Das Ende ist mein Anfang - Tiziano Terzani - E-Book

Das Ende ist mein Anfang E-Book

Tiziano Terzani

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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Ein Vater spricht über das Leben, den Tod und das Abschiednehmen

Tiziano Terzani hat als langjähriger Korrespondent des SPIEGEL unser Bild von Asien mit geprägt. Das damals noch unzugängliche China kannte er wie kaum ein anderer westlicher Journalist, im asiatischen Denken war er seit langem zu Hause. Als nach längerer Krebserkrankung sein Tod naht, lädt der 65-jährige Terzani seinen Sohn Folco zu sich ein, um Abschied zu nehmen. In einem langen Zwiegespräch erzählt der Vater dem Sohn von seinem bewegten Leben zwischen Europa und Asien und von der Auseinandersetzung mit Krankheit und dem Sterben. Es entspinnt sich ein berührender Dialog über das Leben und die Begegnung mit dem Tod, über Abschied, Trauer und Verlust, aber auch über Hoffnung und Wiederkehr.

Die sehr persönlichen Erinnerungen des bekannten SPIEGEL-Journalisten und Asienkenners.

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Seitenzahl: 455

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Inhaltsverzeichnis
 
Buch
Orsigna, den 12. März 2004
 
KUCKUCK
KINDHEIT UND JUGEND
 
Copyright
Buch
„Wie wäre es, wenn wir zwei uns jeden Tag eine Stunde zusammensetzten und du mich fragtest, was du schon immer fragen wolltest, und ich dir frei von der Leber weg erzählte, was mir wichtig ist, von mir, meiner Familie, von der großen Reise des Lebens?“Mit diesen Worten beginnt das lange Gespräch, das Vater und Sohn im Frühling 2004 in der Toskana führen, als Tiziano Terzani vom Krebs bereits schwer gezeichnet ist. In tagelangem Zwiegespräch erzählt der Vater dem Sohn von seinem Leben: von der italienischen Kindheit in beengten Verhältnissen, der Studentenzeit, der Liebe zu seiner Frau, seiner Leidenschaft fürs Reisen, den abenteuerlichen Jahren in Asien und von der Auseinandersetzung mit der Krankheit und dem Sterben. Was er dem Sohn vor allem weitergeben will: nicht den vorgegebenen Wegen folgen, sondern den Mut zu haben, sich einen eigenen zu suchen, auch wenn er Unsicherheiten birgt. Ein berührender offener Dialog über das Leben, eine beflügelnde „Hymne auf die Eigenständigkeit, auf die Möglichkeit zu sein, was du willst“. Nach einem sensationellen Erfolg in Italien sicherte sich das Buch auch bei uns eine Langzeitplatzierung auf den Bestsellerlisten.
Autor
 
Tiziano Terzani, 1938 in Florenz geboren, in Europa und den USA ausgebildet, war von 1972 bis 1997 Korrespondent des SPIEGEL in Asien - anfangs in Singapur, dann in Hongkong, Peking, Tokio, Bangkok und schließlich Neu Delhi. Unser Bild von Asien hat er entscheidend mitgeprägt. Terzani schrieb außerdem für den „Corriere della Sera“, für „L’Espresso“und „La Republicca“. Nachdem er seine Arbeit als Korrespondent aufgegeben hatte, zog er sich für einige Zeit in den Himalaja zurück und veröffentlichte mehrere Bücher. Im Sommer 2004 erlag Tiziano Terzani in Orsigna bei Florenz einer Krebserkrankung.
Folco Terzani, Sohn und Gesprächspartner Tiziano Terzanis und Herausgeber dieses Buches, wurde 1969 in New York geboren. Der Filmemacher drehte unter anderem einen Film über das Hospiz von Mutter Teresa in Kalkutta.
Von Tiziano Terzani ist im Goldmann Verlag außerdem erschienen:
Fliegen ohne Flügel (12952) Briefe gegen den Krieg (15266) In Asien (15310)
Orsigna, den 12. März 2004
Mein lieber Folco,
Du weißt, wie ungern ich telefoniere und wie schwer es mir meine schwindenden Kräfte machen, selbst wenige Zeilen zu Papier zu bringen. Daher ist dies kein richtiger Brief, sondern ein „Telegramm“mit zwei, drei Punkten, die mir noch wichtig sind und die Du wissen sollst.
Ich bin entsetzlich schwach, aber heiter und gelassen. Ich liebe dieses Haus und rechne damit, bis zum Ende hier zu bleiben. Ich hoffe, Dich bald zu sehen, aber nur unter der Bedingung, dass Du mit Deiner Arbeit fertig geworden bist. Denn bist Du erst einmal hier, wird Dich (uns) alles andere vollkommen in Anspruch nehmen, besonders wenn Du Dich auf eine Idee einlässt, über die ich lange nachgedacht habe. Und zwar folgende: Wie wäre es, wenn wir zwei uns jeden Tag eine Stunde zusammensetzten und Du mich fragtest, was Du schon immer fragen wolltest, und ich Dir frei von der Leber weg erzählte, was mir wichtig ist, von mir und meiner Familie, von der großen Reise des Lebens? Ein Austausch zwischen uns beiden, Vater und Sohn, so verschieden und einander doch so ähnlich, ein Testament, das Du dann zu einem Buch zusammenstellen könntest.
Beeil Dich, denn ich glaube, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Sieh zu, wie Du es einrichten kannst, und ich werde mir Mühe geben, noch eine Weile zu leben, um dieses wunderschöne Projekt mit Dir zu verwirklichen, wenn Du Lust dazu hast.
Ich umarme Dich.
Dein Papa
KUCKUCK
Folco, Folco, komm schnell! In der Kastanie sitzt ein Kuckuck! Ich kann ihn nicht sehen, aber er singt dort sein Lied:
Kuckuck, Kuckuck,vorbei ist der April,im Maien angekommen,der Kuckuck schweigt nicht still.
Hör doch, wie schön!
Ich bin so froh, mein Sohn. Ich bin jetzt sechsundsechzig, und mein Leben, diese große Reise, geht dem Ende zu. Ja, ich bin an der Endstation angelangt. Aber ohne Trauer, im Gegenteil, fast mit einem Schmunzeln. Vor ein paar Tagen hat deine Mutter mich gefragt, „Hör mal, wenn jemand anriefe und uns von einem Mittel erzählte, mit dem du noch zehn Jahre weiterleben könntest, würdest du es nehmen?“Und ich habe ganz spontan gesagt: „Nein!“Ich würde es nicht nehmen, ich will nicht noch zehn Jahre leben. Wozu denn? Um all das zu tun, was ich bereits getan habe? Ich bin im Himalaja gewesen und habe mich darauf vorbereitet, auf den großen Ozean des Friedens hinauszusegeln. Warum sollte ich mich da noch einmal in ein Bötchen setzen, um am Ufer entlang zu schippern und zu angeln? Das interessiert mich einfach nicht mehr.
Sieh dir die Natur an, von dieser Wiese aus, sieh sie dir genau an, hör ihr zu. Der Kuckuck; all die zwitschernden Vögel in den Bäumen - wer die wohl sind? -, die Grillen im Gras, der Wind, der durchs Laub streicht. Ein einziges, großes Konzert mit einem eigenen Leben, das von dem Tod, auf den ich warte, vollkommen unberührt bleibt. Die Ameisen krabbeln weiter vor sich hin, die Vögel singen ihrem Gott ein Lied, und der Wind weht wie eh und je.
Was für eine große Lehre! Deshalb bin ich so heiter. Seit Monaten spüre ich eine geballte Freude in mir, die in alle Richtungen ausstrahlt. Ich habe das Gefühl, nie zuvor so leicht und glücklich gewesen zu sein. Und wenn du mich fragst: Wie geht es dir?, kann ich nur antworten: hervorragend. Mein Kopf ist frei, ich fühle mich wunderbar. Nur dieser Körper fault vor sich hin und ist inzwischen überall leck. Das Einzige, was bleibt, ist, sich von ihm zu lösen und ihn seinem Schicksal zu überlassen, dem Schicksal der Materie, die zerfällt und wieder zu Staub wird. Ohne Angst, denn es ist doch die natürlichste Sache der Welt.
Aber eben weil mir nur noch wenig Zeit bleibt, möchte ich noch etwas Letztes tun: mit dir reden. Mit dir, der du fünfunddreißig Jahre lang - oder wie alt bist du jetzt? Vierunddreißig? - Teil meines Lebens gewesen bist, Zuschauer dieser langen Reise, die du von unten, aus der Perspektive des Sohns, mitverfolgt hast. Immer warst du da, und doch weiß ich, dass du nicht mein ganzes Leben kennst. So wie ich eigentlich nur sehr wenig vom Leben meines Vaters wusste und am Ende bedauerte, nicht ein wenig Zeit mit ihm verbracht zu haben, um darüber zu reden. FOLCO: Also hast du deinen Tod tatsächlich angenommen, Papa?
TIZIANO: Weißt du, diese Vorstellung vom „Tod“würde ich gern vermeiden. Die indische Wendung „den Körper verlassen“, die dir so geläufig ist wie mir, finde ich viel schöner. Mein Traum wäre es zu verschwinden, als gäbe es diesen Moment der Trennung nicht. Der letzte Akt des Lebens, den man Tod nennt, macht mir keine Angst, denn darauf habe ich mich vorbereitet.
Ich will nicht sagen, dass es in deinem Alter genauso wäre. Aber in meinem! Ich habe alles getan, was ich wollte, ich habe ungeheuer intensiv gelebt, und ich habe nicht das Gefühl, ich hätte irgendetwas versäumt. Ich brauche nicht zu sagen: „Ach, wie gern hätte ich noch ein bisschen Zeit, um dies oder jenes zu tun.“Und ich habe keine Angst - dank jener zwei, drei Dinge, die ich für wesentlich halte und die alle Großen und Weisen der Vergangenheit begriffen haben.
Was ist es, was uns am Tod so ängstigt?
Was uns vor Angst erstarren lässt, wenn wir an den Augenblick des Todes denken, ist die Vorstellung, dass in dem Moment alles, woran wir hängen, verschwindet. Zunächst einmal der Körper. Was für eine ungeheure Bedeutung haben wir ihm zugemessen! Denk doch nur, wie wir mit ihm wachsen, wie wir uns mit ihm identifizieren. Sieh dich an, so jung, so stark, überall Muskeln. Ich war doch genauso! Ich bin jeden Tag kilometerweit gejoggt, um in Form zu bleiben, ich habe Gymnastik gemacht, ich hatte gerade Beine, einen dichten Schnurrbart und den ganzen Kopf voller rabenschwarzer Haare! Ich war ein schöner junger Mann! Wenn einer „Tiziano Terzani“sagt, stellt er sich diesen Körper vor.
Das ist doch zum Lachen! Sieh dir an, wie ich jetzt aussehe! Nur noch Haut und Knochen, die Beine geschwollen, der Bauch rund wie ein Ballon! Die Geometrie des Körpers ist auf den Kopf gestellt: Zuerst hat man breite Schultern und schmale Hüften, jetzt habe ich schmale Schultern und einen riesigen Bauch. Wieso sollte ich an diesem Körper hängen? Einem Körper, der mit jedem Tag schwächer wird, dem die Haare ausfallen, der nur noch humpeln kann, an dem die Chirurgen herumschnippeln?
Wir sind nicht dieser Körper. Aber was sind wir dann?
Wir glauben, all das zu sein, was wir mit dem Tod zu verlieren fürchten. Unsere Identität. Da hast du dich mit deinem Beruf identifiziert, Journalist, Rechtsanwalt, Bankdirektor, und der Gedanke, dass all das auf einmal verschwindet, dass du nicht mehr der große Journalist oder der erfolgreiche Bankdirektor bist, dass der Tod dir all das nimmt, erschüttert dich. Und dann alles, was dir gehört - das Fahrrad, das Auto, ein wertvolles Bild, das du dir mit den Ersparnissen deines ganzen Lebens gekauft hast, ein Grundstück, ein Häuschen am Meer. Alles deins! Und jetzt stirbst du und verlierst es. Der Grund, warum wir solche Angst vor dem Tod haben, ist, dass wir plötzlich auf alles verzichten müssen, woran unser Herz hängt, unseren Besitz, unsere Wünsche, unsere Identität. Ich habe das bereits hinter mir. In den letzten Jahren habe ich all diese Dinge über Bord geworfen, und jetzt gibt es nichts mehr, woran ich hänge.
Denn natürlich bist du nicht dein Name, natürlich bist du nicht dein Beruf und auch nicht dein Haus am Meer. Und wenn du schon im Leben lernst, zu sterben, wie die Weisen der Vorzeit es gelehrt haben - die Sufis, die Griechen, unsere geliebten Rischis im Himalaja -, dann gewöhnst du dich daran, dich mit diesen Dingen nicht zu identifizieren und zu erkennen, was für einen absolut begrenzten, vorübergehenden, lächerlichen, vergänglichen Wert sie haben. Wenn dein Haus am Meer eines Tages - wrumm! - von einer Sturmflut fortgerissen wird; wenn dein Sohn, einer wie du, der du so lange mein Kind gewesen bist, um den ich mir so viele Gedanken und manchmal auch Sorgen gemacht habe, aus dem Haus geht und ihm ein Ziegelstein auf den Kopf fällt und auf einmal - wrumm! - alles vorbei ist, dann begreifst du, dass du unmöglich etwas sein kannst, was einfach so verschwindet.
Und wenn du im Laufe des Lebens zu begreifen beginnst, dass du nicht diese Dinge bist, dann trennst du dich allmählich davon, dann lässt du sie los. Dann lässt du auch das los, was dir am teuersten ist. Für mich war das die Liebe zu deiner Mutter. All die siebenundvierzig Jahre, die wir zusammen gewesen sind, habe ich deine Mutter geliebt, und wenn ich sage, dass ich diese Liebe loslasse, heißt das nicht, dass ich sie nicht mehr liebe, sondern dass ich nicht mehr Sklave dieser Liebe bin; dass ich nicht mehr von ihr abhänge; dass ich mich auch von ihr gelöst habe. Diese Liebe ist Teil meines Lebens, aber ich bin nicht diese Liebe.
Ich bin vieles … oder vielleicht auch nichts. Aber ich bin nicht diese eine Sache. Und der Gedanke, im Moment des Todes diese Liebe zu verlieren, dieses Haus in Orsigna zu verlieren, dich und Saskia zu verlieren, meinen Beruf zu verlieren, kümmert mich nicht mehr. Er macht mir keine Angst mehr, denn ich habe mich daran gewöhnt. Das hat mich der Himalaja gelehrt, die Einsamkeit dort oben, die Natur, das Glück, diese Krankheit zu bekommen und die Gelegenheit zu haben, über diese Dinge nachzudenken.
Der andere wesentliche Punkt im Leben eines Menschen, der nicht nur älter, sondern auch reifer wird, wie hoffentlich auch ich, ist das Verhältnis zu seinem Verlangen. Das Verlangen ist unsere große Triebfeder. Hätte Kolumbus nicht das Verlangen verspürt, einen neuen Weg nach Indien zu finden, hätte er Amerika nie entdeckt. Der ganze Fortschritt des Menschen, oder Rückschritt, wenn du so willst, die ganze Zivilisation oder De-Zivilisation ist auf das Verlangen zurückzuführen, alle Arten von Verlangen, angefangen vom einfachsten, dem körperlichen, dem Verlangen, das Fleisch eines anderen zu besitzen.
Das Verlangen ist ein unglaublicher Antrieb, das will ich gar nicht bestreiten. Es ist wichtig und hat die Geschichte der Menschheit geprägt. Aber noch einmal: Wenn du anfängst, es genauer zu betrachten - was ist dieses Verlangen dann? Was sind diese Bedürfnisse, denen du dich nicht entziehen kannst? Vor allem heute, in dieser Gesellschaft, die uns dazu drängt, Bedürfnisse zu erfinden und besonders den banalsten, den materiellen, nachzugehen, denen aus dem Supermarkt. Das Verlangen nach diesen Dingen ist nutzlos, banal, lächerlich.
Das wahre Verlangen, wenn man denn eines will, ist das Verlangen, man selbst zu sein. Das Einzige, was zu ersehnen Sinn hat, ist, vor keinen Entscheidungen mehr zu stehen, denn die wahre Entscheidung ist nicht die zwischen zwei Sorten Zahnpasta, zwei Frauen oder zwei Autos. Die wahre Entscheidung ist die, du selbst zu sein. Wenn du dich an den Gedanken gewöhnst oder bestimmte Übungen in der Richtung machst, wenn du darüber nachdenkst - nachdenkst! -, dann wirst du erkennen, dass jedes Verlangen eine Form von Sklaverei ist. Denn je heftiger du verlangst, desto mehr begrenzt du dich. Bis dein Verlangen so stark ist, dass du nichts anderes mehr denken und tun kannst, dass du zu seinem Sklaven wirst.
Wenn du dann älter wirst, und reifer, beginnst du das alles möglicherweise zu sehen …
Er lacht.
… und kannst über all dieses Verlangen lachen, das jetzige und das von früher; kannst darüber lachen, dass es zu nichts nütze ist, dass es genauso vergänglich ist wie alles andere, wie das ganze Leben. Und so lernst du allmählich, dich davon zu befreien, es aus dem Weg zu räumen. Auch den letzten Wunsch, den alle haben, den Wunsch nach einem langen Leben. Wenn man denkt, „Gut, mir liegt nichts mehr an Geld und Ruhm, und kaufen will ich auch nichts mehr. Aber was gäbe ich nicht für ein Mittel, das mir noch zehn Jahre schenkt!“
Auch diesen Wunsch habe ich nicht mehr. Ich habe ihn einfach nicht mehr.
Ich kann mich glücklich schätzen. Denn die Jahre der Einsamkeit in der Hütte im Himalaja haben mir gezeigt, dass es für mich nichts mehr zu wünschen gab. Dort brauchte ich nichts als ein wenig Wasser zum Trinken, und das gab es an der Quelle, wo auch die Tiere hinkamen. Zum Essen hatte ich ein bisschen Reis mit Gemüse, den ich mir über dem Feuer kochen konnte. Was hätte ich mir denn wünschen können? Doch nicht, mir im Kino den neuesten Film anzusehen! Was hätte ich denn davon?! Was würde das an meinem Leben ändern? Nichts mehr, nichts! Denn was mir jetzt bevorsteht, ist vielleicht die seltsamste, interessanteste, neueste Sache, die mir je widerfahren ist.
Das ist der Grund, weshalb ich keine Lust mehr habe, in diesem Leben zu verweilen. Weil dieses Leben meine Neugier nicht mehr weckt. Ich habe es von innen und von außen gesehen, von allen Seiten, und die Wünsche, die es in mir wecken könnte, interessieren mich nicht mehr. Der Tod ist wirklich …
Er lacht.
… das einzig Neue, was mir noch passieren kann, denn er ist etwas, was ich noch nie gesehen, noch nie erlebt habe. Nur bei den anderen.
Vielleicht ist es gar nichts, vielleicht ist es nur, wie abends einzuschlafen. Denn im Grunde sterben wir ja jeden Abend. Das Bewusstsein des wachen Menschen, das ihn dazu bringt, sich mit seinem Körper und seinem Namen zu identifizieren, Verlangen zu verspüren, zu telefonieren und eine Einladung zum Mittagessen anzunehmen, das ist in dem Moment, in dem du einschläfst - puff! - verschwunden. Auch wenn es im Schlaf in gewisser Hinsicht noch da ist, nämlich wenn du träumst.
Aber wer träumt da?
Wer ist der stille Zeuge deiner Träume?
Vielleicht geschieht im Tod ja etwas Ähnliches wie im Schlaf. Oder vielleicht auch nichts. Aber eins kann ich dir versichern, Folco, nämlich dass ich zu dieser Verabredung nicht gehe, als erwarte mich ein schwarzer Mann mit einer Sense in der Hand, was immer eine Horrorvision gewesen ist. Ich gehe vielmehr mit innerer Ruhe und leichtem Herzen, so leicht wie nie zuvor. Und vielleicht liegt das an dieser Kombination von Faktoren, die ich dir gerade zu erklären versucht habe: dass ich das Sterben schon vor dem Tod ein wenig gelernt habe; dass ich mich von meinem Verlangen gelöst habe; und dass ich aus der heiligen Erde Indiens das Gefühl gesogen habe, das dieses Land vermittelt: dass ständig unendlich viele Menschen geboren werden, sterben, geboren werden und sterben, und dass die Erfahrung von Geburt, Leben und Tod allen Menschen gemein ist.
Warum macht das Sterben uns bloß solche Angst? Wo das doch alle getan haben! Milliarden und Abermilliarden von Menschen, Babylonier, Hottentotten, alle. Aber wenn wir selber dran sind - ah! Dann sind wir verloren.
Wie ist das möglich? Wo das doch alle getan haben!
Wenn du es dir genau überlegst - und das ist ein schöner Gedanke, den natürlich schon viele angestellt haben -, ist die Erde, auf der wir leben, im Grunde ein riesiger Friedhof. Ein immens großer Friedhof all dessen, was gewesen ist. Wenn wir anfangen würden zu graben, fänden wir überall zu Staub zerfallene Knochen, die Überreste des Lebens. Kannst du dir vorstellen, wie viele Abermilliarden von Lebewesen auf dieser Erde gestorben sind? Die sind alle da! Wir laufen ständig über einen unendlich großen Friedhof. Das ist seltsam, denn wir stellen uns Friedhöfe immer wie Orte der Trauer vor, Orte des Leidens, der Tränen. Dieser immense Friedhof aber, die Erde, ist wunderschön! Mit all den Blumen, die darauf wachsen, mit all den Ameisen und Elefanten, die darüberlaufen. Er ist die Natur!
Er lacht.
Wenn du das so siehst, dass du wieder Teil von all dem wirst, dann ist das, was von dir bleibt, vielleicht dieses unteilbare Leben, diese Kraft, diese Intelligenz, die du mit einem Bart schmücken und Gott nennen kannst, auch wenn sie etwas ist, was unser Denken nicht fassen kann, vielleicht der große Geist, der alles zusammenhält.
Was ist das, was alles zusammenhält?
Deshalb gehe ich zu dieser Verabredung - als eine solche empfinde ich das, und ich möchte sie nicht verpassen, denn ich habe mich sozusagen schon festlich dafür gekleidet - unbeschwert und mit einer geradezu journalistischen Neugier. Obwohl ich den Journalismus schon vor Jahren an den Nagel gehängt habe, bezeichne ich meine Neugierde schmunzelnd als „journalistisch“. Aber im Grunde ist es pure menschliche Neugier, die wissen will: „Was ist das eigentlich?“
Man empfindet sie gewöhnlich, wenn der Vater stirbt. Mein Gefühl damals, das weiß ich noch genau, war, dass nun ich in der ersten Reihe stand. Weißt du, im Krieg hast du immer jemanden vor dir, es gibt eine erste Reihe, wie den vordersten Schützengraben im Ersten Weltkrieg. Und wenn der Vater stirbt, dann steht dort keiner mehr, dann ist man selber dran.
Tja, und jetzt bin ich dran. Und wenn ich sterbe, wirst du das Gefühl haben, in die erste Reihe aufzurücken.
Aber jetzt bist du erst einmal gekommen, um meine Hand zu halten, und das gibt uns die Gelegenheit, von der Reise dieses kleinen Jungen zu sprechen, der in einem Bett in der Via Pisana zur Welt gekommen ist, in einem Arbeiterviertel von Florenz, der die großen Geschehnisse seiner Zeit dann hautnah miterlebt hat - den Vietnamkrieg, China, den Zerfall der Sowjetunion -, der sich schließlich in den Himalaja zurückgezogen hat und nun hier ist, in seinem kleinen Himalaja, um seine Stunde zu erwarten, die in meiner Vorstellung etwas Erfreuliches ist.
Deshalb ist dies das Ende, aber auch der Anfang einer Geschichte, der Geschichte meines Lebens, und ich würde mit dir gern noch ein wenig darüber reden, um gemeinsam darüber nachzudenken, ob alles in allem ein Sinn darin liegt.
KINDHEIT UND JUGEND
Wir sitzen im Schatten eines großen Ahorns vor dem Haus in Orsigna. Hinter der Wiese fällt das Tal steil zum Fluss ab, und die Wälder jenseits des Flusses beginnen, grün zu werden. Es ist Frühling. Ein frischer Wind weht, und Papa liegt in einem Liegestuhl, mit einer violetten Wollmütze auf dem Kopf und einer indischen Decke um die Beine.
FOLCO: Also, es kann losgehen. Hast du es bequem? Sekunde, mal sehen, ob der Kassettenrekorder funktioniert.
TIZIANO: Ist das so laut genug?
FOLCO: Ja. Hast du eine Vorstellung davon, wie du vorgehen willst?
TIZIANO: Hm, so ungefähr. Ich möchte dir von meiner Kindheit erzählen, von dieser Mischung verschiedener Dinge, die ich nie in Ruhe schildern konnte. Ich möchte eine Erinnerung an das Leben von damals hinterlassen, weniger für dich als zum Beispiel für deinen Sohn, der keine Ahnung hat, wie meine Generation aufgewachsen ist, was für Beziehungen die Menschen verbanden, wie die Welt aussah, die uns umgab.
FOLCO: Fangen wir an.
TIZIANO: Ich bin in einem Arbeiterviertel in Florenz zur Welt gekommen, außerhalb der Stadtmauer. Ich bin zu Hause geboren, wie das damals üblich war. An meine Geburt erinnere ich mich natürlich nicht, aber ein paar Jahre später habe ich die Geburt meines Vetters mitgekriegt, und bei mir lief es sicher ganz ähnlich ab. Zur Entbindung kamen alle Frauen der Familie. Ich stelle mir meine Mutter in ihrem Ehebett vor, in dem sie später auch gestorben ist. Da hat sie mich zur Welt gebracht.
Alle meine Kindheitserinnerungen sind an das Viertel, in dem ich geboren wurde, gebunden. Es war eine kleine, beschränkte Welt. Stell dir vor, wir wohnten schon praktisch auf dem Land. Die Häuser standen an einer Straße, auf der die Straßenbahn vorbeifuhr. Anfangs wurde sie noch von Pferden gezogen, und ein Vetter meines Vaters hatte die Aufgabe, die Gleise sauber zu halten und die Pferdeäpfel einzusammeln. Und da er das auch im Winter tun musste, trug er immer eine warme Jacke, die er von der Stadtverwaltung bekommen hatte, eine dicke Baumwolljacke, die ich als Oberschüler glücklicherweise erbte, so dass ich zu Hause, wo es keine Heizung gab, am Küchentisch sitzen und lernen konnte.
Wir wohnten sehr einfach. Durch eine schmale Haustür kam man zu einer geraden Treppe, die zu einer winzigen Wohnung hinaufführte. Beim Eintreten stand man direkt im Wohnzimmer. Es gab eine Küche, wo gegessen wurde, und ein Schlafzimmer, in dem wir alle drei schliefen. Mein Bett stand neben dem Ehebett der Eltern.
Es war eine ganz eigene Welt, die für Beschränktheit, aber auch für Vertrautheit steht. Stell dir vor, die Einrichtung dieser Wohnung, die ich dir gerade beschrieben habe, war zur Hochzeit meiner Eltern im Jahre 1936 angeschafft worden. Man darf nicht vergessen, dass meine Eltern arm waren, bitterarm. Ihre Hochzeitsreise haben sie nach Prato gemacht, das liegt nur fünfzehn Kilometer entfernt, aber für sie war es eine große Reise! Die weiteste, die sie je machten, bis ich sie später nach New York und nach Asien einlud.
Die Wohnung war eingerichtet, wie es damals üblich war. Man heiratete, wenn man die Aussteuer zusammenhatte. Die Aussteuer bestand aus einem Bett, einem Schrank, in dem die ordentlich zusammengelegte Wäsche aufbewahrt wurde - ich erinnere mich noch an den Duft der Lavendelzweige und der Seifen, die meine Mutter zwischen die Laken legte -, und dann gab es noch eine Kommode, die in meinem Leben gewissermaßen Freud und Leid verkörperte. Denn wenn mein Vater am Monatsende das Geld, das er verdient hatte, mit seinem Kompagnon teilte und nach Hause brachte, wurde es in diese Kommode zwischen die Laken gelegt. Damals hatte kein Mensch ein Konto auf der Bank. Nie werde ich vergessen, wie es war, wenn der Monat auf den fünfzehnten, siebzehnten oder zwanzigsten zuging; diese Zeremonie, wenn wir in der Kommode nachsahen - ich heimlich, meine Mutter etwas weniger -, wie viel Geld noch zwischen der Bettwäsche lag. Es war nie genug, und am Ende des Monats hatten wir oft kein Geld zum Essen mehr.
Das Leben war in Wochen- und Feiertage unterteilt, wie ihr jungen Leute euch das heute kaum noch vorstellen könnt. Ich hatte zum Beispiel einen Anzug - ein Paar kurze Hosen, ein Hemd und eine Jacke -, den ich nur am Sonntag tragen durfte. An den übrigen Tagen trug man seine Alltagskleidung. Sonntags hingegen, nach diesem herrlichen Bad... Wir hatten eine große Wanne, weißt du, eine Zinkwanne, in der ich, der Held der Familie, als Erster badete. Das Wasser wurde auf dem Gasherd heiß gemacht und in die Wanne gegossen, und dann wurde ich abgeseift. Nach mir kam meine Mutter dran, und als Letztes mein Vater.
FOLCO: Im selben Wasser?
TIZIANO: Im selben Wasser. Und dann, im Sonntagsstaat, gingen ich und meine Mutter in die Kirche. Mein Vater hingegen hat nie auch nur einen Fuß hineingesetzt! Dann ging der Sonntag los. Es gab Mittagessen, und nachmittags wurden die Verwandten besucht, meistens zu Fuß, aber manchmal auch mit der Straßenbahn.
In der Küche stand ein Tisch mit einer Marmorplatte, die im Winter eiskalt war, wo ich, bis ich achtzehn war, immer saß und lernte. Und ein Gasherd. Oder warte, im Krieg hatten wir kein Gas, sondern Kohle. Und man kochte auf einem Herd, in dem man Feuer machte. Schließlich gab es noch einen Küchenschrank, in dem die Lebensmittel aufbewahrt wurden. Ich liebte Obst, aber ich durfte die herrliche Schranktür mit den Äpfeln dahinter nur einmal täglich öffnen, denn mir stand nur ein Apfel zu.
Mein Vater besaß ein altes Fahrrad, mit dem er zur Arbeit fuhr, in seinem nach Schmieröl stinkenden Monteuranzug. Das Fahrrad war ihm so wichtig, dass er es nie irgendwo stehen ließ, auf der Straße sowieso nicht, aber auch nicht am Fuß der Treppe innen hinter der Haustür, die immer geschlossen war. Jeden Abend trug er es die Treppe hinauf ins Wohnzimmer, um sicherzugehen, dass sein Fahrrad auch wirklich seines blieb. Ansonsten gab es in der Wohnung nichts von alledem, was wir heute gewöhnt sind. Stell dir vor, wir hatten nicht einmal ein Radio, von einem Fernseher ganz zu schweigen. Und ein Telefon natürlich auch nicht. Das kam alles zu seiner Zeit.
Als Erstes bekamen wir ein Radio. Das war eine tolle Geschichte. Ich weiß noch, wie nach ewigem Sparen endlich dieser erste Radioapparat gekauft wurde, auf Raten, das machte man damals so. Meine Güte, war das ein Ereignis! Ich kann mich noch genau an das Geschäft erinnern, Piazza Pitti Ecke Via Maggio.
FOLCO: Ein erster Schritt in die Moderne.
TIZIANO: Ja, als das Radio kam, war das wirklich ein Ereignis. Es war wunderschön, aus glänzendem Holz, mit Knöpfen, die man drehen konnte, nicht wie die digitalen Radios heute, bei denen man nie etwas kapiert. Und es hatte ein kleines grünes Licht, das anund ausging, je nachdem ob man nah an einer Frequenz war oder nicht. Das Gehäuse war gewölbt und überall abgerundet und die Knöpfe waren nicht aus Plastik, sondern aus Horn. Dieses Radio war das erste Symbol von Luxus in meiner Familie.
Ich will nur, dass du verstehst, in was für einer Welt ich aufgewachsen bin. Eine Straße ohne Verkehr, auf der nur die von Pferden gezogene Straßenbahn vorbeikam. Nach dem Krieg lief sie dann elektrisch, und direkt vor unserem Haus drehte sie um. Sie fuhr bei uns los und dann bis ins Zentrum, bis San Frediano, das war die andere Endstation. Immer hin und her, zwischen uns und Florenz, das uns vorkam wie ein anderer Ort. Das war im Grunde das Drama meiner Mutter, ihr ganzes Leben lang: einen Mann geheiratet zu haben, der mit ihr vor die Stadt gezogen war, weg aus Florenz, weg aus dem Schatten der großen Kuppel des Doms, wo sie - das war ihr ganzer Stolz - geboren war. Meine Mutter hat immer etwas Aristokratisches gehabt und mochte sich auf diese Welt nicht einlassen: die Straße mit der Straßenbahn, die Leute, die auf ihren Fahrrädern vorbeikamen, und den Fußsteig, der so etwas wie ein Dorfplatz war. Für Klatsch hatte sie nichts übrig. Die anderen Frauen hingegen brachten an den Sommerabenden ihre Stühle mit dem Strohgeflecht auf die Straße hinunter, setzten sich vor die Tür und sahen den Kindern beim Versteckspiel oder bei „Himmel und Hölle“zu.
Dort hat meine Sozialisierung stattgefunden. Die ersten Jahre meiner Kindheit habe ich vor der Haustür verbracht, mit meiner Mutter, die immer aufpasste, dass ich mich auch nicht schmutzig machte oder von den anderen verhauen wurde. Das war meine Welt, eine Welt voller Vorurteile natürlich, voller sozialer Schranken. „Hüte dich vor dem da! … Die Frau vom Soundso ist zu nichts nutze, besser man lässt sich nicht mit ihr ein…“Aber es war auch eine sichere, überschaubare Welt. Unerwartetes gab es nicht.
FOLCO: Viele Entdecker sollen aus einer solchen Umgebung kommen.
TIZIANO: Ja. Alles war genau geregelt. Und jeder wusste alles über die anderen. Man wusste, dass die Tabakverkäuferin von den Amerikanern vergewaltigt worden war, als sie am Arno Holz holen war…
FOLCO: Was?!
TIZIANO: Als die Amerikaner kamen und alle Bäume in Florenz fällten, holzten sie auch die „Albereta“ab, einen wunderschönen Hain mit großen Steineichen und Platanen, wahrscheinlich um an der Front Stellungen zu bauen, oder für die Eisenbahn. Dort ist später eines der bevölkerungsreichsten Stadtviertel von Florenz entstanden, der Isolotto, wo es heute keinen einzigen Baum mehr gibt. Aber in meiner Kindheit war das Niemandsland. Die Amerikaner hatten riesige Äxte, und so splitterten bei jedem Hieb große Späne ab, etwas ganz Wertvolles. Auch ich und meine Mutter gingen da hin, um sie zum Feuermachen und Kochen zu sammeln. Und dort, hieß es, sei die Tabakverkäuferin dann … Dieses Schandmal wurde sie ihr ganzes Leben nicht mehr los.
Was ich damit sagen will, ist, dass das Individuum in dieser Gesellschaft nicht gerade frei war, im Gegenteil, es stand immer unter Kontrolle; aber diese Enge bedeutete auch ein großes Maß an Sicherheit, denn jeder wusste Bescheid über jeden. Und es gab eine starke Solidarität. Ich meine, wenn man Brot kaufen wollte und kein Geld hatte, ließ man anschreiben, ich glaube sogar, dass niemand gleich bezahlte, außer am Anfang des Monats, wenn man seinen Lohn bekam. Dabei war Ehrlichkeit etwas überaus Wichtiges. Wenn Tecla, die Bäckerin, dir aus Versehen eine halbe Lira zuviel herausgab, musstest du sie ihr zurückbringen. Heutzutage ist das kaum zu fassen, aber so waren die Regeln damals.
In dieser total beschränkten, engen Welt bin ich aufgewachsen. Florenz war für mich weit weg. Da ging ich nur am Sonntag manchmal hin, mit meinem Vater und meiner Mutter. Wir gingen, diese Geschichte hast du schon mal gehört …
FOLCO: … Eis essen?
TIZIANO: Nein. Den Reichen beim Eisessen zugucken! Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Im Sonntagsstaat, geschniegelt und mit geputzten Schuhen - vor dem Ausgehen musste man sich immer die Schuhe putzen - ging ich mit meiner Mutter und meinem Vater, er in Schlips und Zweireiher, zu Fuß von Monticelli bis zur Piazza della Signoria.
So nachlässig, wie ihr euch heute kleidet, kannst du dir bestimmt gar nicht vorstellen, wie das früher war. Ich sage immer, „Wir waren so arm, dass wir nicht einmal genug zu essen hatten …“, und dann siehst du uns auf den Fotos mit diesen schönen Kleidern. Aber das auf dem Foto war mein Sonntagsanzug! FOLCO: Und Fotos mit dem Montagsanzug gibt es nicht? TIZIANO: Nein. Es gab da dieses berühmte Foto von mir im Kittel, wo ich einen Finger durch ein Loch in der Kitteltasche gesteckt hatte, aber das hat meine Mutter später weggeworfen, damit man nicht sah, dass ich etwas Verschlissenes anhatte.
Auf der Piazza della Repubblica gab es ein großes Restaurant, Paszkowsky, wo man draußen sitzen konnte, genau wie heute, und um die Kunden abzuschirmen, waren die Tische mit einer Buchsbaumhecke in großen Blumenkästen umfriedet. Und meine Eltern erlaubten mir, durch die Hecke zu lugen, um den Herrschaften beim Eisessen zuzusehen! Kannst du dir das vorstellen? Wir gingen den ganzen langen Weg, nur um den Leuten beim Eisessen zuzusehen! Für euch ist so etwas undenkbar, aber zu unserer Zeit war das so.
Ich hatte eigentlich eine glückliche Kindheit. Die Probleme, die es natürlich auch gab, belasteten mich nicht. Es tat mir nur leid für meine Mutter, wenn sie darunter litt, dass das Geld nicht reichte. Auch die ersten Demütigungen habe ich durch ihre Augen erlebt.
Dazu muss ich dir eine Geschichte erzählen. Oft reichte das Geld einfach nicht bis zum Monatsende. Dann ging man ins Pfandhaus, das nicht weit von der Via del Porcellana lag, wo meine Mutter aufgewachsen war. Dort konnte man alles hinbringen, auch den letzten Plunder, und bekam dafür eine kleine Summe, für die man immense Zinsen zahlen musste. Wenn man es schaffte, den Kredit rechtzeitig zurückzuzahlen, konnte man sein Pfand wieder auslösen.
Bei uns zu Hause gab es keine Wertsachen. Schmuck besaß meine Mutter nicht, außer ihrem goldenen Ehering, doch den hätte sie nie im Leben auf den Buckel gebracht, wie man sagte. Aber ein paar unbenutzte Laken aus ihrer Aussteuer hatte sie, denn wenn junge Mädchen heirateten, bekamen sie vier, fünf Leinengarnituren mit, die lagen, hübsch mit den Initialen bestickt, in der Kommode, die so wunderbar nach Lavendel und Seife duftete. Zwei, drei Leinengarnituren wurden, wenn gar kein Geld mehr da war, zum Monte di Pietà gebracht. Ich kann mich noch genau an meine Mutter erinnern - und das war eine meiner ersten negativen Empfindungen -, die mich fest an der einen Hand gepackt hatte, denn ich war noch klein. In der anderen Hand trug sie die Tasche mit dem Paket. Sie blickte sich vorsichtig um, ob auch niemand in der Nähe war, der uns kannte und uns diesen berüchtigten Ort des Elends und der Schmach betreten sah.
Er lacht.
Dann sagte sie auf einmal: „Jetzt! Schnell!“, und - zack! - waren wir über die Schwelle und gingen zu dem großen Tresen, um die Laken abzugeben. Und der Angestellte, immer derselbe, sagte: „Hm, für die hier können wir Ihnen drei, vier Lire geben …“Mehr bekamst du nicht. War eine Garnitur fünfzig wert, gaben sie dir fünf. Aber mit diesen fünf konntest du das Schlimmste überbrücken. Zwei Wochen später brachtest du ihnen dann die fünf Lire plus Zinsen und bekamst deine Laken zurück. Und wieder musste man höllisch aufpassen, dass einen bloß keiner sah!
Das war die erste negative Erfahrung meiner Kindheit: die Demütigung, zur Pfandleihanstalt gehen und erleben zu müssen, dass meine wunderbaren Eltern im Grunde schwach und verletzlich waren.
Er lacht.
Das wurde zur Triebfeder meines Lebens. Ich erinnere mich noch genau, dass ich schon als kleiner Junge das Gefühl hatte, aus dieser Enge ausbrechen zu müssen, die auch eine körperliche Enge war: eine kleine Wohnung, ohne Toilette, ohne fließendes Wasser, mit einem Plumpsklo. Ich fühlte mich eingeengt, ich hatte das Bedürfnis, auszubrechen und wegzugehen.
FOLCO: Aber woher wusstest du, dass es eine andere Welt gab?
TIZIANO: Der Erste, der dieses Andere verkörperte, war der größte Aufschneider der ganzen Familie, der Sohn jenes Vetters meines Vaters, der die Pferdeäpfel von den Gleisen fegte. Er war zur Marine eingezogen worden, war von Monticelli auf ein Kriegsschiff katapultiert worden - denn es war Krieg - und fuhr auf dem Mittelmeer herum, nach Spanien und Gibraltar. Er gab furchtbar damit an, und wenn er zurückkam, erzählte er von exotischen Fischen, die einem, wenn man die Füße über dem Wasser baumeln ließ, die Strümpfe anknabberten. Er log das Blaue vom Himmel herunter, aber ich war fasziniert von seiner Uniform - ein echter Matrose! - und seinen Geschichten. Mario, der Matrose. Er war der Erste, der mich spüren ließ, dass es auch etwas anderes gab; der mir die Ahnung von einer anderen Welt vermittelte.
FOLCO: Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir vor allem meine Freunde ein. Aber du …
TIZIANO: Nein, ich habe nicht viele Freunde gehabt, denn die echten Jungenspiele wie Fußball hatte meine Mutter mir verboten. Das war eine andere große Demütigung für mich. Meine Mutter hatte sich eine Tochter gewünscht, keinen Sohn, deshalb zog sie mir die ersten vier, fünf Jahre meines Lebens Mädchenkleider an. Weißt du, damals war die Kleidung sowieso ziemlich unisex, auch wir Jungen gingen im Kittel zur Schule, lange Hosen bekamen wir erst später.
Ein anderes Problem war der Sauberkeitstick meiner Mutter, und Fußballspielen war eine schmutzige Angelegenheit, da fiel man auch mal hin. Sie überwachte mich ständig, und ich weiß noch, wie traurig ich mit sechs, sieben, acht Jahren in der Via Pisana am Fenster stand und meinen Schulkameraden zusah, die so richtig schön dreckig waren und mit einem Ball loszogen.
Das ist die Welt, in der ich groß geworden bin - und aus der ich abgehauen bin, sobald ich konnte.
FOLCO: Und Großvater? Wollte der nicht, dass du Fußball spielst?
TIZIANO: Mein Vater spielte in unserem täglichen Leben nur eine sehr begrenzte Rolle, denn er ging morgens früh aus dem Haus und kam abends erst spät wieder. Deshalb war ich immer nur mit meiner Mutter zusammen. Sie hat mich immer übertrieben umsorgt, und wenn ich ehrlich bin, war alles, was später geschah, im Grunde eine einzige Flucht vor ihr. Mein Vater war anders, schüchtern und voller Angst vor Macht und Autorität, aber auch intelligent und unglaublich großzügig. Das sind die Dinge, die dir bleiben. Denk nur, alles lastete auf seinen Schultern, er arbeitete hart, um das nötige Geld zu verdienen, aber das größte Kotelett abends bekam ich. Das Familienoberhaupt allerdings war er, daran war nicht zu rütteln.
Mein Vater, Gerardo, war zunächst Dreher geworden. Er verließ die Schule nach der dritten Klasse, glaube ich, und begann schon sehr früh zu arbeiten. Er konnte lesen und schreiben, auch wenn es ihm nicht besonders leicht fiel. Später lernte er dann richtig gut rechnen, denn er führte eine kleine Autowerkstatt, die er mit einem Kompagnon aufgemacht hatte. Lina, meine Mutter, lernte er kennen - und das ist wieder eine dieser schönen Geschichten, die es bei den armen Leuten gibt -, weil sie in der Via del Porcellana wohnte und als Hutmacherin in Porta al Prato arbeitete, du weißt ja, damals trugen alle Frauen Hüte. Tag für Tag sah er diese schöne Frau vorbeikommen - denn deine Großmutter Lina war sehr schön mit ihrer zarten, weißen Haut und den pechschwarzen Haaren -, und irgendwie gelang es ihm, einem kleinen, unscheinbaren Männlein, sie zu erobern.
Meine Mutter war nicht besonders intelligent. Sie war beschränkt und voller Vorurteile. „Ich stamme aus Florenz. Mein Vater hat immerhin für den Grafen Gondi gearbeitet, nicht für den Bäcker von Monticelli!“Sie hasste Monticelli, weil es vor den Toren der Stadt lag und nicht im Schatten des Doms. Sie fühlte sich wie im Exil und wollte mit den gemeinen Frauen vom Land nichts zu tun haben. Sie hatte immer diese Sehnsucht, etwas anderes zu sein, und in gewisser Weise hat sie die auch auf mich übertragen.
Meine Mutter hatte die Macken aller Armen, die aufsteigen wollen. So gab sie etwa damit an, dass ihr Vater, mein Großvater Giovanni, der Koch des Grafen Gondi gewesen war und dazu noch sein besonderer Liebling, denn als der Graf irgendwann entdeckte, dass seine Frau ihn betrog, holte er seinen Revolver hervor, um sie zu erschießen. Mein Großvater aber ging dazwischen und entwand dem Grafen die Pistole. Ganz schön mutig für einen Koch, einem Grafen die Pistole aus der Hand zu nehmen! „Er mochte deinen Großvater so gern“, sagte sie manchmal zu mir, „dass er ihm die Reste seines Essens gab“. Essen war unglaublich wichtig. Wenn der Graf mit seinem Hühnchen fertig war, kriegte mein Großvater die Reste, und diese Tatsache wurde in der Familie als Beispiel für die Großzügigkeit des Grafen und das Prestige des Großvaters erzählt. Mich ärgerte das … ich war damals schon Anarchist.
FOLCO: Damals schon?
TIZIANO: Vielleicht wird man so geboren, vielleicht ist das etwas Genetisches. Ich bin immer ein Anarchist gewesen. Wenn ich einen Polizisten in Uniform sah, verspürte ich spontan Lust, ihm in den Hintern zu treten. Macht ist stets etwas Fremdes für mich gewesen. Ich war dagegen regelrecht allergisch.
FOLCO: Komisch. Schließlich waren deine Eltern ja nicht gerade Rebellen.
TIZIANO: Nein. Aber Großmutter Elisa und ihr Bruder Torello, die waren schon ziemlich verrückt. Sie waren Bauern, fühlten sich aber wie Herrschaften und fuhren in einem Pferdewagen herum. Sie waren anders als meine Eltern, und wir sahen sie ziemlich oft, weil sie uns besuchen kamen. Da es sonst keine Freizeitbeschäftigungen gab, besuchte man sich sonntags gegenseitig. Hauptsache man aß nicht bei den anderen! Man durfte erst ankommen, wenn sie mit dem Essen fertig waren, und boten sie mir etwas an - und ich hatte einen Heißhunger auf Schokolade oder Kekse! -, musste ich mindestens vier, fünf Mal „nein danke“sagen.
So bin ich erzogen worden. Und wenn ich mich innerlich noch so dagegen auflehnte, da war nichts zu machen! Einmal habe ich mir eine Ohrfeige eingehandelt, weil die Schwester meiner Großmutter Elisa, die ganz vernarrt in mich war, mir zur Begrüßung mal wieder einen ihrer schlabberigen Küsse gab und ich mir sofort die Wange abwischte. Meine Eltern schämten sich dafür. Um es kurz zu machen: Ich hatte mit dieser Familie nicht viel gemein.
FOLCO: Du hattest das Gefühl, nicht dazuzugehören?
TIZIANO: Ja. Und von Anfang an begriffen alle, dass ich von einer anderen Art war. Ich war einfach vollkommen anders. Ich erinnere mich noch genau an die fiesen Anspielungen meines Onkels Vannetto: „Na, ob der wirklich der Sohn seines Vaters ist?“Natürlich sollte das ein Witz sein, aber man sah eben, dass ich nicht dazugehörte. Ihre Welt war nicht die meine, und ich habe immer das Bedürfnis verspürt auszureißen.
Alle gingen davon aus, dass ich nach der Grundschule bei meinem Vater in der Autowerkstatt arbeiten würde. Das war damals so üblich. Als Hilfskraft fingst du damit an, das Öl zu filtern, später durftest du dann Teile zusammensetzen. Und nach und nach wurdest du ein Autoschlosser. Bei mir zu Hause hieß es immer: „Wenn du mit der Schule fertig bist, hilfst du dem Papa.“Auch mein Vater wollte das, so war das damals eben.
Ich aber hatte anderes im Kopf.
Oft litt ich an einem heftigen Husten mit Erstickungsanfällen, dann wurde ich zu einem Brunnen gebracht, an dem der Legende nach Franz von Assisi vorbeigekommen war und auf dessen Grund angeblich eine Sandale von ihm lag. Deswegen war das Wasser geweiht, und meine Mutter ließ mich davon trinken, weil sie meinte, das würde mir gut tun. Hinterher gingen wir die Straße nach Bellosguardo hinauf. Stell dir vor, aus den beiden winzigen Zimmern in Monticelli zur Torre di Montauto zu kommen, zur Villa dell’Ombrellino, zur Torre di Bellosguardo! Was war das für eine andere Welt! Und ich hatte das Gefühl, es sei die meine. Da wollte ich eines Tages hinkommen! Ich betrachtete die herrlichen Villen und fragte mich: „Wer wohnt bloß an einem so wunderschönen Ort?“Und meine Mutter sagte: „Da wohnt ein deutscher Maler, und dort ein englischer Bildhauer“, sie wusste das, die Frauen erzählten sich so etwas. Der Gedanke, dass all diese Häuser Ausländern gehörten, hat mich dazu gebracht, selbst ein Ausländer zu werden, damit ich es mir leisten konnte, zurückzukehren und in einem solchen Haus zu wohnen. Nein, nein, das ist natürlich ein Witz, aber irgendwie …
So habe ich die ersten Jahre verlebt. Ohne große Traumata, ohne große Emotionen. Die Grundschule von Monticelli lag nur ein paar Häuser weiter, doch immer, wenn ich aus der Schule kam, stand meine Mutter da und wartete auf mich. Ich durfte noch nicht einmal allein nach Hause gehen, hin und zurück führte sie mich immer an ihrer Hand. Ein paar meiner Kameraden dagegen, wie Bombolino - meine Herren! Kaum waren sie aus der Schule, gingen sie mit dem Lineal aufeinander los. Und wenn sie an mir vorbeikamen - zack! - gab es einen Schlag auf den Kopf. Und ich konnte mich nicht einmal wehren, weil meine Mutter mich festhielt.
Er lacht.
FOLCO: Und deswegen hast du immer gelernt? Weil du nicht spielen durftest?
TIZIANO: Gelernt habe ich, aber so viel nun auch wieder nicht.
Trotzdem war ich gut, immer der Klassenbeste. Das waren alles Arbeiterkinder, weißt du.
FOLCO: War deinen Eltern das Lernen wichtig? Haben sie dich angetrieben?
TIZIANO: Meiner Mutter war es wichtig, meinem Vater weniger. Er meinte, ich müsste danach ja sowieso arbeiten gehen. Aber es war gar nicht nötig, mich anzutreiben, ich lernte von selbst, damit identifizierte ich mich. Und es gefiel mir, Klassenbester zu sein, da bekam man eine Art Schleife zum Anstecken. Die Schulpflicht endete mit der fünften Grundschulklasse, und dann ab ins Arbeitsleben! Mein großes Glück war, dass mein letzter Klassenlehrer zu meinen Eltern sagte: „Der muss noch weiterlernen, lassen Sie ihn wenigstens noch die Mittelschule machen!“
Die Mittelschule war der erste Schritt in die Freiheit, denn sie lag an der Santa-Trinita-Brücke. Ich stieg in die Straßenbahn, die vor unserem Haus vorbeikam, endlich allein, da meine Mutter es sich nicht leisten konnte, mich zu begleiten, und schmeckte die ersten drei Jahre Freiheit. Endlich begann ich, Freundschaften zu schließen. Ich lernte Baroni kennen, Sohn eines Zahnarztes und Neffe eines Priesters, von dem er später eine schöne Bibliothek geerbt hat …
FOLCO: Ach genau, die Bücher!
TIZIANO: Denk nur, Folco, mein Verhältnis zu Büchern. Bei uns zu Hause hat es nie ein Buch gegeben, nie! Wir hatten keine! Aber mein Onkel Gusmano, ein Bruder meines Vaters, war Buchbinder. Und um sich etwas dazuzuverdienen, arbeitete er abends schwarz zu Hause für wohlhabende Leute, vor allem Ärzte. Dort habe ich die ersten Bücher meines Lebens in der Hand gehabt, eine in Heften erschienene Geschichte Italiens, wunderschön, mit lauter bunten Bildern: Mucius Scaevola, wie er die Hand aufs Feuer legt, der ermordete Julius Cäsar, Nero, der Rom in Brand steckt. Diese Hefte habe ich heimlich verschlungen, mein Onkel gab sie mir, bevor er sie zu Büchern band und mit einem schönen Lederdeckel versah. War das aufregend! Damals ist mein Bücherfetischismus entstanden. Sieh dich nur um, wie viele Bücher es heute in unserem Haus gibt!
Zur Mittelschule zu gehen, hieß für mich, endlich frei zu sein und erwachsen zu werden. Die Straßenbahn verband mich mit der Welt, ich fuhr nach Florenz! Ich befreundete mich mit Jungen aus einer anderen Schicht. Unglaublich, die Bibliothek von Baronis Onkel! Oft machten wir Schularbeiten bei ihm, und manchmal nahm ich mir heimlich ein Buch mit, um es zu Hause zu lesen. Diese wunderschönen Bücher, weißt du, mit Ledereinband und Goldschrift. Ich, Gambuti und noch zwei andere ließen so oft Bücher mitgehen, dass der Onkel uns schließlich jedes Mal durchsuchte, bevor wir sein Haus verließen!
Im letzten Jahr der Mittelschule, als ich vierzehn war, hat dann Cremasco eine entscheidende Rolle gespielt.
FOLCO: Cremasco? War das ein Lehrer?
TIZIANO: Ja, mein Italienischlehrer. Ich schrieb Aufsätze, über die er heute sagt: „Ich habe damals schon gesehen, dass in dir ein Schriftsteller steckt!“Er ist inzwischen sechsundneunzig und schreibt mir noch manchmal, gerade kürzlich habe ich ihm Noch eine Runde auf dem Karussell geschickt mit der Widmung: „Ohne Sie hätte ich dieses Buch nie geschrieben.“Ihm verdanke ich alles, denn er ließ meine Eltern zu sich kommen! Kannst du dir das vorstellen? Meine Mutter und mein Vater, die zum Lehrer in die Machiavelli-Schule bestellt werden, in diesen wunderschönen Bau neben der Santa-Trinita-Brücke, und gesagt bekommen: „Ich fürchte, Sie müssen noch einige Opfer bringen: Dieser Junge gehört einfach aufs Gymnasium!“
FOLCO: Was ich nicht verstehe, ist, woher du dieses enorme Interesse für die Schule hattest. Das gab es doch sonst bei keinem aus der Familie. Meinst du, so etwas ist angeboren?
TIZIANO: Vielleicht hatte ja mein Onkel recht und ich war gar nicht der Sohn meines Vaters. Aber wir sind ja auch nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Jeder Mensch hat seine eigene Welt, und meine war eben diese. Damals begannen wir, die Ilias zu lesen, Homer. Ich war begeistert.
Meine Eltern rangen sich dazu durch, mich aufs Gymnasium zu schicken. Und dann kam diese Geschichte mit den ersten langen Hosen, die auf Raten gekauft wurden. Wir gingen zum Kurzwarenhändler, er verkaufte uns meine ersten langen Cordhosen, und später ging meine Mutter dann einmal im Monat hin, um ihm die jeweilige Rate zu bringen. Meine Güte, für ein Paar Hosen! FOLCO: Hattest du nur ein Paar Hosen?
TIZIANO: Ja, natürlich. Sonntags wurden sie gewaschen, und am Montag zur Schule konnte ich sie wieder anziehen. So war das, Folco, so war das. Mein Gymnasium lag an einem der schönsten Orte von Florenz, ich weiß nicht, ob ich dir das mal gezeigt habe? An der Piazza Pitti. Da habe ich Dante und Manzoni gelesen, verstehst du? Mit Blick auf den Palazzo Pitti. War das schön! In diese völlig andere Welt einzutauchen, in diese schöne Sprache... Weißt du, die Liebesgeschichte zwischen Renzo und Lucia hatte mich richtig gepackt. Der Winkeladvokat, die Armen, die von den Reichen, den Mächtigen, den Priestern betrogen werden - ich war hingerissen.
FOLCO: Und was begeisterte dich damals sonst noch?
TIZIANO: Die Mädchen! Damals habe ich die Mädchen entdeckt, denn vorher waren wir immer getrennt gewesen. In der Grundund Mittelschule kriegte man sie nicht mal zu Gesicht! Aber im Gymnasium, als ich am ersten Morgen in die Klasse kam, saß in der ersten Reihe ein blondes Mädchen. Und ich - zack! - gleich daneben. Sie war drei Jahre lang meine Freundin. Sie hieß Isa. Ich wurde gezwungen, mich offiziell mit ihr zu verloben, weil wir zusammen ausgingen, dabei waren wir noch Kinder. Es war ganz anders als heute, an Sex war überhaupt nicht zu denken. Nachmittags, nach der Schule, gingen wir Hand in Hand in der Via dei Colli spazieren. Eines Tages erwischte uns ihr Vater, ein Bauunternehmer, der ein Auto besaß - meine Güte, ein Auto! - und meinte: „Dann verlobt ihr euch jetzt offiziell, denn ich will nicht, dass meine Tochter …“
FOLCO: Ihr musstet euch richtig verloben?
TIZIANO: Ja, bei ihnen zu Hause. Sogar meinen armen Vater musste ich überreden, mit einem Blumenstrauß in der Hand von der Porta Romana bis zu ihrer Villa hinaufzugehen und diese Idioten kennenzulernen. Wenn ich denke, dass ich dann noch zwanzig andere Freundinnen hatte, wenn ich in Orsigna war …
Im dritten Jahr des Gymnasiums, da war ich sechzehn, wollte ich unbedingt ins Ausland. Also sind ich und mein Freund Cleto Menzella zum Bahnhof gegangen und haben das Journal de Génève durchgeblättert, um uns für die Sommerferien eine Arbeit in der Schweiz zu suchen. Und dann passierte diese lustige Geschichte. Wir fanden die Anzeige eines großen Hotels in Bey sur Vevey, die einen garçon d’office suchten. Ich lernte damals Französisch und war überzeugt, alles zu verstehen. Trotz der Tränen meiner Mutter beschloss ich also, die Ferien nicht in Orsigna zu verbringen, sondern mit Menzella zum Arbeiten in die Schweiz zu fahren. Wir unterschrieben den Vertrag mit dem Hotel und besorgten uns Arbeitspapiere und einen Pass. Als wir ankamen, sagte der Personalleiter zu uns: „Ihr könnt euch hier in diesem Zimmer mit dem anderen Dienstpersonal einrichten, und dann zeige ich euch das office.“
Wie ich feststellen musste, war das office nicht etwa das Büro, wo ich eingebildeter Schnösel sitzen und Schreibmaschine schreiben konnte, sondern der stinkende Spülraum, wo ich von morgens bis abends Teller waschen musste. Das passte mir natürlich gar nicht, und so blieb ich nicht lange dort. Ich freundete mich mit einem Angestellten an und stieg schon bald in die Putztruppe auf. Dort lernte ich noch ein neues Wort, encostiquer, bohnern, und so bohnerte ich nun also die Holzfußböden.
Nach einiger Zeit, anderthalb Monaten oder so, ließen wir uns auszahlen und machten uns aus dem Staub, da oben in den Bergen war es uns zu blöd geworden. Und damit begann ein anderes tolles Abenteuer. Wir trampten durch Europa nach Paris. Place Pigalle, das erste Mal vor dem Moulin Rouge - Wahnsinn! Wir liefen durch die Stadt, schliefen in der Jugendherberge, lernten ein paar Mädchen kennen, die uns einluden. Dann fuhren wir über Belgien und Deutschland zurück nach Italien. Das war das erste Mal, dass ich in die Welt hinausging, und ich begriff: Das war mein Weg! Ich würde mir alles ansehen. Und dieses Bestreben ist mir geblieben, jeder Vorwand zum Reisen war mir recht. Ich liebte alles, was anders war. Noch heute habe ich den Geruch dieses office in der Nase, und den des Bohnerwachses auf den langen Holzfluren. Weißt du, einfach alles war anders: das Essen roch anders, die Straßen rochen anders. Das war 1955, und für einen Halbwüchsigen aus Florenz war die Schweiz etwas absolut Exotisches. Und Paris erst!
Als wir in die Schule zurückkamen, wurden wir wie Helden gefeiert. Wir hatten Ausweise als Saisonarbeiter! Und wir waren ganz schön kreativ damit umgegangen.
FOLCO: Du fingst an zu tun, was du wolltest. Was sagten denn deine Eltern dazu?
TIZIANO: Ach, weißt du, mein Vater lebte sein kleines Leben weiter, und meine Mutter das ihre. Manchmal kam ich nach Hause, aber meistens ging ich in die herrlichen Räume der Biblioteca Marucelliana und machte meine Schularbeiten dort, inmitten all der alten Bücher. Ich las und las und genoss das in vollen Zügen.
Mein Onkel Vannetto kam immer vor dem Abendessen bei uns vorbei und rief vom Fuß der Treppe aus: „Na, was hat unser Tagedieb heute gemacht?“Für ihn war ich nichts weiter als ein Faulenzer. Was tat ich denn? Ich arbeitete nicht, ich brachte kein Geld nach Hause, ich war nichts als ein aufgeblasener Geck mit Halstuch und Pfeife. Meine Mutter ärgerte sich maßlos, wenn er das sagte.
Ich machte das Abitur mit einer der besten Noten von ganz Florenz, und kurz darauf bekam ich einen Brief von der Banca Toscana, der die ganze Familie umhaute. Stell dir vor, sie luden mich zu einem Vorstellungsgespräch ein! Ich ging hin, und sie boten mir eine Stelle in der Bank an, was für meinen Vater, der sein Leben lang nicht einmal ein Konto besessen hatte, ungefähr so viel hieß, wie Papst zu werden.
Ich hingegen zitterte bei dem bloßen Gedanken daran. In einer Bank zu arbeiten, war schlimmer als eine Verdammung, das wäre mein Untergang gewesen! Aber ich hatte die gesamte Familie gegen mich. Besonders Onkel Vannetto machte Druck.
FOLCO: Ach, deshalb ist die Arbeit in einer Bank für dich immer ein Synonym des Bösen gewesen!
TIZIANO: Das Symbol für alles, was man nicht tun sollte!
Also setzte ich alles auf eine Karte und beschloss: Entweder ich erkämpfe mir ein Uni-Stipendium an der Scuola Normale in Pisa, oder ich muss aufs Studium verzichten und die Arbeit in der Banca Toscana annehmen. Ich war nicht ängstlich, als ich zur Prüfung ging, nein, an Angst kann ich mich nicht erinnern. Aber ich wusste, dass mein Leben davon abhing. Es war eine extrem schwierige Prüfung, zu der nur die besten Abiturienten Italiens zugelassen waren. Wir waren zweihundert Kandidaten für acht Plätze. Ich bekam einen davon, und das hat mein Leben verändert.
Nach dem Sommer ging ich nach Pisa. Ich hatte ein Zimmer im Studentenwohnheim der Mediziner und Juristen, und alles war umsonst, Essen, Studiengebühren, Bücher. Meine Eltern hatten sich damit abgefunden, unter diesen Bedingungen konnten sie ja schlecht nein sagen.
Das war auch der Sommer, in dem ich deine Mutter kennen gelernt habe.
Papa hustet.
FOLCO: Bist du erschöpft?
TIZIANO: Ja, jetzt bin ich erschöpft. Wollen wir aufhören?
FOLCO: So viele Geschichten, die ich noch nie gehört habe! Komisch, als hätten wir früher nie Zeit gehabt, darüber zu reden.
TIZIANO: Interessant für jemanden wie dich, der nicht weiß, woher er kommt. Was ich dir klarmachen möchte, und nicht nur dir, sondern auch deiner Schwester Saskia und euren Kindern, ist, was für eine Kultur das damals war, was für Werte Leute wie meine Eltern hatten. Ganz einfache und doch sehr starke Werte. Ehrlichkeit. Und dann diese Würde. Man besucht die Verwandten, die viel mehr Geld haben, aber man rührt nichts an, man sagt immer, „Danke, ich habe schon gegessen.“Weißt du, so etwas gibt Kraft, solche Grundsätze formen einen. Man kleidet sich sorgfältig. Man macht keine Besuche, wenn man nicht anständig gekleidet ist, sonst wird man aufgezogen. Arm und schwach zu sein und dann auch noch als Trottel dazustehen? Nein danke! Ich bin genauso elegant wie du! Und deine Suppe esse ich nicht, ich bin schon satt! Der andere wichtige Wert ist die Familie. Auch der allabendliche Besuch des nervtötenden Onkels gehörte einfach dazu. Die Familie war immer da. Darauf konnte man sich verlassen.
Das sind die Werte, mit denen meine Eltern aufgewachsen sind und die sie auf gewisse Weise auch an mich weitergegeben haben.
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel „La fine è il mio inizio“bei Longanesi & C., Mailand. Der Text wurde für die deutsche Ausgabe in Absprache mit Folco Terzani gekürzt.
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1. Auflage Taschenbuchausgabe November 2008 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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eISBN : 978-3-641-02350-8
 
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