Vom Glück, unterwegs zu sein - Christian Schüle - E-Book

Vom Glück, unterwegs zu sein E-Book

Christian Schüle

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Beschreibung

Bis zu den Rändern der Welt auf der Suche nach uns selbst

Die Schönheit alter Pilgerwege in Norwegen oder unbeleuchteter Gassen in Kairo, die Leichtigkeit Sandalen tragender Bergführer in Guatemala oder in der Sonne Portugals dösender Hunde, bizarre Nächte in Blackpool oder Tokio: Christian Schüle, Philosoph, Reisender, Flaneur und Wanderer, verbindet persönliche Erlebnisse beim Erkunden der Welt mit Reflexionen darüber, wie und warum das Fremde und Ferne ein so vorzügliches Mittel ist, sich selbst zu erkennen und die Welt wie die Zeit anders zu erleben. Sein ebenso faszinierendes wie inspirierendes Buch ist literarischer Roadtrip und philosophische Suche nach dem Sinn des Reisens zugleich.

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Seitenzahl: 337

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Zum Buch

Die Schönheit alter Pilgerwege in Norwegen oder unbeleuchteter Gassen in Kairo, die Leichtigkeit Sandalen tragender Bergführer in Guatemala oder in der Sonne Portugals dösender Hunde, bizarre Nächte in Blackpool oder Tokio: Christian Schüle, Philosoph, Reisender, Flaneur und Wanderer, verbindet persönliche Erlebnisse beim Erkunden der Welt mit Reflexionen darüber, wie und warum das Fremde und Ferne ein so vorzügliches Mittel ist, sich selbst zu erkennen und die Welt wie die Zeit anders zu erleben. Sein ebenso faszinierendes wie inspirierendes Buch ist literarischer Roadtrip und philosophische Suche nach dem Sinn des Reisens zugleich.

Zum Autor

Christian Schüle, geboren 1970, ist Philosoph, freier Autor, Essayist und Publizist. Er schrieb für National Geographic und GEO; seine Essays, Feuilletons und Reportagen erscheinen u. a. in ZEIT, mare, Deutschlandfunk und Bayerischer Rundfunk und wurden vielfach ausgezeichnet. Seit 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er hat eine Reihe viel diskutierter und markanter Debattenbücher zu aktuellen Themen veröffentlicht, von Deutschlandvermessung bis zuletzt In der Kampfzone: Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung. Wenn er nicht in der Welt unterwegs ist, lebt er in Hamburg und München.

Besuchen Sie uns auf www.siedler-verlag.de

CHRISTIAN SCHÜLE

VOM GLÜCK, UNTERWEGS ZU SEIN

Warum wir das Reisen lieben und brauchen

Siedler

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Copyright ©.2022 by Siedler Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: © IMAGO / Addictive Stock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23731-8V002

www.siedler-verlag.de

»Werde, der du bist.«

Pindar, Pythische Oden

»Wie man wird, was man ist.«

Friedrich Nietzsche, Ecce homo

INHALT

PROLOG – Von der Kunst, sich einzulassen

I. ZEITUNDZUFALL

Schule der Irrealität durch spätes Erwachen

Schule der Wahrnehmung durch lange Weile

Schule der Gelassenheit durch Zeitverlust

Schule der Bildung durch das Unvorhersehbare

Schule der Geborgenheit durch das Unendliche

Schule der Demut durch die Macht des Meeres

Schule der Mehrdeutigkeit in der Hitze der Nacht

II. WISSENUNDWEISHEIT

Erkenntnis von der Macht der Nostalgie

Erkenntnis vom Sinn der Geschichte

Erkenntnis vom Triumph des Traums

Erkenntnis von der Weisheit durch Unwissen

Erkenntnis von der Harmonie im Chaos

Erkenntnis vom Scheitern als Sinn der Sehnsucht

Erkenntnis von der Umkehr durch Magie

Erkenntnis von der Eroberung des Eroberers

Erkenntnis vom Irrsinn des Banalen

Erkenntnis vom Schutz durch höhere Mächte

Erkenntnis vom Glück, unterwegs zu sein

III. MORALUND ­MENSCHLICHKEIT

Lehre vom Respekt vor dem Alter

Lehre vom Verhängnis der ewigen Liebe

Lehre von der Ohnmacht der Moral

Lehre von der List der Lüge

Lehre von der Rebellion durch Handschlag

Lehre vom Wert der Werte

Lehre vom Geschenk der Geste

Lehre von der Lüge aus Liebe

EPILOG – Kurze Philosophie der Versöhnung

PROLOG

Von der Kunst, sich einzulassen

So gut wie immer komme ich von einer Reise zurück und bin versöhnt. Versöhnt mit mir und der Welt, obwohl es zwischen uns gar keinen Streit gegeben hat. Mehr noch: Ich bin auf faszinierende Art verstört, weil ich jedes Mal aufs Neue das erfüllende Gefühl habe, bei einer Reise in mir unbekannte Länder und Regionen auf listige Weise geschult worden zu sein. Geschult? Ja, im Sinne einer Schulung nicht nur der sinnlichen Wahrnehmung dessen, was sich vorfinden lässt – all der herrlichen Nebensächlichkeiten, die einem widerfahren –, sondern einer Schulung in mehreren Disziplinen des Lebens zugleich: in Sittlichkeit, Geborgenheit und Gelassenheit, im Glauben an den guten Gang der Dinge und an ein Wissen, das sich vielleicht schon im Einzugsbereich einer künftigen Weisheit befinden mag, als solche aber noch nicht erkannt ist. Ich fühle mich geschult durch die Lehre von Moral und Menschlichkeit und die Erkenntnis von Liebe, Lüge und Tragik. Und was die Listigkeit betrifft: All das geschieht ohne meinen erklärten Willen. Es geschieht durch sich selbst. In Hinsicht auf Versöhnung und Schulung ist es völlig einerlei, ob man in die Dörfer des Alentejo, in die Weiten der kasachischen Steppe, in die Waldeinsamkeit Nordschwedens, zu den Geysiren Kamtschatkas, an den Fuß des ostanatolischen Bergs Ararat, an die mecklenburgische Seenplatte, ins Epizentrum der Megacity Lagos oder an die Gestade der Seychellen reist.

Obwohl ich meiner Erinnerung nach also nie im Hader oder Unfrieden mit der Welt aufgebrochen bin, komme ich versöhnt und verstört zugleich zurück, weil ich das Gefühl habe, mehr als je zuvor begriffen zu haben und nicht sagen zu können, worin genau der Mehrwert besteht. Ohne dass ich es merke, hat mich das Reisen zu der Überzeugung verführt, etwas Wesentliches verstanden zu haben, ohne zu verstehen, was dieses Wesentliche ist. Ich könnte keineswegs behaupten, dass sich dieses Verstehen willkürlich wiederholen ließe. Was sich hingegen immerzu wiederholt, ist die Erfahrung der lebens­bejahenden Erhabenheit: Es ist, wie es ist, und es war gut so, wie es war.

Die Schule des Reisens pflegt eine subtile, aber einflussreiche Pädagogik, und die Versöhnung mit der unbekannten Welt, so finde ich bis heute, liefert das kostbare Wohlgefühl, mit sich selbst im Frieden zu sein, da das Leben bekanntlich keineswegs immer erfreulich und friedvoll ist. Schenkt einem das Reisen nicht die dafür wichtigsten Fähigkeiten in einer Art Vorleistung, die der Reisende dann mit guter Lebensführung begleicht?

Ich lobe an dieser Stelle die Wette aus, dass sich das Glück, unterwegs zu sein, letztlich als Liebe identifizieren wird: zum Leben an sich, zu den Details, Dezimalen und Differenzen, zum Unbedeutenden, Unspektakulären und Unbedarften, zu den Landschaften, Tieren und Menschen, die überall so großartig wie fehlbar sind, ja, als Liebe zur Wirklichkeit, wie sie ist: schamlos, brutal, gemein, rührend, ergreifend, erregend, verblüffend, poetisch, bisweilen hässlich und meist überwältigend schön. Deshalb ist das Reisen jedes Mal aufs Neue die stets wiederentfachte Bereitschaft zur Neugier auf das, was der Fall ist. Deshalb lieben und brauchen wir es. Wer reist, der sucht. Was? Das Andere. Das Fremde. Und sich selbst.

Wer die Welt nicht aufsucht, wird sich nicht finden.

Wer nicht anschaut, was der Fall ist, wird das Andere nicht erkennen.

Wer vom Anderen nichts weiß, weiß nichts von sich.

Wer vom Anderen und von sich nichts wissen will, ist vermutlich borniert.

Wer aber durch Wissen und Weisheit sich selbst auf die Schliche kommt, könnte zu höherer Erkenntnis befähigt sein.

Warum? Weil die Bereisung der Welt lehrt, dass jeder Mensch überall er selbst und zugleich ein Fremder ist.

Weil man versteht, dass leibhaftige Erfahrung in Zeiten digitaler Ablenkung ein vorzügliches Medium der Selbst­erkenntnis ist.

Weil Reisen das Bewusstsein von der erlebten Welt gegen die vermeintliche Ahnung über die Welt in Szene setzt.

Und weil der Reisende nach der Rückkehr verstanden haben wird, dass er durch die Magie des Moments mit der Wirklichkeit versöhnt ist.

I. ZEIT UND ZUFALL

Schule der Irrealität durch spätes Erwachen

Einmal stand ich nachts um drei in Kairo und traute der Realität nicht mehr. Die Maschine der Bulgarian Airlines war via Sofia in der ägyptischen Hauptstadt angekommen, schwitzend und übermüdet schleppten wir uns, mein Kumpel Peter und ich, in ein herangewinktes Taxi und erwarteten eine stille Fahrt durch unbeseelte Vororte Richtung Zentrum. Wie immer spekulierten wir auf das unverschämte Glück, spontane Gäste eines Hotels zu werden, von dessen Existenz wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts wussten. Sich nachts in die Fremde einzuschleichen, erlaubt dem wachsamen Geist, einer Verletzlichkeit nachzuspüren, die der umtoste Tag nicht zulässt. In der Nacht gibt sich eine Stadt sich selbst hin. Sie ist auf rührende Art wehrlos, und das wissen neben Reisenden natürlich auch Diebe, Terroristen und Menschenhändler, was zusammengenommen eine denkwürdige Sippe ergibt, weshalb Hingabe an die Stadt in der Nacht aber keineswegs falsch ist.

Was immer nachts um drei passiert oder nicht – maßgeblich für die ersten zart geknüpften Bande zwischen dem orts­fremden Besucher und dem ihm fremden Ort ist die Tönung der Dunkelheit. Immer wieder habe ich die heimliche, manchmal subversive Einflussnahme des Lichts auf meine Stimmung festgestellt. Pauschal gesprochen lautet die Erkenntnis: Der Mensch hat ein anderes Ichgefühl, wenn Straßenlaternen heliumgelb statt halogengrell sind. Es zeitigt Folgen für die Grammatik der Geborgenheit, ob diese Laternen einander im Abstand von drei oder von dreißig Metern folgen. Und es ist keineswegs einerlei, ob sie akkurat aufgestellt und mit Sinn und Verstand gereiht wurden oder einfach da stehen, wo sie stehen, weil es genügt, dass sie dort stehen, wo sie stehen, da kein Grund ersichtlich ist, dass sie woanders stünden. Und wenn es nicht genügte, wäre es auch egal, wen kümmert’s, wo Laternen stehen, wenn sie nur Licht geben!

Nein, so einfach ist es dann doch nicht, denn neben den manchmal sensationellen Gerüchen der Luft, der Beschaffenheit des Bodens und der Häuserwände ist die entscheidende Frage, wie viel Mondlicht eine Stadt jenseits ihrer Laternenbeleuchtung zulässt. Hat der Mond, steht er etwa über Kairo, einen anderen Effekt als über dem weitgehend lichtlosen Dorf Deadhorse bei minus 30 Grad in Alaska? Ist er eine mystischere Instanz, wenn er über dem nachts hypernervös illuminierten Tokio oder einer dauerdämmernden Siedlung ohne Namen in Sibirien aufgeht? Obwohl es immer derselbe Mond ist, scheint er in jeder Stadt, in jedem Dorf, in jeder Gegend der Welt anders. Die Wirkung künstlichen Lichts ist abhängig von Feuchte, Salzhaltigkeit und dem Grad an Luftverstaubung. Die Melancholiebefähigung des Mondes wiederum ist abhängig vom künstlichen Licht.

Unser Taxi nahm die Einfallstraße vom Kairoer ­Flughafen Richtung Zentrum und kam nach einer halben Stunde in ein dicht besiedeltes Viertel mit großspurig ineinander verschachtelten Gebäuden, die im Vergleich zu den anderen verschachtelten Gebäuden nebenan keine Unterschiede zuließen. Laternen standen kreuz und quer, die Leitungskabel hingen durch, das Licht war diffus. Der Fahrer bremste einmal scharf und rollte in Schrittgeschwindigkeit weiter. In den Gassen herrschte nokturner Trubel. Gefühlt Millionen Menschen. Die allgemeine Heiterkeit setzte Noradrenalin in meiner Neben­niere frei und lehrte mich für immer, was mit dem Wort »Schlaflosigkeit« gemeint ist. Wer nachts um drei in Kairo ankommt, hat zwar jedes Recht auf Erschöpfung, sich ihr aber hinzugeben macht keinerlei Sinn. Müdigkeit ist nur so lange langweilig, bis die Übermüdung sich selbst übervorteilt, und das war es dann mit Schlaf und Ruhe.

Wir checkten in das nächste Ein-Stern-Hotel ein, warfen die Rucksäcke aufs Bett und traten auf die Straße hinaus. Wenige Minuten später, es war weit nach Mitternacht, saßen wir todmüde und hellwach zugleich auf Klappstühlen an einem Klapptisch und spielten, von umstehenden Männern freundlich studiert, in geradezu grotesker Vertrautheit Backgammon mit Menschen, deren Anwesenheit in der Welt eine Minute vor diesem Moment unvorstellbar war. Spiel folgte auf Spiel, als duellierte man sich seit Jahren, ehe uns – mehrere Niederlagen großmütig akzeptierend und quasi zur Belohnung unserer taktischer Finessen – der in etwa gleichaltrige Mustafa in den Parfümshop seines Onkels einlud. In einem auf den ersten Blick schäbigen Gebäude eröffnete sich ein beeindruckend geräumiger Verkaufsraum mit poliertem Marmorboden und zahlreichen Vitrinen, in denen Flakons und Fläschchen aufgereiht waren. Ein schmaler Gang schloss sich an, dahinter kam ein Lagerraum, es folgte ein Durchgang, dann noch einer, dann eine kleiderkammerkleine Küche, dahinter ging es auf eine unbeleuchtete Gasse, Gewimmel, Gewirr, Mensch, Tier und ein Teehaus zwischen Tür und ­Angel. Natürlich hätte es ein billiger Trick sein können, die von ihrer überdrehten Wachheit überwältigten Besucher zum Erwerb jener exquisiten Essenzen zu verleiten, die Mustafas Onkel – zweifelsohne ein wohlhabender Blumenfeldbesitzer – außerhalb der Stadt in großen Mengen herstellen ließ. Und insofern hätten das Backgammonspiel und die womöglich absichtlich herbeigeführten Niederlagen die kalkulierte Ouvertüre zur Eroberung unerfahrener Touristen gewesen sein können, die in der Hingerissenheit der ersten Nacht in Kairo mehr Fläschchen Opium- oder Moschusessenzen kaufen würden, als man für das hundertjährige Leben einer verehrten Frau je bräuchte.

Stattdessen wurden wir brüderlich umarmt, bot man uns Hocker, Fladenbrot und Tee mit Milch an, und als gegen sieben Uhr früh der Tag in die Gänge kam, verschwanden die Menschen von der Straße, und wir pennten auf Mustafas Couch, bis der Muezzin zum Vorabendgebet rief.

Reisende wissen nicht immer, wie sie wohin gekommen sind, aber wenn sie zum Beispiel um 18 Uhr mitten in Kairo aufwachen, können sie zwischen Kunst- und Mondlicht, zwischen Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden. Im Zwischenreich des irreal Realen aber ist dem Glück der Selbst­erkenntnis längst die Spur bereitet.

Das heißt nun keinesfalls, dass Selbsterkenntnis nicht auch schon vorher glückt. Und ebenso wenig heißt es, dass sie ausschließlich nur auf Reisen nach Kairo gelingt. Es heißt aber sehr wohl, zumindest für mich, dass Selbsterkenntnis wesentlich mit Weltkenntnis verbunden ist. Ich zähle das Heureka!, diesen Jubelruf des Verstandes angesichts unwillkürlich einschießender Erkenntnis, zu den erhabenen Glücksmomenten des Lebens: sich mit scharf gestellter Linse an jene Momente erinnern zu können, da man etwas zu verstehen begann, da man begriffen zu haben glaubte, dass Welt mehr ist als nur materielle Erde, da man zum Reisenden in der Welt wurde, was keineswegs allein durch einen Urlaub im Ausland gelingt, wobei Urlaub etwas ganz Verzückendes ist. Urlaub ist immer schon Angekommen-Sein, Reisen immer Auf-dem-Weg-Sein. Wer reist, kommt gerade deswegen nicht an, weil er reist. Ein Reisender urlaubt so wenig wie ein Urlauber reist.

Jede Reise beginnt lange vor dem Aufbruch, wie jede wahre Reise bereits vor der Abreise anfängt. Einst saß ich zum Beispiel im Wohnzimmer meines Elternhauses, über dreißig Jahre ist es her, da erfasste mich, gerade noch Teenager, ein seltsamer, aber hinreißender Sog mit einem für mich neuen, aus dem Ungewissen strömenden und ins Unbestimmte drängenden Gefühl. Es war ein überfallartiges Bedürfnis nach Fremdheit, nach bisher ungehörten Tönen und Stimmen, nach nicht vorstellbaren Gerüchen, Düften und Aromen, von denen – man sollte es keinesfalls weniger pathetisch sagen – mindestens eine Verzauberung ausgehen würde. Wie kommt ein solch bedrängendes, verstörend reizvolles Bedürfnis nach einer ganz anderen Sinnlichkeit und Sittlichkeit zustande? Als hätte man sich Reiselust zugezogen wie eine seelische Infektion samt Körperkribbeln, eine leib-seelische Nervosität, die man zeitlebens nicht mehr los wird, kehrt die Erinnerung, ob man will oder nicht, immer wieder zurück: an Orte, Momente und Menschen, die sich überfallartig in den Ich-Entwurf eingeschleust haben, ohne dass die eigene Biografie dies je in Auftrag gegeben hätte. In meinem ganz persönlichen Fall könnte es damit zu tun haben, dass ich als Kind lieber Abenteurergeschichten als Comics gelesen habe, dass ich in einer Gegend Süddeutschlands aufgewachsen bin, in der man stundenlang über sanft gewellte Hügel fahren und sich der Tagträumerei hingeben konnte, man glitte über Wiesen und Seen geradezu direkt in fernste Bergwelten hinein, in eine Gegend voller Lieblichkeit, mit Bächen, Wäldern und Auen im Überfluss, vor der Nase immer ein von der Sonne gewärmter See als Tatbestand einer täglich erlebbaren Topografie des Schönen. Ein Panorama, um es kurz zu machen, das wie ein universelles Passepartout hinreichend viele Landschaftsmöglichkeiten der Welt in sich vereint.

Merkwürdig, dass die poetische Kraft der Region, in der sich die eigene Kindheit abspielt, dazu verführt, sie irgendwann für eine womöglich derbe Welt geradezu leichtsinnig verlassen zu wollen. Jeder, der die Kraft von Märchen kennt, diesen Restbestand magischen Denkens in der durchrationalisierten Lebenswelt, wird durch die Lektüre in alternativer Weltwahrnehmung geschult. Das noch weitgehend ungehinderte Einbildungsvermögen des Kindes ist in der Lage, im Wald hinter der eigenen Siedlung den König Artus in sich zu entdecken, den Trapper in sich zu finden, den legendäres Land erkundenden Eroberer, den Entdecker und Forschungsreisenden in sich aufzuspüren. Je vertrauter die Heimat, desto freier entfaltet sich die Sehnsucht nach dem Anderen in der Fremde, ohne dass eine klar konturierte Vorstellung davon zur Verfügung stünde, wo in der realen Welt dieses Andere genau zu finden wäre. Spielt man den Aufbruch nicht immer wieder einmal durch? Träumt man sich nicht immer mal fort in Steppen, auf Almen oder in Karste, von denen man gelesen, die man in Fernsehbeiträgen oder Kinofilmen gesehen hat? Und ist man nicht längst schon aufgebrochen, bevor man zum ersten Mal in ein fremdes Land einreist?

Ich saß also im Wohnzimmer und sah mich durch sumpfartiges Gelände stapfen, und durch die zur Seite gedrückten Schilfpflanzen an einem kleinen See erkannte ich ein Boot. Es mag sein, dass diese Bilder seit jeher unbewusst im Gedächtnispalast meines Gehirns lagerten und durch irgendeinen Reiz oder Trigger unwillkürlich abgerufen wurden. Was auch immer es war: Jahre nach meinen Kinderträumen stand ich einmal am Ufer eines kleinen Sees im rumänischen Donaudelta, dessen Existenz für mich bis dahin undenkbar war. Eroberer oder Expediteure der British Geographic ­Society hätten sich hier durchs Pflanzendickicht schlagen können, und ich tat es nun ebenso, leise, vorsichtig, geradezu behutsam, um zu sehen, was hinterm Horizont aufscheinen würde, als plötzlich ein junger Pferdetreiber vor mir stand. Kann man sich mein Staunen vorstellen? In diesem Moment schien nicht nur alles möglich, sondern war alles auch ungewiss – immerhin war ich hinreichend perplex. Intuitiv rüstete sich mein Körper zur Kampfbereitschaft, denn nichts war geklärt oder vorbedacht, kein Fluchtweg, kein Ausweg, kein Rückweg. Das Gelände war unübersichtlich, ein wenig grob und rau, weder gab es Häuser noch Laternen noch Geborgenheit, und aus dem Delta quoll eine gigantische anthrazitfarbene Rauchwolke empor und nahm mir den Atem. Hier war es, das Andere, und es war auf ganz andere Weise anders, als ich gedacht hatte.

Ein kurzes Schweigen später saß ich in einer Wellblechhütte auf einem Schemel, und der junge Pferdetreiber, dessen Namen ich bis heute nicht kenne, brühte auf einer mit zwei Drähten kurzgeschlossenen Eisenplatte tiefschwarzen Kaffee auf, dessen Pulver er in einer Dose aufbewahrte, in der ebenso ausgegrabene byzantinische Münzen oder Kieferknochen urweltlicher Echsen hätten verwahrt sein können. Keine Sprache, keine Grammatik, nicht ein einziges Wort war in der Lage, uns Verständigung zu ermöglichen, und doch blieb ich Stunden sitzen, und doch verstanden wir einander. Er zeigte mir gefundene Gegenstände, tätschelte den Kopf seines Pferdes, das durch die offene Tür in die Hütte lugte, und gab mir, als vertraute er dem Fremden das Wichtigste auf Erden an, den um den Hals des Tieres liegenden Strick in die Hand. Immer wieder brühte er neues Pulver auf. Schwenkte. Goss. Trank. Wir schlürften den Kaffee und sprachen im Schweigen, und als es dämmerte, führte er mich zum Fluss. Ein Fischerboot ohne Fischer trieb auf dem Wasser, während sich im Hintergrund das Feuer immer weiter durchs Schilf fraß. Die Luft war geräuchert und nur um den Preis von Hustenattacken in die Lungen zu holen. Hinter dem See lag eine steppenartige Fläche, und irgendwann blieben wir stehen und wussten, was kommen würde. Wortlos trennten wir uns und begegneten uns nie wieder. Ich aber sah, wie der Pferdetreiber ins Donaudelta ging, sein Pferd am Strick führend, und bis heute steht mir sein Gesicht vor Augen. Ich sehe die Traurigkeit, die sein Blick hatte, die melancholisch umflorte Sehnsucht nach dem Anderen oder Vergangenen oder Verlorenen, und wenn ich an ihn denke – und das tue ich öfter als vermutet –, überkommt mich die Ahnung, damals etwas Großes begriffen zu haben, ohne dass irgendetwas groß oder greifbar gewesen wäre.

All das war in kurzer Zeit geschehen, da ich über ein paar Stunden hinweg in der biblisch anmutenden Hütte im Hinterhalt eines brennenden Flusses ungeheuren Frieden erfuhr, und die Einsamkeit des Pferdetreibers, der mir wie ein alttestamentlicher Eremit vorkam, strahlte eine Seligkeit aus, als hätte dieser junge Mann das sagenhafte Glück gehabt, aus einer Zeit gefallen zu sein, von der er vielleicht nichts wusste.

Übrigens: Vor dreißig Jahren hatten wir, die damals heranwuchsen und zu ersten Reisen aufbrachen, zwei Privilegien. Erstens hatten wir das historische Glück, dass die sich öffnende Welt noch nicht in ihre Erschöpfung hinein erobert war – obwohl immer schon und immer intensiver gereist wurde. Aber Nischen, Gassen und Winkel waren noch nicht vom kosmischen Glaskörper des virtuellen Big-Brother-­Auges erfasst, das sich per Google Earth in die kleinste Ecke versenkt und jeden Millimeter Welt in jedes Wohnzimmer mit Internetanschluss auf irgendeinen Monitor zoomt. Zweifelsohne bringt technologischer Fortschritt Großartiges zustande: Er perfektioniert Bequemlichkeit, steigert Benutzerfreundlichkeit, beschleunigt Prozesse, besorgt Vereinfachung und verschönert das Design, ja, aber er kann auch zur hinterhältigen Illusion führen, die Welt mittels Scrollen und Klicken am heimischen Wohnzimmertisch bereits verstanden zu haben, noch ehe man einen Fuß auf unbekanntes Terrain setzt. Bildschirme haben bekanntlich exzellente Oberflächen, aber geringe Tiefe.

Und dann, zweites Privileg, stand die noch nicht eroberte Welt uns selbst offen, wie natürlich die Welt jedem jungen Menschen immer offen steht, wenn sie oder er sich aufmachen, Terra incognita, das unbekannte Gebiet hinter den Horizonten, reisend zu erfahren. Damals war der herrlich naive Glaube an eine Zukunft in Frieden womöglich unversehrter als davor oder danach. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, der bereits begonnenen Globalisierung und den Schengener Abkommen bemühten sich ab 1990 alle Arten von stationären und inneren Grenzen, still und leise zu verschwinden. Der implodierte Osten öffnete sich vorsichtig, er wurde bereisbar, besichtigbar und dadurch gewiss auch verletzbar, eine Einladung in den Raum einer ganz anderen Mythologie, nebenan, in Gestalt von Greifswald, Krakau, Český Krumlov oder Bratislava. Im Zuge zunehmender Verwestlichung polierte der Osten seine Fassaden, und die Klagen über die damals begonnene Imitation des einstigen Klassenfeinds und die empfundene Preisgabe eigener Identität haben – je nach politischer Haltung – heute wahlweise größere oder kleinere Berechtigung.

Jedenfalls schien zu Ende der 1980er und Anfang der 1990er ein paar Jahre lang die Zuversicht für künftige Prosperität und Friedfertigkeit durch keinerlei Pessimismus manipulierbar zu sein. Die Hoffnung teilte dem, der ihre Stimme hören wollte, eine frohe Botschaft mit: Im Aufbruch liegt die Freiheit! Also jobbte ich im Supermarkt meiner Heimatstadt und schleppte Sprudelkästen, um mir das Ticket für jene erste Reise per Inter­rail nach Venedig, Florenz, Rom, Avignon und Barcelona selbstständig zu verdienen, zu der ich – Paletten stapelnd und Dosen einräumend – in meinen Tagträumen längst aufgebrochen war.

Eine Reise beginnt weder damit, den Fuß auf fremdes Territorium zu setzen noch die erste Böe feuchtheißer Luft zu verschlucken. Sie beginnt auch nicht damit, Rucksack, Seesack oder Koffer zu packen, zum Flughafen zu fahren, zum Check-in-Schalter zu marschieren und in Erwartung der Boardkarte mit dem eingekreisten Abfluggate das Bodenpersonal anzustrahlen. Eine Reise beginnt in dem Moment, da man sich entscheidet, sie zu machen. Sie beginnt mit wochen-, manchmal monatelanger Vorfreude und verstärkt sich in dem Maße, indem man über sie spricht: wenn man Freunden, Eltern und Geschwistern Pläne und Routen mitteilt, die Worte Swanetien, Kamtschatka oder Yucatán fallen lässt, opulente, schöne, teils berauschend fremde Namen, in denen das Versprechen auf eine Sensation mitschwingt. Ihr Klang ruft Bilder und Ideen auf, hier- wie dorthin auf dem Dach eines Busses zu gelangen, im überfüllten Abteil eines Dampfzugs, mit dem gangschaltungslosen Fahrrad gegen ozeanische Böen, auf der Ladefläche eines Pick-ups, auf dem Rücken eines duldsamen Esels oder zu Fuß durch Wüsten und Wälder, irgendwie eben, aber genau dieses Irgend ist ja entscheidend, während das Wie völlig egal ist, der sonst so gezähmten Einbildungskraft aber gestattet, durchzudrehen, geradezu auszutillen, irgendwie und irgendwo, wenn alles denkbar, machbar, durchführbar und in Kürze erlebbar zu werden scheint. Und dann, in jenem Moment, da schließlich der Reisepass mit dem Visum im analogen oder digitalen Briefkasten liegt und alle Formalitäten geklärt sind, holt man nach, was sich im Geiste längst zu liebevollem Begehren gestaut hat.

Heißt das nun, dass jeder Reise eine Initiation vorausgeht, die wichtiger ist als die Destination? Und bedeutet es, dass der Ort als Ort einerlei ist, weil nicht er das Ziel ist, sondern im Gegenteil ja die Unabhängigkeit von ihm? Diesbezüglich denken die Menschen höchst unterschiedlich. Die einen werden im Aufbruch das Aufbrechen als solches feiern. Im Hinterkopf der anderen mag seit Langem ein bestimmter Ort überwintern, zu dem sie sommers einmal gereist waren, weshalb sie die Erstreise rituell wiederholen wollen, weil das Glück nur in der Wiederholung wahrhaftig wird. Dritte lassen sich von ihrer unerklärlichen Neigung zu einem Kulturkreis, einer Sprache oder spezifischen Landschaft leiten und brechen auf, um möglichst schnell exakt dort anzukommen. Jede und jeder wird auf ihre und seine Weise erfühlen oder begründen können, warum es unter Abertausenden Destinationen die thailändischen Ko-Phi-Phi-Inseln, die taiwanesische Taroko-Schlucht, Aruba, Bhutan, Fudschaira, der Ural, Swasiland, ­Seattle, die Sächsische Schweiz oder Split sein muss.

Vermutlich hat die Lust zum Aufbruch mit der Freude an der Rückkehr zu tun. Zwischen meinem ersten Aufbruch in die Fremde und diverser Rückkehren aus ihr liegt die Erkenntnisarbeit eines halben Lebens, das gelernt hat, sich, abgesehen von der Neugier, einer weiteren Großmacht zu verschreiben: dem Zufall. Zufall hat wesentlich mit Glück zu tun und das Glück des Zufalls wesentlich mit Zeit. Und wie immer beginnt jede Vollstreckung des Zufalls in der Zeit mit der Frage aller Fragen: Wohin geht eigentlich der Mensch?

Schule der Wahrnehmung durch lange Weile

Einmal stand ich auf dem Dorfplatz von Comporta und nichts geschah. Und danach? Immer noch nichts. Und dann? Kein bisschen mehr als nichts. Und dann? Man saß. Man wartete. Und dann? Stand man auf. Und dann? Ging man hinüber. Und drüben? Saß man. Und dann? Stand man auf. Und ging weiter oder zurück oder all das auch nicht. Und dann?

Saß der Alte mit den Krücken vor dem Haus, das früher einmal das Restaurant O Hexágono war, und pulte in den Zähnen. Das Haus war eine Ruine. Drei Hühner trotteten über die Straße, im Hinterhof moserte ihr Hahn. In der Luft hing das Aroma von Pinienharz und Knoblauch, es war 9 Uhr und hätte auch 19 Uhr sein können. Minuten, Stunden, Tage vergingen, als seien sie längst vergangen, im Verlauf einer Zeit, die nichts weiter als eine Behauptung zu sein schien in Comporta, Portugal, 1276 Einwohner, dreihundert Sonnentage im Jahr, fünf Minuten vom Atlantik entfernt, Nester auf Dächern, Nester auf Kaminöffnungen, Nester auf Leitungsmasten. Plötzlich fiel ein Schatten auf den Asphalt, ausladend und prächtig, ein auf- und abschwingender, höchst lebendiger, nahezu bedrohlicher, der bald kleiner wurde und verschwand. Oben raschelte es, unten schlugen Zweige auf, und im Nest auf dem Dach des O Hexágono, vor dessen Tür der Alte nun stand und mit dem Finger an seinen Zähnen rieb, landete ein gigantischer Storch. Sekunden später war es still. Nichts raschelte, kein Flügel drückte die Luft zu Boden. Man saß und wartete und vergaß erst die Störche und dann sich. Nichts weiter geschah. Die Sonne regelte, was sonst die Uhr übernimmt. Heute würde morgen gestern sein, na und? Was tut Zeit zur Sache? Was überhaupt ist Zeit, während die Sache doch klar ist: Nichts passiert und alles geschieht?

Licht und Schatten, tagaus, tagein. Ältere und Alte waren Kronzeugen der Ereignislosigkeit. Sie saßen auf Mauern und Bänken und beobachteten still und keinesfalls heimlich und taten den gesamten Tag nichts anderes als sitzen und beobachten, still, aber nicht heimlich. Welche Sache geschah zwischen Nichts und Nichtstun, während ein Spaltbreit Sonne in die Gassen fiel? Viel mehr als keine. Eine Hundedame nämlich hinkte über die Straße und wurde vorstellig. Der Aufwand, den sie trieb, kam einem Spektakel gleich. Sie sah nach, was geht, ihre Zitzen waren lang. Ging was? Nein, hier ging nichts. Ging drüben was? Genauso nichts. Da drehte das Tier ab, die Gasse lag bereits im Schattenschlummer. So war und ist das in Comporta und wird es immer sein: Hinkt der eine Hund, bleibt der andere ungerührt liegen. Und dann wurde es dunkel.

Inzwischen saß der Alte auf einer Bank gegenüber der ­Ruine. Und wie es sich gehört, querte irgendwann eine schwarze Katze die Rua das Amoreiras. Das konnte Gründe haben, musste aber nicht. Und in diesem Moment geschah alles, obwohl nichts ging.

Spätestens seit meiner zufälligen Erfahrung des herrlichen Verlusts von Zeit in Comporta (womöglich aber schon viel länger) hat mich das Verhältnis von Zeit und Zufall und der Einfluss von beidem auf die Erkenntnis meiner selbst beeinflusst. Und seit Comporta (womöglich aber schon länger) wage ich zu sagen, dass Zeit im Eigentlichen unerheblich ist. Ihre Macht besteht allein in der Übereinkunft der Menschen, sich ihr zu unterwerfen. In erster Linie bedeutet Zeit ja Mangel. Zeit verweist auf das ständige Defizit, keine zu haben. Zeit ist Ausdruck der Erkenntnis, grundsätzlich zu wenig oder zu wenig qualitative Zeit zu haben, während die Lebenszeit dahinrast und abläuft und im Tod nichts anderes als nur noch absolute Zeitlosigkeit sein wird. Erfreulich ist das nicht, bis auf weiteres aber unvermeidbar.

Zeit zur Taktgeberin des Lebens zu machen, heißt ja auch, das Leben immerzu nach vorne, in den Verlauf der kommenden Zeit hinein zu entwerfen. Maßgeblich ist dann nur noch, was als nächstes kommt: die kommende Zeit, die man »Zukunft« nennt, worüber die Gegenwart gern vergessen wird – der kostbare Moment Gegenwärtigkeit, der manchmal nur einen Wimpernschlag dauert, ehe ihn sich die Vergangenheit einverleibt und zur Erinnerung freigibt. Geschult durch den immensen Verlust von Zeit auf vielen Reisen behaupte ich: Je mehr Rücksicht der Mensch auf Zeit nimmt, desto weniger Rücksicht nimmt die Zeit auf den Menschen. Zeit ist eine kaltherzige Regentin. Ihr Gegenspieler ist der Zufall. Ist man bei klarem Verstand, hebelt er die Zeit aus und übernimmt die Macht. Zufall ist der souveränste Akteur des Widerstands gegen die Zeit.

Nichts bringt ja größere Verblüffung hervor als die eigene Ratlosigkeit angesichts der Frage: Warum kommt, was kommen soll, gerade jetzt nicht? Man müsste die Verwunderung mit einer Gegenfrage herausfordern: Was brächte es denn, den Grund dafür zu wissen, dass etwas, selbst wenn es angekündigt war, nicht kommt, da das, was kommen soll, mit oder ohne Grund ohnehin nicht kommt? Womöglich gibt es keine Gründe. Vielleicht sind Gründe die Erfindung eines welthistorisch einflussreichen Geistes, der die Neigung der Realität zur Grundlosigkeit nicht aushalten konnte. Eingebrockt hat der aufgeklärten Menschheit das Verhältnis von Grund, Zeit und Verstand zuletzt der einflussreiche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, der im Jahre 1714 die antike Weisheit zum Prinzip aller Vernunft erkor: »Nihil est sine ratione« – zu deutsch: Nichts geschieht ohne zureichenden Grund. Bekanntlich hat der auf die Kausalität von Grund und Folge geeichte europäische Verstand manchmal Schwierigkeiten mit Märchen, Mythen und Mystik, will sagen: mit dem nicht Erklärbaren, dem Verrätselten und Verzauberten. Begründung, Rechenschaft und Kontrolle sind die Vektoren eines Lebensmodells, das sich – mit zureichendem Grund übrigens – als logisch und weltschöpfend versteht. Es huldigt der Effizienz und hat zweifelsohne zu genialer Technologie und unerhörtem Wohlstand geführt.

Reisen hingegen folgt einer ganz anderen Art Gesetz­mäßigkeit.

Auf Reisen hat nichts einen Grund, aber alles einen Anlass. Die Reise ist der Grund ihrer selbst. Die Leibniz’sche Sentenz vom zureichenden Grund bringt einem in Zentralguatemala zum Beispiel rein gar nichts. In den von Wäldern eingefassten Dörfern kann den Verstand des durchgeplanten und durchplanenden Individualisten die Unfähigkeit, scheinbar sinnlose Duldsamkeit aufbringen zu müssen, in den Irrsinn treiben. Vornehmlich angesichts eines angekündigten Busses, der nicht fährt. Nein, falsch, der gar nicht erst kommt. Der nicht kommt, obwohl der durchaus höfliche Ticketverkäufer in seinem Häuschen klar und deutlich gesagt hat, der Bus in die nächstgrößere Stadt komme in einer Stunde. Der Mann lügt ja nicht, er vertraut auf etwas Höheres als den Fahrplan. Aber Fakt ist: Der Bus kommt nach einer Stunde nicht. Da verspricht der Ticketverkäufer die Abfahrt des Busses in zwei Stunden, weil ihm das gerade irgendjemand zugeflüstert hat. Nach drei Stunden sagt der Ticketverkäufer, der Bus komme in weiteren vier. Nach fünf Stunden meint er sicher sagen zu können, der Bus komme heute gar nicht mehr. Er schließt sein Tickethäuschen und geht nach Hause.

Schule der Gelassenheit durch Zeitverlust

Einmal stand ich im Regenwald von Guatemala und kam nicht mehr vom Fleck. Für den Moment ließ sich feststellen, dass ich mein Herz nicht mehr schlagen spürte, weil es bereits trommelte. Es tat weit mehr, als es meiner Ansicht nach gemusst hätte, denn ich selbst tat nichts außer Warten. Der Muskel in der Brust kontrahierte nicht im Rhythmus, der sich gehörte, und offenbar war mein Herz außer sich, obwohl ich in mir ruhte. Wild hämmernd reagierte es auf Reize, die ich nicht wahrnahm. Blut floss nicht, es wurde stoßweise durch die Adern geschickt, ich konnte es geradezu hören. Und als ich nichts mehr sah, weil ich von einer Armada Stämme mir unbekannter Bäume umgeben war, fiel mir auf, dass Schweißtropfen weder fließen noch Schweiß läuft. Er rinnt. Die Beschäftigung mit dem Wort »rinnen« im Takt eines sinnlos trommelnden Herzens in der Schwüle des guatemaltekischen Vulkanwaldes gehört zu jenen mysteriösen Begebenheiten, die rational weder sinnvoll noch restlos zu erklären sind. Vor der finalen Spekulation, warum Schweiß rinne und nicht fließe, gab es übrigens ein weiteres Problem zu erörtern: Wo in der Haut wäre die passende Rinne, sollte Schweiß tatsächlich rinnen? Müsste es nicht eine physische Mulde geben, ein natürlich begradigtes Flussbett, damit Schweißtropfen rinnen können? Oder hätte man mit der fehlenden Rinnwanne in der Haut mitten im guatemaltekischen Regenwald am Atitlán-See ein sprachphilosophisches Problem gestellt, demzufolge mit Rinnen allenfalls gemächliche Fortbewegung gemeint ist, dafür aber keinerlei Rinne brauchte, weshalb die Fortbewegung eines Schweißtropfens nicht als »rinnen« bezeichnet werden dürfte? Oder war es anders und es existiert in der Haut eine bisher nicht erkannte und völlig unvermutete Rinne, die in früheren Zeiten hochtrabender Universalgelehrtheit ein – sagen wir – sächsischer Zoologe Anfang des 17. Jahrhunderts mit einem binären Code belegt hat, welcher aber in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs keinerlei mediale Geltung erhielt und in Vergessenheit geraten ist? Oder war all das nur Bullshit eines temporär benebelten Geistes?

Ich schwöre unter Eid, dass keine Drogen im Spiel waren, sondern nur die schiere Einbildungskraft. Manchmal gerät der Verstand in ein Delirium, man kennt das, wenn sich eine Belanglosigkeit hartnäckig im Geflecht der Synapsen verhakt, dass über Stunden hinweg nichts anderes zu denken möglich wird als die scheinbare Petitesse der Fortbewegungseigenschaft eines Schweißtropfens. Womöglich war es eine Art Reflexionswurm, analog zum Ohrwurm wider Willen, wenn sich am hellen Tage der Refrain des Schlagers »Atemlos durch die Nacht« permanent zwischen Hammer, Amboss und Steigbügel aufhält und keine Anstalten macht, das Hirn durch einen Notausgang zu verlassen.

Ausgerechnet in einem Dorf im guatemaltekischen Regenwald also nahm ich mir freimütig das Recht auf Muße heraus, über die existentielle Frage einer hautinternen Schweißrinne Reflexionen anzustellen, die zu nichts außer zu sich selbst führten, mir aber versicherten, dass die menschliche Natur entweder unerklärlich ist oder dass auf sie kein Verlass sein kann.

Dies geschah nun bei ausbleichendem Tageslicht am Fuß eines Vulkans, als um sechs Uhr abends in unfassbarer Plötzlichkeit eine Menge Dunkelheit vom Himmel fiel. Bevor der Verstand halb umnachtet ins Traumreich glitt, blitzte noch einmal die Bewunderung für die Finessen der Schöpfung auf, da etwas in mir zur Überzeugung gelangte, der Designer (oder die Designerin) allen Lebens müsse sich irgendwann einmal entschieden haben, den Code für Hautporen und -rinnen als sinnvolle Aminosäurenkombination auf einem eigens konzipierten Gen zu hinterlegen. Dann wurde es Zeit, die Augen zu schließen. Eine weitere Nacht stand an, ohne zu wissen, ob eine Nacht bereits Nacht ist, wenn es nur dunkel ist, was am Atitlán-See um halb sieben, zur selben Zeit ein paar Tausend Kilometer nordwärts erst um 22 Uhr und noch weiter nördlich gar nicht der Fall war. Welchen Einfluss hat eigentlich die Erdkrümmung auf unser Verständnis von Nacht? Gewiss kann man es mit nächtlicher Tiefgründelei auch übertreiben.

Ich lag also im Bett eines Pensionszimmerchens, offenbar im Wohnbereich einer Großfamilie Kakerlaken, deren Flügel dicht neben meinem Ohr schabten, sobald es dunkel wurde und deswegen Nacht war. Überraschte man die nachtaktiven Gefährtinnen mit Licht, versuchten sie über die Matratze, das Kopfkissen, aus den Rucksäcken und Schuhen in die Sicherheit irgendeiner nie vermuteten Ritze zu fliehen. Eine Ritze finden sie immer, und wer es über sich bringt, sich in das Dasein einer ordinären Kakerlake einzufühlen, kommt womöglich zu dem Ergebnis, dass ein Schlitz oder eine Ritze im Habitat einer Kakerlake etwas Ähnliches ist wie für den Menschen der Eingang in den Großstadthinterhof eines Wohnhauskomplexes. Darüber nachzudenken, lohnt durchaus, wenn Schlaf sich trotz ermattender Müdigkeit nicht herbeizitieren lässt, weil das Herz grundlos hämmert. Ich setzte mich auf, da man im Sitzen besser ermüden kann. Rückenschweiß rann über die Wirbelsäule in die Steißbeinspalte hinab, ob es nun eine Wanne dafür gab oder nicht. Das auf all meinen Reisen mitgeführte weiße Leintuch war längst durchnässt und hatte den Geruch jahrtausendealter Matratzen angenommen. Wem im Wahnsinn schabender Insektenflügel schließlich im Sitzen zu schlafen gelingt, muss entweder vom Aufstieg zum Krater eines Vulkans hinlänglich erschöpft oder mit einer sagenhaften Fähigkeit zur Gleichgültigkeit gesegnet sein, die nach Lage der menschlichen Dinge ein eher seltenes Talent ist.

Obwohl ich mich von zahllosen Kleintieren ausgespäht, beobachtet, gar gemustert und bloßgestellt fühlte, schien mir die Frage angebracht, was mich eigentlich zu glauben berechtige, alles geschehe nach Plan, und zwar nach meinem? War das Unplanbare – also die Einladung, nichts ausrichten zu können, nichts zu entscheiden zu haben, den Umständen ausgeliefert zu sein –, war gerade diese Einbuße an Kontrolle nicht ein Geschenk? Ein Geschenk, das mir im Kakerlakenzimmer am Atitlán-See vom Schicksal höflich überreicht wurde? Ich fand es erfreulich, dass die Belohnung der Ereignislosigkeit zu einem neuen Verständnis dessen führte, was man wahrhaftig nennt, und der Himmel überm See lehrte mich zugleich die Dehnung der Zeit und die Tiefe zugefallener Ereignisse.

Die erzwungene Begegnung mit einer Division Schabenflügler mag keine weitere Dringlichkeit für ein gelingendes Leben haben, das ist wahr, aber sie gerät zu einem fulminanten Aha-Effekt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im Fall einer Kakerlake besser nicht von Ungeziefer, sondern von einem Lebewesen zu sprechen ist, das, ebenso wie man selbst, nichts anderes als Nahrungssuche, Fortpflanzungsdrang und, wer weiß, Lebensfreude im Sinn hat. Wenn der Wille, sofort aufzubrechen, vom Schicksal gehemmt wird, offenbart sich die Kraft einer manchmal unerklärlichen Souveränität. Sie gibt einem auf, das Unbestimmte mit Fassung ertragen zu lernen. Sie erzwingt Gelassenheit.

Das Leben ist ja auch deshalb so verblüffend, weil ohne Ankündigung einer dringenden Notwendigkeit die auf den ersten Blick müßige, genau genommen aber höchst existentielle Frage auftaucht: Warum bricht der Mensch überhaupt auf, wenn er es doch gar nicht müsste?

Spätestens seit die Jäger und Sammler im Neolithikum sesshaft wurden und Böden bewirtschafteten, ist menschliches Leben durch Aufbruch und Rückkehr gekennzeichnet. Mit Sesshaftigkeit setzte zugleich Mobilität ein und mit ihr kamen die beiden ewigen Fragen in die Welt: Wo gehst du hin? Wann kommst du zurück?

Wer sesshaft geworden ist, indem er einen Zaun um sein Grundstück zog und es Eigentum nannte, will ortstreu bleiben und muss doch hinaus, weil nichts von selbst zu ihm kommt. Dem Sesshaften bleibt also entweder die Erkenntnis vom Wechselspiel zwischen Aufbruch und Rückkehr oder die Anbetung einer hoffentlich geneigten Gottheit, sie möge sein besetztes Land mit Regen und Fruchtbarkeit beehren. Der Auszug des Sesshaften in die Welt, darf man vermuten, basiert auf der Notwendigkeit der Nahrungssuche und nicht auf Neugier. Reisen ist das noch lange nicht.

Im Jahr 1669 hingegen legt ein gewisser Deutscher namens Simplicissimus ein ganz anderes Zeugnis ab (zumindest ein literaturhistorisches). Die Geschichte des Simplex Simplicius von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen ist eines der ersten Bücher in deutscher Sprache, das die Literaturwissenschaft als Roman durchgehen lässt. Falls die Geschichte des Hirten nicht geläufig sein sollte: Nachdem er den Wahn der schändlichen Wirklichkeit gesehen, gelernt, erfahren und ausgestanden hat (wir dürfen den Dreißigjährigen Krieg annehmen), quittiert Simplex höchst freiwillig das Leben in der Gesellschaft seiner Zeit und zieht in eine Einsiedelei. Nach Irrungen und Wirrungen, um die es hier nicht gehen kann, segelt er gen Macao, Ägypten, Konstantinopel und Rom. Auf seiner letzten Fahrt erleidet er Schiffbruch, rettet sich auf eine paradiesgleiche Insel und führt dort ein Leben in köstlicher Einsamkeit.

Die hochbarocke Erzählung des Simplicissimus etablierte das Leitmotiv der Einsamkeit im utopischen Idyll und wurde über die Jahrhunderte hinweg zu einem fantastischen Sehnsuchtsmythos, dessen Kraft zu Fernweh und Weltlust bei manchen bis in die Gegenwart reicht.

Das Interesse des Reisenden am Aufbruch in die Fremde personifizierte sich vorbildlich in Robinson Crusoe, dem Helden im gleichnamigen Roman von Daniel Defoe aus dem Jahr 1719, und wurde durch Jean-Jacques Rousseaus epochemachende Forderung nach einer Rückkehr zur Natur im Sinne der Kritik an einem aus seiner Sicht falschen, weil rein technischen Fortschritt Mitte des 18. Jahrhunderts frühromantisch verstärkt. Bekanntlich hatte der Genfer Philosoph die Instinktverdorbenheit des Bürgers durch Vernunft und Zivilisation attackiert und dazu aufgerufen, die Ketten, in die das frei geborene Subjekt seiner Ansicht nach durch jede Art Gesellschaft gelegt werde, zu sprengen.

Natürlich ist es nie ein Fehler, sich neben Defoe und Rousseau auch die Schriften Robert Louis Stevensons vorzunehmen. Wiedergelesen, nähren sie zuerst den Verdacht, es sei womöglich mehr gewesen als pure Lust, die den Autor in seinem Segelboot Casco ans Ende der damals noch unvermessenen Welt getrieben hatte. Im Samtmantel war der Schotte am 7. Dezember 1889 auf der südpazifischen Insel Samoa mit dem Ziel an Land gegangen, um nur kurz zu bleiben, was fünf Jahre in Anspruch nahm. Schwer an Tuberkulose erkrankt, starb Stevenson in seinem selbst gebauten Haus im Dorf Vailima, auf einem Hügel über der samoischen Hauptstadt Apia, schließlich im Dezember 1894 – von den christlich-evangelikalen Einheimischen geliebt und zärtlich »Tusitala«, Geschich­tenerzähler, genannt.