Wir haben die Zeit - Christian Schüle - E-Book

Wir haben die Zeit E-Book

Christian Schüle

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Beschreibung

Wir leben immer länger und bleiben lange gesund. Wir hätten also allen Grund, uns Zeit zu lassen. Aber wem gelingt das schon? Noch nie fühlten sich so viele Menschen in Deutsch-land überfordert und erschöpft Sich von zu vielen widersprüchlichen Anforderungen und Angeboten gejagt zu fühlen, ist beinahe schon ein Markenzeichen unserer Gesellschaft Gibt es einen Ausstieg aus dieser permanenten Rushhour? Der Philosoph Christian Schüfe liefert jede Menge Anstöße für eine Neuordnung des Denkens: Wie lassen sich prägende Faktoren unseres Lebens - Arbeit Familie, Freizeit - in Ein-klang bringen? Ist es planbar und gestaltbar, das gute Leben von morgen? Christian Schüles Denk-Leitfaden wendet sich an alle, die ihren Lebensplan nicht den Triebkräften der Wirtschaft und den gesellschaftlichen Routinen überlassen wollen. Sein Buch mündet in der Utopie eines neuen Humanismus: Wie könnte unsere Welt aussehen, wenn sie sich wirklich am Menschen und seinen individuellen Bedürfnissen orientierte?

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Teil I: Phänomenologie der Gegenwart
In der Falle der Rushhour
Das Paradox des Individualisten
Exkurs über Glück
Die Stunde des Arbeitskraftunternehmers
Herrschaft der Selbstbestimmung
Ideen des Postmaterialismus
Exkurs über Angst
Die umfassende Entgrenzung
Rettung der Schöpfung
Exkurs über Wohlbefindlichkeit
Revision des guten Lebens
Teil II:Utopie eines Humanismus 4.0
Leitfrage der Zukunft
Die kognitive Epoche
Fluch und Segen
Das Milieu der Millennials
Werte und Wertverlagerungen
Vorboten der Zukunft
Die neue Zeit
Exkurs über Rente
Anzeichen einer Wertewende
Die neue Welt
Die doppelte Arbeit
Zeit und Sorge
Agilität und Silberschopf
Das gute Leben der Alten
Exkurs über das Bedingungslose Grundeinkommen
Wertschöpfung und Kultur
Sein in Zeit
Die sorgende Gemeinschaft
Im Jahre 2040
Das Ethos der Solidarität
Morgenröte
Über den Autor

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis

(Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen)

Sprichwort, 16. Jahrhundert

Vorwort

Wie gelingt das Leben? Das ist seit jeher die Frage, um die sich alles dreht. Immer schon ging es um nichts anderes als das gute Leben. Auf der Suche nach seinen Bedingungen wandelten die antiken Griechen tagelang in ihren Säulenhallen und spürten ihm, dem guten Leben, in ihren Gärten der Lüste nach. Wann aber gelingt das Leben? Jeder wird darauf eine eigene Antwort haben, eigene Erfahrungen, Sehnsüchte und Vorstellungen. Und doch lassen sich allgemeinverbindliche Kriterien eines guten, gelingenden Lebens in der späten Moderne unserer Tage formulieren – auch wenn sie nicht für jedefrau und jedermann gleichermaßen gelten. Wenn die meisten durch stilles Einverständnis und Einsicht in die Güte dieser Kriterien übereinkommen, sie immer wieder und dauerhaft zu bestätigen und somit zu beglaubigen, werden sie irgendwann zu sittlichen Ideen, ethischen Kategorien und normativen Perspektiven dessen, was man Kultur nennt – und erfüllen damit das, was man oft pathetisch als unsere »Werte« bezeichnet.

Mit großer Dringlichkeit ist die Sehnsucht nach Sinnstiftung in den vergangenen Jahren der Verunsicherung, Haltlosigkeit und Entgrenzung ins zeitgenössische Leben zurückgekehrt. Was, fragt sich der Zeitgenosse, stelle ich mit meinem Leben an? Das scheint heute die Leitfrage jener beinahe total individualisierten Existenzen zu sein, die den Wertewandel der vergangenen vier Jahrzehnte durch sich selbst verkörpern. Die Organisation des guten Lebens setzt die gute Organisation von Arbeit voraus, die wiederum auf die gelingende Organisation von Zeit angewiesen ist. So sind diese drei großen Variablen – Arbeit, Zeit und Leben – wie Zahnräder untrennbar miteinander verbunden.

Es gibt Legionen von Literatur, die sich mit Veränderungen des Arbeitsmarktes und der Zukunft der Arbeit beschäftigen, Konvolute über Work-Life-Balance-Coaching und Abertausende Texte über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bei allem Respekt für diese Arbeiten will das vorliegende Buch kein weiteres in einer endlosen Reihe sein, sondern etwas anderes versuchen. Die drei Bereiche Leben, Arbeit und Zeit sollen auf neue Art in eins gedacht werden. Das Buch wählt dafür einen dezidierten Einflugwinkel, einen bestimmten Fokus und einen engen Zuschnitt, um der unerhörten Komplexität der Thematik angemessen sein zu können. Die Ausführungen, Analysen und Ableitungen könnten als geradezu anmaßend empfunden werden, weil sie sich zum Ziel setzen, eine Utopie zu formulieren – eine Utopie in utopiefremden Zeiten freilich, da die meisten sagen werden: Utopien sind ohnehin nicht zu realisieren. Oder: Wir glauben an nichts mehr. Oder: Utopien sind Geschwätz. Und gerade deshalb: eine Utopie, die in mittlerer Zukunft sogar umsetzbar sein könnte. Was sich nach Träumerei anhört, könnte in zwanzig Jahren Wirklichkeit sein. Könnte. Und darum geht es: Was müsste sich ändern, damit aus dem Konjunktiv ein Indikativ wird? Welche Stellschrauben müssten gedreht, welche Rahmenbedingungen gezimmert werden?

Bei aller Bescheidenheit will dieses Buch sogar noch ein bisschen mehr. Es will das zeitgemäße Leben erfassen. Es will eine prototypische Biografie von morgen skizzieren. Es will über den künftigen Menschen in Leben, Arbeit und Zeit reflektieren. Es will die Organisation von Arbeit analysieren und den größten Luxus, den der Mensch zur Verfügung hat, ins Zentrum der Betrachtung stellen: Zeit. Es geht also um das Große und das Kleine zugleich, um das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Und es wird eine Antwort auf die Frage zu geben versucht, wie unter permanent sich wandelnden Sozial- und Kulturverhältnissen, bei steigender Lebenserwartung und ausbleibenden Geburten neue Lebensentwürfe denkbar werden und Leben, Arbeit und Zeit auf eine bisher nicht bekannte Weise austariert, organisiert und aufeinander bezogen werden können. Die Frage nach dem guten, dem gelingenden Leben lautet heute variiert: Wie gut findet sich eine schrumpfende Gesellschaft mit der Langlebigkeit ihrer Mitglieder zurecht? Seit 1950 haben die Deutschen rund 15 Jahre Lebenszeit hinzugewonnen? Statistisch gesehen gewinnt also jeder Bürger täglich fünf weitere Stunden (Frauen mehr als Männer) hinzu; eine Grenze nach oben ist nicht in Sicht.

Alles beginnt und endet mit Kultur. Kultur umfasst die Wert- und Normvorstellungen einer Epoche, sie erschafft die Werte, die sie dann repräsentiert. Ökonomie ist ebenso Kultur wie unser Umgang mit Zeit und unsere Vorstellungen vom Leben. Eine Veränderung der Arbeitswelt setzt deshalb einen Kulturwandel voraus, da der Mensch sich an Kulturmustern orientiert, die alle miteinander teilen. Die Frage, wie soziale Normen entstehen, ist nicht nur eine der faszinierendsten Aufgaben der anthropologischen Forschung, sondern eine der wichtigsten Herausforderungen zukunftsfähiger Organisation von Gesellschaft.

Nehmen wir also Abschied vom herkömmlichen Drei-Phasen-Modell des Lebens: Ausbildung, Arbeit, Ruhestand. Beschreiben wir die Lebenswelt der nahen und mittleren Zukunft und fragen leise, aber bestimmt: Ist es planbar, ist es gestaltbar, das gute Leben von morgen?

Teil I: Phänomenologie der Gegenwart

Arbeit und Sein

In der Falle der Rushhour

Betrachten wir der Einfachheit halber zwei besonders verhaltensauffällige Typen der Menschheit: Typ A und Typ B. Die meisten Deutschen sind Typ A in der M-Zeit-Kultur eines der schnellsten Länder der Welt. Man könnte folgende These aufstellen: Der deutsche Individualist ist ein westeuropäischer Workaholic in der ewigen Rushhour des Lebens, die mittlerweile nicht mehr nur eine Phase, sondern einen Dauerzustand bezeichnet. Ein M-Zeit-Kultur-Mensch (M für monochrom) arbeitet in linearer Abfolge vom festgesetzten Anfang bis zum festgesetzten Ende.

Ein P-Zeit-Kultur-Mensch hingegen (P für polychrom) widmet sich einem Ereignis so lange, bis die Neigung zu einem neuen Ereignis auftaucht. M-Zeit-Kultur-Länder wie Amerika, Deutschland oder Japan sind gekennzeichnet durch ein zielgerichtetes, auf den Punkt hin konzentriertes Arbeitsethos, durch Leistungseffizienz, hohe Gehgeschwindigkeit und die Einhaltung von Zeitplänen; P-Zeit-Kultur-Länder wie Brasilien, Mexiko oder Indonesien beispielsweise durch eine starke Beziehung des Menschen zu den Mitmenschen und die Eigenschaft, sich Zeit zu nehmen, um einem Fremden zu helfen und mit viel, sehr viel Geduld lange Zeit auf andere zu warten.

Was hier zunächst pauschalisierend und holzschnittartig klingt, hat bei genauerer Betrachtung durchaus Feinsinn. In den von Individualismus geprägten M-Zeit-Kulturen bewegen sich die Menschen schneller als in den eher von Kollektivität geprägten P-Zeit-Kulturen. Den Untersuchungen des amerikanischen Sozialpsychologen Robert Levine zu Lebenstempo und Zeitstruktur auf allen Kontinenten der Erde zufolge ist Typ A ein Mensch aus der oberen Bildungsschicht einer M-Zeit-Kultur, der angetrieben und getrieben wird vom Gefühl des Zeitdrucks, von Stress und Konkurrenzdenken in hochkompetitiven Ballungsräumen. Ein Typ-A-Mensch zum Beispiel geht meist schnell, leidet unter der Langsamkeit anderer, ist nervös, unruhig, ungeduldig, vervollständigt Sätze von Leuten, die ihm zu schleppend reden und lebt unter dem Diktat der Uhr. Typ-A-Menschen widmen sich oftmals keiner tiefer gehenden Lektüre mehr, und Typ-A-Studenten lesen gern und immer öfter Abstracts, weil das schneller geht.

Die Biografie des Typ-A-Individualisten ist ein streng getaktetes Ablaufprogramm koordinierter Arrangements. Er ist ohne Zweifel ein Opfer dessen, was der italienische Philosoph Giacomo Marramao mit dem Begriff »Zeitsyndrom« als Grundlage der globalisierten Gesellschaft erfasst hat: der wachsenden Diskrepanz zwischen der Inflation an Erwartungen und der fehlenden Zeit zu ihrer Erfahrung. Erfahrung geschieht immer erst im Verlauf der Zeit. Arbeitet die Technologie- und Konsumgüterindustrie aber nicht systematisch an der Abschaffung von Zeit durch organisierte Zeitknappheit? Der Verdacht liegt nahe, dass psychologisch geschickt agierende Markt- und Werbepsychologen Zeiterfüllungsbedürfnisse stimulieren, indem sie Moden kreieren, die durch ihre Unternehmen wundersamerweise zugleich befriedigt werden. Ausgerufene Trends verleiten zum Shoppen und Sonderangebote zum schnellen Kauf, und prompt stellt sich das Gefühl ein, immer hintendran zu sein, weil das eine Bedürfnis noch nicht erfüllt ist, während das nächste bereits gepriesen wird. Produkte der Alltagskultur wie Teebeutel, Klettverschluss, Fernbedienung, Thermomix, Suppenwürfel, Fleischextrakt haben die Zeit verdichtet und das Zeitgefühl des Typ-A-Menschen stark verändert; sie sind mitverantwortlich für die enorme Beschleunigung der Hochgeschwindigkeitsgesellschaft und ihre Effizienzmaximen.

In einer M-Zeit-Kultur muss alles schnell gehen. Typ A ist damit bestens vertraut: mal schnell das fragen, mal kurz jenes machen, mal rasch hierhin. Im Schnitt greift er alle 18 Minuten zum Handy, in den Flow kommt er kaum. Push-Nachrichten absorbieren seine Aufmerksamkeit, er kann sich schlecht konzentrieren, in die Tiefe einer Sache kommt er höchst selten. Das Belohnungszentrum im Gehirn braucht Stimulation und Erlösung in immer kürzeren Abständen. Er antwortet umgehend auf alle SMS und E-Mails in der Überzeugung, dies werde erwartet, weil auch er es erwartet. Schreibt er eine SMS und erhält nicht sofort die Antwort, wird er nervös und fängt zu grübeln an. Sein Selbstwert hängt von der Reaktion der anderen ab. Durchschnittlich drei Stunden am Tag verbringen jüngere Typ A-Menschen ausschließlich mit dem Smartphone, schreiben, surfen, chatten, und wenn morgens die Sonne aufgeht, fällt ihr erster Blick sofort aufs Display.

Die Produktivität der Arbeit erleidet durch die Ablenkung Einbußen, weswegen der Typ-A-Arbeitnehmer mehr arbeitet, als er müsste. Der digital konditionierte Typ-A-Stadtmensch einer M-Zeit-Kultur lebt in der mittleren oder Großstadt mit hohem Lebensstandard und ebenso hohem Single-Anteil. Single-Städte ziehen Typ-A-Menschen geradezu magisch an. Typ-A-Individuen erzeugen schnelle Städte, schnelle Städte wiederum schnelle Menschen. Für einen Typ-A-Mensch, der sich gezwungen fühlt, jeden freien Augenblick zu nutzen, jede frei gewordene Zeiteinheit sogleich mit neuer Tätigkeit zu belegen, liegt die Gefahr des Herzinfarkts statistisch gesehen siebenmal höher als für Typ B, der sich im Treiben des Seins durchaus vergessen kann. Ohnehin wird in schnellen Städten zur Stressbewältigung eher geraucht, getrunken oder eine andere Droge konsumiert. In seltenen Fällen ist auch Typ A tatsächlich zu warten gezwungen. Warten ist Marter – eine Zumutung der Leere, da über Minuten hinweg nichts geschieht. Die Ereignislosigkeit aushalten zu müssen, ist eine der größten Herausforderungen für das in der M-Zeit-Kultur getaktete Typ-A-Subjekt. Den ungeplanten und unbeeinflussbaren Stillstand zu ertragen, erfordert die hohe Kompetenz zur Bewältigung der eigenen Ohnmacht.

Begegnen sich zwei gestresste A-Typen in M-Zeit-Ballungsräumen, können mitunter die Sitten verfallen. Man kommt sich ins Gehege. Türen werden nicht aufgehalten, weil das Aufhalten aufhält. Man ist bei sich und außer sich zugleich. Man ist in der Zeit, während dieselbe rücksichtslos davonrennt. Niemand verliert ein Rennen gern freiwillig; und wer Sieger sein will, rennt mit, als habe irgendjemand einen Beschleunigungsknopf gedrückt.

Und weiter. Auf den Trottoirs, Plätzen und Straßen von M-Zeit-Städten ist man gezwungen, Abkürzungen zu suchen, und ertappt sich beim Fluchen, wenn ein anderer den selbstgewählten Weg kreuzt, was permanent vorkommt. Zeit ist immer auf Raum bezogen, weil Zeit als Bewegung im Raum definiert ist. Wenn einer dem anderen aus Gründen der Zeitersparnis den Weg abschneidet, erlegt er ihm sein Tempo im gemeinsamen Raum auf und verfügt somit über seine Zeit, weil er sich anpassen und sein selbstgewähltes Tempo verändern muss. Durch sich verdichtende Räume steigt der Grad an Hektik und Stress. Zeitnot ist letztlich Raumnot.

Wie konnte es zu einer solchen Verdichtung von Zeit kommen, die uns in permanente Not bringt, obwohl wir durch beschleunigende Technologien mehr denn je Zeit zur Verfügung haben? »Die Uhr quantifiziert und objektiviert den Menschen«, schrieb vor Jahren der kulturkritische Trendforscher Jeremy Rifkin, »sein Leben wird mit der Uhr gleichgeschaltet, mit den Erfordernissen des Zeitplans und den Diktaten der Effizienz.« Mit der Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts wurde wirtschaftliches Wachstum und somit Wohlstand über wachsende Beschleunigung erreicht, wobei Wachstum bedeutet, in gleicher Zeit mehr zu tun als bisher beziehungsweise ungenützte Zeit ökonomisch nutzbar zu machen. In kapitalistischen Gesellschaften heißt das jedenfalls, nach jenem Grundsatz zu handeln, den Benjamin Franklin (Freimaurer, Verleger und Gründervater der USA) im 18. Jahrhundert ausgegeben hat: »Zeit ist Geld«. Dieses lineare Beschleunigungsmodell als stete Temposteigerung, von der Eisenbahn über das Auto, vom Flugzeug zur Rakete, ist mittlerweile bei der Lichtgeschwindigkeit von 300.000 km / sec angekommen und nicht mehr zu überschreiten. Das neue Paradigma lautet: Vergleichzeitigung. Mit einem Wort: Flexibilisierung. Es drückt sich aus in der Idee der »7-24-Gesellschaft«, der Sieben-Tage-vierundzwanzig-Stunden-rund-um-die-Uhr-Gesellschaft ohne Ladenschlusszeiten und Sonntagsruhe. In der schlaf- und rastlosen Digitalepoche, in der die Zeitzonen zerflossen und die Räume aufgehoben sind, kommt es nicht mehr darauf an, pünktlich, sondern auf den Punkt präsent zu sein. Dieser auf den Punkt präsente Mensch ist – nehmen wir ein fiktives Beispiel – alles zugleich: Prokurist, Chormitglied, Kirchenvorstand, Ausschussmitglied, Verbandsvizepräsident, Sportfunktionär, Vater und Ehemann. Seine Frau ist Anwältin, Elternbeirätin, Frauengruppenleiterin, Yogaschülerin, Hobbymalerin, Kinderchauffeurin und Mutter. Natürlich gibt es viele Männer und Frauen, die ein ganz anderes Leben leben, weil sie in anderen sozialen, beruflichen und privaten Verhältnissen stecken, egal ob in Großstadt, Kleinstadt oder auf dem Land. Da wir die diagnostizierte Entwicklung in die Zukunft extrapolieren und alle technologischen Entwicklungen auf weitere Beschleunigung abzielen, stellen wir uns den Menschen der nächsten Generation, um den es im Folgenden gehen soll, als Typ A einer M-Zeit-Kultur in einer deutschen Großstadt vor.

Die Kultur des Kapitalismus (zumindest westlicher Industriestaaten) organisiert sich primär über fremdverfügte Zeit und ihre Verdichtung. Oder anders: Zeit ist die Währung des permanenten Wachstums in immer kleineren Einheiten. Die atemlose Beschleunigung, die wir seit einigen Jahren erleben, entspricht der Rationalisierung von Zeit durch technologische Innovation. Globalisierung ist in Wirklichkeit die Beschreibung einer rasanten Verkleinerung: der unaufhörlichen Reduktion von Zeit und Raum, bis die geringsten Einheiten erreicht sind. Die dichteste Zeiteinheit ist die elektronische: das virtuelle Datum, die Gleichzeitigkeit, die Aufhebung der Dauer. Die immer wieder beschriebene Ungleichheit der Menschen ist vor allem eine Ungleichheit der Zeitverfügung: Je mehr Zeit der Wohlhabende hat, desto weniger arbeitet er; wenn er arbeitet, dann freiwillig, weil er sich die Arbeitsfreiheit zuvor erwirtschaftet hat (es sei denn, er ist Erbe). Und je mehr Zeit der Nichtwohlhabende hat, desto weniger arbeitet er, und das unfreiwillig, weil es keine Arbeit gibt, die sich über Zeit in Geld umsetzen ließe, selbst wenn er es wollte. Arbeitsfreiheit und Arbeitslosigkeit markieren die zwei Reiche des ökonomischen Regimes der Zeit.

Wie reagiert nun der durch seine Endlichkeit gekränkte Typ-A-M-Zeit-Mensch? Er packt zwei Leben in eins. Er verdoppelt das Pensum aus Furcht, das Entscheidende zu verpassen, bevor er stirbt – selbst wenn der Tod neuerdings immer später kommt. Nicht mehr der König oder eine Regierung lenken die Geschicke des Menschen, sondern die Zeit. Sie ist die absolutistische Regentin, wenn es um Ge- oder Misslingen eines guten Lebens geht. Wer über Zeit herrscht, könnte man sagen, herrscht über sich. Oder über den Untergebenen.

Die Vergleichzeitigung vielfältiger Aufgaben wird als »Multitasking« bezeichnet. Abgesehen davon, dass kulturkritische Hirnforscher dem menschlichen Gehirn unterstellen, ab einer bestimmten Impulsdichte den Verstandesdienst zu verweigern, hat niemand dem von der großen Wahlfreiheit überforderten Subjekt das Entscheiden je beigebracht. In der Multioptionsgesellschaft mit multiplen Wahlfreiheiten, multipolaren Effekten, pluralistischen Wertvorstellungen und multifunktionalem Selbstverständnis besteht die große Lebenskunst letztlich aber im Mut zur Priorität und der Kompetenz zur Entscheidung. Mehr noch: In der enttakteten Zeit wird das Entscheiden zur überlebenswichtigen Strategie. Durch die Beschleunigung des Spekulationskapitals unter der Regentschaft der Shareholder-Value-Ideologie und sprintender Heuschrecken aus Private Equity und Hedge-Fonds sind Firmenchefs zur permanenten Quartalsberichterstattung gezwungen, und die Norm der Kurzfristigkeit wird zu einer scheinbar plausiblen Rationalität. Nachhaltigkeit ist dann nachteilig, und um permanent Rendite einfahren zu können, müssen kurzfristig Erfolge erzielt und langfristig angelegte Verantwortung geopfert werden. Die Konsequenzen für den einzelnen Menschen? Man hat von den Folgen gehört: Burnouts, Schlafstörungen, Depressionen, Angst- und Erschöpfungszustände, die mit Kuren zu kurieren wiederum Zeit und Geld kostet. Dem DAK-Gesundheitsreport 2016 zufolge ist die Zahl der Fehltage pro 100 Versicherte aufgrund psychischer Erkrankungen in den Jahren seit 2000 um mehr als das Doppelte gestiegen: von 110 auf 243,7. Die dritthäufigste Ursache für Krankschreibungen im Jahr 2015 waren entsprechend psychische Erkrankungen.

Wo also ist auf lange Frist gesehen der Gewinn? Wenn die meisten in ihrem Arbeitsleben krank werden, wird die Planung schwieriger, verkleinern sich gemeinsame Begegnungsräume, schwinden soziale Bindungen und schafft sich in der immer hektischer auf Just-in-Time-Produktion getrimmten Arbeitswelt eine Kultur der Gemeinsamkeit selbst ab, als hätte man sich am Anfang des neuen Jahrtausends zwischen zwei Alternativen zu entscheiden: »Wachse oder weiche«. Rein rechnerisch macht der gehetzte Mensch auf lange Frist also ein schlechtes Geschäft.

Nehmen wir einen Moment an, wir alle lebten in einer Welt, die uns zwingt, den Rhythmus der Maschinen zu übernehmen. Je mehr zeitsparende Maschinen es gibt, desto mehr steht der Mensch unter Zeitdruck. Der Landwirt ist das beste Beispiel. Vor fünfzig Jahren reichte einem Bauern der Einscharpflug, dann reichte der Zwei-, dann der Dreischarpflug. Heute braucht ein Landwirt den Zwölfscharpflug, 24-mal so breit, und der Traktor dreimal so schnell wie vor fünfzig Jahren. Er investiert ein halbes Vermögen in teure Maschinen, sein Maschinenpark ist bis zu drei Millionen Euro wert. Hat der junge Großbauer dadurch mehr Zeit? Nein, denn die Erzeugerpreise für Getreide sind gefallen und liegen tiefer als in den 1950er Jahren. Gleichzeitig steigen die Kosten für Versicherungen, Reparaturen, Strom und Wasser stetig. Anders gesagt: Benötigte man 1970 neun Bullen für den Kauf eines neuen Ladewagens und 1990 31, müsste man heute 45 dafür aufbringen. Die Umstände zwingen den Landwirt zur Quantität, und Quantität bedeutet, größere Felder zu bestellen, wodurch die Landschaft wiederum maschinengerecht gestaltet werden muss, auf das sie einem 300-PS-Traktor bei der Arbeit nicht im Wege stehe. Im Verhältnis zur Nachkriegszeit ist die Produktivität um das Zehnfache gestiegen, mit dem Resultat, dass die Arbeitsbelastung vor allem junger Landwirte trotz (oder wegen) der großen Maschinen immens zugenommen hat. Man könnte das Gleiche auch bildlich fassen: Vor 100 Jahren schlachtete man ein Schwein im Alter von drei Jahren; heute kommt ein Schwein in sechs Monaten zur Schlachtreife. Denkt man diese Entwicklung in die nahe Zukunft weiter, müsste man im Jahr 2020 ein Schwein schlachten, bevor es geboren ist.

Der Landwirt steht Pars pro Toto für die Gesamtgesellschaft, in der Stress nicht mehr guter Stress zur Motivation, sondern in teilweise besorgniserregendem Maße als schlechter Stress zur Belastung wird. Das Lebenstempo hat sich für Typ A in den M-Zeit-Kulturen in den letzten 200 Jahren verdoppelt. Heute wird durch digitale Kommunikationskultur die ständige Erreichbarkeit geradezu vorausgesetzt. Das bleibt nicht ohne Folgen. 40 Prozent der leitenden Angestellten leiden unter Stress; vier von fünf Kindern in Deutschland fühlen sich permanent unter Zeitdruck; der Einsatz von Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Muntermachern steigt jährlich um acht bis zehn Prozent, Ehepaare reden am Tag durchschnittlich nur noch acht Minuten miteinander, und Untersuchungen der US-Historikerin Juliet Schor zufolge haben Amerikaner seit Mitte der 1970er Jahre 37 Prozent ihrer Freizeit eingebüßt.

Wenn Naturzeit und Uhrzeit, biologische Innenzeit und soziale Außenzeit immer weniger synchronisierbar sind, erfährt der Einzelne den »sozialen Jetlag«, wie das der Psychologe Till Roenneberg vom Institut für Chronobiologie an der Universität München nennt. Dessen Folgen sind chronisches Schlafdefizit, geschwächtes Immunsystem und eine gestiegene Anfälligkeit für Krankheiten. Denk- und Lernfähigkeit sind eingeschränkt, der Mensch fühlt sich unausgeglichen, und der Mangel an natürlichem Licht resultiert in Niedergeschlagenheit und Antriebsverlust. In einem noch so stark kunstlichthellen Büro erfährt ein Angestellter höchstens 400 Lux, an jedem noch so bewölkten, regnerischen Tag unter freiem Himmel hingegen bekommt er 10.000 Lux. Der Jedermann-Büromensch erhält also bis zu 1000-mal weniger Licht pro Tag. Zeitmangel ist Lichtmangel, und wer Chronobiologen fragt, bekommt zu hören, dass der soziale Jetlag zum unbemerkten Begleiter eines zunehmend müden Lebens wird. Die Amplituden von Stress und Erregung können nicht mehr ausgeglichen werden. Das heißt: Der Körper des M-Zeit-Menschen kapituliert irgendwann vor Entspannungslosigkeit.

Typ A ist erschöpft und in seiner Erschöpfung zugleich hyperaktiv – das macht offenbar den Wahnsinn unserer Zeit aus. Dieser hyperaktive Erschöpfte ist der Protagonist dieses Buchs: als Hauptdarsteller der nun folgenden Soziologie der Gegenwart in Teil I wie später als Adressat der Utopie eines neuen Humanismus in Teil II. Als westeuropäischer Zeitgenosse deutscher Wurzel ist er, wie jeder andere Mensch auch, in einen spezifischen sozialen Kontext hineingeboren. Alles, was er erlebt, erscheint ihm fraglos plausibel. Er stellt sich die entscheidende Frage nicht mehr, die da lautet: Warum und wodurch ist geworden, was ist – und ist das, was geworden ist, überhaupt sinnvoll?

Gemeinhin ist jede Veränderung bereits da, bevor man sie bemerkt. Der Mensch ist immer im Wandel, weil er immer schon in sich wandelnde sozioökonomische Kontexte eingewoben ist. Diesen Kontexten sind kulturelle Normen ebenso vorgängig wie Wertvorstellungen vorgelagert, und auf dieser Matrix entwickelt sich die je persönliche Lebenswelt. Die biologische Evolution lehrt bekanntlich, dass Stillstand nicht möglich, Anpassung überlebenswichtig und der stete Wandel der Sinn von Sein ist – ob es uns gefällt oder nicht. Im Grundsatz ähnlich verhält es sich mit der kulturellen Evolution – der sozioökonomischen Organisation des Arbeitslebens etwa.

Die Geburt von Typ A in der M-Zeit-Kultur begann vor etwa dreißig Jahren im Geist einer neuen, verlockenden Freiheit, als ein neues Paradigma einzog, welches die gesamte bis dahin gültige Lebensarbeitszeitkultur der westlichen Industriegesellschaft verändern sollte.

Das Paradox des Individualisten

Mit Anfang der 1980er Jahre begann die sogenannte Postmoderne – und in ihrem Gefolge die Postindustrie, die Postmetaphysik und das Posthistoire. »Post« drückt eine Entwicklungsstufe aus, ein lineares »Danach«, oder anders: den nächsten Schritt auf der linearen Raum-Zeit-Achse, die wir Welt- oder Menschheitsgeschichte zu nennen übereingekommen sind. Postindustriell war der Eintritt in die Epoche der Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft und ihres digitalisierten, auf elektronischer Datenverarbeitung basierenden Kapitalismus, in die Virtualität der Geldströme und Computer-Netzwerke der New Economy. Postmetaphysisch war der Fall der religiösen oder moralischen Gewissheiten, der Einsturz des metaphysischen Obdachs, das alle unter sich versammelte, Orientierung und Schutz gab und eine lineare Geschichtsentwicklung hin zur Vollendung eines für alle Zeit verbesserten Lebens der Menschen annahm. Glauben wurde mehr und mehr zur Privatsache und Sinnsuche mehr oder weniger ein Volkssport, die herkömmlichen Institutionen wie Kirchen, Parteien und Verbände erlebten seither eine fundamentale Legitimationskrise. Posthistorisch schließlich bezeichnet die geschichtsphilosophische Einsicht, die lineare und analog verfasste Geschichte sei an ihr Ende gekommen, weil die in ihr angelegten Entfaltungsmöglichkeiten ausgeschöpft wären. Ein postmodernes Leben war ein Leben mit und in den vielfältigsten Möglichkeiten: im Pluralismus und der ständigen Wahl; ein Leben, an das der Auftrag gestellt wurde, mit dem neuen Maß an Freiheit umgehen zu lernen, ohne dass den Einzelnen eine religiöse oder moralische Erziehung oder ein ideologisches Dogma fremdbestimmen könnte. Ein Leben, das zwischen Double-Income-no-Kids-Mentalität und Double-Kids-no-Income-Realität steckte, zwischen Singlelust und Singlefrust, Geburtenrückgang und Kinderlosigkeit, Yuppietum und Sozialhilfe, Narzissmus und narzisstischer Kränkung.

Der entscheidende Begriff der Epoche lautete: Individualismus. Seit etwa Mitte der 1980er Jahre wurde quasi jeder zum Betreiber seiner individualistischen ICH-AG mit beschränkter Haftung für die entzauberte Gemeinschaft. Ab 1985 gab es außer dem wohlfahrtsstaatlichen Hedonismus keine einheitsstiftenden Ereignisse mehr, weil zu viele Erlebnismöglichkeiten miteinander konkurrierten, deren Verwirklichungen zu viele divergierende Verhaltensmuster hervorriefen.

Wer um das Jahr 1985 herum 15 Jahre alt war, pubertierte ins digitale Zeitalter hinein. Das analoge Leben und seine am Haptisch-Sinnlichen geschulte Weltwahrnehmung, die sich am realen Gegenstand ausbildete und dessen Wahrnehmungsmuster noch unbestechlich, weil nachprüfbar schienen, wurde peu à peu ausrangiert. Die Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten änderten sich grundstürzend: Fernsehgerät, Computer, Internet wurden zu Instanzen medialer Totalvermittlung von Welt. Man wuchs auf im Bewusstsein der Relativität und Virtualität. Man setzte zusammen, was man zusammensetzen wollte, und nannte das Lebensprinzip »Bricolage«. Es entstand eine »Neue Unübersichtlichkeit«, wie das 1985 erschienene Buch des Deutschlands innere Widersprüche mustergültig repräsentierenden Philosophen Jürgen Habermas hieß. 1985 war klar, dass die von Habermas nicht unbedingt freundschaftlich diagnostizierte »Unübersichtlichkeit« die gewünschte eindeutige Vorherrschaft der Vernunft stückweise oder weitgehend (je nach Güteklasse des eigenen Pessimismus) eliminiert hatte. Jedenfalls brachte die neue Unübersichtlichkeit einen Pluralismus hervor, in dem zugleich alles und nichts galt. Wenn aber alles gleichermaßen gilt, ist nichts mehr wirklich gültig.

Der Globalismus führte zu prekären Lebensverhältnissen und zu dem, was der amerikanische Soziologe Richard Sennett den »flexiblen Menschen« nannte. Wenn Sennett zufolge das Prinzip »Nichts Langfristiges« für die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung verhängnisvoll ist, weil es auf lange Sicht jedes Handeln desorientiert und die wichtigsten Elemente der Selbstachtung untergräbt, dann ist der »flexible Mensch« ja ein zwangsflexibler Mensch. Flexibilität fungiert nur noch als rhetorisches Synonym für Kurzfristigkeit, für Diskontinuität, Unmittelbarkeit und Vertrauensverlust. Seit Mitte der 1980er Jahre sind mit der Ideologie des flexiblen Menschen die Prinzipien Eigenverantwortung, lebenslanges Lernen, ständige Fortbildung, fortgesetztes Selbstmanagement und das aerodynamische Quartett Fitness, Schlankheit, Jugendlichkeit und Mobilität verknüpft. Diese Leitprinzipien haben es vermocht, einen Konsens zu schaffen, dem zufolge zugunsten höherer Leistungskraft alle Schmerzen sofort fortzuspritzen und jedes Leid ad hoc niederzutherapieren sind.

Im omnipräsenten Handel mit schnellem Erfolg und hohen Renditen waren dauerhafte Bindungen keine Währungen mehr. Produkte wurden nicht an ihrem Idealwert gemessen, sondern an ihrer Abschöpfbarkeit. Um dem Druck der Abschöpfbarkeit standzuhalten, erhöhte sich der Druck auf das Individuum. Die ökonomische Norm fordert jetzt von jedem Einzelnen die volle Verantwortung für all seine Handlungen und für alle Unterlassungen von Handlungen, die von ihm erwartet werden – ohne dass klar ist, wer sie warum fordert. Sie erwartet die aktive Unterwerfung und stete Wachsamkeit, ohne sich für diese Erwartung legitimieren zu müssen. Die ökonomische Realität ist durch sich selbst gerechtfertigt: Sie agiert mit einer unhinterfragt plausiblen Rationalität, die zur unhinterfragt plausiblen Realität geworden ist.

Just in diesem Labyrinth der unaufgelösten Widersprüche hat sich das einst freie Ich aussichtslos verlaufen. Die heutige spätmoderne Lebenswelt ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Ambivalenz. Das Individuum soll alles zugleich sein und die Gegensätze in und durch sich versöhnen. Typ A soll allzeit bestens performen, stark, flexibel und fit sein – und zugleich sozial, sensibel und empathisch. Er soll Verantwortung für sein Tun übernehmen und zugleich die Vorgaben erfüllen, die andere an ihn stellen. Er soll Grandiositätsgefühle ausprägen und zugleich achtsam sein. Er soll permanent performen, zugleich aber solidarisch und ein aufopferungsvoller Teamplayer sein. Er soll hart arbeiten, aber sein Leben total genießen. Er soll frei sein, ist aber durch den Zwang zu dieser Freiheit unfrei. Die Flexibilität, die als Befreiung wirken sollte, führte in die Paradoxie: Gegensätze sind auf einmal keine mehr. Sie wurden aufgehoben in einer Kohärenz der Inkohärenz. Kohärenz im Sinne eines Strebens nach garantierter Sicherheit, also nach dem Einklang seines Selbst mit der Umwelt – getragen von der Hoffnung und dem Vertrauen, dass das eigene Handeln Sinn macht, dass es mit der eigenen Umwelt übereinstimmt, dass er, der Einzelne, einen sichtbaren, sicheren und sinnvollen Platz in der unübersichtlichen, unsicheren, aufgeblähten Welt hat.

Die Anrufung des reinen Individualismus hat zu einem zweifelhaften, ambivalenten Imperativ geführt: Sei du selbst! Was aber weiß das Individuum über sich selbst? Es weiß womöglich, was von ihm erwartet wird, welche Normen es zu befolgen habe. Aber weiß der Mensch, wer oder was er ist? Weiß er genau, was er will?

Zur Verfügung stehen lauter Ich-Schablonen, wie man zu sein habe, damit sich das Sein rentiere. Es rentiert sich, wenn sich das Individuum jene Verhaltens- und Handlungsweisen aneignet, die operationalisierbar sind. Nicht Bedürfnis, Begabung und Haltung stehen im Vordergrund, sondern Kompetenz und Machbarkeit. Der Druck einer immer früheren Anpassung an potenzielle Karriereverläufe und dafür erforderliche Fähigkeiten beginnt nach Beobachtung von Psychologen und Therapeuten oft schon in der kindlichen oder jugendlichen Sozialisation – über Medien und die von ihnen gefertigten und transportierten Wunschbilder, über Konzerne und deren stimulierte Traumbilder, über die Familie und deren tradierte Wertvorstellungen. Die Vermittlung gesellschaftlicher Normen wird immer zuerst über die Eltern hergestellt; da sie beglaubigte Werte weitergeben, ist ihre soziokulturelle Prägung für kommende Generationen entscheidend. Jeder Mensch lernt die Grundfähigkeiten sozialer Kompetenzen in der Familie, in der er aufwächst; überproportional schlechte Familienverhältnisse sind nur schwer zu reparieren.

Der Klinische Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann interpretiert seine langjährigen Beobachtungen deutscher Familien wie folgt: »Eltern mit Selbstwertdefiziten wollen dann die Bewunderung, die sie selbst nicht kriegen, und die Bedeutung, die sie selbst nicht haben, über die Kinder bekommen.« Die Folgen sind absehbar: Tochter und Sohn werden zu narzisstischen Objekten instrumentalisiert. Das bekanntlich zurückhaltende, dennoch leicht gestiegene Reproduktionsverhalten der Deutschen fördert den Trend zur Überfrachtung des einen Kindes mit unvereinbaren Ansprüchen. Die Verkehrung der Eltern-Kind-Perspektive spiegelt sich in der Werbung wider. Einst waren die Kinder ihren Eltern zu Diensten, Söhne holten den Vätern Zigaretten oder das Bier aus dem Keller. Heute zeigt uns die Werbung schreiende Kinder und eine aufgeregte Mutter, die dem Sohn den gewünschten Joghurt bringt. Das Kind steht im Mittelpunkt der Familie, die Eltern umkreisen es und überwachen sein Wohlergehen, weswegen man seit Anfang der 2000er Jahre von »Helikopter-Eltern« spricht, die ihre Kinder mit umfassender (manche sagen: zwanghafter) Fürsorge behüten und jedes Hindernis aus dem Weg räumen. Die Kehrseite der Überbehütung ist die gelernte Unfähigkeit des Kindes, mit Widerständen umzugehen, was spätere Brüche im Selbstwertgefühl nach sich ziehen kann. Man könnte an dieser Stelle lange darüber spekulieren, inwieweit ein dressierter Mensch versucht sein könnte, im permanenten Kampf um soziale Anerkennung besagte Defizite durch Überanstrengung, Gier oder Ichbezogenheit zu kompensieren …

Beim Start ins Berufsleben müssen sich mental geeichte Kinder die Kompetenzen zur Selbststeuerung und zum Selbstmanagement erst mühsam aneignen und genauso mühsam lernen, Verantwortung zu übernehmen, wie sich den erlernten Normen zu widersetzen. Krisen mit Mitte vierzig sind dann weniger eine Midlife-Crisis als eine verspätete Reifungskrise. Am Rande bemerkt sei, dass auch Schwierigkeiten mit der Verpartnerung und überhaupt mit der Partnersuche die Folge einer Überbehütung sein können. Häufig sind sie als Erwachsene Singles in einer Single-Gesellschaft (die Hälfte der Hamburger Haushalte beispielsweise sind Einpersonenhaushalte). Singles sind ja nicht einsame Menschen aus Überzeugung, sondern mit ihren Idealen liiert, und kein realer Mensch könnte es schaffen, diesen Idealen zu entsprechen. Die Erwartungshaltung an einen Partner, sagen die Paartherapeuten, sei heute vor allem bei Frauen, die in der emotionalen Reife den Männern offenbar überlegen sind, enorm. Mehr als 80 Prozent der Beziehungstrennungen geschehen auf die Initiative der Frau, weil ihre Erwartungen nicht mehr erfüllt sind.

Unter welchen Umständen lebt und arbeitet der Zeitgenosse heute? Im Zeitalter befristeter Jobs bis hin zu Vierteljahresverträgen ist die Frage »Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?« müßig, wenn nicht zynisch. Kein Halt nirgends: Das Leben ist weitgehend entideologisiert und entspiritualisiert, die großen Gegensätze der Systeme zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, aber auch die klare Regelung des Lebens durch Glauben und Kirche sind passé. Das Volumen des Wissens wächst in einem fort, die Komplexität der Sachverhalte steigt unaufhörlich, und mit beidem wachsen und steigen auch die Unsicherheit und Orientierungsbedürftigkeit. Es bleibt keine Zeit zur Reflexion und keine Zeit zur eigenen Gestaltung. Die Digitalisierung hat alle Prozesse hochgradig beschleunigt, das Sein hat Linearität an Parallelität verloren. Es muss aus dem Affekt reagiert, eingeordnet, kommentiert und verurteilt werden; im primitiven Reiz-Reaktions-Schema der Facebook- und Twitter-Ära reißt die Zeitgenossen offenbar nur noch der Superlativ mit: das Heftigste, Drastischste, Krasseste. Möglichst kurz, möglichst radikal. Daumen hoch, Daumen runter.

Herkömmliche Milieus bieten keinen Schutz mehr, das Prinzip der Nachhaltigkeit ist dem der Kurzfristigkeit gewichen, und ohnehin vorbei scheinen die Zeiten einer langfristig planbaren Erwerbsbiografie. Individualistisch radikalisierter Egoismus aber, und das ist die Schlagseite, verdrängt zunehmend Gefühle von Gemeinsinn und Zusammengehörigkeit.

Kann dieser Zustand das gute Leben befördern?

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