe des EinzelnenBekenntnis zum Fördern durch Fordern13. Verantwortung ist Selbstverantwortung14. Die Gleichheit der Chancen15. Die Entwicklung von Verantwortungsfähigkeit16. Das deutsche Schülerstipendium17. Umstrittenes Betreuungsgeld18. Die Verkopfung des Lebens19. Die Tatsache kognitiver Unterschiede20. Der Segen des Ehrenamts21. Plädoyer für einen humanistischen Liberalismus22. Die drei Grundsätze eines GesellschaftsvertragsErster Grundsatz: LeidfreiheitZweiter Grundsatz: AngemessenheitDritter Grundsatz: Reziprozität
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»Suum cuique«

Cicero, De Natura Deorum

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I.

Annäherungen

1. Immer geht es zugleich um alles

Gerechtigkeit ist die Nullstelle der Gesellschaft. Niemand weiß, was Gerechtigkeit ist, aber jeder spricht darüber. Niemand kann Gerechtigkeit allgemeingültig bestimmen, aber jeder klagt sie ein. Niemand kann exakt erklären, was gerecht sein soll, aber fast jeder fühlt sich ungerecht behandelt. Eine belastbare Definition dessen, was Gerechtigkeit sei, gibt es so wenig, wie es gültige Prinzipien oder einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, was gerecht ist (klammern wir die verordnete Gerechtigkeit diktatorischer Despotien aus).

Kein anderer Begriff muss dieser Tage größere weltanschauliche Pfunde schultern. Er trägt zeitweise die gesamte Last gesellschaftspolitischer Diskussionen, weil Interessenvertreter, Lobbyisten und Parteipolitiker das Wort »Gerechtigkeit« mit allzu leichter Hand in den Circus Maximus der Erregungsgesellschaft schleudern, Demoskopen diesen Wurf mit guten Noten honorieren und manche Massenmedien die Raffinesse beherrschen, in gemachte Nester zu springen und sich wahlweise in deren behaglicher Wärme einzurichten oder dieselben zu beschmutzen (was man gleichermaßen »Chronistenpflicht« nennt).

Gerechtigkeit wird permanent thematisiert, in Stellung gebracht, benutzt, ausgenutzt, instrumentalisiert, ideologisiert, zerrüttet, gedehnt, verzerrt. Der Begriff ist das philosophisch aufgegossene Fundament einer ratlosen Gegenwartsgesellschaft und eine der zentralen Ideen einer gewünschten Ordnung.

Immer geht es zugleich um alles: soziales Verhalten, praktizierte Ethik, gesetzliches Recht, gesellschaftliche Selbstorganisation; um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit und das Spannungsfeld zwischen individueller Tugend und staatlicher Institution. Der Begriff, so leer wie deshalb verlockend, ist ein modisch gewordenes Füllhorn für diverse Erwartungen, diffuse Wünsche und widersprüchliche Ansprüche. Größere Hoffnungen gibt es womöglich nur noch auf die Liebe, die bekanntlich so herrlich wie ungerecht sein kann.

Wer das G-Wort zur rechten Zeit ausspricht, erregt in jedem Fall Aufsehen und schlägt daraus politisch Kapital. Er ist immer auf der sicheren Seite. Er ist der Held einer gewissen Masse, der Volkstribun in der politischen Arena. Oder nicht?

Nein, er ist ein feiger Hund, denn Gerechtigkeit zu fordern ist die wohlfeilste Angelegenheit, die in unseren denkfaulen Tagen denkbar ist.

Einführendes Bekenntnis

Ich behaupte, dass es Gerechtigkeit nicht gibt. Gerechtigkeit ist ein Mythos. Eine Hoffnung. Ein Ideal. Ein schöner, edler, vielleicht der schönste, vielleicht der edelste Traum der Menschheit. Das himmlisch-güldne, gelobte Jerusalem. Die unfehlbare Vision angesichts des fehlbaren Menschen. Die romantischste Idee neben der Liebe, hoffnungstrunken, poetisch, unerfüllbar. Aus logischen, psychologischen und intellektuellen Gründen aber ist eine gerechte Gesellschaft nicht möglich.

Die Wirklichkeit ist so wenig gerecht, wie die Natur es ist, weil weder Wirklichkeit noch Natur an sich gerecht oder ungerecht sein können. Gerechtigkeit an sich gibt es so wenig, wie der Mensch an sich gerecht ist, weil der Mensch an sich gar nicht gerecht sein kann, wohingegen es gerecht handelnde Menschen durchaus gibt, aber nur dort, wo ihr Verhalten einer Ordnung entspricht, die als gerecht gilt. Und nun? Nicht gleich zuklappen, liebe Leser, denn mit der Gerechtigkeit verhält es sich wie mit einem irgendwie sympathischen, undurchschaubaren Bekannten, dessen Schatten man nicht loswird. Er ist immer anwesend und entfleucht einem dennoch. Er ist uns vertraut und bleibt uns doch merkwürdig fremd.

2. Gerechtigkeit zielt immer auf Steigerung

Die grundsätzliche Frage heißt folglich: Ist Gerechtigkeit eine Norm, eine Moral, ein Verfahren oder ein Sachverhalt? Oder ist sie nichts von alledem und vielmehr eine Fiktion? Und gesetzt, sie wäre doch eine Tatsache: Könnte man Gerechtigkeit verwalten? Und gesetzt, sie wäre eine Moral: Könnte man sie normieren? Und gesetzt, sie wäre ein Ideal: Könnte man es umsetzen?

Als zentrales Anliegen der Menschheit ist Gerechtigkeit so alt, wie der Mensch selbst es ist – wo zwei Individuen aufeinandertreffen, etabliert sich ein Wertverhältnis, das ein Konkurrenz-, womöglich ein Kompetitiv-, zuletzt immer ein Gerechtigkeitsverhältnis ist: Wer darf wie viel wovon in Anspruch nehmen und nimmt dadurch wem durch wie viel was weg? Die Frage nach den Bedingungen eines gerechten Lebens stellt implizit die weitere, wann denn das Leben gerecht sei. Aber ist das überhaupt beantwortbar? Das Leben ist ja immer ungerecht, weil das Leben als solches nicht gerecht sein kann. Wenn aber schon nicht das Leben als solches gerecht ist, ist es dann nicht vielleicht die Welt? Denn wenn auch die Welt es nicht ist, müsste es ja Gott sein, und wenn selbst dem nicht so wäre, wäre dies eine schlechte Nachricht, zumindest für alle Gläubigen.

Jede Frage nach Voraussetzungen des gerechten Lebens ist letztlich eine nach den Voraussetzungen eines besseren Lebens (abermals vorausgesetzt, man wüsste bereits, was das gute sei). Das heißt also: Gerechtigkeit ist notwendig vergleichend. Sie zielt auf Steigerung und ist komparativ ausgelegt. Nie wird Gerechtigkeit sich mit einem Zustand zufriedengeben. Nie wird es dauerhaften Frieden der Hütten mit den Palästen geben.

3. Die Kraft der Gerechtigkeit

Im Gegensatz zu seiner Unbestimmbarkeit führt das G-Wort zu ganz bestimmten Erregungen. Es vermag Gesellschaften zu spalten und Lager zu teilen. Es vermag Gräben aufzureißen, Fraktionen zu bilden, Parteien zu entzweien. Je nach Sichtweise ist die Rede im Namen der Gerechtigkeit gefährlich, fahrlässig, banal oder billig, auf jeden Fall so verführerisch wie allzeit nervös. Jeder wird sofort sagen können, was er als ungerecht empfindet. Sollte dieser Jeder aber eine allgemeine Formel des Gerechten geben, so herrschte – vermutlich – Schweigen.

Die erlauchtesten Geister aller Epochen haben über Gerechtigkeit gegrübelt, sie haben abgeleitet, Antworten konstruiert, Kategorien entworfen und bis heute – über das pauschale Maß der Mitte hinausgehend – Annäherungen, Umkreisungen, Ungefähres und Unverbindliches formuliert. Was lehrt uns die Geistesgeschichte? In erster Linie, dass die Frage nach Gerechtigkeit bis heute anhängig ist. Womöglich ist sie dieser Tage so brisant wie selten zuvor, weil Gerechtigkeit das letzte große Epos ist, das es nach dem Tod Gottes noch mit dem ganzen Dasein aufnehmen kann.

4. Eine quantitative Angelegenheit

Gerechtigkeit begegnet jedem jederorts jederzeit, Ihnen, mir, uns, weil das ganze Leben, ja, der ganze Sinn des Daseins als Aufwurf der Frage nach Gerechtigkeit aufgefasst werden kann. Vom globalen Universal bis hinunter in die provinzielle Nische vermag alles und jedes im Lichte der Gerechtigkeit betrachtet und nach entsprechender Betrachtung als ungerecht bewertet zu werden. Immer wird es dabei um das Cui bono gehen: Wer profitiert, wer verliert? Wer gibt, wer nimmt? Mehr noch: Wer nimmt wie viel und wer gibt wie wenig?

Jede Begegnung auf dem Trottoir, wenn es um die Verteilung des verfügbaren Platzes geht, stellt unausgesprochen und sofort spürbar ein Gerechtigkeitsverhältnis her: Wem steht wie viel Raum zu? Wer geht wann zur Seite? Wer hat warum Anspruch auf welche Anteile? Vor jeder qualitativen Bestimmbarkeit, scheint es, ist Gerechtigkeit immer zuerst eine quantitative Angelegenheit. Jedes Teil- und Subsystem der Gesellschaft hat seine Gerechtigkeitsvorstellung und argumentiert im Namen der Gerechtigkeit an sich. Jedes Gerechtigkeitsverhältnis aber trägt mindestens ein Ungerechtigkeitsverhältnis in sich. Manchmal widersprechen sich Gerechtigkeiten. Die juristische etwa domestiziert die biblische, weil Rache, Zorn, Errettung oder Erlösung zwar das Gefühl einer Rechtfertigung herzustellen vermag, nach rechtsstaatlichem Verständnis hingegen nicht gerecht sein kann. Globale Gerechtigkeit hebelt lokale aus und die soziale gelegentlich die ökonomische. Jede Behebung einer Ungerechtigkeit führt so gut wie immer zu einer neuen.

Zwar ist Ungerechtigkeit keine der sieben Todsünden, und auch in den zehn Geboten finden wir sie nicht wieder – dennoch könnte man, mit entsprechender Fantasie, mindestens vier der sieben Todsünden auf sie vereinen: Hochmut (Todsünde 1), Habgier (Todsünde 2), Wollust (Todsünde 3) und Völlerei (wahlweise Selbstsucht, Todsünde 5). Wenn Ungerechtigkeit im klassischen Katechismus der Katholischen Kirche nun aber gerade nicht explizit als schlechte Charaktereigenschaft gebrandmarkt wird – was lehrt uns das? Erstens: dass es sie nicht gibt. Zweitens: dass sie weder teuflisch noch göttlich ist. Und drittens: dass, wer Gerechtigkeit im Besonderen herstellen will, sich postwendend an derselben als Allgemeinheit versündigt.

Bekenntnis zur Selbsterkenntnis

Ich bin weder Sohn eines Professors noch einer Ärztin, stamme aus der bürgerlichen Mittelschicht, habe Abitur und Studienabschluss und nehme unverdrossen mein Wahlrecht wahr. Weder habe ich in die Oberschicht hinauf- noch ins Prekariat hinabgeheiratet, und mein Jahreseinkommen ist überschaubar. Mitglied einer politischen Partei bin ich so wenig wie einer Gewerkschaft, ich gehöre weder einer Amtskirche noch einer anderen Institution an. Ideologien, gleich welcher Art, halte ich für schädlicher als ihre Abwesenheit, Gott, Götter und Gottheiten stellen für mich Erfindungen raffinierter Menschen zum Zweck politischer Propaganda dar.

Weder bin ich Rebell noch Revoltierer, Revolutionsprosa finde ich wahlweise kitschig, kindlich oder gefährlich. An eine Wahrheit im übergeordneten Sinne glaube ich nicht, die Verachtung der Gegenwart finde ich dumm. Weder bin ich libertär noch anarchistisch veranlagt, und wenn ich etwas bin, dann womöglich liberal, aber nicht im Sinne der weiland FDP oder einer sonstigen Partei, die als Partei immer nur partiell zu denken in der Lage ist, und gerade das Partielle, Parteiische führt im Fall der Gerechtigkeit niemals weiter.

Den sozialen Frieden in der Bundesrepublik erachte ich als größte Errungenschaft seit Kriegsende, Kritik für das erste Gebot einer Demokratie und konstruktive Kritik für die Pflicht intellektueller Redlichkeit. Ich schätze das Land, in dem ich lebe, für vieles; stolz darauf bin ich nicht. Nationalstolz ist mir so fremd wie Chauvinismus, positive Gefühle für Hymne und Flagge hingegen finde ich so gesund wie die Loyalität zu jenem Gemeinwesen unabdingbar, in das ich eingewoben bin. Würde man mich einen Patrioten nennen, wäre ich nicht verletzt, ebenso wenig aber geschmeichelt. Ich bin dankbar, hier und jetzt, in dieser Republik, zu dieser Zeit, unter dieser Verfassung leben zu können, möchte hingegen nicht sagen: leben zu dürfen, denn das setzte den gnädigen Akt eines Geschenks voraus, von dem mir bis zum heutigen Tage niemand hätte sagen können, wer da was schenkte (das Leben ist für mich kein Geschenk im göttlichen Sinne, es ist das biologische Ergebnis der Zeugung eines Kindes durch zwei Menschen, die sich hoffentlich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte der gemeinsamen Verantwortung bewusst gewesen sind).

Mit Gewissheit bin ich, wie jeder es ist, vielfach vorgeprägt, versuche aber, meine Prägungen zu reflektieren. Seit geraumer Zeit befinde ich mich auf Wanderschaft und suche nach Entstehung, Wohl und Wehe meiner Wertvorstellungen. Ab und an gehen Neigungen mit mir durch, aber ich mache sie kenntlich. Bis zum jetzigen Zeitpunkt habe ich keine Antworten, bin aber leidenschaftlich um Selbsterkenntnis bemüht. Aus all diesen Gründen halte ich mich für befugt, über den größten Traum der Menschen nachzudenken. Die Hitze seiner Strahlkraft lässt einen ja kein bisschen kalt, oder?

5. Der Maßstab für Gerechtigkeit

Man kann Gerechtigkeit nicht messen, be- oder vermessen, und noch weniger lassen sich Quotienten, Wurzeln oder Koeffizienten bestimmen, dafür ist die Angelegenheit zu simpel und komplex zugleich. Man hat bis auf weiteres also davon auszugehen, dass es eine absolute, eine unumstößliche, unerschütterliche, allgemeingültige Gerechtigkeit nicht gibt. Je zersplitterter und fragmentierter die Gesamtgesellschaft ist, je mehr Subsysteme und Subsysteme von Subsystemen es gibt, je ausdifferenzierter der Pluralismus unserer Lebenswelten ist (welch ein Segen!), desto mehr Gerechtigkeitsvorstellungen flirren durch den Äther. Ist heutzutage die Rede von Gerechtigkeit, so ist immer relative Gerechtigkeit gemeint. Relative Gerechtigkeit ist deshalb relativ, weil sie sich über Verhältnisse, über Relationen, konstruiert. Daraus folgt: Eine Ordnung ist gerecht, wenn die in ihr existenten Verhältnisse als gerecht empfunden werden. Wie viele Einzelne aber müssen ein Verhältnis als gerecht empfinden, damit dieses eo ipso nicht nur als gerecht gilt, sondern auch eine gerechte Ordnung begründet?

Der Maßstab für alles Gerechte oder Nichtgerechte erhebt sich höchstrichterlich in der Frage: Quis iudicabit – wer entscheidet über die Antwort? Und, mit ihr verbunden, in der Folgefrage: Quis interpretabitur – wer hat die Deutungshoheit? Beide Fragen gehören zur geistigen Inventur des frühen Christentums, unterliegen aber den Traditionen der europäischen Geistesgeschichte und bilden – reduziert man alle Menschlichkeit auf ihren Kern – die Pole unseres Zusammenlebens: der bürgerlichen Gemeinschaft, der zivilisierten Gesellschaft, der politischen Organisation. In ihnen sind soziale Normen und diskursive Prozesse vereint. Sie stellen die beiden Seiten derselbe Münze dar, die Währung einer Wahrheit, und wenn nicht der Wahrheit, so der Wahrhaftigkeit. Trotz ihrer Unbestimmbarkeit liegt Gerechtigkeit dem gesellschaftlichen Selbstverständnis als Matrix mit Codes und Chiffren zugrunde.

6. Gerechtigkeit ist ein Gefühl

Gerechtigkeit ist das selbstverständliche Paradoxon einer pluralistischen Demokratie: Allgemeingültige, also überindividuelle Maßstäbe sollen dem Anspruch jedes Individuums gerecht werden. Rasch wird man erkennen, dass es sich hier um ein unlösbares Problem handelt, weil Gerechtigkeit ein Gefühl ist, und damit beginnen schon die Schwierigkeiten. Gefühle sind subjektiv. Individuelle Gerechtigkeitsgefühle lassen sich nicht verallgemeinern zu einem, sagen wir, gesamtgesellschaftlichen Grundgefühl. Können wir ernsthaft von einem Gerechtigkeitssinn ausgehen? Und wenn ja: Ist er angeboren, hat ihn jeder? Und ist er kollektiv verlässlich? Und wenn es ihn denn gäbe – ist er in den USA anders verfasst als in Frankreich, Dänemark, der Türkei und Deutschland? Und wenn auch dies zuträfe: Liegen ihm soziokulturelle, mythologische und religiöse Traditionen zugrunde – oder gerade nicht?

Wenn Gerechtigkeit eine als gerecht empfundene Ordnung begründet, gilt das nur dann, wenn Menschen sich so verhalten, wie es dieser Ordnung gemäß ist. Das heißt: Der Mensch stellt durch sein Verhalten eine Ordnung her, die als gerecht empfunden wird; zugleich prägt die Ordnung das Verhalten des Menschen. Es geht, so viel steht jetzt schon fest, immer um das wechselseitige Verhältnis von individuellem Verhalten und überindividueller Ordnung.

7. Die verführerische Unschärfe des Begriffs

So gut wie immer ist die Diskussion um Gerechtigkeit von Interessen geleitet: politischen, ideologischen, finanziellen. Interessen geben Antworten auf ungestellte Fragen, das ist das Wesen des Lobbyismus. Der Gerechtigkeitsdiskurs ist ein hermeneutischer Zirkel: Zu Anfang steht fest, was am Ende herausgefunden werden soll – nämlich, dass das System, das Leben, die Gesellschaft, die Verhältnisse, dass dieses oder jenes Verhalten, diese oder jene Verteilung, diese oder jene Entscheidung nicht gerecht sind, weswegen das große Ganze (das Land, die Nation, das System) als solches ungerecht ist (obwohl ein Land als solches natürlich niemals ungerecht sein kann, weil ein Land kein handelndes Subjekt ist und als Person keine Entscheidung trifft; ein Land ist ein in gegebenen Grenzen vollzogenes Faktum).

Folglich, und auf eine Kritik dieser Plumpheit wollen diese streitbaren Einkreisungen hinaus, lässt sich alles und jedes zu einer Sache der Gerechtigkeit erklären. Der unschätzbare Vorteil des Begriffs »Gerechtigkeit« liegt in seiner herrlichen Unschärferelation.

Bekenntnis zur Ratlosigkeit

Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass ich ratlos bin. Dennoch erhebe ich das Wort, weil ich glaube, dass jede Generation im Kontext ihrer Werte und Normen den ihr eigenen und gemäßen Begriff der Gerechtigkeit zu untersuchen hat. Jede Generation ist angehalten, sich den großen Fragen aufs Neue zu stellen. Sie ist angehalten, eine Revision der Tugenden vorzunehmen und das Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst zu moderieren, sonst wird es nie zu einer schillernden, epischen, mitreißenden Vision kommen.

Wie jeder andere Zeitgenosse finde auch ich dies oder jenes ungerecht. Frage ich mich dann, warum ich es ungerecht finde, erreiche ich so gut wie nie das Niveau einer befriedigenden Antwort – was einerseits an mir, andererseits an der Gerechtigkeit liegen könnte; sie ist ja eine Diva, und Diven sind gern unergründbar melancholisch. Ich finde, zum Beispiel, ungerecht, dass Frauen seltener erwerbstätig als Männer sind und, wenn sie es sind, im Durchschnitt schlechter bezahlt werden. Vielleicht gibt es dafür Gründe, vielleicht sind Frauen – nicht in ihrer Mehr-, aber doch in beträchtlicher Anzahl – keineswegs unglücklich darüber, seltener erwerbstätig als Männer zu sein, weil erwerbstätig zu sein ja nicht notwendigerweise den Sinn eines guten Lebens ausmachen muss und Frauen erfahrungsgemäß oft das klügere Geschlecht sind (vielleicht drückt sich hier aber auch ein rückständiges Frauenbild aus, das ich allerdings keinesfalls zu haben glaube). Ich finde es ungerecht, dass jemand ohne selbst erbrachte Leistung annähernd so viel Geld erhält wie jemand, der tagaus, tagein für dieses Geld arbeitet. Aber läge Gerechtigkeit allein schon darin begründet, dass der eine weniger erhielte als der andere? Wie viel weniger müsste der eine erhalten, damit die Ordnung vom anderen als gerecht empfunden würde? Oder wäre es gerecht (um nicht zu sagen gerechter), erhielte der Nichtarbeitende gar kein Geld, womit das Verhältnis Arbeit/Nichtarbeit und Geld/kein Geld gewahrt wäre? Was aber, wenn der Nichtarbeitende arbeiten will und keine Arbeit findet? Hat er dann Pech oder selbst Schuld? Und was wäre, wenn der Nichtarbeitende eben auch nicht arbeiten will und dennoch Geld erhält: Lässt sich nur durch prinzipielle Solidarität eine solche Gesellschaft organisieren, die wir als gerecht empfinden? Und was, zu guter Letzt, wenn der Arbeitende gar nicht so viel arbeiten möchte und dem Nichtarbeitenden Geld egal ist?

Ach.

Ich finde es ungerecht, dass ich ohne jedes persönliche Verdienst, ohne individuelle Leistung ein Leben in relativem, aber großem Wohlstand führen darf, in Deutschland, in Europa, in Hamburg und München, dass ich jene Schul- und Universitätsbildung haben konnte, die ich hatte, dass ich in sozialem Frieden lebe und ein relatives Höchstmaß an Freiheit besitze, dass ich weder unter Ressourcenarmut noch Bürgerkriegen zu leiden habe, dass alle deutschen Regierungen zu meinen Lebzeiten weder korrupte noch autoritäre Regime waren und sind, dass ich die garantierte Lizenz zur Entfaltung meiner religiösen und sexuellen Persönlichkeit genießen darf, dass ich aus unerhört vielen Optionen die mir gemäße zu wählen aufgerufen bin, dass ich öffentlich Minister kritisieren und in der Fußgängerzone sogar gegen das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit demonstrieren kann, sollte ich der Meinung sein, das sei sinnvoll. Und dann spreche ich mit Menschen aus Äthiopien, Somalia oder Burkina Faso und fühle angesichts ihres Elends, ihres Leids, ihrer Entbehrungen und Traumata zwar weder Überlegenheit noch Mitleid, aber den üblen Geschmack einer mich hinterrücks attackierenden Gewissensverbitterung, obwohl ich nichts für meine Geburt unter deutschen Nachkriegsumständen kann und der Äthiopier nichts für seine unter äthiopischen.

Aufrechnerei führt nie zur Erkenntnis. Es führte höchstens dann weiter, wenn aus der Erkenntnis jener globalen Ungerechtigkeit meiner deutschen Geburt der Funke einer praktischen Verantwortung zu schlagen wäre, Ideen zu entwickeln, angewandte Nächstenhilfe zu leisten oder sich in einer NGO zu engagieren, welche die Lebensverhältnisse in Somalia oder Burkina Faso oder Äthiopien zu verbessern sich zum Ziel setzt – und das selbstzweckhaft und nicht etwa im Geiste eines missionarischen Christentums, das Brot und Brunnen gegen Glaube und Gott verhandelt.

Ist das nun eine reichlich eitle Selbstanklage? Ja, ist es. Nein, ist es nicht. Zwischen Ja und Nein changiert das so diverse wie diffuse Gerechtigkeitsempfinden. Also frage ich mich: Gibt es einen unhintergehbaren letzten Grund von Gerechtigkeit, ein – um mit Descartes zu sprechen – fundamentum inconcussum?

In den folgenden Betrachtungen verschmelzen auf recht hemmungslose Weise objektive Ideengeschichte, philosophische Hybris, soziologische Analyse, erlebte Alltags-Empirie, erinnerte Gespräche, recherchierte Ereignisse, persönliche Beobachtung, subjektives Werturteil, aufmerksame Zeitungslektüre, selektive Quellenarbeit und die generationelle Befindlichkeit des Autors zu einem Versuch über die Gegenwart im Lichte der Gerechtigkeit. Fragen überwiegen Antworten, Zweifel durchziehen das Gewebe, Aperçus illuminieren unvollendete Gedanken, und das Wörtchen »womöglich« fungiert als berechenbare Geisteshaltung des hochgeschätzten Konjunktivs. Der Ausgang der Erörterung ist offen, ihr Leitmotiv die Suche nach eigenen Gewissheiten. Die Geisteshaltung scheint provokativ, der Ton ist mancherorts pamphletistisch.

Deklinieren wir also im Folgenden die Verhältnisse zwischen Individuum, Gemeinschaft und Welt durch. Setzen wir den Zeitgenossen ins Verhältnis zu Kasus, Numerus, Genus und versuchen eine Grammatik der Gerechtigkeit in Zeiten ihrer unerhörten Ausgesprochenheit. Und nähern wir uns als Erstes von oben, aus der Höhe, aus dem übersinnlichen Reich der Lüfte, des Geistes und seiner Gedanken an und sinken aus der atmosphärischen Kühle langsam hinab in die Erregungshitze irdischer Wirklichkeit mit all den wilden Protonen, feuernden Elektronen und freien Radikalen, wo es die Neutronen einer wertfrei sezierenden Rationalität denkbar schwer haben. Genau das soll jetzt geschehen, damit am Ende des Unterfangens jener Satz zum Tragen kommt, dass ohne Gerechtigkeit alles nichts ist.

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II.

Im Reich der Lüfte

Das Beispiel vom Kuchen

Nehmen wir an, eine fünfköpfige Familie lebt in einem Reihenhaus im Neubaubezirk einer mittelgroßen deutschen Stadt. Die Miete beträgt monatlich 1100 Euro warm. Der Vater, 45, ist angestellter Bauingenieur in einem mittelständischen Betrieb, die Mutter, 42, Sachbearbeiterin auf Teilzeit in einer Versicherungsagentur. Der erste Sohn ist 15 Jahre alt, der zweite 10, die Tochter 13. Die Tochter besucht das Gymnasium, der ältere Sohn die Realschule, der jüngste die Grundschule. Vater und Mutter sind seit 15 Jahren verheiratet, Wechselwähler und aus der Kirche ausgetreten. Beide Familien haben über Generationen hinweg deutschen Hintergrund.

Nehmen wir weiter an, die Eltern backen eines Tages einen Kuchen (merkwürdigerweise spielt in politischer Theorie, Wirtschaftswissenschaft und Demoskopie, aber auch in Philosophie oder Sozialforschung ausgerechnet das Bäckerhandwerk eine illustre Rolle, weswegen dies zweifelsohne auch hier geschehen soll). Niemand in der Familie hat Geburtstag, zu feiern gibt es nichts. Der Kuchen wird, das zeigt die Erfahrung, von allen Kindern gern gegessen. Ob er gleich gern gegessen wird, lässt sich nicht genau bestimmen, aber nehmen wir an, alle drei Kinder würden auf einer Skala von 1–10 den zweithöchsten Wert 9 ankreuzen. Hätten die Eltern statt eines Kuchens eine Torte gebacken, hätte der jüngste Sohn sich sehr darüber gefreut, weil er vor allem Sahne mag, Obst hingegen nicht. Die Tochter aber hätte erst gar keinen Appetit entwickelt, weil sie am liebsten Aprikosenkuchen mag und sich vor allem Tortigen ekelt. Dem ältesten Sohn wäre Torte wie Obstkuchen einerlei, denn er mag alles.

Die Familie sitzt am Wohnzimmertisch, und die Mutter (es könnte auch der Vater sein) steht vor der Aufgabe, den Kuchen aufzuteilen. Keines der Kinder stellt Forderungen. Nehmen wir an, dass die Eltern keines der Kinder benachteiligen wollen, weil ihre Sympathie für alle Kinder gleich groß verteilt ist. Die Voraussetzungen sind ideal, bis auf weiteres gibt es keine Unterschiede. Die Mutter (der Vater) sticht das Messer hinab, und mit dem folgenden Schnitt setzen Magie und Probleme der Gerechtigkeit ein.

1. Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit

Gerechtigkeit, lautet eine so populäre wie naheliegende Lesart, sei das Verfahren gerechter Verteilung. Wird Gerechtigkeit in erster Linie als ein Verteilungsverfahren verstanden, geht es in zweiter Linie um die normative Einbettung dieses Verfahrens.

Teilung zieht immer Verteilung nach sich; umgekehrt setzt Verteilung bereits Portioniertes voraus. Damit Gerechtigkeit überhaupt zum Thema werden kann, muss das zu verteilende Gut (der Kuchen also) dividiert werden. Ein Kuchen durch drei bedeutet im Fall der Familie: ein Drittel Kuchen für jedes der drei Kinder; womit nicht gesagt ist, wie groß die Teile sind. Verteilungsgerechtigkeit basiert auf dem rationalen Ansatz einer mathematischen Gleichung: Wie groß oder klein müssen die Teile beschaffen sein, um gerecht verteilt werden zu können?

Nehmen wir an, die zu verteilenden Teile sollen gleich groß (oder gleich klein) und keinesfalls unterschiedlich groß oder klein sein. Wären sie das, würde diese Unterschiedlichkeit der Rechtfertigungspflicht unterliegen. Jede Rechtfertigung wiederum basiert auf einem normativen Vorverständnis, und es ist nicht davon auszugehen, dass diese vorgelagerte Normierung bei allen gleich ist (womöglich in einem Kulturkreis aber ähnlich sein kann). Die Vermeidung von Unterschieden muss im Interesse einer gerechten Verteilung an oberster Stelle stehen, sonst käme man moralisch in Teufels Küche (als Gegenmacht zur Logik), mit der Unterschiede nicht begründet werden müssen (die Moralisierung des Mathematischen ist ohnehin ein großes Problem der Gerechtigkeit, das später ausführlich zu erörtern sein wird).

Es liegt im Interesse aller Kinder, der Mutter (oder dem Vater) insofern zu vertrauen, als sie davon ausgehen können, dass erstens jeder Teil gleich groß oder gleich klein ist und zweitens keines der Kinder bevorzugt oder benachteiligt werden soll. Nehmen wir an, das sei gegeben. Und nehmen wir weiter an, das sei der Idealzustand. Dieser Zustand variiert den Grundsatz »Jedem das Seine« zu »Jedem das Gleiche«.

Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit ist des Pudels Kern und ein Problem von geradezu tragischer Dimension. Noch hat es nicht die Reife, durchdrungen zu werden, weshalb eine andere, eher visionäre Frage in den Vordergrund rückt: Was mehr als die abstrakte Angelegenheit einer mathematischen Verhältnisbestimmung könnte Gerechtigkeit noch sein?

Bekenntnis zu einem Phantom

Eine gewisse Unfähigkeit, diesen so herrlich wie zugleich furchtbar schillernden Begriff jenseits eines mehr oder weniger diffusen Gefühls zu bestimmen, bedrängt mich, seit ich zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit keinen qualitativen Unterschied mehr zu greifen vermochte. Der Frage, woher dieses diffuse Gefühl kommt: ob es immer schon da war und, wenn nein, wann es einsetzte, inwieweit es durch Gespräche, Lektüren oder geschichtete Lebenserfahrungen zustande gekommen ist oder als Ausdruck einer angeborenen Moral gewertet werden muss (vorausgesetzt, ein Sinn für Moral sei jedem Menschen angeboren, was eine durchaus problematische Annahme ist) – dieser Frage also vermag ich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht auf die Spur zu kommen. Gerechtigkeit ist ein einziger Widerspruch in sich. Die eine Art Gerechtigkeit torpediert die andere. Gerechtigkeit für die Alten von heute ist Ungerechtigkeit für die Jungen von übermorgen. Gerechtigkeit im eigenen Umfeld bedeutet Ungerechtigkeit für das globale Feld. Globale Gerechtigkeit wiederum hat lokale Ungerechtigkeit zur Folge. Gerechtigkeit für alle zu verwirklichen verlangte göttliche Allmacht, Gerechtigkeit für einen Einzigen zu fordern halsbrecherische Hybris.

Was nicht alles gerecht ist und sein soll und noch nicht ist und vielleicht werden kann! Gewerkschaften und Sozialverbände reduzieren so gut wie alle Sozialverhältnisse auf die Frage nach Gerechtigkeit für den kleinen Mann; für den Bundesverkehrsminister von der CSU ist die Ausländermaut auf deutschen Straßen eine Sache der Gerechtigkeit, die Vorsitzende der Grünen sieht eben in dieser Maut eine große Ungerechtigkeit. Die SPD erkennt im Betreuungsgeld eine ungerechte Maßnahme, weil es der Chancengleichheit aller Kinder schadet; für die CDU/CSU ist das gleiche Geld gerecht, weil es junge Familien entlastet. Einen Bonus für städtische Kita-Erzieher finden jene gerecht, die meinen, Erzieher verdienten zu wenig; ungerecht finden andere denselben Bonus, weil private Einrichtungen keinen bekommen. Die Bundesbildungsministerin verspricht für die Zukunft eine gerechte Bafög-Erhöhung, die wiederum ungerecht sei, sagen andere, weil sie nicht mal die Inflation ausgleiche. Die beiden Kirchen finden es gerecht, ihnen zustehendes Geld künftig automatisch aus der Kapitalertragssteuer einzutreiben, viele Bürger hingegen finden schon die Kirchensteuer an sich ungerecht. Universell gerecht wäre, wenn jeder Inder wie jeder Amerikaner ein Auto fahren könnte, ungerecht wäre genau dies, weil dann das Klima kollabierte und in Afrika zu Dürren, Hungersnöten und Seuchen führte. Täglich billiges Fleisch für alle Schichten ist sozial gerecht für jeden Erst-Welt-Bürger, die Vertreibung von Bauern in Lateinamerika wegen des Anbaus von Mais als Tiernahrung für den Zweit- oder Dritt-Welt-Bürger existentiell ungerecht. Als »gerechter Unternehmer« wird kurz nach seinem Tod der reichste Deutsche, Aldi-Gründer Karl Albrecht, gewürdigt; während der Haushaltsexperte der FDP befindet, dass gerecht ein System sei, dem man sich nicht ausgeliefert fühlt.

Im Laufe der Zeit wurde Gerechtigkeit für mich zu einem Phantom, eine stumme, fordernde, rastlose, immer präsente Begleiterin, die, mehr als eine Allegorie im Übrigen, in den Rang einer problematischen Liebschaft aufstieg, an die ich morgens und abends dachte, die mich aufrieb, erregte, marterte und verdross, deren Attraktion ich spürte und deren feige Hinterhältigkeit ich verachtete, die ich suchte und nicht fand und irgendwann gefunden zu haben glaubte, ehe sie mir entfleuchte, als wäre sie eine Art Polarlicht, grüngelb im Firmament tanzend.

2. Die Herkunft der Normen

Der Mensch ist nicht Ursache seiner selbst, er steht immer schon in Geschichte. Immer schon ist das Individuum eingewoben in einen Traditionshintergrund aus kulturellen Wertvorstellungen, Selbst- und Sozialverhältnissen seines Kulturkreises und seiner Region. Der Vorrat tradierter Wertorientierungen bildet den Kontext, von dem entkoppelt niemand handeln kann. Dem individuellen Gerechtigkeitsempfinden liegt immer schon eine Art kollektive Gerechtigkeitsübereinkunft jener Epoche voraus, in der der Einzelne aufwächst. Über ihre sozialen, moralischen und konventionell-sittlichen Normen gründet die soziale Lebenswelt permanent zahllose Gerechtigkeitsverhältnisse. Dem individuellen Gefühl von Gerechtigkeit ist also immer schon eine Werteordnung dessen vorgängig, was die Gesellschaft als gerecht empfindet und über Zeitungen, Magazine, Hörfunk, Fernsehen, Film, Literatur, Blogs, Kolumnen und vielleicht auch Parlamentsdebatten transportiert.

An diesem Punkt wird es heikel, denn wer interpretiert Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit aufgrund welcher Prägung? Wer spricht darüber auf der Basis welcher Wertüberzeugungen? Wer vertritt welche Norm und woher stammt sie? Können wir einen kulturellen Wertekonsens ebenso voraussetzen wie eine Übereinkunft über das Gerechte an sich? Wenn Gerechtigkeit notwendigerweise Normen voraussetzt, wäre zu klären: Sind es globale, also universell gültige, oder lokale, auf mein Umfeld bezogene Normen? Und zweitens: Sind es absolute oder relative Normen?

Von der Aufteilung des Kuchens

Nehmen wir an, dass nun der selbstgebackene Kuchen unter den drei Kindern aufgeteilt werden soll. Es macht einen Unterschied, ob die Mutter oder der Vater das Messer ansetzt. Ist es die Mutter, könnte unterstellt werden, hier handle es sich um eine konservative Familienstruktur mit patriarchalischem Rollenverständnis: Die Frau als Muttchen am Herd kümmert sich um die Kinder, backt Kuchen und verdient kein eigenes Geld, während der Vater der Mutter das mit Kochen und Backen besetzte Feld gönnerhaft überlässt, was geschlechterspezifisch betrachtet ungerecht wäre.

Verhält es sich genau gegenteilig, könnte eine andere Form der Wirklichkeitsverzerrung unterstellt werden: Wenn nämlich die Mutter eine Frau ist, die Beruf und Kinder bestens unter einen Hut brächte, würde sie von den einen als vorbildliches Beispiel herausgestellt, während ihr von den anderen Rabenmutterschaft unterstellt würde, da der Sinn des Lebens aus Sicht dieser anderen in der hundertprozentig gelingenden Erziehung der Kinder und nicht in egoistischer Selbstentfaltung bestehe (würde die Beruf und Kinder in Einklang bringende Mutter übrigens positiv verklärt, würde allen anderen Müttern, die an dieser schwierigen Aufgabe scheitern, vorgehalten, sie träfen die falschen Entscheidungen oder seien unfähig oder strengten sich nicht richtig an oder seien schlicht zu verweichlicht, diese Doppelaufgabe zu meistern).

In allen drei Fällen jedenfalls würde sofort der Vorwurf im Raume stehen, das Verhältnis zwischen Mann und Frau sei ungerecht. Und rasch würde man gegenzufragen haben: Was genau ist daran ungerecht?

Eine Antwort könnte lauten: dass hier eine Mutter heraus- und pars pro toto dargestellt werde, die augenscheinlich mehr zu arbeiten habe als ihr Mann, denn der kümmere sich nur um seinen Job, während die Mutter zu ihrer Berufsarbeit auch noch die Hausarbeit der Kindererziehung und -betreuung übernehme. Eine zweite Antwort könnte lauten: Hier werde eine Mutter pars pro toto genommen, die mit der gesellschaftlichen Realität schlichtweg nichts zu tun habe. Wie aber, würde man abermals gegenfragen, ist denn die gesellschaftliche Realität? Mütter, die Kinder und Beruf auf so einfache Weise unter einen Hut brächten, hieße die Antwort, trügen einen privilegierten Hut. Womöglich sei ihre Herkunft oberschichtig, was allen anderen Frauen gegenüber, die aus der Unter- oder Mittelschicht stammen, ungerecht wäre. Ließe sich das empirisch begründen? Vermutlich nicht. Und wenn doch: Ab welchem Prozentsatz wäre der Vorwurf der Ungerechtigkeit legitim? Und was ist mit jenen Frauen, die sich freiwillig für die Arbeit im Hause, für Erziehung und Haushalt entscheiden – haben sie kein Recht auf Respekt für ihre Haltung, ohne gleich als Heimchen am Herd verspottet zu werden?

Wäre es nun der Vater, der den Kuchen zu teilen hat, könnte ein Vorwurf lauten: Hier übt jemand aufgrund patriarchalischer Gesellschaftsstrukturen seine Herrschaft über Frau und Familie aus. Offenbar hat man es mit einem autoritären Pater Familias zu tun, der den Kuchen, den die Frau gebacken hat, an sich reißt, nach seinem Gutdünken teilt und somit über die Verteilung und das Glück der anderen bestimmt. Er überlässt die Drecksarbeit des Backens der Frau und tritt erst dann in Erscheinung, wenn es um die Abschöpfung des Rahms geht, denn er, der Vater, behalte sich zu entscheiden vor, welches Kind wie viel davon bekommt. Würde der Vater seinem Patriarchalismus auch noch kommunikationsfrei nachkommen und es als selbstverständlich ansehen, dass nach getaner Backarbeit durch die Frau er zum Messer greift und gönnerhaft zuteilt, wäre dies nicht nur ungerecht, sondern dazu noch bevormundend und durch nichts gerechtfertigt.

Es könnte natürlich auch ganz anders sein und der Vater könnte zur Tochter ein besseres Verhältnis als zu den beiden Söhnen haben. Natürlich würde ein Einwand lauten: Vater bevorzugt Tochter – ein Klischee! Ein Stereotyp! Nehmen wir an, der Vater sieht das Mädchen in der Dreierkonstellation seiner Kinder als prinzipiell schwächstes Glied an, wenn es um Kräfteverhältnisse geht (wir antizipieren hier sehr wohl den Aufschrei mancher, die genau dies anzweifeln und es so unverantwortlich wie rückständig finden, das Weibliche dem Männlichen aufgrund biologischer Faktizität unterzuordnen). Wäre die Mutter die verteilende Instanz, könnte im Gegenteil das Mädchen im Nachteil sein, weil das Verhältnis von Mutter und Tochter durch eine lang anhaltende Konkurrenzsituation geprägt sein könnte und die Mutter zu einem der beiden Söhne ein besonders herzliches Verhältnis ausgebildet hat (womöglich, weil es Probleme bei der Geburt gab und die Mutter seither von schlechtem Gewissen gemartert wird; womöglich, weil der Sohn dem geliebten Vater der Mutter sehr ähnlich sieht; womöglich, weil der Sohn es besonders gut versteht, seine Mutter mit der gewissen Schwächlichkeit seiner körperlichen Konstitution emotional zu binden, was der andere Sohn als höchst ungerecht empfindet).

Setzen wir einfach voraus, dass sowohl Mutter als auch Vater unparteiisch sind, und nehmen wir an, Mutter und Vater hätten sich darauf geeinigt, dass die Mutter es sein soll, die den Kuchen mit dem Messer teilt, weil sie über eine ruhige Hand verfügt, deren Kompetenz der Vater immer schon akzeptiert hat. Die einvernehmliche Lösung der Eltern scheint in Hinsicht auf Geschlechtergerechtigkeit und Gleichberechtigung berechtigterweise gerecht zu sein, also greift die Mutter zum Messer.

Was geht in ihrem Kopf vor? Aufgrund welcher Normen wird sie schneiden, wie sie schneidet, und nicht anders? Schneidet sie als Christin? Als Agnostikerin? Schneidet sie in der Überzeugung, die Kinder hätten den Kuchen verdient oder genau im Gegenteil: eigentlich hätten die Kinder den Kuchen gerade nicht verdient? Schneidet sie nach vorherigem Gebet als Dank an Gott für die Speise? Oder gerade nicht? Es könnte sein, dass die Mutter weder an einen Gott noch an Jesus glaubt und Kirche und Religion rundherum ablehnt. Es könnte aber auch sein, dass die Mutter normative Überzeugungen mitbringt, die in der abendländischen Kultur begründet liegen, und sie selbst eine christliche Erziehung genossen hat. Es könnte schließlich sein, dass die Mutter die Vorzüge ihrer christlichen Erziehung in hohem Maße wertschätzt und ihren Kindern die gleichen Prinzipien angedeihen lassen möchte. Wie auch immer: Sie hebt das Messer und setzt zum Schnitt an.

3. Was ist gerecht, was ungerecht?

Es gibt Hunderte Interpretationen und noch mehr Intuitionen dessen, was gerecht ist und was ungerecht. Wenn zum Beispiel einer aus der Schlange ausschert und sich nach vorne drängelt; wenn sich einer erst gar nicht hinten anstellt und sofort zur Kasse geht oder ohne Pardon die Wartenden am Securitycheck überholt. Oder: Wenn einer bei gleicher Tätigkeit plötzlich mehr Entlohnung erhält als der andere. Wenn Frauen für vergleichbare Arbeit weniger verdienen als Männer. Es könnte ungerecht sein, dass 85 Prozent der rund drei Millionen Alleinerziehenden in Deutschland Frauen sind und nur 15 Prozent Männer. Dass Frauen es schwer haben, nach der Babypause sofort wieder ins Berufsleben einzusteigen. Dass in Krisenzeiten Preise hinaufgesetzt und Käufer mangels Alternativen erpresst werden. Dass aus Naturkatastrophen Profit geschlagen und plötzliches Mangelgut wie Benzin oder Wasser exorbitant teuer verkauft wird. Dass der Staat mittels kalter Progression bei jeder Lohnerhöhung so viel Steuern abgreift, dass der Arbeitnehmer hinterher weniger Geld hat als zuvor.

Alle Betroffenen empfundener Ungerechtigkeit, egal wie sie konkret ausbuchstabiert ist, eint das Gefühl, unverdient und ohne persönliche Schuld benachteiligt zu sein. Das Gefühl der Benachteiligung setzt sofort ein, wenn ein anderer scheinbar bevorzugt wird. Die scheinbare Bevorzugung ist nicht immer gewollte Benachteiligung, und oft genug ist die als Bevorzugung empfundene Bevorzugung gar keine Bevorzugung, sondern lässt sich konkret erklären. Hat ein Mensch mehr als ein anderer, fühlt sich der andere entweder minderwertig oder ungerecht behandelt. Aber gibt es objektiv plausible Gründe für das Gefühl von Ungerechtigkeit? Jedenfalls ist das Gefühl von Gerechtigkeit immer kompetitiv und relationell, also: relativ. Hat der andere aus illegitimen Gründen mehr und also ein besseres Leben, weil er sich mehr und Schöneres, gar Luxus leisten kann? (Und wer sagt, dass das luxuriöse Leben das bessere ist?) Oder sind die Gründe dafür womöglich legitim? Die Begründungspflicht liegt auf beiden Seiten: Wer illegitime Gründe für Höheres und mehr bei anderen in Anschlag bringt, muss seine eigenen Gründe für diese Annahme erläutern; ebenso wie jener, der behauptet, das Mehr, über das er verfüge, sei völlig legitim, erklären können muss, warum dies so ist. Und wann genau (ab welchem Zeit- oder Prozentpunkt genau) wird der andere bevorzugt? Wird er faktisch bevorzugt oder ist seine Bevorzugung nur ein Gefühl? Und kommt es darauf an, wer dieser andere ist, das heißt: welchen sozialen Status er besitzt?

Bekenntnis zum Wesentlichen

Ich kam meinem vielleicht vermessenen, jedenfalls ambitionierten Ziel, zu einer Phänomenologie der Gerechtigkeit in Zeiten ihrer Dauerbeschworenheit beizutragen, einen Schritt näher, als mir klarwurde, dass Gerechtigkeit von ihren Zuschreibungen zu entkleiden, dass sie – um ihr Wesen aufzuspüren – nackt zu machen, ja: bloßzustellen war. Ihr »Wesen« – aufs Neue ein so problematischer Begriff. Was ist das Wesen von etwas? Was wäre das Wesen eines Tischs? Eine Idee von einem Tisch? Die Idee von Tisch? Was wäre das Tischhafte am Tisch? Was das Gerechte an der Gerechtigkeit?

Die Reduktion auf das Wesentliche der Gerechtigkeit ist naturgemäß ein hoher Anspruch, und es ist kein Exerzitium der Aussichtslosigkeit, in dieser Angelegenheit Rat bei den Weisen aller Epochen zu suchen. So stieß ich eines Morgens auf eine Sentenz im Tao-Te-King des Laotse, wonach der heilige Mensch wesenhaft gerecht und nicht verletzend sei. Heißt das nun, der gerechte Mensch sei heilig? Und heißt es weiter, dass jeder, der nicht verletzend ist, dadurch bereits gerecht und somit heilig wäre? Im antiken China war das Gefühl von Gerechtigkeit nicht auf gerechte Gesetze bezogen, sondern auf die Sittenreinheit leuchtender Vorbilder, seien es Herrscher oder hohe Beamte.

Im Falle des heutigen Europa und des heutigen Deutschland sollte man in dieser Angelegenheit, meine ich, weit weniger optimistisch sein; hier, könnte man vermuten, ist das Wesen der Gerechtigkeit höchstens die Sorge um den anderen als dem Nächsten. Oder die Sorge um den sozialen Frieden und somit um die eigene Sicherheit im Ganzen der Gesellschaft.

Nehmen wir an, es wäre die Sorge um den anderen, und begreifen wir den anderen für einen Moment als Geschöpf des gleichen Gottes. Jene Sorge um den anderen ist das Hochamt des christlichen Glaubens europäisch-abendländischer Prägung, und wie immer man zu Theologie und Religion stehen mag – ihre Einfärbung in die Menschheitsgeschichte lässt sich nicht herauswaschen. Gerechtigkeit ist ein Prunkstück in der christlichen Erbschaft der Jahrtausende.

4. Der gerechte Gott

Christliche Gerechtigkeit hat bekanntlich einen eindeutigen, unverrückbaren, klar benannten Bezugspunkt: den einen gerechten Gott. Christliche Gerechtigkeit gründet in der Gewissheit des göttlichen Willens. Diese Gewissheit ist absolut. Die Gerechtigkeit Gottes ist die absolute Gewissheit des Glaubens. Ihr Ort ist der Himmel, ihre Utopie das neue Jerusalem. Der Menschheit wurde die christliche Gerechtigkeitsgewissheit von zwei kleinen und zwei großen Propheten überbracht, allesamt notiert im Buch der Bücher. Im Alten Testament kündigt der späte Prophet Jesaja das künftige Reich der Gerechtigkeit mit folgenden Worten an: »Siehe, es wird ein König regieren, Gerechtigkeit aufzurichten, und Fürsten werden herrschen, das Recht zu handhaben.«

Jesaja prophezeit Gottes ewiges Heil, und es ist höchst ratsam zu wissen, dass dieses Heil sich allein auf Israel und seine Kinder bezieht. Israel ist immer in doppeltem Sinne zu verstehen: als Land und als Volk; geografisch und ethnisch. Des Weiteren ist ratsam zu wissen, dass zu Zeiten des Propheten Jesaja die Menschen im Land Israel polytheistisch orientiert waren; das erste schriftlich fixierte Bekenntnis zum Monotheismus lieferte im Jahr 539 vor Christus ein anonymer Prophet, dessen Sprüche eben bei Jesaja vermerkt wurden: Es gebe nur einen Gott, heißt es da, und dieser eine Gott sei Jahwe.

Jener Jahwe also, verspricht Jesaja mit alttestamentlicher Emphase, greift ein mit Macht und Trost. Er tut es, weil sein Volk seiner unwürdig sei. Die Schuld für Sünde und Unzucht, für Vielgötterei und den Verlust großer Teile des Landes liegt beim Volk der Israeliten selbst. Gott ruft sein Volk also in die Freiheit: »Hebet eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.« Die Verheißung richtender Gerechtigkeit tönt schließlich als Weckruf des einen Gottes an das von Unzucht und Verlotterung erniedrigte Jerusalem: »Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt hervor, und meine Arme werden die Völker richten.«

Die kleinen Propheten Hosea und Amos sind ein wenig erdenschwerer als der große Jesaja. Ihr Gerechtigkeitsverständnis ist reichlich diesseitig und die frohe Botschaft keineswegs allzu metaphysisch. Gerechtigkeit wird – übertragen in den neuzeitlichen Duktus – nicht als Beispiel von Auserwähltheit und Schutz der Israeliten durch Gott, sondern als Menschenwürde für alle verstanden. Das Leitmotiv der kurzen Prophetie des Hosea ist die menschliche Treue. Hoseanische Gerechtigkeit besteht in der mittelfristigen Rendite auf eine langfristige Investition: Durch die Treue des Volks zu Gott ist Gott auch dem Volk treu. Wenn das Volk seine Rechtschaffenheit vor Gott bewiesen hat, wenn die Kinder Israels sich bekehrt, der Hurerei abgeschworen, den Ehebruch gegeißelt haben, dann, in förmlich letzter Minute, wird Gott in Langmut, Gnade und Barmherzigkeit sein Volk zurückgewinnen und sich in Gerechtigkeit und Recht mit ihm vermählen.

Pathetischer als der noch gemäßigte Hosea prophezeit schließlich der Schafzüchter Amos die richtende Gerechtigkeit durch den zürnenden Gott, einen Gott, der die Paläste von Gaza in Feuer setzen und die zepterschwingenden Machthaber in Damaskus ausrotten werde. Amos nun schildert einen scharfrichterlich wütenden Herrn, der das halbe Land zu verbrennen, der Feuer in Mauern und Paläste zu schicken ankündigt, auf dass die Frevelnden stürben in Geschrei und unter Posaunenhall. Hier geht es um den Kampf des Richters gegen das Unrecht auf Erden, und Gewalt, Zorn, Wut – all das gern maßlos – sind gerechtfertigt durch die höhere Sache göttlicher Gerechtigkeit gegen die Unterdrücker, Sünder und Bestechlichen. Amos richtet sich an jene, die »ihr das Recht in Wermut verkehrt und die Gerechtigkeit zu Boden stoßt«. In der vierten Vision zielt der Prophet dann aufs Ganze und kündigt den Kampf des Herrn gegen die Reichen an: »Höret dies, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden im Lande zugrunde richtet …«

Gott gründet seinen Palast über der Erde, nicht auf Erden. Gottes Palast ist über alles erhaben. Er richtet die Heiden und schwingt das Schwert und tötet die Sünder in seinem eigenen Volk. Er schafft des Heil. Das Heil liegt in der Zukunft. Es ist ein Versprechen, das vorherigen Einsatz fordert. Und dann, in Zukunft? »Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass man zugleich ackern und ernten, zugleich keltern und säen wird. Und die Berge werden von süßem Wein triefen, und alle Hügel werden fruchtbar sein.«

Gott verspricht den Arbeitern und Bauern, den Rechtschaffenen und Gläubigen Gärten, Wein und Früchte (Fruchtbarkeit und Wein sind die symbolische, aber natürlich höchst konvertible Währung des Paradieses in einer geografischen Region der Dürre, Hitze, Wüste und des Durstes). Das Wort Isra-El – wobei El die Bezeichnung für Gott ist – lautet übertragen: »Gott erweist sich als Herr« oder »Gott herrscht«. Auch wenn man das stärkere »Gott streitet mit« zur bevorzugten Übersetzung wählt, fällt doch immer auf, dass es um einen Kampf geht, ganz so, als hätten sich die Hebräer die Gunst ihres Herrn erringen müssen. Der Handel alttestamentlicher Gerechtigkeit ist eindeutig: Gottesglaube und Gehorsam gegen Errettung und Wohlstand.

Nun hat all das mit unserem Verständnis von Gerechtigkeit so wenig zu tun wie das Versprechen fleischverachtender Keuschheit mit der selbstbestimmten Sexualität zeitgenössischer Individuen. Vor allem im Buch des Propheten Amos aber schält sich eine Denkfigur heraus, die in gegenwärtigen politischen Debatten munter fortzuleben scheint – oder zumindest in diese übersetzbar ist. Die Gleichsetzung von göttlicher mit sozialer Gerechtigkeit einerseits und jene von Frevlern und Sündern mit den Reichen andererseits liegt als Blaupause auch dem sozialistischen Gerechtigkeitsverständnis zugrunde (wie im Übrigen das Christentum und der Sozialismus ohnehin frappierende Analogien aufweisen). Von der Apostelgeschichte zu Karl Marx ist der Weg weniger weit als gedacht. Die Gütergemeinschaft der ersten Christen betreffend, heißt es etwa im Neuen Testament bei Lukas: »Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam … Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte, denn wie viel ihrer waren, die da Äcker oder Häuser hatten, die verkauften sie und brachten das Geld des verkauften Gutes und legten es zu der Apostel Füßen.«

Die judäochristliche Religion ist per Selbstverständnis eine Religion der Schwachen, eine Religion des machtlosen, fremdbestimmten, des »kleinen Mannes«, eine Schutzgemeinschaft der Zukurzgekommenen, Benachteiligten, Unterdrückten, die unter besonderer Aufsicht Gottes stehen und in expliziter Weise – so sie Gott die Treue schwören – auf die bessere, will heißen: gerechtere Welt vertröstet werden. Der Feind ist identifiziert, der Erlöser benannt, und so verhält es sich ja auch mit dem Sozialismus, jenem politischen System, das an die Stelle Gottes als handelndes Subjekt die dialektische Geschichte und das kommunistische Bewusstsein setzt. Beide Großmächte, Christentum wie Sozialismus, arbeiten mit ähnlichem Licht-und-Schatten-Dualismus und operieren mit dem gleichen Schema der Errettung ihrer Gläubigen. Das Alte Testament verspricht göttlichen Zorn gegen das Böse, gegen Ausbeutung, Armut, Prunksucht. Es verspricht das Gericht der Gerechtigkeit gegen die irdischen Ausbeuter.

Und das Neue Testament verspricht noch weit mehr.

5. Das höchste Prinzip

Es eröffnet mit dem Evangelium des moralpathetischen Matthäus, der sofort zum Kern der Sache vordringt: Gerechtigkeit ist nicht mehr nur, wie im Alten Testament, das Amt des Herrn hoch droben im Palast über der Erde, nein, Gerechtigkeit ist ab jetzt eine höchst erdnahe Angelegenheit, die der Gottessohn (der zugleich ja Menschensohn ist) nicht nur den Israeliten, sondern schlicht allen Menschen anbietet – im Wechsel gegen Umkehr, Einkehr, Gefolgschaft. Und so sprach Jesus auf dem Berge: »Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.« Und weiter: »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.«

Jesuanische Gerechtigkeit variiert die alttestamentliche Gerechtigkeitsvorstellung um einen Aspekt, den der legendäre Verfassungsrechtler Hans Kelsen durch folgende Szene plastisch werden lässt: Als Jesus vor Pilatus stand, gab der Angeklagte zu, ein König zu sein. Jesus sagte: »Ich bin geboren und in diese Welt gekommen, um Zeugnis zu geben für die Wahrheit.« Pilatus daraufhin: »Was ist die Wahrheit?« Jesus schwieg, und Kelsen schreibt: »Er war geboren, Zeugnis zu geben für die Gerechtigkeit, jene Gerechtigkeit, die er in dem Königreich Gottes verwirklichen wollte. Und für diese Gerechtigkeit ist er gestorben.«

Die kurze Szene am Hof des römischen Statthalters in Jerusalem wäre nur ein theologisches Aperçu, würde sie nicht etwas ganz und gar Unerhörtes unterstellen: die Hierarchisierung von Gerechtigkeit und Wahrheit. Kelsen notiert: »So erhebt sich, hinter der Frage des Pilatus: Was ist Wahrheit?, aus dem Blute des Gekreuzigten eine andere, eine noch viel gewaltigere Frage, die ewige Frage der Menschheit: Was ist Gerechtigkeit?«

Gerechtigkeit, heißt das, ist gewaltiger, ja höherrangig als Wahrheit und lädt sich somit die schwerste aller Lasten auf, da ja doch die Bestimmung von Wahrheit schon höchst schwierig ist. Wenn Gerechtigkeit aber über Wahrheit rangiert, muss, wer Gerechtigkeit sagt, die Wahrheit bereits kennen. Wer aber kennt die Wahrheit? Gott. Gut, und sonst? Sonst gibt es Vermutungen von vornehmlich philosophischer Güte. Darunter sind berühmte und weniger berühmte und natürlich die des Platon, mit der ja alle europäische Philosophiegeschichte beginnt.

Wie Jesus stellt auch Platon Gerechtigkeit über Wahrheit, aber er macht einen entscheidenden Unterschied. Ist für Jesus Gott die letzte Instanz der Gerechtigkeit, so ist es für Platon das Gesetz durch die Regierung. Sowohl Jesus als auch Platon leiten Gerechtigkeit aus einem höchsten Prinzip ab, Platon aber vermenschlicht sie und macht sie zur Angelegenheit einer Gesetzgebung durch den Menschen. Das höchste Prinzip bleibt auch weiterhin ein großes Geheimnis – womit es dem rationalen Zugriff nach wie vor entzogen ist. Will sagen: Absolute Gerechtigkeit ist per definitionem eine metaphysische (wenn man so will: theologische). Sie leitet alles aus einer absoluten und höchsten Norm ab. Im Namen göttlicher Gerechtigkeit ist jedes Verhalten gerechtfertigt, das dieser Gerechtigkeit Folge leistet. Sie ist zwangsläufig jeder Empirie enthoben und in der übersinnlichen Welt angesiedelt, wo sie keiner Überprüfung standhalten muss und kann. Biblische Gerechtigkeit kommt von Gott selbst, dem Allmächtigen und Höchstdenkbaren. Gott selbst ist Gerechtigkeit und der Mensch abhängig von seinem Willen. Mit dem (je nach Ansicht) Sturz oder Tod Gottes ist auch die metaphysische Herleitung und Begründung absoluter Gerechtigkeit passé. Und die selbsternannten Vermittler des göttlichen Willens – der Papst, die Bischöfe und Priester – dürften heutzutage Schwierigkeiten haben, ihr aus jahrhundertealten Konzilsdogmen resultierendes Welt- und Menschenbild als göttlich zu rechtfertigen. Ist es göttlicher Wille und also gerecht, geschätzt einem Viertel aller Menschen, den Homosexuellen, Widernatürlichkeit und Sündhaftigkeit zu unterstellen?

Wohin die ideologische Instrumentalisierung biblischer Gerechtigkeit führen kann, zeigt der christlich-evangelikale Fundamentalismus selbst in einem Land mit derart hoher technologischer Intelligenz und ökonomischer Handelsfinesse wie den USA, wo ein bibelfernes Leben als Schwarzer, Frau, Schwuler oder Lesbe bei beträchtlichen Teilen der gläubigen Bevölkerung zu Rassismus, Hass und Verachtung führen kann. In Deutschland sprechen aus dem Geist biblischer Gerechtigkeit explizit nur noch amtskirchliche Stimmen, die, ob katholisch oder evangelisch, gesellschaftliche Gerechtigkeit immer auch als Wille Gottes im Sinne von Amos, Hosea, Jesaja, Jesus und, in dessen Nachfolge, vor allem im Sinne des Franz von Assisi verstehen. Dieser Sohn eines reichen Tuchhändlers, der den Reichtum seines Vaters verdammte, dessen Besitz den Armen spendete, öffentlich dafür angeklagt wurde und sich in die Askese zurückzog, vertrat und überlieferte die Überzeugung, die Repräsentanten Christi sollten kein Eigentum haben und in radikaler Armut leben. Der gegenwärtige Papst Jorge Mario Bergoglio, der sich als erster Pontifex der Geschichte den Namen Franziskus gab, stellt sich mit dieser Namenswahl bewusst in die Tradition des Heiligen von Assisi und dem Lebensentwurf bewusster Armut. Unter Armut dürfen wir materielle Bedürfnislosigkeit verstehen, was keinesfalls ein Plädoyer für die gezielte Unterschreitung des Existenzminimums ist. Mehr und mehr zu besitzen, rief der meist fröhliche Papst den Menschen kürzlich zu, fördere den Götzendienst und zerstöre die Gesellschaft.

Wundersamererweise ist Gerechtigkeit kein explizites Thema im Portfolio jener Parteien, die den Nachweis ihrer Christlichkeit als »C« im Namen tragen, sondern ein Identitätsvehikel oft atheistischer Genossinnen und Genossen, die auf Parteitagen die Sozialistische Internationale singen.

6. Gerechtigkeit und Moral

Vielleicht ist Gerechtigkeit die zivilisatorische Leistung jedes Individuums im Kampf gegen die angeborene Ungerechtigkeit des Lebens als solchen. Vielleicht steht Gerechtigkeit auch als edles Resultat eines persönlichen Feldzugs gegen die natürliche Schlechtigkeit des Lebens an sich, und dann wäre Gerechtigkeit in der Tat nichts anderes als ein Musterbeispiel einer jeweils persönlichen Moral.

Ohnehin versteht die Geschichte Gerechtigeit als zentralen Teil, wenn nicht Inbegriff der Moral. Die konventionelle Moral der Gesellschaft schreibt ungeschriebene Gesetze vor. Das, was man jahrhundertelang als Gerechtigkeit verstanden hat, könnte ja auch schlicht Moral sein. Moral ist immer auch ein nützliches Herrschaftsinstrument.

In der Lesart des hochgeschätzten Sozialpsychologen und Politikberaters Horst Eberhard Richter beruht Moral »auf dem Bedürfnis der schlichten Gemüter, an so etwas wie Ideale und Werte zu glauben, sowie auf der wechselnden Kunst der Mächtigen, diese Sehnsucht mit Gebots- und Verbotstafeln zu befriedigen«. Meisterinnen der implantierten Schuldgefühle seien Richter zufolge die Amtskirchen und Religionen, denen es auf bewundernswürdige Weise gelungen sei, ganzen Völkern das Verbot der sexuellen Lust einzupflanzen.

Jenseits von Gut und Böse, jenseits von Gott, Staat und Lust ist hier festzuhalten: Gerechtigkeit ist eine kollektiv- wie individualpsychologische Angelegenheit und zugleich eine politisch-philosophische Kategorie. Dreh- und Angelpunkt jedenfalls ist das Spannungsverhältnis zwischen Individuen. Jedes Verhältnis ist sozial, weswegen es bei sozialen Verhältnissen letztlich immer um Gerechtigkeit geht, weil es um Menschen geht, die Gerechtigkeit zu empfinden in der Lage sind. Tiere haben, wenn überhaupt, vermutlich ein anderes Empfinden von Gerechtigkeit; sie setzen auf die Macht des Stärkeren, was Vorrang, keinesfalls aber Recht begründet. Menschen hingegen setzen sich ins Verhältnis zu anderen Menschen, agieren mit sozialen Normen, entwickeln Relationen und regeln Hierarchie durch Recht. In der Relation steckt das Relative: Es setzt den Bezug zu etwas voraus und macht diese Beziehung zur Grundlage des Verhältnisses. Gerechtigkeit ist also keine Tatsache, sondern der Modus einer Verhältnisbestimmung. Diese relative, nichtgöttliche, nichtreligiöse, nichtmetaphysische Gerechtigkeit ist eine irdische, rationalistische, alltagspraktische, die stets aufs Neue ausgehandelt, begründet und in ihren Gründen begriffen werden muss.

Aus dem Althochdeutschen stammend, heißt »gireht« so viel wie »richtig«, und das bedeutet: Wer gerecht handelt, handelt richtig im Sinne einer moralischen Aufforderung, die wiederum das Resultat von Grundsätzen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ist. Ändern sich die Grundsätze, ändert sich der Ort und ändert sich die Moral und mit ihr der Begriff von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist folglich abhängig von einer Bezugsgröße. Man hat sie also als Konkurrenzverhältnis zu verstehen. Und fast immer ist dieses Verhältnis ökonomisch motiviert, weil es die Differenz von mehr und weniger, plus oder minus im Blick hat. Diese Differenz, eine mathematische, wird dann – und das könnte der Wesenskern der Gerechtigkeit sein – moralisiert. Wie das? Indem das mathematische Verhältnis mit moralischen Gefühlen des Schlechten, Falschen und Richtigen versehen und also bewertet wird.

Von der verteilenden Gerechtigkeit

Nehmen wir an, dass die Mutter, das Messer in der Hand, den Kuchen nun drittelt und jedem Kind ein gleich großes Stück auf den Teller legt. Vorausgesetzt, sie hat ein exaktes Gefühl für Proportionen und könnte deshalb auf Lineal und Zirkel verzichten, würde vermutlich jeder die Drittelung in gleich große Teile als gerecht empfinden. Das wäre ja das Ideal: Kein Kind wird benachteiligt, keines bevorzugt. Gerechtigkeit würde sich als Operation einer mathematischen Dreiheit verstehen: Dividierung, Teilung, Verteilung. Die Grundsätze der verteilenden Gerechtigkeit setzen Gleichheit von Ansprüchen und Wünschen, von Fähigkeiten und Zielen voraus. Doch so ist das Leben nicht. Wünsche und Ziele sind höchst subjektiv, Fähigkeiten und Begabungen individuell unterschiedlich.

Nehmen wir an, jedes Kind habe legitime Ansprüche, mehr zu erhalten als seine beiden Geschwister. Das eine Kind will mehr, weil es den Kuchen mitgebacken hat. Das andere, weil es besonders hungrig ist. Das dritte, weil ihm von der Mutter oder dem Vater irgendwann ein größeres Stück versprochen wurde (oder weil es eine Aussage der Eltern in diese Richtung interpretiert). Das erste fordert mehr, weil es das älteste ist, das zweite, weil es das jüngste ist, das dritte, weil es als Sandwich-Kind immer um besondere Aufmerksamkeit buhlen muss und diese Leistung jetzt honoriert haben möchte.