Die Bibel irrt - Christian Schüle - E-Book

Die Bibel irrt E-Book

Christian Schüle

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Beschreibung

Hat es den Exodus unter der Führung von Moses wirklich gegeben? Hat die Schlacht von Jericho wie überliefert stattgefunden? Gab es Goliath? Sind Sodom und Gomorrha tatsächlich in Feuer und Schwefel untergegangen? Hat die Bundeslade mit den Zehn Geboten jemals existiert? Wo lag der Garten Eden? Und wo genau, wenn überhaupt, fand die Sintflut statt? Geschichten oder Geschichte – was in der Bibel ist wahr, falsch oder schlicht erfunden – und warum? In Ägypten, Jordanien und Israel hat Christian Schüle aufwendige Forschungsreisen zu den mutmaßlichen Originalschauplätzen der großen biblischen Mythen und Legenden unternommen. Und schöpfte einen verblüffenden Verdacht, als er neueste archäologische Funde im Lichte jüngster wissenschaftlicher Erkenntnisse analysierte: Die Bibel irrt nicht nur häufig – sondern in wichtigen Erzählungen offenbar mit Absicht. Mit der gebotenen Sorgfalt und Vorsicht, aber ebenso beharrlich verfolgt der Autor eine Spur, die unser Bild vom Alten Testament verändern wird, ja revolutionieren kann.

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Christian Schüle

Die Bibel irrt

Die sieben großen Mythen auf dem Prüfstand

I.EINBLICK

Eine Frage der Wahrheit

Irren ist bekanntlich menschlich, und also irrt die Bibel, denn sie ist von Menschen gemacht. Sie irrt im Sinne des Wortes dann, wenn wir unter heutiger Erkenntnis, mit dem Messbesteck archäologischer, geologischer und anthropologischer Erkenntnis sowie der kumulierten Weisheit der Jahrhunderte, über ein Werk urteilen, das nach Einschätzung aller seriösen Bibelhistoriker zwischen dem 8. und dem 2.Jahrhundert vor Christus entstanden ist, wo es weder Kompass noch Satelliten gab, weder Landkarten, Bibliotheken, Radiokarbon-Methoden noch eine Messskala für Erdbeben. Man würde den orientalischen Kulturkreis missverstehen, legte man an ihn Kriterien historisch-kritischer Geschichtsschreibung der westlichen Moderne an. Im Orient wurde und wird Geschichte bis zum heutigen Tag über Geschichten transportiert – Geschichten, die, um ihre poetische Wirkungskraft zu entfalten, notwendigerweise mit rhetorischen Arabesken und pathetischem Zierrat ornamentiert sind.

Es ist wohlfeil, dem womöglich raffiniertesten Opus magnum der Weltliteratur Ungenauigkeiten und Irrtümer vorzuhalten. Wenn man deren Analyse zur alleinigen Hauptaufgabe einer Bibellektüre machte, würde man ohne weiteres Ziel und Zweck des Buchs der Bücher missverstehen. Bis heute bleibt die Genialität seiner Autoren verblüffend und bleiben ihre philosophische Tiefe, ihre theologische Kraft und Gabe zum Epischen faszinierend. Legionen hochgebildeter Interpreten haben sich seit zweitausend Jahren mit dem Alten Testament beschäftigt und dabei ebenso Grandioses ersonnen wie die Verfasser jener so legendären wie erlesenen Texte, um die es im Folgenden gehen wird. Der Leser darf also weder erwarten noch fürchten, dass sich in diesem Buch mit der akademischen und nichtakademischen Interpretation angelegt oder gar mit professoralem Gestus den Gesten professoraler Erkenntnis widersprochen wird. Vielmehr wird es mit den Professoren und dem Wissen der Theologen, Philosophen, Archäologen, Geologen, Anthropologen und Historiker im Rücken darum gehen, die Frage zu klären, wo die Bibelautoren fehlen, warum sie es ausgerechnet an jener Stelle tun, ob sie gar absichtlich irren, und wenn ja, mit welcher Intention. Es gilt der Satz: Die Abwesenheit von Beweisen ist nicht notwendig der Beweis von Irrtum. Nichts, was in der Bibel zum Abdruck kam, steht ohne Sinn, ohne Absicht und ohne Willen genau dort, wo es zu finden ist.

Es wäre intellektuell unredlich, einem solch wirkmächtigen Stück Literatur den Willen zum Irrtum zu unterstellen, wie man einer literarischen Erzählung an sich nicht unterstellen kann, sie irre sich, weil sie, ist sie gelungen, mit Verdichtungen, Metaphern und doppelten Böden arbeitet. Die Wahrheit einer schön erzählten Geschichte ist sie selbst. Man kann der Vermutung auf Irrtum aber durchaus dort nachgehen, wo die Autoren jener Bildergeschichten nicht mehr an einer Fiktion arbeiten, sondern es mit der Akkuratesse genannter Fakten und einer chronologischen Kohärenz aus ganz bestimmten Gründen nicht ernst genommen haben. Um diese ganz bestimmten Gründe soll es hier gehen. Fehlen schließlich außerbiblische Hinweise auf das geschilderte Geschehen, in ägyptischen Papyri, Stelen oder assyrischen Dokumenten etwa, die, in alttestamentlicher Zeitgenossenschaft, die gleichen Ereignisse wie die Bibel schildern, es aber völlig anders tun, so ist der zart vorgebrachte Verdacht legitim, dass dieselben ideologisch frisiert sein könnten, was, wenn es gezielt geschah, ja kein Irrtum ist, sondern Absicht im Dienste einer zielgerichteten Propaganda.

Im vorliegenden Buch werden die sieben berühmtesten Mythen des Alten Testaments im Spannungsfeld aktueller Diskurse in Archäologie, Theologie und Politik literarisch gedeutet, theologisch analysiert, auf ihren moralischen Kern hin untersucht und mit der Frage abgeklopft, was an den Erzählungen historischer Wahrheit entspricht und was Ideologie ist. Beginnend mit der Suche nach dem Paradies und endend mit der Suche nach der Bundeslade, wird beschrieben, mit welcher literarischen Könnerschaft die Autoren der Bibeltexte in der Tempelschule von Jerusalem Geschichte für Geschichte an einem umfassenden theologischen und gesellschaftspolitischen Gedankengebäude arbeiten. Von oben, ganz oben, dem großen, gar größten denkbaren: dem kosmischen Zugriff über die Erschaffung der Welt, bis hinunter zu den Details im individuellen Duell Davids gegen Goliath bauen die Mythen sukzessive eine immer größere Spannung auf, indem sie sich von Legende zu Legende stärker auf heroische Personen und Persönlichkeiten fokussieren. Die Bilanz der Untersuchung jener Ereignisse, die seit über 2000Jahren das kulturelle Rückgrat des westlichen Abendlandes bilden, versucht, eingebettet in die leibhaftig-sinnliche, subjektiv-persönliche Anschauung der wahrscheinlichen Originalschauplätze in Ägypten, Jordanien und Israel, mit aller Vorsicht eine Antwort auf die Kernfrage zu geben: Wo und warum irrt die Bibel?

Eine neue Perspektive

Bis zum heutigen Tag haben die alttestamentlichen Mythen nichts von ihrer sagenhaften Kraft und Faszination eingebüßt. Sie sind das Gründungsdokument des Judentums und die Quelle der christlichen Zivilisation. Doch es gibt Streit, ob und inwieweit die biblischen Erzählungen historischer Wahrheit entsprechen. Hat es Moses’ Auszug aus Ägypten, hat es die Schlacht von Jericho und die Eroberung des von Gott versprochenen Landes unter Josua und David je gegeben? Existierte der Goliath wirklich, sind Sodom und Gomorrha tatsächlich in Feuer und Schwefel untergegangen, und war die Bundeslade je ein realer Gegenstand?

Wenig versöhnlich stehen sich seit über vierzig Jahren zwei Fraktionen gegenüber. Die sogenannten Maximalisten sind biblische Archäologen, die durch ihre Grabungen die Mythen des Alten Testaments bestätigen und verifizieren wollen: Ja, die Bibel hat recht! Ihre Hauptvertreter sind William F.Albright, Frank Moore Cross und auch der deutsche Jurist, Publizist und Journalist Werner Keller mit seinem 1955 erschienenen, in zwanzig Sprachen übersetzten Buch «Die Bibel hat doch recht».

Die sogenannten Minimalisten um die Kopenhagener Schule dagegen behaupten, die Bibel sei nichts weiter als eine gutmontierte Sammlung ausgedachter Geschichten, die auf keinerlei nachprüfbaren Tatsachen beruhten. Israel, so meinen sie, sei ein Konzept, erfunden in der hellenistischen Periode des 3.Jahrhunderts vor Christus – eine auch aktuell politisch relevante Ansicht, auf die im Übrigen mancher Palästinenser im existenziellen Streit mit Israel um den legitimen Besitz des Landes gern zurückgreift. Der Streit zwischen Minimalisten und Maximalisten nimmt seinen Ausgang in der unterschiedlichen Datierung der ausgegrabenen Orte und ihrer Zeugnisse, im Eigentlichen aber ist es ein Streit zwischen Ideologien darüber, ob die Bibel irrt oder nicht.

Die Bibel (lateinisch «biblia»: «die Bücher») ist kein einheitliches Werk, sondern eine Zusammenstellung von Texten verschiedener Autoren – eine Collage, vergleichbar mit der Loseblattsammlung einer Rechtsordnung: Immer wieder kamen Blätter dazu, wurden Berichte neu abgefasst, verändert, umgeschrieben, ausgeschmückt und aktualisiert, indem man die Motive in die jeweilige Gegenwart der Autoren führte. Während man auf alte Sagen und Geschichten zurückgriff, passte man sich bei ihrer literarischen Ausgestaltung stets dem herrschenden Zeitgeist, dem neuesten geografischen Wissen und den kulturellen Moden an.

Die Bibel enthält das Alte und das Neue Testament. Während das Neue Testament die Geschichte Jesu Christi erzählt, berichten die Legenden des umfangreicheren Alten Testaments von dem Aufstieg des Volkes Israel. Das lateinische Wort «testamentum» heißt «Bund» und drückt das Treuebekenntnis der Israeliten zu Gott aus. Jesus hat sein Wirken stets auf das Alte Testament bezogen, insofern ist das Alte Testament die Grundlage des Neuen Testaments. Das Alte Testament, auch als Hebräische Bibel («Tenach») bezeichnet, ist eine Sammlung heiliger Schriften des antiken Judentums. Es kompiliert Sagen, Gesetze, Dichtung, Prophezeiungen und historische Schilderungen und beginnt mit der sogenannten «Tora». (Gesetz), den in ihrer enormen Wirkmächtigkeit kaum überschätzbaren fünf Büchern Mose (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium), die auch mit dem griechischen Wort «Pentateuch» bezeichnet werden. Darauf folgen die dichterischen Bücher der Psalmen, Sprüche und das Buch der Weisheit, schließlich die Bücher der Propheten, die in die früheren (Josua, Richter, Samuel, Könige) und die späteren Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Buch der zwölf kleinen Propheten) unterteilt sind. Der offizielle christliche Kanon zählt 39Bücher zum Alten Testament.

In der Bibelwissenschaft unbestritten ist, dass die Arbeit an den Schriften des Alten Testaments hauptsächlich vom 8. bis 6.Jahrhundert vor Christus in den Schreibstuben des Jerusalemer Tempels stattfand. Wer die Autoren waren, ist nicht bekannt. Namen werden nirgends genannt. In Frage kommen aber nur sehr wenige Personen, die zur damaligen Zeit überhaupt schreiben konnten: Priester, ihre Schüler, Militärbeamte und Chronisten am königlichen Hof. Bibelwissenschaftler schätzen, dass bei 3000Einwohnern im Jerusalem des 6.Jahrhunderts nicht mehr als 50Menschen schriftkundig waren. Große Teile der Prophetischen Bücher etwa wurden viel später, im 3.Jahrhundert vor Christus, abgeschlossen, ihre Texte atmen bereits das geistige Aroma der hellenistischen Welt. Endredaktion der Mythen, so nimmt man an, war um 200 vor Christus.

In seiner kompositorischen Raffinesse ist die Bibel als literarisches Werk geradezu genial. Ihre Entstehung korrespondiert mit der plötzlichen Eruption an Kreativität im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts und lässt sich mit den Kulturleistungen der Renaissance im nachchristlichen 16.Jahrhundert vergleichen. Als in Athen der Autor Homer seine Epen schreibt, entstehen auch die großen Erzählungen des Alten Testaments. Der Vergleich mit Homer ist keineswegs abwegig: Die Stadt Troja ist, archäologisch gesichert, um 1200 vor Christus untergegangen, doch Homer lebte und schrieb die Ilias sehr viel später, Ende des 8.Jahrhunderts, die Odyssee im frühen 7.Jahrhundert. Zeitlich betrachtet ist genau derselbe Spagat von 500Jahren zwischen vermeintlichem Ereignis und Niederschrift festzustellen wie bei den Autoren des Alten Testaments.

Die Hintergründe der Bücher des Alten Testaments sind weitaus komplexer und komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Man kann die Bibel ohne die politischen, sozialen, geografischen Kontexte und die kulturellen und ökonomischen Entwicklungen zwischen dem 8. und 6.Jahrhundert vor Christus im alten Vorderen Orient nicht ausreichend verstehen. Das Alte Testament ist das Dokument nationaler Identitätssehnsucht und Selbstbehauptung in einer von Angst und Zerfall im Vorderen Orient bestimmten Krisenperiode. Die Exodus-Erzählung zum Beispiel, in ihrer ältesten literarischen Fassung um 670 vor Christus entstanden, verrät sehr wenig über den historischen Kern eines vermeintlichen Auszugs aus Ägypten, sehr viel dagegen über die politische Situation im frühen 7.Jahrhundert vor Christus in Jerusalem. Die Legende ist eine Propagandaschrift des theologischen Aufruhrs gegen die Bedrohung durch die assyrische Weltmacht. Die Truppen des assyrischen Königs SargonII. hatten 722 vor Christus das nördliche Königreich Israel zerstört und die Bevölkerung deportiert. Eine traumatische Erfahrung: Gottes auserwähltes Volk war in Völkchen zerstreut, die Einheit des Gelobten Landes zerschlagen. Welche Lehre war daraus zu ziehen, und was konnte in einer solch desolaten Situation Hoffnung geben?

Man kann aus allen Erzählungen und Legenden des Alten Testaments zum einen Parolen für den politischen Widerstand gegen die Großmächte der Region, zum anderen Motive zur Errettung und Befreiung des israelitischen Volkes unter kontinuierlicher Aufsicht Gottes herauslesen. Hinter allen Geschichten steht immer auch Realpolitik.

Im Jahr 622 vor Christus, als der Niedergang Assyriens offensichtlich ist, gibt es auf einmal eine Art Vakuum. Ist nicht eben jetzt, in einer unverhofften, schicksalhaften Wende der Geschichte, da das Nordkönigreich zerstört war, die große Chance gegeben, unter dem Dach des Südkönigreichs Juda alle hebräischen Stämme zu einer Nation zu einen? In Jerusalem, der Hauptstadt des wenig entwickelten Juda, macht sich der 26-jährige König Josia mit großer Verve daran, das ehrgeizige Ideal einer nationalen israelitischen Identität zu erschaffen. Josia ist der Gerechteste unter allen. Er entstammt angeblich dem Hause Davids, wird mit acht Jahren König und regiert 30Jahre lang, von 639 bis 609 vor Christus, in Jerusalem. Die Geschichtsschreiber der Bibel schwärmen in den höchsten Tönen: Nie habe es einen wie ihn zuvor gegeben, und nie würde es einen wie ihn wieder geben. Josia wird in eine Reihe gestellt mit dem heldenhaften David und dem großen Moses. Er ist der letzte Rechtschaffene in einer Zeit der Bedrohungen und des Zerfalls, und er ist der Mittelpunkt aller Hoffnungen und Sehnsüchte des Volkes von Juda auf eine große, eine goldene Zukunft. Zu dieser Zeit herrscht Angst vor ägyptischen Neoimperialisten, die die Wiedergeburt ihres zerfallenen Großreichs anstreben und den levantinischen Korridor nordwärts ziehen. Josia bereitet sich auf den Kampf vor und verordnet eine revolutionäre Kultreform. Er dekretiert das Ende von Götzenglauben und Vielgötterei und befiehlt eine Zentralisierung: ein Gott, ein Tempel, ein Kultort, ein Glaube. Konkurrierende Kulte werden ausgelöscht, Tempelanlagen im ganzen Land geschlossen. Jedes Land und jeder Stamm, die Edomiter, die Moabiter, die Ammoniter, alle verehrten bis dahin ihre eigene Nationalgottheit. Funde aus archäologischen Grabungen legen eine ausgeprägte Volksfrömmigkeit in der Region Kanaan nahe, abzulesen an Graffiti, Inschriften, Segenssprüchen und Amuletten. Polytheismus war zur alttestamentlichen Zeit der Normalfall, und zu 99Prozent betete man Göttinnen an, Anrufungen der Fruchtbarkeit, symbolisiert in 12–15Zentimeter hohen Figurinen mit großen Brüsten. Deren große Blütezeit war das späte 7.Jahrhundert vor Christus, als so gut wie jeder judäische Haushalt derartige Statuetten besaß.

Im Jahr 622 vor Christus also wird auf einmal alle Frömmigkeit auf einen einzigen, männlichen, den namenlosen Nationalgott des Königreichs Juda fokussiert: auf JHWH, der später «Jahwe» geschrieben und im Mittelalter zu Jehovah wird. Aus Respekt vor seiner Heiligkeit sprechen Juden den Namen ihres Gottes nicht aus und nennen ihn «Adonay», «mein Herr». Im Alten Testament wird JHWH nach Erkenntnis des israelischen Bibelwissenschaftlers Emanuel Tov, Professor für Bibelkunde an der Hebräischen Universität Jerusalem, entweder als geheimnisvolles Wesen auf einem Himmelsthron, als mystisches Wesen oder auch als Engel vorgestellt. Tov kommt zu folgendem Schluss: «Wir Menschen haben unsere Ideen auf Gott übertragen und Gott nach unseren Vorstellungen geschaffen.»

Es scheint sicher, dass ‹Gott› zu Zeiten der alttestamentlichen Ereignisse keine derart große Rolle gespielt hat, wie es Jahrhunderte später und bis in unsere Gegenwart hinein der Fall ist. Es ist also Vorsicht geboten, die Gottesrede aus der Sicht des 21.Jahrhunderts zu analysieren und den Maßstab unseres Wissens und unserer heutigen religiösen und moralischen Verfassung retrospektiv anzulegen. In der Personifizierung durch Gott, ließe sich theologisch schließen, wurde für die vorchristlichen Menschen in Gebeten die Utopie ansprechbar gemacht: «Und Gott sah, dass es gut war.»

In der Folge der Konzentration auf einen Kult und einen Gott sowie einer Reihe von Gesetzen entsteht nach Meinung des so gerühmten wie berüchtigten Historikers und Archäologen Israel Finkelstein von der Universität Tel Aviv eine «pan-israelitische Ideologie». Im Umkreis des Tempels diskutierten Priester und Historiker, wie die Tragödie der Zerstörung des Nordkönigreichs geschehen konnte. Sie kommen überein, die junge Geschichte Israels als Geschichte eines Abfalls von JHWH zu betrachten, und beginnen die Arbeit an theologischer Propaganda, die dem Volk nahegebracht werden soll. Dabei greifen sie zurück auf zum Teil mehrere hundert Jahre alte Texte, sammeln die kostbarsten Traditionen des Volkes Israel und reanimieren mündlich überlieferte Mythen, um ein Lehrbuch zu komponieren und im Umkreis des Jerusalemer Heiligtums öffentliche Lesestunden abzuhalten. Dessen Bildergeschichten illustrierten die Vision einer moralischen Metaphysik, auf die das gesamte Alte Testament abzuzielen scheint. Die verlesenen Parabeln erzählen von der Vergangenheit und formulieren zugleich Träume und Hoffnungen für die Zukunft, sie formulieren Gesten der Rettung und Errettung, und sie warnen die Einwohner des armen Juda vor dem schlimmen Schicksal des besiegten Israel, das auch ihnen zustoßen könnte. Vor diesem Hintergrund entsteht das einflussreiche Buch Josua, das von der Schlacht um Jericho und der Landnahme berichtet. Auf der Basis des territorial gedachten Pan-Israelitismus werden Mythen und Märchen gesammelt, die die Menschen sich seit Jahrhunderten erzählen, um die politische Ideologie einer Einheit der Hebräer territorial zu verankern. Im Gegensatz zu altägyptischen oder mesopotamischen Mythen basieren jene der Bibel auf irdischer Geschichte: Sie erklären, inwiefern und aus welchen Gründen sich der Aufstieg des Volkes Israel in kontinuierlicher Beziehung zu Gott, stellvertretend für die gesamte Welt, über die Zeiten entfaltet hat.

Kurzum: Die Bibel ist Ideologie von A bis Z und wurde mit dem Ziel verfasst, einer bestimmten Gruppe von Menschen im alten Vorderen Orient eine politische, kulturelle, religiöse Selbstbegründung und deren geografische Verortung zu geben. Dass dies in Form des geschriebenen Wortes, eines Buches, geschah, war etwas Neues in der Geschichte des menschlichen Geistes. Etwas Revolutionäres in der kulturellen Evolution der Menschheit.

Die Israeliten sind zur damaligen Zeit ein unbedeutendes Volk in der Levante, dem östlichen Kulturraum des Mittelmeers. Keine so großartige Zivilisation wie die der Ägypter und kein solch machtvolles Kulturvolk wie die Assyrer, von denen es aus früher Zeit bereits wundervolle Schriftstücke gibt. Bei den Israeliten dreht es sich um eine Gesellschaft von vielleicht 100000Menschen ohne Kunst und Kultur, die in einem kleinen Gebiet, das sich 80Kilometer von Nord nach Süd und 50Kilometer von Ost nach West erstreckt, großteils als Nomaden leben.

Als die Babylonier in Juda einfallen, zerstören sie alle Träume: Im Jahr 587 vor Christus belagern die Truppen des Königs NebukadnezarII. die judäische Hauptstadt Jerusalem, plündern die Stadt und stecken den Tempel in Brand. Sie setzen einen Statthalter ein und deportieren den König und die Oberschicht von Juda, die Oberpriester, Handwerker, Schreiber und Kommandanten, nach Babylon, an die Gestade von Euphrat und Tigris. Eine Katastrophe. Ein Trauma. Eine Zäsur. Als die ersten Priester und Gelehrten nach der Befreiung durch die Perser unter König KyrosII. knapp 50Jahre später nach Jerusalem zurückkehren, gibt es das Volk Israel nicht mehr, und alle alten Traditionen spielen keine Rolle mehr. Jetzt stehen die Heimkehrer vor der Aufgabe, ein nationales Epos, einen neuen Gründungsmythos ihres Volkes zu entwerfen, einen glanzvollen, fulminanten Anfangspunkt der eigenen Geschichte. Es soll eine Idealwelt erschaffen werden, die dem erlittenen Chaos eine heilsversprechende Ordnung entgegensetzt. Im Gepäck haben sie Mythen, Ideen und Überlieferungen aus dem Kulturraum um Euphrat und Tigris; für die Nähe biblischer Motive zu den mesopotamischen gibt es zahlreiche Beispiele. So ähnelt die Erzählung von der Entstehung von Welt und Menschheit stark den sumerischen Schöpfungsmythen. Und dass im Rahmen der Zehn Gebote der Sabbat eine große Rolle spielt, geht auf ein politisches Programm im Babylonien des 7. vorchristlichen Jahrhunderts zurück, dem zufolge die Menschen, unabhängig vom Gestirnezyklus, zur Ehre ihres Schöpfers am siebten Tag nicht arbeiten sollen. Das «babylonische Exil» von 587–539 vor Christus spielt für die Entstehung des Alten Testaments eine entscheidende Rolle. Die Wissenschaft unterscheidet und bewertet die Texte danach, ob sie vor, während oder nach dem Exil verfasst wurden. Je nach dem Zeitpunkt der Niederschrift lassen sich sehr unterschiedliche Motive und ein stark voneinander abweichender Sprach- und Schreibstil erkennen.

Heute sind Dutzende jener Städte, Orte und Plätze, die im Alten Testament erwähnt werden, ausgegraben, freigelegt und als historisch evident identifiziert. Der Gründungsvater der biblischen Archäologie, der Amerikaner William F.Albright, widmete seine Arbeit in den Jahren nach 1922, als er, 31-jährig, Direktor der American School in Jerusalem war, hauptsächlich der Ausgrabung großer Stadthügel im heutigen Israel. Hebräisch heißen sie «Tel», arabisch «Tell», und bestehen per definitionem aus übereinandergelegten Siedlungsschichten, die man, wie beim Häuten einer Zwiebel, Schicht für Schicht abtragen muss. In gewisser Weise entspricht auch die Bibel selbst einem Tel: Ihre Geschichten sind wie übereinandergelegte Interpretationen, deren irgendwann freigelegte Kerne eine Erklärung für die gesellschaftlichen Zustände jener Zeit sind, in der sie verfasst wurden. Sprachwissenschaftler haben die verschiedenen Elemente nachgewiesen, die auf frühere oder spätere Abfassungen hindeuten; es gibt deutliche Unterschiede zwischen dem Hebräisch des 10., des 6. und des 3.Jahrhunderts vor Christus. Je weiter die Berichte in die Eisenzeit vorrücken, desto mehr entsprechen die Texte auch der historisch nachprüfbaren Wahrheit, desto öfter werden die biblischen Figuren auch in außerbiblischen Dokumenten der Assyrer oder Babylonier genannt, und desto mehr scheinen sich die Autoren der Historizität der Ereignisse bewusst gewesen zu sein. Von Anbeginn an muss das Alte Testament als eine Geschichte des Volkes Israel gelesen werden und von Anbeginn an als literarisches Werk zur Identitätssuche dieses «Volkes Gottes». Und dieser große, vielleicht größte bilder- und metaphernreiche Roman aller Zeiten inthronisiert jenen Schöpfer, der bis heute der Gott des Abendlandes im westlichen Kulturkreis ist.

Story oder History – was in der Bibel ist wahr? Neueste archäologische Funde und Interpretationen laden zu einem veränderten, tiefgründigen, unerhörten Blick auf die große Saga vom Bund Gottes mit seinem Volk Israel ein. Die Arbeit der Archäologen – ihre Funde neuer Keramik, ihre Freilegung der Fundamente, ihre Erkenntnisse des kulturellen Hintergrunds der entsprechenden Bibelepochen – wird immer wichtiger und hat starken Einfluss auf theologische Revisionen. Ohne die unabhängige, empirisch arbeitende Disziplin der Archäologie im Hintergrund ist es unmöglich, zu gültigen Aussagen über den Wahrheitsgehalt der Bibel und die Entstehung ihrer Texte zu kommen – so man dies überhaupt möchte.

Stück für Stück präziser, Scherbe für Scherbe kompletter wird jetzt das Bild der Geschichte, Schnitt für Schnitt deutlicher erfasst die zeitgenössische Archäologie soziale und kulturelle Hintergründe im 1.Jahrtausend vor Christus, dokumentiert die Verwüstungen und Zerstörungen der Städte und Dörfer und versucht, die Aussagen der biblischen Erzählungen zu verstehen, indem sie in das reale politische und kulturelle Geschehen der damaligen Zeit rückgebettet werden. Es ist die zarte und diffizile Arbeit am Gerüst unserer Werte, dessen Statik zu kennen im Ringen der Kulturen, Religionen und Ideologien um Deutungsmacht und Gefolgschaft in der globalisierten Gegenwart Tag für Tag mehr zu einem unhintergehbaren Imperativ wird.

Kurze Biografie der sieben Mythen

1.Das Paradies

Jeder kennt das Paradies, aber niemand weiß, wo es lag oder liegt. Seit jeher suchen Abenteurer, Bibelleser und Wissenschaftler nach dem «Garten von Eden». Er wurde in Ägypten, Südamerika, in der Mongolei, in Mesopotamien und der Türkei vermutet. Neuerdings rückt vor allem der heutige Iran ins Visier: Eine spezielle Bucht im Persischen Golf erfüllt scheinbar alle wissenschaftlichen Voraussetzungen, um das Paradies plausibel zu verorten.

2.Die Sintflut

Seit Jahrtausenden kursieren Geschichten von einer alles vernichtenden Flut in der Welt. Es war eine Naturkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Was die Bibel beschreibt, hat es nach Ansicht von Geologen tatsächlich gegeben. Erst seit kurzem können die Wissenschaftler ihre Annahmen belegen: Die Sintflut wurde nicht durch Gottes Zorn ausgelöst, sondern durch den dramatischen Anstieg der Temperatur und das Schmelzen großer Eismassen am Ende der letzten Eiszeit. Für amerikanische Geologen ist das Schwarze Meer der Ort der Sintflut, ein deutscher Wissenschaftler aber hält dagegen. Er will nachweisen, dass das Ergebnis der biblischen Sintflut der Persische Golf von heute ist.

3.Sodom und Gomorrha

Wenige Städte auf der Welt haben eine solch mythische Berühmtheit erlangt wie Sodom und Gomorrha. Sie galten als verrucht und gingen unter in Feuer und Asche. Dabei ist bis heute nicht sicher, ob sie je existiert haben. Wer sich auf die Suche nach ihnen macht, findet um das Tote Meer herum dennoch vage Hinweise auf die Stätten einer der literarisch grausamsten Bestrafungsaktionen der Menschheitsgeschichte. Am tiefstgelegenen Punkt der Erde riecht es sogar nach Schwefel.

4.Der Exodus– Auszug aus Ägypten

Der Auszug der Israeliten aus Ägypten unter Führung von Moses ist die theologisch und ideologisch zentrale Legende des Alten Testaments. Mit dem Exodus der Sklaven wird Israel zum erwählten Volk Gottes. Alle seriösen Bibelwissenschaftler sind sich einig, dass der legendäre Mythos auf realen Ereignissen beruht. Wer heute die Auszugs-Routen entlangfährt, kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Viele der geografischen Angaben der Bibel stimmen. Mit einer Ausnahme – am Schilfmeer in Ägypten herrscht nicht Ost-, sondern Nordwind.

5.Die Schlacht von Jericho

Die Schlacht um Jericho und die Landnahme Palästinas, die Besiedlung des palästinensischen Kulturlandes durch die israelitischen Stämme, ist die dramatischste und vielleicht folgenreichste Geschichte des Alten Testaments. Doch Archäologen stehen vor einem Dilemma: Die Befunde ihrer Grabungen in Israel stimmen mit der biblischen Schilderung nicht überein. Es gab keinen Posaunenschall vor Jericho.

6.David gegen Goliath

Es klingt immer noch wie ein Märchen: Der kleine Hirte David besiegt den Riesen Goliath mit einer Steinschleuder und entscheidet die legendäre Schlacht zwischen Israel und den Philistern. Bislang gab es keinerlei Hinweise darauf, dass David oder Goliath je existiert hätte. Vor kurzem jedoch haben israelische Archäologen einen sensationellen Fund gemacht. Auf einer Scherbe entzifferten sie den Namen «Goliat». Das Duell könnte tatsächlich stattgefunden haben.

7.Die Bundeslade

Kein Gegenstand der Weltgeschichte hat größeres Interesse hervorgerufen als die vergoldete Lade aus Akazienholz, in der die Zehn Gebote aufbewahrt wurden. Legionen von Archäologen haben die berühmte Bundeslade gesucht, niemand hat sie je gesehen. Womöglich liegt sie in einer Kirche im äthiopischen Aksum. Oder unter dem Tempelberg Jerusalems. Oder in einem Warenlager in Washington. Die Spekulationen reißen nicht ab.

II. DURCHBLICK

Die sieben großen Mythen des Alten Testaments auf dem Prüfstand

Das Paradies

In der Tat, es muss ein göttlicher, ein traumhafter Ort gewesen sein. Auf seinen Feldern wuchsen Safran, Zimt und die Heilpflanze Kalmus. Gerste, Einkorn und Grünkern gediehen, und immerzu sprudelten die Quellen. Es war ein Ort, an dem es weder Krankheit noch Alter, weder Sehnsucht noch Trauer, keinen Hass und keine Gewalt gab, ein Ort, an dem sich Auerochsen, Wildschweine, Gazellenherden und Wild tummelten und der Löwe nicht tötete und die Raben nicht krächzten und die Flüsse reich an Wels, Karpfen, Aal, Barben waren, an Schalentieren und Wasservögeln. Ein Ort, an dem das Dasein perfekt, das Leben sorglos und alle Bedürfnisse erfüllt waren. Bis heute ist dieser Ort für fast alle Menschen und Völker die Chiffre für das Schönste und Üppigste, das Glückselige, Friedvolle, Ideale. Die Werbung arbeitet mit den Sehnsüchten nach dem idealen Ort genauso wie die Priester aller Religionen. Für Juden ist er so heilig wie für Muslime und Christen, für die er dazu auch das Endziel des irdischen Lebens darstellt. Alle kennen das Paradies, doch niemand weiß, wo es liegt. Kann es sein, dass es nur eine Erfindung ist?

An jenem göttlichen Ort kann es nicht wärmer als 35Grad Celsius gewesen sein. Wäre es wärmer gewesen, hätten Früchte, Korn und Gräser nicht gedeihen können. Hätte es mehr als 35Grad gehabt, wäre zu viel Wasser verdunstet. Mehr als 35Grad kann der menschliche Körper nicht ohne weiteres vertragen; es wäre müßig, einen idealen Ort zu entwerfen, an dem seine Bewohner unter Hitze und Trockenheit leiden. Es dürfte an diesem Ort nicht mehr geregnet haben, als ein Kulturboden verarbeiten kann. Süßwasser muss reichlich und stets zugänglich gewesen sein – ein See, Flüsse, eine Quelle. Nirgends dürfte das Verhältnis von Temperatur und Wasser besser austariert gewesen sein als dort. Wenn man sich jenen Ort vorstellt, fliegt ein Geruch von Datteln, Feigen und vielleicht Lavendel heran, und man hört Bäche plätschern, auf deren Oberfläche sich die ewige Sonne spiegelt. Aber darf man sich das Paradies tatsächlich als irdischen Ort denken? Wenn ja, müsste man ihm heute nachspüren können; Orte verschwinden nicht. Oder doch, Orte werden überschwemmt und sind auf ewig unsichtbar. Dann allerdings könnten die Schallwellen moderner Sonartechnologie sie unter Wasser oder Schutt orten.

Wenn der Sinn des Paradieses aber sein sollte, dass es gerade nicht existiert, um seine Verführungskraft zu behalten, dann entsprang Eden statt aus einem Flussquell mehr einer Hoffnung, dann war und ist der Ort Ausdruck eines Ideals und dessen Beschreibung reine Fiktion: dass es freilich einen «Designer» gebe, der den perfekten Ort erschafft und dafür verantwortlich ist. Mit dem idealen Ort hinterlässt sein Architekt zugleich die höchste Bürde: Größer kann die Fallhöhe für die Bewohner nicht sein. Und so geschah es bekanntlich. Der Mensch fiel aus dem Paradies, und seither ist die Schuld in der Welt.

Der Reiz, das Paradies zu finden, ist zu keiner Zeit erloschen, und zu allen Zeiten haben Bibelforscher, Abenteurer und Geografen versucht, das Paradies auf Erden zu orten. Eine gewisse Obsession, die Bibel wörtlich zu nehmen, trieb im Jahr 1650 den irisch-anglikanischen Theologen und Erzbischof James Ussher beispielsweise so weit, den Geburtstag des Paradieses exakt zu berechnen. Beginnend mit Adam und Eva, addierte er auf Basis der Abstammungsbäume der Patriarchen die 21Generationen des Alten Testaments und kam nach über 100Seiten seiner «Annales Veteris Testamenti» zu dem Schluss, dass die Welt am Sonntag, den 23.Oktober 4004 vor Christus erschaffen wurde; nach jüdischer Zeitrechnung war es etwas später, im Jahr 3760 vor Christus.

In der Ära des Kirchenvaters Augustinus im 5.Jahrhundert nach Christus verlegte man das Paradies zwischen Nil und Ganges. Nach der Renaissance begannen die Spekulationen aufs Neue, und im Laufe der Jahrhunderte wurde der Garten von Eden in der Mongolei und in Südamerika vermutet. Die meisten Gelehrten der Neuzeit suchten das Paradies zwischen dem antiken Mesopotamien, dem gegenwärtigen Irak und der gegenwärtigen Südtürkei, und bis zum heutigen Tag scheint diese Region jene rätselhaft sparsamen Vorgaben, die die Bibel dazu gibt, am besten zu erfüllen, obwohl noch im Jahr 2000 der New Yorker Anwalt Gary Greenberg zu der Überzeugung gelangte, das Paradies sei gleichzusetzen mit On, der griechisch Heliopolis genannten «Stadt der Sonne», die im Mittleren und Neuen Reich ein bedeutendes Kultzentrum Altägyptens war und deren Tempelruinen heute neben einer gigantischen Müllkippe im Stadtteil El Matariyah in der Nähe des Präsidentenpalasts von Kairo ein kümmerliches Dasein fristen.

El Matariyah, das heißt: aufgerissene Straßen, mit Plastikmüll gefüllte Gräben, zwölfstöckige Betonbauten ohne Gesicht, Autowracks, geplatzte Wasserleitungen, frühmorgendlicher Smog, verrußte Fassaden, Moscheen im Rohbau, ampellose Verkehrsgestaltung, Handwerk, Tankstellen, Garküchen, Bäckereien und Laternen aus den 1920er Jahren. Zwischen zwei Krämerläden ein Friseur: Elite Salon de Coiffure, vor dem drei traurige Esel warten, auf deren Ladewagen sich Zwiebelknollen türmen. Auf der Suche nach den Ruinen von Heliopolis schicken einen wortstarke Frauen dort- und gestenfreudige Männer hierhin, aber irgendwann halten wir dann doch vor einer großen, umzäunten Fläche, und plötzlich ragt, auf einem Feld umgestürzter Marmorsäulen und herumliegender Fries-Teile, ein Obelisk in den vom grauen Qualm verbrannten Mülls getrübten Himmel. Es ist der zwanzig Meter hohe Granit-Obelisk des bedeutenden Pharaos SesostrisI., bestens erhalten, mit Schriftzeichen und Tiersymbolen. Dort, wo heute außer fünf weißgekleideten Polizisten mit Maschinengewehren und drei schnatternden Aufpassern in Schlappen vor einem Holzhäuschen kein weiterer Mensch zu sehen ist, war das bedeutende Zentrum des Kultes um den Sonnengott Re – nach Meinung einiger Historiker das Vorbild für den Garten Eden, was nachzuempfinden dem Besucher einiges an Phantasie abfordert. Niemals aber kann die Einbildungskraft so groß sein, hier den Fluss Gihon zu verorten, was Greenbergs Idee ins Reich ausrangierter Spekulationen verbannt.

Mir war klar, dass am Anfang der Suche nach dem perfekten Ort Jerusalem stehen musste. Mehr als die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift von 1980 hatte ich nicht dabei im Tempelbezirk der Davidstadt, aber ich wusste nach allem, was Archäologen, Historiker und Religionswissenschaftler herausgefunden hatten, dass die Texte des Alten Testaments hier geschrieben worden sein müssen. Um dem Paradies nachzuspüren, musste ich schließlich dort sein, wo die Autoren es entworfen hatten. Die Menschen früher hatten keine Landkarten, sie hörten Geschichten und Berichte von Reisenden. Wenn es gelänge, deren Sicht in den Blick zu bekommen, die Warte einzunehmen, von der herab sie die Welt sahen, könnte vieles klarer, könnten all die himmelstürmerisch wirren Vermutungen über die vermeintliche Heimat des idealen Orts womöglich geerdet werden.

Ich stand südlich des Felsendoms in den Ruinen und las, im Lärm Tausender Touristen und rußender Busse, die magische erste Zeile des Buches Genesis: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Vielleicht ist dies der berühmteste Romananfang, den es je gegeben hat. Roman? So jedenfalls beginnen die Erzählungen von der Entstehung der Welt, der Menschheit und des Volkes Israel. So beginnt die Bibel, die Genesis, das erste der fünf Bücher Mose, so beginnt die jüdische Tora, die man mit «Weltwissen» übersetzt. Wie viel am Mythos ist Mythos, und wie viel historischer Realitätsgehalt darf der Bibel gleich an ihrem Beginn zugetraut werden?

Ein paar Absätze weiter folgen die Koordinaten des Paradieses: Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Es ist der erste Fingerzeig darauf, dass Eden der Name einer Region ist und dass es in jener Region einen Garten gab. Eden lag «im Osten». Osten, von Jerusalem aus gesehen. Ist das aber der Osten einer mythischen Ferne, gar der symbolisch-astronomische, in dem die Sonne aufgeht, das heilige Licht und also das Leben? Die konkreten geografischen Hinweise auf das Paradies sind nur elf Zeilen lang und befinden sich im zweiten Kapitel der Genesis.

Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert, dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. Der erstgenannte Fluss trägt den Namen Pishon. Er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es auch Bdelliumharz und Karneolsteine. Bdellium ist ein Harz zur Salbenherstellung; mit Karneolstein könnte das Mineral Chalzedon, also feinster Quarz, gemeint sein. Im Jerusalem des 8.Jahrhunderts vor Christus war Chalzedon ein bekanntes Mineral. Die Region oder der Ort Eden östlich von Jerusalem, in dem ein Garten angelegt wurde, ist also die Quelle von vier Flüssen, die mit konkreten Namen benannt werden. Das biblische Land Hawila lässt sich bis heute nicht zweifelsfrei bestimmen, neueste Forschungen sehen es, belegt mit dem Titel «Sandland», auf der Arabischen Halbinsel. Niemand kann sagen, ob es den Fluss Pishon (der «sich Ausbreitende») gibt oder gegeben hat, wobei er allerdings im Ägyptischen manchmal mit dem Nil gleichgesetzt wird. Vielleicht sind Pishon und Hawila reine Phantasiebegriffe wie das paradiesische Auenland der Hobbits in J.R.Tolkiens Saga «Herr der Ringe». Sollte der Pishon aber existieren, muss er ebenso östlich von Jerusalem liegen wie das Land Hawila. Einzige Bedingung ist, dass er sich im Einzugsbereich des zweiten Flusses befindet.

Dieser, teilt der Autor des Schöpfungsberichts mit, trage den Namen Gihon und umfließe das ganze Land Kusch. «Kusch» steht als Kurzform für «Land der Kuschiter» und wurde vom jüdisch-römischen Geschichtsschreiber Josephus Flavius als das ägyptische Wort für das antike Nubien identifiziert. Nubien war im Neuen Reich ägyptische Provinz auf dem Gebiet des heutigen Nordsudan und Äthiopien. Ein Mann namens Kusch soll der Urahn der Kuschiter sein und hätte insofern eine Beziehung zur Schöpfungsgeschichte, da er der Enkel von Noah ist.

Gihon bedeutet sinnbildlich «der Sprudelnde» und ist einzig und allein geläufig als Name jener Quelle, die südöstlich des Tempelbergs in der Davidstadt von Jerusalem entspringt. Also steige ich diverse Wendeltreppen in das Grabungsgelände hinab, es riecht nach Algen und Wasser, ist feucht und klamm. Man kann aufrecht gehen, und der Weg führt durch eine großzügig ausgeschabte Grotte. Gerüste stützen den Stein, die Wände sind mit Beton ausgegossen. Kreißsägen kreischen, und Arbeiter klettern von Felsblock zu Felsblock. An diesem Morgen wird eine Abordnung aus palästinensischen Polizisten in blauer und israelischen Soldaten in tarngrüner Uniform tief hinab in die Eingeweide Jerusalems geführt, bewaffnet, vergnügt, gemeinsam. Sie werden über den Fortgang der Grabungsarbeiten und somit auch über ein weiteres Stück ihrer Geschichte informiert.

Je tiefer man steigt, desto schwüler wird es. Nach fünfzehn Minuten hört man ein Sprudeln und Fließen, und dann kommt die Karsthöhle der Quellkammer am Beginn des berühmten, 533Meter langen Hiskija-Tunnels, durch den der Gihon als Teil eines raffiniert konstruierten Wassersystems aus dem 8.Jahrhundert vor Christus fließt. Am Eingang stauen sich israelische Schulklassen, mit Taschenlampen und reichlich Geschrei waten die Teenager durchs wadenhohe Wasser, und ein Junge, der hier unten Platzangst hat, beginnt, all die Hunderte von Treppenstufen mühsam wieder aufwärtszusteigen.

Der Gihon ist weniger ein Fluss denn ein plätschernder Bach. Er war die zentrale Wasserversorgung der Bevölkerung in vorchristlichen Zeiten. Diesen im Vergleich zu den Weltströmen Nil, Euphrat und Tigris lächerlich kleinen Bach konnte nur kennen, wer in Jerusalem lebte. Sollte damit insinuiert werden, Jerusalem sei das Paradies auf Erden?

‹Der dritte Strom heißt Tigris. Der vierte Strom ist der Euphrat.› Diese biblische Mitteilung ist geradezu simpel und eindeutig zu lokalisieren. Die beiden mythischen Ströme Euphrat (hebräisch Perath) und Tigris (hebräisch Hiddekel), zwischen den Ketten des Zagrosgebirges und der arabischen Sandwüste gelegen und die meiste Zeit durch glühende Wüste fließend, entspringen im ostanatolischen Teil der heutigen Türkei, ehe sie, zuletzt als Schatt el-Arab vereint, bei der Stadt Basra im heutigen Irak in den Persischen Golf münden. Sie fassen ein wasserreiches Land ein, das früher Mesopotamien hieß, später in Assyrien (der Norden) und Babylon (der Süden) geteilt war und Geburtsstätte der Keilschrift war. Dort, wo es stets wasserreich war, wo Schrift, Schreiben, Lesen und also Kultur entstand – würde man nicht dort den idealen Ort vermuten?

Erstaunlicherweise sind die geografischen Angaben der Bibel meist richtig; sie entsprechen realen Orten. Die Frage ist allein, zu welcher Zeit welche Orte wem in Jerusalem bekannt waren. Euphrat, Tigris, Pishon und Gihon, die Landschaften Hawila und Kusch – das sind nicht viele Hinweise für jenen Raum, in dem das erste Paar der Menschheitsgeschichte im gnadenvollen Zustand der Perfektion lebte. Aufschlussreicher könnte erst einmal sein, dem Paradies auf sprachwissenschaftlichem Pfad näher zu rücken. Das Wort «Paradies» entstammt dem altpersischen Begriff «pairidaeza», der übersetzt bedeutet: das Umwallte, Umzäunte, oder etwas freier: umwallter Park, noch freier: eingefriedeter Garten. Der Begriff wurde zum ersten Mal vom griechischen Geschichtsschreiber Xenophon im 4.Jahrhundert vor Christus benutzt, um die von Mauern beschützten Gartenanlagen des persischen Großkönigs zu beschreiben (die, wie die Hängenden Gärten der Semiramis im Babylon des NebukadnezarII. oder die Gärten der neuassyrischen Könige, im Übrigen oft Lustgärten waren).