Das entfesselte Jahrzehnt - Jens Balzer - E-Book
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Das entfesselte Jahrzehnt E-Book

Jens Balzer

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Beschreibung

Jens Balzer, einer der profiliertesten deutschen Kulturjournalisten, zeichnet ein farbiges Panorama der Siebziger, von der Mondlandung und Woodstock über die Ölkrise und den Deutschen Herbst bis hin zum Nihilismus des Punk. Ein Jahrzehnt, in dem sich so ziemlich alles ändert: Die Hippies erproben unerhörte Lebensweisen, die antiautoritäre Erziehung und die Emanzipationsbewegung ordnen die Familien- und Geschlechterverhältnisse neu, weltumspannender Idealismus trifft auf apokalyptische Weltuntergangsängste, und spätestens als Hacker den ersten "Personal Computer" bauen, wird deutlich: Genau hier beginnt unsere Gegenwart. Jens Balzer zeigt überraschende Verbindungen, erzählt anschaulich und spannend und versetzt uns ganz in diese aufregende Zeit. x

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Seitenzahl: 528

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Jens Balzer

Das entfesselte Jahrzehnt

Sound und Geist der 70er

 

 

 

Über dieses Buch

Millionen verfolgen die ersten Schritte der Menschheit auf dem Mond, kurz darauf feiern Hunderttausende in Woodstock die Gemeinschaft einer globalen Familie: Das ist der doppelte Startschuss für ein Jahrzehnt, in dem große Utopien aufgegeben, zugleich aber unbändige Energien entfesselt werden. Frauenbewegung und antiautoritäre Erziehung revolutionieren die Familienverhältnisse, neue, unerhörte Lebensweisen werden erprobt; dass sich jeder Einzelne neu erfinden kann, zeigt David Bowie mit der Kunstfigur Ziggy Stardust. Weltumspannender Idealismus trifft auf apokalyptische Weltuntergangsängste, man errichtet Protestcamps gegen Atomkraft und verliert sich im Zukunftsuniversum des Kinoblockbusters «Star Wars». Die Technik wird zum Faszinosum, und Hacker kommen auf die Idee, einen «Personal Computer» zu bauen. Das neue Mixen und Samplen führt geradewegs in die schillernde Disco-Welt und noch viel weiter: Hier nimmt die postmoderne Kultur ihren Anfang.

Jens Balzer zeichnet ein farbiges Panorama der siebziger Jahre, von der Hippiebewegung über die Ölkrise und den Deutschen Herbst bis zum Nihilismus des Punk. Er zeigt überraschende Verbindungen, erzählt anschaulich und spannend und versetzt uns ganz in diese aufregende Zeit: in das Jahrzehnt, in dem unsere Gegenwart beginnt.

Impressum

Copyright © 2019 by Rowohlt·Berlin Verlag GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Frank Ortmann, Berlin

Umschlagabbildungen: il67/iStock

Foto des Autors: Sven Marquardt

ISBN 978-3-644-10072-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Teil I Hinaus in die Weiten des Weltalls, hinein in die Tiefen der Seele: Die Utopien der Hippies und der Anbruch einer neuen Zeit (1969 bis 1970)

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Teil II Das Private ist politisch, und das Politische ist privat: Die Entfesselung der Sexualität und der Verhältnisse (1970 bis 1972)

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Teil III Softies, Spiesser und Disco-Queens: Leben und Feiern in den Siebzigern (1973 bis 1976)

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Teil IV Verlust und Wiedergewinn der Zukunft: Vom Nihilismus des Punk bis ins digitale Zeitalter (1976 bis 1978)

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Schluss

Dank

Bildnachweis

Teil IHinaus in die Weiten des Weltalls, hinein in die Tiefen der Seele: Die Utopien der Hippies und der Anbruch einer neuen Zeit (1969 bis 1970)

1. Kapitel

Leider doch kein so großer Schritt für die Menschheit: Die Mondlandung der Apollo 11 und das Woodstock-Festival

Menschen, wohin man auch schaut. Zwei gewaltige Massenversammlungen prägen den Sommer des Jahres 1969. Insgesamt anderthalb Millionen kommen im Abstand von wenigen Wochen zusammen, um jeweils einem utopischen Ereignis beizuwohnen; einem Ereignis, in dem die Versammlungsteilnehmer – jede Gruppe für sich – den Anbruch einer neuen Ära erkennen, wenn nicht gar: den Fortschritt der Menschheit auf eine nächsthöhere Evolutionsebene, auf eine Ebene, auf der die Angehörigen der Gattung nun endlich einsehen, dass es zwischen ihnen mehr Verbindendes als Trennendes gibt. Zweimal feiern im Sommer 1969 zwei unüberschaubare Mengen von Menschen den Beginn einer neuen und helleren Zukunft, den Eintritt einer lange ersehnten Hoffnung, den Beginn eines planetarischen Zeitalters; und beide Male handelt es sich um Utopien, die im Moment ihrer scheinbaren Realisierung schon wieder verloren sind. Diese Dialektik aus Utopie und Utopieverlust, aus der Sehnsucht nach einer erdumspannenden Gemeinschaft und der Vereinzelung der Menschen durch kollektive Enttäuschung wird für die siebziger Jahre prägend sein – insofern könnte man vielleicht sagen, dass die siebziger Jahre im Sommer 1969 beginnen.

Beide Massenversammlungen finden in ländlichen Gebieten an der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika statt, die Teilnehmer reisen mit Autos an. Bei der ersten von beiden geht es äußerst zivilisiert und wohlgeplant zu, bei der zweiten herrscht hingegen das nackte Chaos. Zu der ersten Massenversammlung kommt das Publikum paar- oder familienweise in eigenen oder in gemieteten Wagen mit Campinganhängern oder in Wohnmobilen. Man zeltet oder campt ordentlich nebeneinander entlang der Sichtachsen, die einen freien Blick auf das erwartete Jahrhundertereignis erlauben. Die Menschen sitzen auf Plastikstühlen an Plastiktischen, sie trinken aus Plastikbechern und essen von Plastikgeschirr; sie schlafen in Plastikzelten in Schlafsäcken aus Plastik; sie genießen es, von all diesem Plastik umgeben, an der frischen Luft und im Grünen zu sein, und sie freuen sich alle gemeinsam auf das Spektakel, wegen dem sie sich hier in der Natur versammelt haben: den bislang größten Triumph, den die Menschheit in der Bezwingung der Natur zu verzeichnen hat; einen Triumph über die Schwerkraft; einen Triumph über die Beschränkung des Lebens auf jenen Planeten, auf dem dieses Leben entstanden ist. Die runde Million von Menschen, die sich an diesem Wochenende im Juli 1969 in Brevard County im US-amerikanischen Bundesstaat Florida versammelt, wartet auf den Start der ersten bemannten Mondmission, Apollo 11.

Die zweite und kleinere der beiden Massenversammlungen findet einen Monat später und etwa zweitausend Kilometer weiter nördlich statt. Am 15. August kommt etwa eine halbe Million Menschen in Bethel im US-Staat New York zusammen, um ein nach dem nahegelegenen Ort Woodstock benanntes Musikfestival zu feiern. Jimi Hendrix, Grateful Dead und Janis Joplin treten hier auf, Crosby, Stills & Nash und Country Joe McDonald, die Helden der amerikanischen Hippiekultur der späten sechziger Jahre; aber auch ein junger, noch weitgehend unbekannter Gitarrist namens Carlos Santana und die ruppige britische Rockgruppe The Who. Die Attraktion dieser Veranstaltung ist enorm, schon einige Tage vorher kampieren die ersten Besucher auf dem Gelände. Am Ende hätte das Publikum, wie jenes beim Raketenstart, leicht aus einer Million Menschen bestehen können: So viele sind nach Schätzungen der Behörden an diesem Wochenende nach Bethel unterwegs. Aber nur die Hälfte von ihnen kommt überhaupt in die Nähe des Festivalgeländes. Derart groß ist der Ansturm der Massen, dass die Straßen der Umgegend vollständig verstopfen. Endlose Staus umgeben den Ort, an dem die Besucher doch eigentlich die reine Natur finden wollten: «Walk around for three days without seeing a skyscraper or a traffic light», ist in den ersten Ankündigungen für das Woodstock-Festival versprochen worden; keine Wolkenkratzer und keine Verkehrsampeln, dafür viel frische Luft: «Fly a kite, sun yourself. Cook your own food and breathe unspoiled air.» Lass einen Drachen steigen, nimm ein Sonnenbad. Koch dein eigenes Essen und atme unverschmutzte Luft.

Sie wollen die Natur spüren und Musik hören und Drogen nehmen, vor allem wollen sie auf diese Weise Teil einer großen Familie werden. Sie alle fühlen sich einsam in der Welt, in die sie hineingeboren wurden; sie sind unzufrieden mit der Gesamtsituation; sie möchten nicht so leben, wie ihre Eltern es ihnen vormachen: in den engen patriarchalen Familienstrukturen der amerikanischen Mittelschicht, mit einem vorgezeichneten Lebensweg. Stattdessen suchen sie nach einer neuen Familie; nach Menschen, die genauso unzufrieden sind wie sie selber; die genauso denken und fühlen, sich anziehen und die Haare schneiden oder eben gerade nicht schneiden. Es geht um die Freiheit von vorgegebenen Konventionen und Frisurenmodellen. «Freedom» heißt denn auch das meistbejubelte Stück, das der Folksänger Richie Havens im Eröffnungskonzert des Festivals singt. «Freedom» beschwört nicht nur die Freiheit als solche, sondern auch das Freiheitsgefühl, das durch das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft gestiftet wird, also: den familiären Zusammenhalt der jungen Hippies, die sich vor der Bühne versammelt haben. In ihnen, singt Richie Havens, hat er die Brüder und Schwestern gefunden, die ihm Halt bieten, wenn er sich einmal wieder wie ein Waisenkind fühlt, «when I feel like a motherless child».

Die Folksängerin Melanie Safka singt anschließend von all den «beautiful people», die sie im Publikum vor sich sieht. Und «beautiful», schön, sind diese Menschen gerade deswegen, weil sie sich umeinander kümmern: «and if you take care of me / then maybe I’ll take care of you». Das erhabene Gefühl der Zusammengehörigkeit wird durch die Faszination der unübersehbaren Menschenmengen noch übertroffen. «Früher waren wir nur wenige», sagt Janis Joplin während ihres Auftritts, «jetzt gibt es Massen und Massen und Massen von uns.»

Eine halbe Million Menschen versammelt sich im August 1969 zum Woodstock-Festival: ein erhabener Anblick. «Früher waren wir nur wenige», verkündet Janis Joplin auf der Bühne, «jetzt gibt es Massen und Massen und Massen von uns.

Am Nachmittag des dritten Tages tritt der Farmer Max Yasgur, auf dessen Gelände das Festival stattfindet, vor das Publikum und hält eine kurze Ansprache. «This is the largest group of people ever assembled in one place», sagt er; das sei die größte Menge von Menschen, die sich jemals an einem einzelnen Ort versammelt habe. «Wir hatten keine Ahnung, dass es so viele sein würden», darum habe es ein paar Unannehmlichkeiten gegeben, und man müsse den Veranstaltern dafür danken, dass sie sich um alles derart umsichtig gekümmert haben. «Aber das Wichtigste ist: Ihr habt der Welt bewiesen, dass eine halbe Million Kinder – und ich nenne euch Kinder, denn meine eigenen Kinder sind älter als ihr –, dass eine halbe Million junger Leute zusammenkommen kann, um drei Tage lang Spaß und Musik zu haben und nichts als Spaß und Musik.» Danach segnet er die Besucherscharen vor ihm mit einer großen, weitausholenden Geste.

Max Yasgur trägt eine schwarze Hose, ein weißes Hemd, eine Hornbrille und einen sauberen, kurzen Haarschnitt. Mit diesem Styling dürfte er in der halben Million Menschen, die an diesem Wochenende bei ihm zu Gast sind, der Einzige sein. Die Besucherinnen und Besucher des Festivals tragen durchweg bunte und weite Kleidung, viele sind auch nur spärlich angezogen; wenn sie ihre Haare frisiert haben, dann so, dass die Frisuren nicht als solche zu erkennen sind. Man sieht Schlaghosen, Hemden, Blusen und Kostüme mit aufgedruckten Blumen oder auch aufgedruckten Pantoffeltierchen. Viele Männer laufen aufgrund der sommerlichen Temperaturen und zur Demonstration ihrer zivilisationskritischen Grundeinstellung mit entblößter Brust herum und gar nicht so wenige Frauen auch. «Free the Nipples» – befreit die Nippel – lautet eine Devise der Hippiebewegung, die an diesem Ort massenweise umgesetzt wird. Viele Frauen tragen Blumengebinde im Haar, und gar nicht so wenige Männer tun es ihnen gleich. Viele Männer sind auch in wallende Gewänder gekleidet, die ebenso gut für eine Frau geschneidert sein könnten. Viele Frauen haben ihre Haare kurz geschnitten, wie man es in der westlichen Mehrheitsgesellschaft sonst nur von Männern kennt, während viele Männer ihre Haare lang und lockig tragen. Die langhaarigen Menschen beiderlei Geschlechts neigen dazu, ihre Frisuren mit farbenfrohen Stirnbändern zu bändigen. Es gibt also eine klare Tendenz zur geschlechtergrenzenüberschreitenden Bekleidung, die sich am sichtbarsten aber wohl darin äußert, dass sehr viele Frauen auf dem Festivalgelände Hosen tragen.

Aber nicht nur die traditionellen Geschlechtergrenzen sollen hier überschritten werden, sondern auch die Grenzen zwischen den Kulturen. Die Stirnbänder, ebenso wie die bunten Druckmotive auf den wallenden Gewändern, zitieren Götter- und Stammeszeichen der nordamerikanischen Ureinwohner. Man sieht aber auch Ponchos, die unmittelbar aus der Kultur der südamerikanischen Ureinwohner importiert worden sein könnten, oder bunte Dashikis, wie sie sonst im westlichen Afrika von Männern und Frauen gleichermaßen getragen werden.

Überraschend viele Menschen haben sich in die Farben der US-amerikanischen Nationalflagge gekleidet. Was allerdings nicht als Ausdruck des Patriotismus zu werten ist oder gar als Unterstützung der Politik des gerade amtierenden Präsidenten Richard Nixon. Im Gegenteil, die Kritik am US-amerikanischen Krieg in Vietnam gehört zu den wesentlichen einigenden Motiven für die Hippiekultur. Gerade deswegen kombinieren die jungen Kriegsgegner patriotische und militärische Bekleidungsstücke und Accessoires mit Blumenstirnbändern, Blumenketten und feminin berüschten Blusen. Sie wollen zeigen, dass die modischen Symbole und die Ikonographie des falschen Bewusstseins in Symbole des Friedens und der Harmonie verwandelt werden können.

Das beliebteste militärische Kleidungsstück unter den Woodstock-Besuchern sind die Bell-Bottoms, zu deutsch: Schlaghosen. Diese sind bis in die sechziger Jahre hinein ausschließlich von den Matrosen der U.S. Navy getragen worden. Bis zum Ende des Jahrzehnts haben sie ihren Weg über Secondhandläden mit ausgemusterten Armeeklamotten bis in die wiederverwendungsfreudige Hippiekultur gefunden – wo sie von Männern wie von Frauen angezogen werden. So entsteht die modische Symbolik der Schlaghose aus einer doppelten Aneignung und Umwertung: Aus einem militärischen Bekleidungsstück für Männer wird ein militärkritisches Bekleidungsstück für Männer und Frauen gleichermaßen; mithin ein Symbol dafür, dass Bekleidung nicht dem überkommenen Geschlechterdualismus zu gehorchen hat. In den folgenden Jahren wird die Schlaghose zu einem der prägenden Bekleidungsstücke der Gegen- und Popkultur, sie ist im Glamrock ebenso zu finden wie in der Discokultur, bis sie sich gegen Ende der siebziger Jahre in das Symbol einer unbedingt zu überwindenden Geschmacksverirrung verwandelt.

Die jungen Schlaghosenträger und -trägerinnen, die in Bethel zusammengekommen sind, werden wesentlich durch zwei Wünsche geeint. Der erste Wunsch ist: Sie wollen anders sein als die anderen Menschen. Der zweite Wunsch ist: Sie wollen die Avantgarde einer anderen, künftigen Menschheit darstellen, einer Menschheit ohne Grenzen und Einschränkungen; einer Menschheit, in der alles möglich ist. Sie wollen zeigen, dass sie sich jeden beliebigen kulturellen Kleidungsstil aneignen können, weil es in ihrer Welt keine Grenzen mehr gibt und weil die Kraft ihrer Liebe und ihres harmonischen Miteinanders stärker ist als alle Versuche der Politik, die Menschen voneinander zu trennen. Sie sind fast alle zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Die allermeisten von ihnen sind von weißer Hautfarbe, so wie auch auf der Festivalbühne außer Richie Havens, Sly & the Family Stone und Jimi Hendrix keine Afroamerikaner zu sehen sind. Man könnte also sagen, dass der Wunsch nach planetarischer Gemeinschaft und harmonischer Diversität, die Utopie eines weltumspannenden anderen Lebens von einer Gruppe zelebriert wird, die in sich äußerst homogen ist; das reale Andere, das sich in der sie umgebenden Gesellschaft findet, ist hier abwesend.

 

Die Menschen, die einen Monat zuvor in Brevard County auf den Start der Apollo-11-Rakete warten, erwecken in dieser Hinsicht einen weitaus bunteren, diverseren Eindruck. Sie kommen aus allen Teilen der USA und aus allen kulturellen und sozialen Schichten; dementsprechend unterschiedlich sind sie gekleidet und verhalten sie sich. Der Journalist und Schriftsteller Norman Mailer beschreibt das Publikum in seiner Reportage über die Apollo-11-Mission, «Of a Fire on the Moon»: Nicht nur das typische Mittelklasse-Amerika sei hier zu sehen, sondern auch das stolze, gewerkschaftlich organisierte Proletariat und arme Familien aus dem Mittleren Westen, spiddelige Redneck-Honkytonk-Clans und strenggläubige Christen. Es finden sich nicht nur Paare und Familien, sondern auch viele Kumpelgruppen von Männern reiferen Alters. Als exemplarischer Publikumstypus erscheinen Mailer die braungebrannten Fabrikarbeiter und Mechaniker, die ihr Leben lang in inniger Zwiesprache mit Technik und Maschinen verbracht haben: Wenn sie auf die Mondrakete blicken, dann blicken sie in eine Zukunft, in der die Maschinen die Weltherrschaft übernehmen werden. Darüber könnten die Fabrikarbeiter und die Mechaniker, all die maschinenliebenden Männer, sich freuen. Allerdings werden die Maschinen der Zukunft so kompliziert sein, dass keiner von ihnen sie mehr versteht.

Nicht nur in Woodstock, auch in Brevard County werden Popstars verehrt. Das sind einerseits natürlich die drei Astronauten, die am 16. Juli in das Weltall starten – andererseits Tausende und Abertausende von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern, die im Kommandozentrum der NASA für das Gelingen des Flugs verantwortlich sind. Auch sie beschreibt Norman Mailer: Sie tragen schwarze Hosen, kurzärmelige weiße Hemden und schmale dunkelfarbige Schlipse; fast alle haben ihr glattes Haar ordentlich kurz geschnitten. Anders gesagt: Die Popstars der Zukunft, wie sie in und um Cape Canaveral in Erscheinung treten, sehen aus wie jüngere Ausgaben des in Woodstock so vereinsamt wirkenden Farmers Max Yasgur. Oder: als wären sie direkt aus der Vergangenheit der fünfziger Jahre in jene Gegenwart hineingefallen, die sich nun auf der Schwelle zur Eroberung der utopischen Zukunft wähnt.

Die ersten Menschen auf dem Weg zum Mond: Am Morgen des 16.  Juli 1969 startet Apollo 11 an der Spitze der Trägerrakete Saturn V in Brevard County im US-Bundesstaat Florida.

Am 16. Juli um 9.32 Uhr Ortszeit startet Apollo 11 in den wolkenlosen und sonnigen Himmel. Auf den Tag genau vierundzwanzig Jahre nachdem 1945 die erste US-amerikanische Atombombe über der Wüste von Alamogordo in New Mexico gezündet worden ist, wird wieder die Fotografie eines flammenden Feuerballs zum Sinnbild für den Zustand der Erde. Nur dass es dieses Mal nicht das Bild einer Bedrohung ist, der Zerstörung des gesamten Planeten, sondern das Bild einer Verheißung: dass es möglich sein kann, diesen Planeten zu verlassen und in die unendlichen Weiten des Alls aufzubrechen, «the final frontier», wie es seit 1966 im Vorspann der Fernsehserie «Star Trek» heißt. Nach zwölf Minuten erreicht die Apollo-11-Rakete die Erdumlaufbahn, nach anderthalb Umkreisungen des Planeten wird eine weitere Raketenstufe gezündet, und das Raumschiff befindet sich auf dem Weg zum Mond. Drei Tage später landet es auf dessen Oberfläche. «That’s one small step for a man, one giant leap for mankind», sagt der Apollo-11-Astronaut Neil Armstrong, als er als erster Mensch seinen Fuß auf einen anderen Himmelskörper setzt: Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein gigantischer Sprung für die Menschheit. Die Eroberung des Alls soll im Zeichen des Friedens geschehen: «We came in peace for all mankind», steht auf der Plakette, die an der Trittleiter der Mondlandefähre von Apollo 11 angebracht ist: Wir kamen in Frieden für die ganze Menschheit.

Eine halbe Milliarde Menschen, so wird heute geschätzt, sieht sich am 20. Juli 1969 die Bilder der Mondlandung im Fernsehen an. Ich selber habe auch zugeschaut, allerdings ist meine Erinnerung eher verschwommen, da ich zu diesem Zeitpunkt erst zwölf Tage alt bin. Meine Mutter hat aber gerne erzählt, wie sie mit mir auf dem Arm die Übertragung verfolgte und der Nachbarin auf der gegenüberliegenden Straßenseite durch das geöffnete Fenster hindurch zurief: «Guck doch nur, sie hüpfen auf dem Mond» – in einem von den Weltläufen ansonsten eher abgeschiedenen norddeutschen Dorf, in dem es im Jahr 1969 nur in wenigen Wohnzimmern überhaupt schon einen Fernseher gibt. Aber bei Ereignissen wie diesen werden die noch ohne Fernseher lebenden Menschen selbstverständlich eingeladen, um die spektakulären Bilder gemeinsam mit ihren Nachbarn anzusehen: auf Schwarzweißgeräten, die wie etwas klobige Möbelstücke aussehen und mit Lamellen versehen sind, die man, wenn man nicht mehr in die weite Welt gucken will, vor die Bildröhre schieben und abschließen kann.

Freilich sind die Bilder, die es von diesem Ereignis gibt, letztlich doch wenig spektakulär. Man sieht Neil Armstrong und etwas später auch seinen Mannschaftskameraden Buzz Aldrin auf der Mondoberfläche herumhüpfen und Gesteinsproben nehmen. Norman Mailer verfolgt die Live-Übertragung zusammen mit Wissenschaftlern und anderen Journalisten im Kontrollzentrum der NASA in Houston, Texas, und befindet schon nach anderthalb Stunden, wie sehr ihn die Sache zu langweilen beginnt. Auch die Konzentration seiner Mitzuschauer nimmt nach kurzer Zeit erheblich ab. Was man sieht, hat ja auch nichts Erhabenes an sich. 400000 Menschen haben zu Spitzenzeiten gleichzeitig am Mondprogramm der NASA gearbeitet, vierundzwanzig Milliarden US-Dollar wurden dafür ausgegeben, aber all der technische Aufwand, die gewaltigen Kosten, all die Spitzenleistungen des Ingenieurwesens und der menschlichen Intelligenz im Allgemeinen haben dann doch nur dazu geführt, dass sich zwei Männer in dicken Astronautenanzügen unbeholfen über die Oberfläche eines unwirtlichen Himmelskörpers bewegen. Zwei winzige Kreaturen in unendlichen Weiten – wobei die unendlichen Weiten nicht so aussehen, als könnte man dort aufregende Abenteuer erleben; sondern eher, als ob man sich dort sehr einsam und verlassen fühlt.

Die Ernüchterung, die Norman Mailer schon in den ersten Stunden nach der Mondlandung verspürt, ist exemplarisch. Die Begeisterung für die Mondmission wird nach dem Juli 1969 schnell schwinden, schon unmittelbar danach mehren sich die Stimmen, die den Nutzen der Unternehmung bezweifeln. «Es ist möglich», schreibt etwa das Nachrichtenmagazin «Time» dazu, «den Mond über den Dächern von Harlem und Watts aufgehen zu sehen und nur Bitterkeit zu empfinden angesichts des Milliardenaufwands und der ungeheuren Anstrengung, die kein einziges Menschenleben verbessert, keine einzige Wohnstatt in den Ghettos dieser Welt verändert hat.» Die Faszination verfliegt schnell, eben auch, weil die Bilder so wenig taugen.

 

Im Fall des Woodstock-Festivals ist es gerade andersherum: Hier wächst die Faszination mit der Zeit, weil immer mehr zirkulierende Bilder das Ereignis mit Bedeutung und Pathos aufladen. Während des Festivals und in den Tagen und Wochen danach herrschen vor allem Enttäuschung und Frustration. Die heranströmenden Publikumsmassen sorgen dafür, dass den Veranstaltern das Ereignis vollkommen über den Kopf wächst. Nicht nur bei der Anreise herrscht Chaos. Es gibt natürlich auch viel zu wenig sanitäre Anlagen auf dem Gelände, und die Versorgung mit Lebensmitteln bricht schnell zusammen – jedenfalls die Versorgung mit Hamburgern und Steaks, die nach Vorstellung der Woodstock-Verantwortlichen im Zentrum des allgemeinen Speiseplans stehen sollten. Glücklicherweise sind einige Mitglieder der kalifornischen Hog-Farm-Kommune zugegen, die wissen, wie man aus einfachen Zutaten – Milch, Honig, Rosinen, Nüssen, Mandeln und Haferflocken – einen pappigen, aber auch in geringen Portionen appetitstillenden Mischmasch zusammenbekommt. Die Notspeisung, die sie für die hungrigen Massen anrühren, wird in den siebziger Jahren dann zu einem der beliebtesten Gerichte der Alternativkultur; ich komme weiter hinten in diesem Buch darauf zurück.

Aber auch wer sich während des Festivals mit der nach dem Verschlucken im Bauch noch langsam aufquellenden Müslipampe gesättigt hat, findet mühelos Gründe, um unzufrieden zu sein. So groß ist die Publikumsmenge geworden und so unübersichtlich ist das Gelände, dass viele Zuschauer und Zuschauerinnen von den Ereignissen auf der Konzertbühne überhaupt nichts sehen und hören. Das Wetter ist schlecht, schon am ersten Abend regnet es in Strömen, der indische Sitarspieler Ravi Shankar muss seinen Auftritt abbrechen. Am zweiten Abend ist es die Lieblingsgruppe der Hippies, Grateful Dead, die während ihres Konzerts mehrfach pausieren muss, angeblich ebenfalls wegen des Regens. Es sei in den Gitarrenverstärkern zu Kurzschlüssen gekommen, heißt es hinterher, und die Musiker fürchten sich vor elektrischen Schlägen. Vielleicht haben sie aber auch nur zu viele Drogen genommen. Manche der auf dem Festival auftretenden Künstler sind so bedröhnt, dass sie sich kaum noch an ihre Texte erinnern, wie der ehemalige Sänger der Rockband The Lovin’ Spoonful, John Sebastian. Oder sie verirren sich zwischen den Stücken – wie Arlo Guthrie – in langen, wirren Monologen.

Auch das Publikum steht zum überwiegenden Teil unter Drogen, man bevorzugt Marihuana, LSD und Meskalin. Viele der jungen Leute, die sich in Bethel versammeln, kommen bei dieser Gelegenheit mit derlei bewusstseinserweiternden Mitteln erstmals in Kontakt. Entsprechend verbreitet sind Ausfälle und Überdosierungen. Glücklicherweise verteilen die Mitglieder der Hog-Farm-Kommune nicht nur Müsli aus großen Kesseln; sie haben auch ein Feldlazarett eingerichtet, in dem sie die medizinischen Notfälle versorgen. Am Ende des Festivals, nachdem der Gitarrist Jimi Hendrix am Montagmorgen vor den sich nun rapide leerenden Reihen die US-amerikanische Nationalhymne zerfetzt und sein Instrument angezündet hat, gehen die meisten Besucher mit einem schweren Kater nach Hause.

Der Kater hält eine Weile an. Die ersten Berichte, die sich in der Presse finden, haben einen durchweg kritischen oder zumindest verstörten Tenor. Erst mit ein wenig zeitlichem Abstand wächst das Ereignis zu jener mythischen Größe, die sich noch fünfzig Jahre später mit dem Namen Woodstock verbindet. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet die Sängerin und Songschreiberin Joni Mitchell. Einen Monat nach dem Festival, im September 1969, präsentiert sie bei einem Konzert erstmals ihren Song «Woodstock». Darin preist sie die Kinder Gottes, die sich in so großer Zahl an diesem Ort versammelt haben, «by the time we got to Woodstock / we were half a million strong»; und weil sie alle in so friedlicher und friedenstiftender Weise zusammengekommen sind, ist Woodstock für Mitchell nichts anderes als eine moderne Form des Garten Eden, des Paradieses: «and we’ve got to get ourselves back to the garden». Dabei ist Mitchell selber gar nicht vor Ort gewesen, sie nimmt zeitgleich in New York an einer Fernsehshow teil und lässt sich lediglich von ihrem Freund Graham Nash von den Ereignissen berichten. «Aber den Geist und die Bedeutung von Woodstock», so hat es Nashs damaliger Bandkollege David Crosby später gesagt, «hat sie in diesem Song besser beschrieben als irgendjemand, der wirklich auf dem Festival war.»

Damit ist der Kern des Phänomens Woodstock treffend beschrieben: Man begreift seine «Wahrheit» nur, wenn man begreift, dass die Wahrheit im verklärenden Mythos besteht und nicht in den realen Ereignissen auf den Feldern um Bethel. Die Wahrheit von Woodstock hat sich erst nach und nach herausgebildet, und Nostalgie gehört wesentlich zu dieser Wahrheit hinzu. Ihren Höhepunkt findet diese nachträgliche Verklärung ein Jahr später, im Sommer 1970, als der Film «Woodstock» von Michael Wadleigh in die Kinos kommt: eine dreistündige Dokumentation des Geschehens, die nicht nur durch ihre Konzertaufnahmen besticht, sondern vor allem durch die Aufnahmen, die Wadleighs Kameraleute von den unüberschaubaren Massen auf dem Festivalgelände gemacht haben. In Flugzeugen sind sie über die Menschen hinweggeflogen, um sie von oben zu filmen; jeder, der dabei war, kann nun noch einmal aus der Vogelperspektive betrachten, wie er an diesen drei Tagen zum Bestandteil einer mythischen Menschenmenge wurde. Das stiftet ein erhabenes Gefühl – auch wenn man sich in dem Moment, da man inmitten dieser Menschenmenge stand, vor allem über das Chaos erregte und über den Stress, der damit verbunden war.

Im Rückblick ist es also gerade das Zu-groß-Geratene, Aus-dem-Ruder-Gelaufene von Woodstock, aus dem sich der Mythos speist – das Gefühl, dass sich hier etwas Einzigartiges, nie Dagewesenes und auch nie Wiederkehrendes ereignet hat. Wer dabei war, kann sich nachträglich als Teil eines historischen Moments imaginieren, in dem eine Menge von Menschen sich zur Avantgarde der gesamten Gattungsentwicklung erhoben hat: Alle gemeinsam zeigen in ihrer Schönheit und harmonischen Einheit der restlichen Menschheit den Weg ins Paradies. Das verbindet das Publikum von Woodstock wiederum mit den Millionen von Menschen, die der Mondlandung beiwohnen – auch wenn diese nun gerade nicht das Ergebnis eines mythischen Chaos ist, sondern im Gegenteil aus der äußersten Anstrengung rationaler Ordnung resultiert. Aber so wie die Hippies in Woodstock glauben können, dass die Gegenkultur des «Summer of Love» sich zur globalen Herrschaft aufschwingen wird oder zumindest den Weltgeist auf ihrer Seite hat – so können sich die Millionen Menschen vor den Fernsehbildern der Mondlandung für einen kurzen Moment als Mitglieder ein und derselben Spezies fühlen, die sich auf ein und demselben Weg in die Zukunft befinden, aller politischen Differenzen auf der Erde zum Trotz.

Sie alle haben unrecht, wie wir heute wissen. Die Geschichte der bemannten Raumfahrt gerät bereits in dem Moment ins Stocken, in dem sie beginnt; weiter als bis zum Mond ist der Mensch bislang nicht gereist. Die Eroberung des Weltalls ist hier an einen Höhe- und Endpunkt gelangt, so wie auch die Hippiebewegung in Woodstock keinen evolutionären Neuanfang für die gesamte Menschheit erringt, sondern ebenfalls an den Höhe- und Endpunkt ihrer eigenen Entwicklung kommt. Die Pop- und Gegenkultur, als deren Avantgarde sich die Hippies verstehen, zersplittert in viele kleine Teile; nie wieder wird irgendjemand glauben, dass die gesamte Menschheit sich auf dem Weg in das Paradies befindet, nur weil viele Menschen die gleichen Drogen nehmen und die gleiche Musik hören wie man selbst. «Das Zeitalter der großen Erzählungen ist vorüber», so hat der französische Philosoph Jean-François Lyotard die Situation am Ende der siebziger Jahre rückblickend in seinem Buch «Das postmoderne Wissen» beschrieben; das gilt für die große Erzählung vom technischen Fortschritt und vom unumkehrbaren Weg der Menschheit ins All ebenso wie für die große Erzählung von der menschheitsverbessernden Kraft einer Gegenkultur, die «Peace, Love & Harmony» über die ganze Welt bringen möchte.

 

Was folgt aus diesem Ende der großen Erzählungen? Wie geht es weiter mit den Utopien und mit der Popkultur? Davon will dieses Buch erzählen. Leicht könnte man meinen, dass die Siebziger ein Jahrzehnt der Ernüchterung und der Ziellosigkeit sind. Aber das Gegenteil ist der Fall, wie sich schnell zeigen wird: Das Scheitern der weltumspannenden Visionen entfesselt eine erstaunliche Vielzahl utopischer Kräfte, die die Welt dauerhaft verändern, jede auf ihre Weise. Gerade weil die großen Erzählungen an ihr Ende gelangen, öffnet sich der Raum für jene «kleinen» Erzählungen, deren Wirkung viel stärker und nachhaltiger ist, als man es in den rauschhaften Sechzigern träumte.

Die Hippies und die «beautiful people» von Woodstock, aber auch die protestierenden Studenten und Studentinnen der europäischen 68er-Generation haben sich und der Welt bewiesen, dass man nicht so denken, fühlen und lieben muss, wie die Eltern es vorgemacht haben. Ein anderes Leben ist möglich: Diese eine, wesentliche Erkenntnis der sechziger Jahre lässt sich nicht wieder aus der Welt verbannen, sie ist unhintergehbar. Aber was fängt man mit der Erkenntnis an, dass man sein Leben in Freiheit gestalten kann? Wenn wir das Alte nicht mehr wollen – was wollen wir dann? Das sind die Fragen, die sich in den Siebzigern stellen.

Aus dem Taumel des «Summer of Love» und der Studentenproteste bilden sich jene sozialen Bewegungen heraus, die unsere Gesellschaft bis heute prägen. Der neue Feminismus verändert die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und Generationen, zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern; er verändert das Verhältnis der Menschen zu ihren Körpern, zu den Arten des Zusammenlebens und den überkommenen Institutionen, zur Familie, zur Ehe, zur klassischen Zweierbeziehung, und das heißt letztlich: Er verändert das Verhältnis der Individuen zu ihrem Selbst.

Die Umweltbewegung verändert das Verhältnis der Menschen zu ihren Lebensgrundlagen, zu ihrer Ernährung, ihren Mitgeschöpfen, zur Zivilisation und zu dem Planeten, der diese Zivilisation trägt. Wenn die Mondlandung am Ende der sechziger Jahre ein globales Bewusstsein erzeugt – ein Bewusstsein davon, dass alle Menschen auf ein und demselben Planeten wohnen –, so wirkt dieser Planet in den Siebzigern nun bald eng, verletzlich und endlich, er wirkt erschöpfbar und erschöpft. Damit verkehrt sich die existenzielle Entfesselung der Hippie-Ära in eine moralische Pflicht: Die Umweltbewegung glaubt nicht mehr nur daran, dass man die Verhältnisse ändern kann; sie ist der Überzeugung, dass man sie ändern muss, um das Überleben der Menschheit zu sichern.

Die siebziger Jahre sind ein Jahrzehnt der Entfesselung; eine Zeit, in der Gewissheiten in Frage gestellt werden; eine Zeit, in der das Neue mehr gilt als das Alte und das Experiment mehr als die Tradition. Das hat natürlich nicht nur helle Seiten, auch der obsessive Flirt mit dem Bösen und Destruktiven ist ein Signum dieses Jahrzehnts. Eine seiner wesentlichen politischen Entäußerungsformen wird der Terrorismus sein. In der Popkultur regiert ein Regress in Eskapismus und Okkultismus, allenthalben breitet sich eine Faszination für das Spirituelle, Satanische, Irrationale aus. Zugleich aber – das ist die andere Seite der Dialektik – wird die Popkultur zum Laboratorium eines existenziellen Futurismus, zum Ort neuer Selbstverhältnisse und Daseinsformen. David Bowie verwandelt sich in Ziggy Stardust, das bisexuelle Alien, und gibt vielen Menschen, die sich fremd in ihren Körpern und einsam in der Welt fühlen, die Gewissheit, dass sie nicht allein sind – dass es vielen anderen so geht wie ihnen. Und mit Disco entsteht Anfang der siebziger Jahre die erste Popkultur, in der nicht mehr nur weiße heterosexuelle Männer den Ton angeben, sondern in der Menschen verschiedener Geschlechter, Herkunft, Hautfarben, Klassen und sexueller Orientierungen ein utopisches Modell von «Peace, Love & Harmony» leben.

Wenn die Siebziger ein Jahrzehnt der Entfesselung sind, dann geschieht diese gleichermaßen in der Politik wie im Pop, beide Sphären sind nicht voneinander zu trennen. Der Pop wird zum wesentlichen Feld aller kulturellen Transformationen, und er erschafft – erstmals in der Nachkriegsgeschichte – den Resonanzraum einer gemeinsamen westlichen Kultur. Was in den USA, Großbritannien und Westdeutschland geschieht, ist vielfältig miteinander verflochten; darum kann und muss die Geschichte, die hier erzählt wird, immer wieder die nationalen Perspektiven wechseln.

In unserer Gegenwart, fünfzig Jahre später, beobachten wir den Zerfall dieser westlichen Kultur; sie wird von den Fliehkräften der Globalisierung ebenso zerrissen wie vom Revival der Nationalismen. «Peace, Love & Harmony» für die Welt scheint heute weiter entfernt denn je. Aber man kann eben auch aus den Siebzigern lernen, dass aus dem Zerfall utopischer Gewissheit und Hoffnung etwas Neues und Schöneres entstehen kann.

2. Kapitel

Nicht im Weltall, sondern in einer Welt ohne Männer liegt die Zukunft: Die Neuerfindung des Feminismus aus dem Geist der Antibabypille

Rückblickend betrachtet, haben die Landung der ersten bemannten Mondfähre und das Woodstock-Festival also vieles gemeinsam. Von den Zeitgenossen des Jahres 1969 werden die beiden Ereignisse indes – sofern man sie überhaupt einmal im Zusammenhang sieht – eher als Gegensatz gewertet.

Aufschlussreich ist hier ein Text der konservativen US-amerikanischen Philosophin und Science-Fiction-Autorin Ayn Rand, basierend auf einem Vortrag, den sie im November 1969 in Boston gehalten hat. Rand vergleicht die beiden Ereignisse unter dem Titel «Apollo and Dionysus». Zwar sei die Tatsache, dass die Mondfähre den Namen Apollo trug, zweifellos ein «Zufall», wie sie eingangs erklärt; doch sei dieser Zufall äußerst hilfreich. Denn so könne man die Mondlandung und Woodstock entsprechend jener begrifflichen Opposition analysieren, die Friedrich Nietzsche in seiner Schrift «Die Geburt der Tragödie» entwickelt hat. Bei der Mondlandung zeige sich die helle, vernünftige, individualistische Seite des menschlichen Geistes: also dasjenige, was Nietzsche «das Apollinische» nennt. In Woodstock manifestiere sich dagegen «das Dionysische»: also die dunkle, triebgesteuerte, sich nach rauschhafter Kollektivierung und der Aufgabe des eigenen Selbst sehnende Natur des Menschen. In diesen beiden Ereignissen zeige sich nichts weniger als «der fundamentale Konflikt unseres Zeitalters», so Rand: Jeder Mensch müsse sich in diesem historischen Moment entscheiden, ob er das Apollinische oder das Dionysische wählt; ob er der «Rationalität» den Vorzug erteilt oder der «irrationalen Emotion». Dabei seien unter den «kulturellen Eliten» der Zeit starke Kräfte am Werk, die die Gesellschaft auf die Seite des Dionysischen ziehen wollten und «in den Schlamm von Woodstock hinein».

Man erahnt schon anhand der Wortwahl, welcher Seite dieses begrifflichen Gegensatzes die Sympathien von Ayn Rand gehören. Sie ist die leidenschaftliche Verfechterin einer rationalistischen Philosophie und eine Apologetin des technischen Fortschritts um seiner selbst willen. Für Rand liegt das Wesen des Menschen in seinem Verstand und seine Bestimmung in der rationalen Erforschung und Beherrschung der Welt. Alle anderen Elemente der menschlichen Subjektivität – «Gefühle, Wünsche, Triebe, Instinkte», also: das Dionysische – gilt es dem Apollinischen zu unterwerfen. Die Mondlandung ist für sie ein derart epochales Ereignis, weil man hier «nichts anderes als die Konkretisierung einer einzelnen, bestimmten Eigenschaft des Menschen sieht: seines Verstands». Das habe sich auch im Publikum gespiegelt, das sich in Florida versammelt hat, um den Raketenstart mitzuverfolgen. Es seien ordentliche, saubere, gut organisierte Leute gewesen, «keine trampelnde Herde und kein manipulierter Mob; sie haben keine vermüllte und verwüstete Landschaft hinterlassen; es waren Menschen jedweder Herkunft, Hautfarbe und sozialer Stellung, jeglichen Alters und Glaubens und Bildungsstands – alle vereint in Enthusiasmus und gutem Willen».

Damit sind sie das genaue Gegenteil zu den «300000 Menschen, die sich auf einem von Exkrementen übersäten Hügel in der Nähe von Woodstock im Schlamm wälzen». Dementsprechend empört ist Ayn Rand über den Umstand, dass die US-amerikanische Presse das Festival als adäquaten Ausdruck einer «neuen Generation» feiert, die eine «neue Gesellschaft auf der Grundlage von Liebe» erschaffen wolle. In Wahrheit habe es sich um eine Horde LSD-zugedröhnter Mittelschichtskinder gehandelt, deren Unterhalt von ihren Eltern bestritten wird und die im Leben noch nichts geleistet haben, worauf sie stolz sein können und was die Gesellschaft weiterbringt. Den Jubel des «Establishment» für diese nichtsnutzigen Drogenabhängigen findet Ayn Rand umso befremdlicher, als dieselben Kräfte für die Mondlandung lediglich abwertende Kommentare und destruktive Kritik übriggehabt hätten. Statt die Leistung der Ingenieure zu feiern und den Triumph des menschlichen Geistes, habe man die exorbitant hohen Kosten beklagt und bezweifelt, dass die gesamte Unternehmung irgendeinen praktischen Nutzen besitzt. Vor allem habe man den Verfechtern des Raumfahrtprogramms vorgeworfen, sich nicht um die dringenden Probleme auf der Erde zu kümmern und stattdessen in «eskapistischer Weise» in die Weiten des Weltalls zu fliehen.

Das heißt für Ayn Rand erstens: Das «journalistische Establishment» und die «kulturellen Eliten», die dessen Weltbild prägen, haben sich sämtlich auf die Seite des Dionysischen geschlagen. Sie sind von der technischen Zivilisation überfordert und bangen in einer Welt, die bald ganz von der technischen Vernunft und vom Apollinischen geprägt sein könnte, um ihren gesellschaftlichen Status als Intellektuelle. Das heißt für Rand zweitens: Die «kulturellen Eliten» haben sich am Ende der sechziger Jahre endgültig gegen den «gesunden Menschenverstand» gewandt und damit gegen «den einfachen Mann», denn Letzterer ist ja begeistert von der Mondlandung, er freut sich über den Fortschritt, er steht auf der Seite des Apollinischen. Was Ayn Rand zu der Schlussfolgerung führt: «Die tiefste Kluft in diesem Land verläuft heute nicht zwischen Arm und Reich, sondern zwischen dem Volk und den Intellektuellen.»

Diese rhetorische Figur ist uns natürlich gut bekannt, wenn wir aus der Gegenwart zurück auf die späten Sechziger blicken. Dass «die kulturellen Eliten» sich von «dem Volk» entfremdet haben, ist wieder ein Gemeinplatz geworden. Heute sagt man: Die Eliten leben in einer «Blase», die sie vom Rest der Realität entfernt. Ayn Rand ist eine Avantgardistin dieser Diagnose, aber sie ist 1969 keineswegs die Einzige, die diese ausstellt. Im Gegenteil, Rand greift das verbreitete Gefühl auf, dass am Ende der bürgerrechtsbewegten sechziger Jahre den Problemen der «silent majority», der schweigenden Mehrheit, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt werde und stattdessen zu viel von irgendwelchen Minderheiten und ihren partikularen Problemen die Rede sei, ob es die Afroamerikaner sind oder eben die Hippies. Die schweigende Mehrheit hat schon damit begonnen, sich dafür zu revanchieren. Sie hat 1968 Richard Nixon ins Präsidentenamt gebracht, und viele Angehörige der Arbeiterklasse, die bis dahin die Demokratische Partei gewählt haben, sind dauerhaft zu den Republikanern übergelaufen. Insbesondere in den Südstaaten stimmen sie für eine konservative Recht-und-Gesetz-Politik. Am Ende des Jahres wählt das «Time»-Magazin den «Middle American» zu «Man and Women of the Year 1969».

Ayn Rand hat mit ihrer Einschätzung der beiden Ereignisse einerseits recht und andererseits nicht. Es stimmt, dass das rauschhafte Massenspektakel von Woodstock keine dauerhafte, grundstürzende gesellschaftliche Revolution ausgelöst hat. Die politische Stimmung wird konservativer im Land, und die utopische Heiterkeit der Hippies und ihres Kommunengedankens wird durch zwei Geschehnisse erheblich erschüttert, von denen in den folgenden beiden Kapiteln die Rede sein wird: das Desaster des Altamont-Festivals und die Morde der Manson Family.

Andererseits – und darin hat Ayn Rand unrecht – bricht mit der Mondlandung eben auch keine Epoche der Rationalität und des technischen Fortschritts an, die in eine Eroberung des Weltalls mündet. Der unklare Nutzen und die exorbitanten Kosten, die die «dionysischen» Intellektuellen zum Leidwesen von Rand beklagen, lassen die Euphorie für das Apollo-Programm auch bei den einfachen Leuten bald verschwinden. 1972, nur drei Jahre später, landet zum letzten Mal eine bemannte Mission auf dem Mond. Anders als bei Apollo 11 gibt es diesmal sogar ein paar memorable Bilder zu sehen. Die Astronauten hüpfen nicht nur auf dem unwirtlichen Gestein herum, sie haben ein Mond-Auto mitgebracht, mit dem sie ein wenig herumfahren können. Das erbringt zwar keinerlei Erkenntnisgewinn und ist unter technisch-rationalen und also apollinischen Aspekten völlig sinnlos; aber es sieht gut aus und erweckt auf der Erde den Eindruck, dass sich die Astronauten dort oben im dionysischen Geschwindigkeitsrausch befinden. Damit hat sich die Sache gleichsam erledigt – die Eroberung des Weltalls verschwindet binnen kürzester Zeit vollständig aus dem Repertoire der Utopien und Menschheitsziele.

 

Eine Gruppe von Künstlern ist von vornherein besonders kritisch, was den Sinn und den Nutzen der bemannten Mondmissionen angeht: Interessanterweise sind dies gerade die Schriftsteller der Science-Fiction-Literatur. Seit der goldenen Zeit des Genres in den vierziger Jahren haben sie die Eroberung des Weltalls als großes Menschheitsprojekt beschworen; umso größer ist die Enttäuschung, die sich unter ihnen nun ausbreitet. Wer im Jahr 1969 immer noch geglaubt haben sollte, dass bald schon jeder Astronaut in Windeseile in die entlegensten Winkel des Weltalls gelangen kann – der muss jetzt erkennen, dass allein die Verschiffung von gerade einmal drei Männern auf den nächstgelegenen und an und für sich mäßig interessanten Himmelskörper dermaßen kompliziert, aufwendig und teuer ist, dass alle weiteren Schritte ins All in fernster Zukunft liegen, wenn nicht gar prinzipiell unmöglich sind.

«Wir haben das kreative Gefühl eines Steinzeitmenschen, der gerade in einem Einbaum mit der Hand über einen Meeresarm gepaddelt ist – nun sind alle Ozeane bezwungen, meint er», schreibt der Autor Kenneth Bulmer in einem Beitrag für die Essaysammlung «Men on the Moon», die der einflussreiche Science-Fiction-Verleger Donald Wollheim unmittelbar nach der ersten Mondlandung herausgibt. Und selbst wenn es anders wäre, könnte man sich kaum darauf verlassen, dass die Astronauten und ihre Befehlsgeber damit ausschließlich friedliche Ziele verfolgen, wie es auf der erwähnten Plakette an der Apollo-11-Trittleiter behauptet wird. «Wenn ich ein Marsianer wäre, würde ich jetzt zu laufen anfangen», schreibt der britische Autor James Graham Ballard, der in den siebziger Jahren mit seinen apokalyptischen Phantasien zu einem der wichtigsten Protagonisten des Genres werden wird.

«The Stars My Destination», die Sterne sind meine Bestimmung: So hieß ein genreprägender Science-Fiction-Roman von Alfred Bester aus dem Jahr 1957. «The Stars My Detestation», die Sterne sind meine Enttäuschung: So nennt der SF-Autor Brian W. Aldiss 1973 das letzte, von den Jahren nach der Mondlandung handelnde Kapitel seiner Genre-Historiographie «The Billion Year Spree» (deutsch 1980 unter dem Titel «Der Millionen-Jahre-Traum»). Der scheinbar so große, erhabene, die ganze Menschheit miteinander verbindende und versöhnende utopische Moment der Mondlandung ist in Wahrheit ein Endpunkt gewesen: Es endet der utopische Glaube an den Aufbruch der Menschheit in unendliche Weiten.

Entsprechend herrscht in weiten Teilen des Science-Fiction-Genres fortan ein desillusionierter Ton. Gerade auch das SF-Kino der frühen siebziger Jahre wird von einer düsteren Note geprägt. Zwar verlegen die Regisseure und Drehbuchautoren ihre Geschichten immer noch gern ins All, doch ist die Weltraumfahrt nun zu einer mühsamen und auch deprimierenden Sache geworden. Zum prägnantesten Figurentyp erhebt sich der einsame Astronaut. In Douglas Trumbulls Film «Silent Running» aus dem Jahr 1972 (deutsch: «Lautlos im Weltall») etwa versieht Bruce Dern seinen Dienst als einziges Besatzungsmitglied auf einem Arche-Noah-Raumschiff. Weil die Menschheit auf der Erde ihr Umweltsystem vollständig zerstört hat, hegt er die letzten Wälder der Welt unter einer Glaskuppel. In John Carpenters erstem abendfüllendem Spielfilm, «Dark Star» aus dem Jahr 1974, treibt eine Gruppe von Astronauten in einem weitgehend defekten Raumschiff verwahrlost und lethargisch durchs All. Und der Debütfilm des späteren «Star Wars»-Schöpfers George Lucas, «THX 1138» aus dem Jahr 1971, führt in eine Zukunft, in der die Menschen vollständig entindividualisiert sind und keine eigenen Namen mehr tragen, sondern nur noch durch Buchstaben-Ziffern-Kombinationen identifiziert werden. Sie leben in einer weißen, klinisch-steril gestalteten Kunstwelt, die rückblickend so wirkt, als habe Lucas persönlich das Design der Apple-Computer erfunden. Heute findet eine Mehrheit unter den Menschen diese oberflächenversiegelte Ästhetik offenkundig anziehend – in den frühen siebziger Jahren erscheint sie als Inbegriff einer entmenschten Gesellschaft.

Wenn die klassische Science-Fiction von Technikoptimismus und Wissenschaftseuphorie geprägt war, dann wird an der Wende zu den Siebzigern daraus ein Genre, dessen Autoren vor allem pessimistisch und desillusioniert in die Zukunft blicken. Da man an den Aufbruch in die Weiten des Weltalls nicht mehr glauben mag, erscheinen die Probleme auf der Erde umso bedrohlicher. Der britische Autor John Brunner entwirft 1972 in dem Roman «The Sheep Look Up» («Schafe blicken auf») das Bild einer nahen Zukunft nach der ökologischen Katastrophe; in den USA wurde die Demokratie von der Herrschaft eines militärisch-industriellen Komplexes abgelöst, während die Gesellschaft in Anarchie und Bürgerkriegen versinkt. Der Regisseur Richard Fleischer zeigt ein Jahr später in seinem Film «Soylent Green» («… Jahr 2022 … die überleben wollen») eine völlig übervölkerte Erde, deren Ernährungssysteme zusammengebrochen sind. Darin spiegelt sich das apokalyptische Szenario wider, das eine als «Club of Rome» firmierende Gruppe von Wissenschaftlern 1972 in der Studie «Die Grenzen des Wachstums» entwirft: Wenn die Menschheit ihre Lebensweise nicht radikal ändert, so der Tenor, wird sie innerhalb des nächsten Jahrhunderts an Umweltverschmutzung und Überbevölkerung zugrunde gehen; ich komme in Kapitel zwölf darauf zurück.

Wie dieser Untergang aussieht, beschreibt wiederum die US-amerikanische Autorin Kate Wilhelm in ihrem Roman «Where Late the Sweet Birds Sang» («Hier sangen früher Vögel») aus dem Jahr 1976. Geschildert werden die letzten Tage der Menschheit kurz vor ihrem Aussterben. Dabei weckt Wilhelm allerdings auch Hoffnung, dass ihre Spezies zumindest in transformierter Gestalt die selbstverschuldete Apokalypse zu überleben vermag. Und zwar durch konsequente Weiterentwicklung und Nutzung der Gentechnik: Individuen, die sich als besonders resistent gegen die Luftverschmutzung und den klimawandelbedingten Dauerregen erweisen, werden geklont, um eine «neue Menschheit» zu bilden.

Dass diese neue Art der Technikutopie gerade von einer Frau formuliert wird, ist kein Einzelfall. Wenn in der Science-Fiction der frühen Siebziger noch irgendwo ein positiver utopischer Ton zu finden ist, eine Hoffnung auf die evolutionäre Verbesserung der Menschheit oder zumindest auf die Evolution des menschlichen Denkens und der menschlichen Wahrnehmung – dann findet man ihn nicht bei jenen männlichen Autoren und Regisseuren, die das Genre seit seiner Entstehung geprägt haben. Sondern bei einer neuen Generation von Schriftstellerinnen, die an der Wende zu den Siebzigern die Bühne betreten.

So stammt der meistdiskutierte Science-Fiction-Roman des Woodstock- und Mondlandungsjahres 1969 von der damals einundvierzigjährigen Autorin Ursula K. Le Guin. Er heißt «The Left Hand of Darkness» und wird im folgenden Jahr mit dem wichtigsten SF-Preis der USA, dem Hugo Award, ausgezeichnet. Wie die klassischen Space Operas des Genres und auch noch die Fernsehserie «Star Trek» handelt «The Left Hand of Darkness» – ins Deutsche 1974 unter dem Titel «Winterplanet» übersetzt – von einer Expedition in die Tiefen des Alls. Doch steht dabei nicht der technische Triumph im Vordergrund, sondern die Fremdheit dessen, was sich in der Ferne vorfinden lässt. Ein Gesandter von der Erde landet auf einem entlegenen Planeten, um die dortige Regierung zum Beitritt zu einer galaxienumspannenden Wirtschaftsallianz zu bewegen. Aber diese Mission stellt sich als ungewöhnlich schwierig heraus, denn obwohl die Bewohner des Planeten Winter auf den ersten Blick menschenähnlich erscheinen, sind ihre Verhaltensweisen, Riten und sozialen Organisationsformen so undurchsichtig, dass sich jedes eingeübte diplomatische Bemühen als fruchtlos erweist.

Insbesondere ein Umstand erschwert den Umgang mit den Fremden: Sie verfügen über kein eindeutiges Geschlecht. In der längsten Zeit ihres Lebens sind sie sexuell unbestimmt, nur in einer kurzen Transitionsphase, der «Kemmer», bilden sie «männliche» oder «weibliche» Eigenschaften aus und verhalten sich auch entsprechend. Welcher Seite des sexuellen Dualismus sie jeweils zuneigen, hängt unter anderem von ihrem aktuellen Partner oder ihrer Partnerin ab. Für den Besucher von der Erde, der sich eine nichtbinär strukturierte Existenz und eine darauf gründende Gesellschaft bis dahin nicht vorstellen konnte, erweist sich das schon in der Kommunikation als unüberwindliches Hindernis: Er verfügt ja nicht einmal über eine Sprache, um die «ambisexuellen» Wesen des Winterplaneten sachgerecht anzureden.

Eine solche Art von Außerirdischen hat man in einem Science-Fiction-Roman noch nicht angetroffen. Und das, obwohl die weltraumfahrenden Helden der Science-Fiction schon auf eine Vielzahl an absonderlichen Kreaturen gestoßen sind. In den dreißiger Jahren, als das Genre sich etabliert, sind es vor allem übelgelaunte Insektenwesen mit Waffen, die den nichtsahnenden Astronauten auflauern; das «bug-eyed monster» wird zum Synonym für die frühe, vor allem in Pulp-Heften kursierende Science-Fiction. Manchmal wollen aber auch skrupellose Amöben aus einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum die Menschheit wahlweise versklaven oder vernichten, wie in der äußerst erfolgreichen Serie «Lensmen» von E. E. Smith, die von 1931 bis Ende der Vierziger läuft. Die beliebtesten Außerirdischen der Hippie-Ära sind wiederum gewaltige Sandwürmer, die auf einem Wüstenplaneten leben und aus deren Ausscheidungen eine bewusstseinserweiternde Droge gewonnen wird; Frank Herbert beschreibt sie in dem Roman «Dune» («Der Wüstenplanet») aus dem Jahr 1965 und in zahlreichen Fortsetzungsbüchern.

So erweitert sich die Vorstellungskraft der Science-Fiction-Autoren allmählich, was die Beschreibung außerirdischen Lebens betrifft. Lediglich ein besonderer Aspekt der menschlichen «Natur» scheint unbezweifelbarerweise im gesamten Weltall zu gelten: der sexuelle Dualismus, also die Unterscheidung aller Lebewesen in «männlich» und «weiblich». Noch die irrsten Alien-Arten im All pflanzen sich verlässlich in heterosexueller Weise fort – bis in das Jahr 1969. Mit «The Left Hand of Darkness» wird Ursula K. Le Guin zur ersten Schöpferin einer Welt, in der die sexuellen Verhältnisse verflüssigt sind, oder anders gesagt: in der ein Beobachter von der Erde erkennt, dass die sexuellen Verhältnisse, die er aus seiner heimischen Kultur gewohnt ist, keineswegs im Universum universell gültig sind und also «naturgegeben».

Ebenfalls im Jahr 1969 beginnt die Science-Fiction-Autorin Joanna Russ mit der Arbeit an ihrem Roman «The Female Man»; eine erste Kurzgeschichte aus der von ihr erschaffenen Zukunftswelt erscheint 1972 unter dem Titel «When It Changed». Darin erzählt Russ von einem Ehepaar, das auf einem Planeten namens Whileaway lebt. Janet und Katy haben drei Kinder, sie führen ein zufriedenes Leben in einer harmonischen Welt. Die Gesellschaft ist gut organisiert und lässt ihren Mitgliedern doch alle Freiheiten, um sich nach individuellen Bedürfnissen und Talenten zu entfalten. Eines Tages jedoch gerät die friedliche Existenz in Gefahr, denn es landen fremde Astronauten auf Whileaway, die ganz anders als die dortigen Bewohner sind und von denen – das spüren Katy und Janet instinktiv – eine existenzielle Bedrohung ausgeht. Es handelt sich nämlich um Männer. Und Männer hat es auf diesem Planeten schon seit dreißig Generationen nicht mehr gegeben. Dereinst wurden alle von einer Seuche dahingerafft, und danach hat sie eigentlich niemand besonders vermisst. Die Bewohnerinnen von Whileaway pflanzen sich durch die künstliche Verschmelzung von Eizellen fort, und sie betrachten sich auch nicht mehr als «Frauen», sondern vielmehr als gleichberechtigte Lebewesen in einer Gesellschaft, die nicht mehr nach dem Geschlechterdualismus strukturiert ist.

Für die männlichen Astronauten, die auf Whileaway landen, ist das natürlich absolut unvorstellbar. «Where are all your people?» Das ist die einzige Frage, die ihnen einfällt. Erst verstehen die Bewohnerinnen von Whileaway gar nicht, was die Astronauten damit meinen, aber dann beginnt es ihnen zu dämmern. «He did not mean people, he meant men» – nicht im Sinne von «Menschen», sondern im Sinne von «Männer»: «Sie gaben dem Wort ‹men› eine Bedeutung, die es auf Whileaway seit 600 Jahren nicht mehr besessen hatte.» Und die Astronauten sind fest davon überzeugt, dass es für die Probleme von Whileaway lediglich eine Lösung gibt: dass der Planet wieder von Männern von der Erde besiedelt wird. Die Menschen auf Whileaway haben aber eigentlich gar keine Probleme, darum können sie dieses Ansinnen bloß als Invasionsdrohung empfinden.

In dem Roman «The Female Man», der dann 1975 erscheint (auf deutsch 1979 als «Planet der Frauen»), wird diese Idee ausgeweitet. Wir begegnen der Whileaway-Bewohnerin Janet wieder sowie drei weiteren Heldinnen, von denen jede einer anderen «Alternativwelt» entstammt, die sich in früheren historischen Phasen mit unserer eigenen Realität deckte. Doch sind an unterschiedlichen Punkten die Entwicklungen auseinandergelaufen. Janet reist als Botschafterin ihres Planeten in das Universum von Joanna, das der zeitgenössischen Welt am ehesten ähnelt; es handelt sich um eine zivilisierte Gesellschaft, die gerade den Beginn einer feministischen Bewegung erlebt. Jeannine dagegen kommt aus den USA der späten dreißiger Jahre. Allerdings hat die Große Depression hier nicht stattgefunden, und Adolf Hitler wurde 1936 ermordet. Die Welt von Jael wiederum liegt in einer unbestimmten Zukunft, in der die Befreiungsversuche der Frauen auf den erbitterten Widerstand der Männer gestoßen sind. Schon seit Jahrzehnten tobt hier ein erbitterter Bürgerkrieg zwischen den biologischen Geschlechtern.

Die vier Frauen reisen miteinander durch die verschiedenen Alternativwelten und erkunden die unterschiedlichen dort herrschenden Weisen des Lebens und Liebens. Doch nirgendwo erscheint die Gesellschaft so harmonisch und auch vernünftig wie auf dem männerlosen Planeten Whileaway. Wenn es keinen sexuellen Unterschied gibt, muss sich auch niemand wegen des eigenen Geschlechts als Mangelwesen empfinden. Und wenn die individuellen und gesellschaftlichen Konflikte entfallen, die durch den sexuellen Dualismus entstehen und durch die hierarchischen Gesellschaftsverhältnisse, die auf ihm gründen – dann bleiben viel mehr Freiheiten und Räume, um wissenschaftliche Innovationen voranzutreiben, und das heißt letztlich: die Erkundung des Alls.

Joanna Russ teilt also das Lob des technischen Fortschritts, wie man es bei Ayn Rand findet; allerdings versöhnt sie es mit dem sozialen Utopismus der Hippies und der Woodstock-Besucher, die durch ihre Kleidung, ihre Frisuren, ihr «dionysisches» Verhalten eine Opposition zur bestehenden Gesellschaft und deren Verhärtungen ausdrücken wollen. Anders als bei Rand gibt es bei Russ keinen Widerspruch zwischen dem «Dionysischen» und dem «Apollinischen», also zwischen der rauschhaften Überschreitung überkommener Konventionen und dem Gebrauch der Vernunft. Im Gegenteil: Ihr utopischer Planet Whileaway lässt sich als Beispiel dafür betrachten, dass die Kritik gesellschaftlicher Institutionen und Konventionen vernünftig ist – gerade auch in dem Sinn, in dem diese Kritik die Entwicklung der «apollinischen» Rationalität befördert. Vernunft zeigt sich in der Erkenntnis, dass die Welt nicht so bleiben muss, wie sie ist – und dass sie nicht so hätte werden müssen, wie sie in der eigenen Gegenwart erscheint. So findet die Science-Fiction-Literatur am Anfang der siebziger Jahre – also in jenem Moment, in dem der utopische Glaube an die Eroberung des Weltalls endet – bei ihren ersten feministischen Protagonistinnen zu einer neuen Art des utopischen Denkens: zu einem Denken, das den sozialen und technischen Fortschritt in seiner dialektischen Verschränkung versteht, anstatt beide Seiten der Dialektik, wie Ayn Rand es tut, voneinander zu trennen und gegeneinander auszuspielen.

 

Den entschiedensten Ausdruck dieses – sagen wir einmal – zukunftszugewandten Techno-Hippietums findet man bei der damals gerade fünfundzwanzigjährigen Philosophin Shulamith Firestone. In ihrem Buch «The Dialectic of Sex» aus dem Jahr 1970 prophezeit sie eine unmittelbar bevorstehende sexuelle Revolution. Bald schon, so Firestone, werde es der Menschheit gelingen, das Patriarchat zu überwinden und überhaupt jede Art der Zivilisation, die auf dem Gegensatz zwischen den Geschlechtern gründet. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen hat sich ja bereits in den sechziger Jahren zu lockern begonnen, ebenso wie das Verhältnis zum Sex. Dies ist freilich nach Ansicht von Firestone nicht den – von ihr zutiefst verachteten – Hippies zu verdanken, sondern einer technischen Innovation. Die massenhafte Verfügbarkeit der «Antibabypille» seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre hat es möglich gemacht, Sex und Reproduktion voneinander zu trennen. So wurden die Frauen in die Lage versetzt, selber zu entscheiden, ob sie schwanger werden möchten oder nicht. Dank dieser neuen Souveränität können sie sich den von Männern festgelegten Rollenmodellen entziehen.

Die bereits seit den sechziger Jahren massenhaft verfügbare «Antibabypille» ermöglicht die Trennung von Sex und Reproduktion. Frauen können sich erstmals in der Menschheitsgeschichte den von Männern vorgegebenen Rollenmodellen – erst Geliebte, dann Mutter und Hausfrau – entziehen. Hier das Titelbild der westdeutschen Zeitschrift «Twen» aus dem April 1967.

Man könnte sagen: In dem Sinn, in dem Ayn Rand die Mondlandung als ultimativen Triumph des menschlichen Geistes interpretiert, blickt Shulamith Firestone auf die Erfindung der «Pille» – und prophezeit eine schnelle Folge von darauffolgenden technischen Innovationen, mit denen die Souveränität der Frauen über ihr Leben und ihre Körper noch weiter gesteigert werden kann. Zum Beispiel die In-vitro-Fertilisation: Dank ihr werde es bald schon möglich sein, die Fortpflanzung der Menschen vom Geschlechtsverkehr zwischen Männern und Frauen komplett zu entkoppeln. In einem nächsten Schritt, so Firestone, werde es die Züchtung von künstlichen Gebärmüttern erlauben, die Frauen von der «Barbarei» der Schwangerschaft zu entbinden, oder wie sie es im letzten Kapitel des Buchs, «The Ultimate Revolution», formuliert: von der «temporären Deformation des individuellen weiblichen Körpers zum Nutzen der Gattung». Anders, als es gemeinhin dargestellt werde, sei es ja weder schön noch erfüllend, schwanger zu sein; es sei im Gegenteil schmerzhaft, entwürdigend und hässlich. Darum sei es gut, dass das «natürliche» Austragen von Kindern bald obsolet wird und die Frau auf diese Weise von einem Natur- zu einem Kulturwesen aufsteigen kann: «gegen die Tyrannei der Natur».

Aus dieser Überwindung der «natürlichen» Unterdrücktheit der Frau ergibt sich dann aber zwangsläufig ein fundamentaler Wandel der menschlichen «Kultur». Denn mit der Schwangerschaft wird auch die Mutterschaft aufgehoben, also die enge und exklusive Beziehung zwischen Mutter und Kind. An deren Stelle tritt eine gesellschaftliche Kollektivierung der Erziehung: Kinder können ihre Bezugspersonen fortan selber wählen; auf diese Weise vermögen sie dem Zwangsverhältnis der Kleinfamilie zu entkommen, auf dem – nach Ansicht von Firestone – das Patriarchat wesentlich gründet. Mit dem Patriarchat endet auch das Konzept der «Kindheit», das dafür sorgt, dass Menschen bis zum Erwachsenenalter vom Rest der Gesellschaft abgetrennt werden und ihnen vieles versagt bleibt, was Erwachsenen gestattet ist: zum Beispiel die Befriedigung des eigenen sexuellen Begehrens. So wie die Erwachsenen den ganzen Reichtum der Lüste und ihrer Befriedigung entdecken können, sobald der Sex von der Reproduktion und der familiären Monogamie endlich entkoppelt wird – so soll es auch den elternlos gewordenen Kindern künftig freistehen, sich zu jedem Menschen gleich welchen Alters sexuell zu verhalten, sei es in genitaler Form oder nicht.

Shulamith Firestone hatte sich seit Mitte der sechziger Jahre in verschiedenen Aktionsgruppen des «Women’s Liberation Movement» betätigt. Diese entstanden aus universitären Diskussionszirkeln etwa in Berkeley, New York und Chicago im Umfeld der «Students for a Democratic Society» (SDS); einer Organisation, die sich für die Beendigung des Vietnamkriegs ebenso einsetzt wie für die Abschaffung des Kapitalismus und des Kolonialismus und für den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierungen jeglicher Art. Nicht anders als in der restlichen Gesellschaft sind es aber auch hier Männer, die den Ton angeben, weswegen die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht unbedingt als zentrales Politikfeld betrachtet wird (in Westdeutschland, wo die sexuellen Verhältnisse in der Studentenbewegung ähnlich sind, wird man von der feministischen Frage als von einem «Nebenwiderspruch» reden). Gern zitiert wird ein Ausspruch des afroamerikanischen Bürgerrechtlers Stokely Carmichael, der 1964 sagt, die einzige Position der Frauen in der Bewegung sei «prone», also: bäuchlings.

Gegen derlei Ansichten formiert sich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts allmählich Protest. Im Sommer 1967 wird auf der nationalen Konferenz des SDS das «Women’s Manifesto» des «Women’s Liberation Workshop» präsentiert, in dem die Unterzeichnerinnen die Frauen als diskriminiertes und kolonialisiertes Geschlecht beschreiben und für eine wahrhafte sexuelle Emanzipation plädieren. Erreicht werden soll diese unter anderem dadurch, dass Männer und Frauen Kindererziehung und Haushaltsarbeit untereinander aufteilen. Im folgenden Herbst gehört Shulamith Firestone zu den Begründerinnen der «New York Radical Women», die mit Demonstrationen und Sit-ins die Forderungen aus dem «Women’s Manifesto» in die Öffentlichkeit tragen wollen. Den ersten großen Erfolg erzielen sie im September 1968 bei einem Protest gegen die «Miss America»-Wahlen in Atlantic City: Vor der Veranstaltungshalle werfen sie Büstenhalter, Haarspray, Lippenstifte sowie andere Schminkutensilien und «Folterinstrumente» in einen «Freedom Trash Can», um gegen die Zurichtung der Frauen für den sexualisierten männlichen Blick zu protestieren.

Mit solchen und ähnlichen Polit-Aktionen gelangt das «Women’s Liberation Movement» in den folgenden anderthalb Jahren auch in die Tageszeitungen, politischen Magazine und Fernsehnachrichten. Anfang 1970 gibt es wohl kein großes Medium in den USA, das nicht über die neue Frauenbewegung – oder wie es in den USA heißt: über den «second-wave feminism» – berichtet. Einerseits erhalten die feministischen Gruppen dadurch immer größeren Zulauf. Andererseits verfestigt sich in den konservativen Teilen der Gesellschaft auch das Bild der männerhassenden, sex-, körper- und kinderfeindlichen Feministin. So wie in Westdeutschland ein paar Jahre später abfällig von «Emanzen» die Rede sein wird, so kursiert in den USA das Wort von den «bra-burning feminists», also von den Feministinnen, die ihre Büstenhalter verbrennen. Dieser Begriff geht auf die Falschmeldung einer lokalen Zeitung über die «Miss America»-Aktion zurück. Weder hier noch auf irgendeiner anderen feministischen Demonstration wurden Büstenhalter verbrannt; doch ist dieses Bild offenkundig so einprägsam und verlockend, dass es bis heute als Typenbezeichnung für radikale Feministinnen kursiert.

Mit Demonstrationen und Polit-Aktionen zieht das 1967 gegründete «Women’s Liberation Movement» schnell breite Aufmerksamkeit auf sich; Anfang 1970 gehören die Forderungen und Positionen der neuen Frauenbewegung zu den meistdiskutierten Themen in den US-amerikanischen Medien.

Als «The Dialectic of Sex» im Oktober 1970 erscheint, ist der neue Feminismus bereits zu einem vielbeachteten Thema geworden. Dennoch wirkt Shulamith Firestones Buch nicht wie das Manifest einer Bewegung. Hier schreibt jemand, der sich keinerlei gesellschaftlichen Rückhalts sicher sein kann, und sei es nur durch eine Sub- oder Gegenkultur. Wenn man den Text mit knapp fünfzig Jahren Distanz liest, dann bemerkt man vor allem die große Einsamkeit, aus der heraus Firestone ihr Bild der zeitgenössischen Gesellschaft entwickelt. Sie schreibt, als ob sie sich wie ein Alien fühlt: eine Außerirdische, die in einer ihr völlig fremden Art der Kultur aufwachsen musste; in einer Kultur, deren tiefe patriarchale Prägung ein existenzielles Unbehagen in ihr erzeugt; in der sie sich noch niemals so geben konnte, wie es ihren Bedürfnissen, ihrem Bild von sich selbst und ihrem Körper entspricht. Das heißt aber auch: Die sexuelle Revolution, deren Kommen sie sieht und erhofft, wird zuvorderst nicht aus einem gesellschaftlichen Umdenken erfolgen. Erst muss sich die technische Beherrschung der Natur so weit entwickeln, dass die Veränderung des Bewusstseins sich aus ihr ergibt. So wie die schlichte Verfügbarkeit der «Antibabypille» das Verhältnis zwischen den Geschlechtern wesentlich erschüttert hat, so wird auch – glaubt Firestone – die Verfügbarkeit künstlicher Reproduktionstechniken jene Machthierarchien, mit denen das Patriarchat seine Existenz sichert, dauerhaft untergraben.