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Über Sex kann man nur auf Englisch singen? So hieß es jedenfalls einst bei Tocotronic. Jens Balzer beleuchtet das spannungsreiche Verhältnis von Popmusik und deutscher Sprache: Die ersten Rockbands singen natürlich auf Englisch, als Rebellion gegen die spießigen Eltern. Politische Liedermacher entdecken Mundarten und Dialekte. In der Neuen Deutschen Welle wird das Spiel mit der Sprache ironisch und kunstvoll. Im Hip-Hop der Gegenwart zeigt sich, wie divers, vielstimmig und auch widersprüchlich die Gesellschaft geworden ist. So entsteht eine Geschichte der Sprache im deutschen Pop – und wie nebenbei eine Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Vor allem aber gibt es viele erstaunliche, oft bizarre, manchmal unglaubliche Songtexte (wieder-)zuentdecken.
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Seitenzahl: 286
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für Katrin Fichtner (1972–1995)
Playlist zum Buch
Durch das Fremde zu sich selbst finden
Eine Sprachgeschichte des deutschen Pop
1»Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt«
Die Schlager der 1950er-Jahre: Zwischen Fernweh und Verdrängung
2»Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand«
Exotische Träume und der Einfluss der US-Kultur
3»Mister Patton aus Manhattan«
Heimatschnulzen und erster Rock ’n’ Roll
4»Sie liebt dich, yeah, yeah, yeah!«
Rock, Pop und Beat: Im Kampf gegen die Eltern und im Kampf mit dem Englischen
5»Shakin’ All Over«
Die 1960er-Jahre: Zwischen Kommerz und Rebellion
6»Give Deutsch a Chance«
Protest muss verständlich sein – Liedermacher und Rocker entdecken das Deutsche wieder
7»Singt für alle, die alles wagen«
Die Beatmusik in der DDR der 1960er- und 70er-Jahre
8»Wir sind die Roboter«
Der Krautrock der 1970er-Jahre – futuristisch und kosmopolitisch
9»Mien Gott, he kann keen Plattdüütsch mehr«
Mit Mittelhochdeutsch und Dialekt zur neuen Popmusik
10»Guten Morgen, Mayistero / Auf Wiedersehen, Vormännero«
Die 1970er- und 80er-Jahre: Musik aus der Fremde für die »Gäste«
11»Macht kaputt, was euch kaputt macht«
Gesellschaftlicher Aufbruch und Emanzipation im deutschen Rock der 1970er- und 80er-Jahre
12»Tanz den Mussolini«
Hymnen der Friedensbewegung, Nihilismus und neue Romantik
13»Bochum, ich komm aus dir«
Die Wiederentdeckung des Regionalen und deutsche Italo Disco in den 80ern
14»DDR, mein Vaterland, Du raubst uns nochmal den Verstand«
Die »anderen Bands« der DDR zwischen Verweigerung und Innovation
15»Über Sex kann man nur auf Englisch singen«
Bei den Bands der Hamburger Schule wird Deutsch zur Fremdsprache
16»Fremd im eigenen Land«
Hip-Hop und die migrantische Musik der zweiten Generation in den 1990er- und 00er-Jahren
17»Berlin wird wieder hart, denn wir verkloppen jede Schwuchtel«
Reaktionärer Rap, toxische Männlichkeit und Verschwörungstheorien in den 2000er- und 10er-Jahren
18»Deutschland! Mein Herz in Flammen!«
Heimatliebe, Deutschrock und internationaler Schlagerpop in den 2010er-Jahren
»Aus der Pussy«
Kulturelle Aneignung und die Frage der Identität zu Beginn der 2020er-Jahre
Anhang
Dieses Buch will eine Geschichte der Sprache (und Sprachen) im deutschen Pop von 1946 bis heute erzählen. Aber dabei will es auch Lust zum Musikhören machen: Es gibt so viele Songs aus dieser Zeit, die es wert sind, wiederentdeckt zu werden – weil sie etwas aussagen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie entstammen, aber auch, weil die Texte so interessant, irre, befremdlich, lustig, erstaunlich sind. Ich hatte beim Schreiben jedenfalls viel Spaß damit, und nicht selten dachte ich: Herrje, singen die das jetzt gerade wirklich? Darum habe ich eine kleine Playlist zusammengestellt, zwei oder drei Songs aus jedem Kapitel, von Caterina Valente bis Rammstein, von Freddy Quinn bis Blumfeld, von Nina Hagen bis zu den Flying Lesbians. Sie findet sich unter diesem QR-Code – vielleicht kann sie beim Lesen ja noch zusätzlich Erkenntnis und Vergnügen stiften.
Jens Balzer
https://open.spotify.com/playlist/6S64fVTQctbWjyPnMkZNPB
Autor und Verlag distanzieren sich von allen rassistischen, sexistischen und diskriminierenden Inhalten.
»Wann, tuu, zriee, forr, läts go.« Ein junger Mensch steht vor einem Spiegel und versucht, die Posen einzuüben, die er oder sie sich bei einem bewunderten Popstar abgeschaut hat: die Coolness, den Glamour, die Souveränität. Vielleicht ist dies eine der Urszenen des deutschen Pop. Man versucht, sich in eine fremde Subjektivität hineinzufühlen, die einem größer, interessanter, weltläufiger als die eigene erscheint. Das geschieht überall auf der Welt, wo junge Menschen großen Popstars nacheifern. Aber in Deutschland gehört zu dieser Einübung fast immer auch die Verwendung einer fremden Sprache. Denn cooler, glamouröser Pop wird nicht auf Deutsch gesungen, sondern auf Englisch. Oder in einer Variante des Deutschen, die sich von der Sprache des täglichen Lebens unterscheidet – durch ihr Vokabular, ihren Akzent, ihre Vermischung mit anderen Sprachen, Dialekten, Soziolekten. Wer sein will wie ein Popstar, möchte aus seinem eigenen Leben heraustreten. In Deutschland heißt das auch: Wer sein will wie ein Popstar, möchte aus seiner ganzen Kultur heraustreten und aus der Sprache dieser Kultur.
Zum Pop gehört wesentlich das Aufbegehren gegen die Elterngeneration; es ist typisch für jene biografische Zwischenphase, die man heute als Teenagerzeit bezeichnet, in der die Menschen keine Kinder mehr sind, aber auch noch nicht die Verantwortungslast des Erwachsenenlebens tragen. In dieser Phase kann man sich ausprobieren und auch darüber nachdenken, welchen Platz man in der Welt einnehmen möchte – zu welchem Menschen man werden will. Im deutschen Pop bedeutet dies oft auch: Man eignet sich andere Sprachen an, um die eigene Fremdheit in der Welt zu formulieren.
Das Eigene im Pop ist das Fremde. Oder anders gesagt: Im Pop soll das Fremde zu etwas Eigenem gemacht werden. Dass dies in Deutschland insbesondere auch für die Sprache gilt, ist schon so seit den Anfängen der deutschen Popmusik nach dem Zweiten Weltkrieg so – bloß dass es damals noch nicht die englischsprachige Popkultur war, an der man sich orientierte. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren wurde im deutschen Pop ausschließlich auf Deutsch gesungen, doch handelte es sich dabei um ein Deutsch, das von nichtdeutschen Wörtern, Sätzen, Redewendungen und von fremdländischen Akzenten durchsetzt war. Die gebürtige Italienerin und spätere Wahlfranzösin Caterina Valente verkündete mit kokettem französischem Akzent »Ganz Paris träumt von der Liebe« und erzielte damit einen der größten Hits des Jahrzehnts. Später forderte sie mit spanischen Anklängen »Spiel noch einmal für mich, Habanero« und sang italienisch angehaucht »Tschau tschau Bambina«. In ihrem erstaunlichsten Song »Tipitipitipso« wurde aus der Vermischung verschiedener Sprachen sogar eine Art dadaistisches Patois.
Der deutsche Pop nach 1945 war vom Fernweh geprägt. Er handelte davon, dass man nach Italien reisen wollte oder nach Frankreich. Darin spiegelte sich das Streben der Wirtschaftswunder-Generation nach ökonomischem Aufstieg ebenso wider wie das Bedürfnis der Deutschen, nach dem verlorenen Krieg wieder in die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten aufgenommen zu werden und alles, was vor 1945 geschehen war, möglichst schnell und komplett aus dem Gedächtnis zu streichen. Der österreichische Sänger Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl gab sich das englisch klingende Pseudonym Freddy Quinn und wurde mit dem von afrokubanischen Rhythmen getragenen Lied »La Paloma« berühmt. Sein vorrangiges Thema war die Sehnsucht nach der Ferne, aber auch der Wunsch, aus der Fremde wieder nach Hause zurückzukehren: »Heimweh«, »Heimatlos«, »Junge, komm bald wieder«, so hießen Freddy Quinns Lieder. Der Jazzsänger Bill Ramsey wurde mit seinem starken US-amerikanischen Akzent zu einem der beliebtesten Schlagerinterpreten der frühen 1960er-Jahre, und die größten Stars der englischsprachigen Musik sangen für das deutsche Publikum ihre Lieder auf Deutsch: Elvis Presley coverte das Volkslied »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus«. Die Beatles, die ihre Karriere im Star-Club in Hamburg begannen, coverten sich selbst und machten aus »She loves you / yeah, yeah, yeah« mit sonderbarem, weich gedehntem Akzent »Sie liebt dich / yeah yeah«.
Anfang der 60er begannen auch die ersten deutschen Beatgruppen damit, auf Englisch zu singen, etwa The Lords und The Rattles. Sie wollten die Muttersprache ablegen, um ihren britischen Vorbildern nachzueifern, aber auch, um damit zu etwas anderem zu werden als das, was ihnen vorgegeben schien. Sie wollten ihre Identität abstreifen, die sie sowohl als individuelle als auch als nationale verstanden. Wenigstens den rebellischen, mit der Gesamtsituation unzufriedenen Teilen der Jugend galt das Deutsche nun erstens als Sprache einer provinziellen, uncoolen, abgehängten, unkreativen Kultur, als Sprache der Spießer und zweitens als Sprache der Väter- und Müttergeneration, die in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt gewesen war. Dass man auf Englisch sang, bedeutete, aus der Enge der spießigen Verhältnisse auszubrechen, in der sich die restaurative Kultur des Wirtschaftswunders bewegte. Die Sprachkompetenz war jedoch noch so begrenzt, dass man stets merkte: Hier sangen Menschen in einer Sprache, die ihnen letztlich fremd war. »When I was born you know / I couldn’t speak ›I’ll go‹ / My mother worked each day / And she learned me to say / […] Life is so hard each day«, heißt es in »Poor Boy«, dem ersten Hit der Lords. Offensichtlich hatte sich vor der Veröffentlichung kein Englischlehrer gefunden, um den Text zu korrigieren.
In den 1960er-Jahren wurde die Wahl der Sprache zu einer politischen Entscheidung: Wer auf Englisch sang, wollte sich damit »entnazifizieren« und zum Teil der kosmopolitischen Kultur des Westens werden. Dabei provozierte man aggressive Reaktionen der Protagonisten jener Kultur, von der man sich absetzen wollte. Von diesen wurde alles, was auf Englisch gesungen wurde, als »Negermusik« oder als »Hottentottenmusik« verfemt. Schon am Ende des Jahrzehnts kehrten freilich die ersten Künstler, die sich ausdrücklich als politisch verstanden, zur deutschen Sprache zurück: Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt und Hannes Wader sangen auf Deutsch, um ihre Botschaften besser zu den Hörern und Hörerinnen zu bringen – ohne die Verständnisschwierigkeiten, die durch die Übersetzung ins Englische entstehen konnten. Politisch motivierte Rockgruppen wie Ihre Kinder und Floh de Cologne übersetzten die politischen Pamphlete der 68er-Generation in agitatorischen Rock. Der Westberliner Gruppe Ton Steine Scherben gelang es dann schließlich, die intellektuelle Kälte und Abstraktheit dieser Agitation in persönlich gefärbte Emanzipationslyrik zu verwandeln: In Liedern wie »Wir müssen hier raus!« wurde das Politische tatsächlich mit dem Privaten versöhnt.
Der sogenannte Krautrock der 70er-Jahre wollte den Bruch mit der deutschen Kulturgeschichte und Tradition noch verschärfen. Es wurde vor allem ohne Gesang und Sprache – also instrumental – musiziert. Oder es sangen, etwa bei der Gruppe Can, nichtdeutsche Musiker wie der Japaner Damo Suzuki, der das Englische als Material für seine jeglichen Sprachsinn zerschlagenden Improvisationen verwendete. Lediglich eine Gruppe, die in der Mitte des Jahrzehnts aus der Krautrockszene herauswuchs, sang auf Deutsch: Kraftwerk warfen die traditionellen Rock-Instrumente weg und arbeiteten mit Synthesizern. Dazu inszenierten sie sich als Roboter und sangen in einer maschinenhaft kühlen, auf wenige Schlagworte und lyrische Fragmente reduzierten Sprache. Damit wurden sie im englischsprachigen Ausland zum Inbegriff der sonderbaren, nostalgisch klischierten und futuristischen Deutschen. Bei Kraftwerk kehrte das Deutsche als Fremdes zurück, das gerade dort, wo man alles Deutsche fremd fand, wieder zum Inbegriff der deutschen Eigenheit wurde.
Alles musste fremd werden, um zu etwas Neuem zu finden: Das war eine Seite des popmusikalischen Avantgardismus der 1970er-Jahre. Die andere Seite aber war – und sie wird in der Rückschau auf dieses Jahrzehnt gerne übersehen – die Wiederaneignung einer deutschen Tradition, die im Weltbild der 68er, bei den Kindern von Marx und Coca-Cola, schlicht nicht mehr vorkam. Gruppen wie Hölderlin, Novalis und Ougenweide wollten wieder an die deutsche Kulturgeschichte vor dem Nationalsozialismus anschließen: Sie vertonten Minnelyrik und sangen auf Alt- und Mittelhochdeutsch, sie spielten auf mittelalterlichen Instrumenten und suchten inmitten der gesellschaftlichen Modernisierung nach einem Weg zurück in die Tradition. Auch wurden Mundarten, Dialekte und verschwindende Sprachen wieder genutzt – nicht zuletzt als politische Widerstandsgeste gegen die Vereinheitlichung der Kultur und der Sprache. Ein musikalischer Einsatz für mehr Diversität! Liedermacher wie Hannes Wader und Knut Kiesewetter begannen auf Plattdeutsch zu singen; Achim Reichel, der mit seiner Gruppe The Rattles zu den ersten Protagonisten der englischsprachigen Beatmusik gehörte, wurde mit Shantys und Seemannsliedern erfolgreich; der österreichische Liedermacher Wolfgang Ambros nahm mit »Der Watzmann ruft« das erste mundartliche Konzeptalbum auf. Am Ende des Jahrzehnts gründete sich schließlich in Köln die Gruppe BAP, die den kölschen Dialekt, der bis dahin ausschließlich in Karnevalsliedern verwendet wurde, politischen Themen zuzuführen versuchte – am prominentesten in dem Lied »Kristallnaach« aus dem Jahr 1982.
In den 70ern wurde die deutsche Sprache im Pop entweder verworfen oder man suchte nach dem sprachlich Eigenen in einer fremd gewordenen Form. In dieser Zeit entstand aber auch – von der deutschen Mehrheitsgesellschaft weithin unbemerkt – die erste deutsche Popmusik, die weder auf Deutsch noch auf Englisch gesungen wurde, sondern auf Türkisch. Es war die Musik der ersten und zweiten Generation der damals »Gastarbeiter« genannten türkischen Arbeitsmigranten und -migrantinnen – Lieder, die von der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat handelten und von der Enttäuschung darüber, dass die Deutschen die gerufenen Gäste nur als Arbeitskräfte ansahen und nicht als Menschen. Künstler wie Metin Türköz, Ata Canani und Cem Karaca verwoben deutsches und türkisches Vokabular miteinander und wurden damit zu Pionieren jener migrantisch geprägten Musik, die sich ab den 90er-Jahren vor allem im Hip-Hop auszubilden begann: Es waren Crews wie Fresh Familee oder Advanced Chemistry, deren Song »Fremd im eigenen Land« 1992 erstmals die Diskriminierungserfahrungen und Identitätszweifel der zweiten Generation von Migrantinnen und Migranten einem größeren Publikum kenntlich machte.
In den 1980ern erschien es vielen plötzlich selbstverständlich, dass man auf Deutsch sang. Das galt für den Punkrock ebenso wie für die Neue Deutsche Welle. Das hieß jedoch nicht, dass das Deutsche auch selbstverständlich war. Es wurde mit Anglizismen durchsetzt und grammatisch zerschlagen; bei vielen Bands sollte es nun klingen wie eine Sprache, die man gerade neu erlernt hatte. Oder wie eine Sprache, die eigentlich gar nicht zu der Musik passte: Die Gruppen der Hamburger Schule wie Blumfeld und Die Sterne verkomplizierten die Grammatik und das Vokabular, bis ihre Lieder klangen wie Traktate der Dekonstruktion. Oft meinte man, Menschen zuzuhören, denen die Sprache im Weg war und die sich selbst im Weg standen beim Ausdruck ihrer Gefühle und ihrer Unzufriedenheit mit der Welt. Die Sprache wurde sperrig und ironisch, man wollte politische Botschaften kommunizieren und zugleich nicht zurückkehren zu der Position der älteren linken Liedermacher, deren Texte allzu selbstgewisse Gesellschaftsanalysen transportierten: »Eins zu eins ist jetzt vorbei«, hieß es 2002 in dem Song »Neues vom Trickser« der Gruppe Tocotronic.
Auf sonderbare Weise gilt dies auch für die erfolgreichste deutsche Rockgruppe, die in den 90er-Jahren entstand: Rammstein präsentierten sich als Karikaturen des Deutschseins, sie spielten mit Symbolen totalitärer Ästhetik und montierten ihre Videoclips zum Beispiel aus Leni-Riefenstahl-Filmen. Dazu intonierte Sänger Till Lindemann seine Texte, die er aus dem Vokabular einer deutschen Fantasieromantik montierte, mit rollendem »R«. Er sang von »Herzeleid«, »Laichzeit«, »altem Leid«, es ging um den »Meister«, die »Mutter« und um die »Sonne«. Das konnte man als ironische Brechung und Anverwandlung der deutschen Lyrik- und Sprachtradition werten. Es war in seiner herrisch-überwältigenden, hypermaskulinen Darbietungsform aber auch für den Rechtsrock anschlussfähig, der sich in den 80er-Jahren aus dem Punkrock entwickelte, und an die Musik der »Neuen Deutschen Härte«, die in den 90ern entstand.
Nach der Jahrtausendwende wurde die deutsche Musik immer diverser und insbesondere im Deutschrap waren so viele migrantische Stimmen zu hören wie nie zuvor. So wurde auch die Sprache diverser. Sie ist nun von einer Vielzahl von migrantisch geprägten Soziolekten durchzogen – eine große emanzipatorische Leistung, die wesentlich auch zum Sprachwandel der letzten Jahre beigetragen hat. Andererseits war und ist gerade der Deutschrap in weiten Teilen sexistisch, homophob, rassistisch, antisemitisch. Er hat vielen jener Verschwörungstheorien erstmals zum Ausdruck verholfen, die heute unter den »Querdenkern« kursieren, und man findet in ihm viele ideologische Elemente, die es auch bei Rechtspopulisten gibt. Im Deutschrap ist die Sprache so roh und verletzend geworden wie nie zuvor in der Geschichte der deutschen Popmusik. Die Selbstermächtigung migrantischer Minderheiten wird begleitet von einer konsequenten Erniedrigung anderer marginalisierter bzw. diskriminierter Gruppen. Es ist die Sprache des neoliberalen Kampfs aller gegen alle, und das ist die Kehrseite der emanzipatorischen Kraft des Deutschrap. Am Ende ist es auch hier wieder so, wie es schon am Anfang der deutschen Popgeschichte war: Die weißen Mittelschichtskinder stehen vor dem Spiegel und versuchen, die Posen und die Sprache einzuüben, die sie bei bewunderten Popstars abgeschaut haben, die nicht ihre eigene Sprache sprechen. Nur dass sie jetzt nicht mehr »Wann, tuu, zriee, forr, läts go« singen, sondern »Chabos wissen, wer der Babo ist / Attention mach bloß keine harakets / Bevor ich komm und dir deine Nase brech« (Haftbefehl).
Popmusik in Deutschland und die deutsche Sprache – das ist immer ein kompliziertes, spannungsreiches Verhältnis gewesen, eines, an dem man viel ablesen kann über die Gesellschaft und ihre Veränderung. Eine Sprachgeschichte des deutschen Pop ist auch eine Geschichte der deutschen Gesellschaft und Kultur. Zu dieser Wechselbeziehung möchte ich im Folgenden einige Anmerkungen machen.
Zu Beginn der deutschen Popgeschichte nach 1945 ging erst einmal die Sonne unter. Sie versank vor der Insel Capri im Mittelmeer: »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt / Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt / zieh’n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus / Und sie legen im weiten Bogen die Netze aus.« So sang es der Tenor Rudi Schuricke mit schmelzender Stimme und rollendem »R« und malte ein idyllisches, leicht exotisches Landschaftsbild, eine Szenerie der Sehnsucht. Man wollte gern mit ihm aufs Meer unter die bleich blinkende Sichel hinausfahren, auch wenn ja das Schicksal der Fischer durchaus eine unerfreuliche Seite hatte. Sie müssen zum Fischen jede Nacht aufs Meer, ob sie wollen oder nicht, und müssen daher auch immer wieder fürchten, dass ihre Frauen ihnen untreu werden. So heißt es im Refrain geradezu flehend: »Bella, bella, bella Marie / Bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh / Bella, bella, bella Marie / Vergiss mich nie.«
»Capri-Fischer« war die meistverkaufte Schellackplatte des Jahres 1946. Auch der dazugehörige Notendruck wurde bis zum Ende des Jahrzehnts über eine Million Mal abgesetzt. Dabei war das Stück schon zu Kriegszeiten entstanden; eine erste Version mit der Sängerin Magda Hain kam 1943 auf den Markt und etwas später im selben Jahr die Interpretation von Schuricke. Damals wurde der Erfolg zunächst dadurch getrübt, dass die mit dem NS-Staat kooperierende Achsenmacht Italien 1943 ihre Kapitulation erklären musste. Die Insel Capri wurde von US-amerikanischen Streitkräften besetzt und taugte in NS-Deutschland mithin nicht mehr als Sehnsuchtsort. Umso größer war die Reiselust nach 1945, sofern es die wirtschaftlichen Umstände erlaubten. Man war sich sicher, dass man von den gerade noch verbündeten Italienern und Italienerinnen freundlich empfangen werden würde. Zudem schien sich in der Sorge der Capri-Fischer um die Treue der Ehefrauen auch die Sorge der deutschen Soldaten zu spiegeln, die gerade aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt waren und sich oft in die Nachkriegsverhältnisse nicht mehr einfügen konnten. Sie fühlten sich ihren Familien entfremdet, und viele Frauen waren nach dem alleinerziehend durchgestandenen Krieg auch nicht mehr bereit, die Rolle des Haushaltsvorstands an die Männer, die so lange abwesend gewesen waren, zurückzugeben. Der Historiker Harald Jähner hat diese Situation in seinem Buch »Wolfszeit« eindrucksvoll beschrieben.1
Die ersten Jahre nach 1945 waren auch die Zeit einer – wenngleich nur vorübergehenden – Infragestellung traditioneller sexueller Rollenmodelle und eine Zeit der zerbrochenen und traumatisierten Familien. »Nach Kriegsende war die Scheidungsrate auf das Doppelte des Vorkriegsniveaus gestiegen und hatte 1948 den Höhepunkt erreicht.«2 Wenn man genauer hinhört, klingen aus dem scheinbar so idyllischen Text der »Capri-Fischer« auch unbehagliche Ambivalenzen hervor. Und noch etwas anderes ist interessant: Das rollende »R«, auf das Rudi Schuricke in seiner Interpretation so gerne zurückgreift, wurde kurz zuvor noch mit dem »Führer« und seinen Ansprachen verbunden. Nun aber hatte es sich in den Bestandteil einer melancholisch-exotisierenden, irgendwie undeutschen Aussprache verwandelt. Man könnte auch sagen: Das Eigene kehrte hier als Fremdes zurück, und das Fremde überschrieb die Gespenster, die dem Eigenen anhafteten.
Das Entscheidende an diesem Lied war jedoch etwas anderes, nämlich der Wechsel vom Deutschen ins Italienische im Refrain: »Bella, bella, bella Marie«. Viele Schlagertexte nach 1945 waren voller fremdsprachiger Wörter und Sätze – so sollte Weltläufigkeit und Internationalität demonstriert werden. Schon der Klang der fremden Sprache sollte die Hörerinnen und Hörer aus ihrem Alltag in eine Welt entführen, die wärmer, idyllischer, friedlicher als die eigene war. »Buona Notte, Angelo Mio«, hieß eine der erfolgreichsten Schellackplatten des Jahres 1949, gesungen von René Carol. »Buona notte, angelo mio / Träume selig vom Glück, wo immer du bist«, lauteten die ersten Zeilen. Hier diente das Italienische als Sprache der Liebe und Zärtlichkeit, während der französisch klingende Name des Sängers eine Art erotische Kompetenz signalisieren sollte, die – so das Klischee – jene des durchschnittlichen deutschen Mannes übertraf. René Carol hieß eigentlich Gerhard Tschirschnitz und kam aus Berlin. Er hatte im selben Jahr, in dem »Buona Notte, Angelo Mio« erschien, noch einen weiteren Hit mit dem Lied »Im Hafen von Adano«: »Im Hafen von Adano, am blauen Meer / Da ist heut einem Mädel das Herz so schwer / Sie wartet in Adano am blauen Meer / Auf einen, der so gerne jetzt bei ihr wär.« Das schloss deutlich an die Motivik der »Capri-Fischer« an, nur dass diesmal aus der Perspektive des wartenden – und offenkundig treuen – Mädchens aufs Meer geblickt wurde. Und es im Unterschied zur Insel Capri die Hafenstadt Adano gar nicht gibt – was aber nicht auffiel, da das Publikum ohnehin kaum eine Möglichkeit hatte, nach Italien zu reisen und den Gehalt dieser Fantasien an der Realität zu überprüfen.
Zu dieser Zeit verstand das deutsche Publikum zum allergrößten Teil kein Italienisch und auch keine anderen Fremdsprachen. Deswegen blieben die nichtdeutschen Sprachanteile im Pop der späten 40er- und frühen 50er-Jahre zunächst auf wenige Wörter begrenzt, deren Bedeutung sich entweder von selbst erklärte oder aus dem Zusammenhang zu erschließen war. Im Laufe des Jahrzehnts bewiesen die Liedtexter allmählich mehr Wagemut, bis sie sich in einigen Fällen sogar zu einer Art deutsch-italienischem Hybrid-Slang verstiegen: »Still liegt erhellt vom Mond / Santa Lucia / Wo arm der Fischer wohnt / In seiner Casa / Doch jeder Fischersmann / In der Barchetta / Lacht dich hier freundlich an / Grüßt: ›Buona Sera‹«, so sang es der aus der Schweiz stammende Vico Torriani 1956 in dem Stück »Santa Lucia«, und weiter: »O dolce Napoli, Santa Lucia / Grüßendes Capri, Isola Bella / Im hellen Mondenschein / Singen die Fischer / Vom Boot und ihrem Heim / Erklingen Lieder / Santa Lucia, barce tamila / Santa Lucia, barce tamila.«
Generell wirkte das musikalische Schaffen von Torriani wie eine einzige Variation über das Fernweh der Deutschen, in thematischer wie in sprachlicher Weise. Andere seiner Songs aus den 50er-Jahren hießen »Bella Bella Donna«, »Bella Venezia«, »Addio, Donna Grazia« und »La Pastorello«. Er wagte sich aber auch in Territorien vor, die noch weiter entfernt von den Reisemöglichkeiten und der Vorstellungskraft seines Publikums lagen. Manches wirkte wie Erdkundeunterricht: »Kalkutta liegt am Ganges / Paris liegt an der Seine / Doch dass ich so verliebt bin / Das liegt an Madeleine«, erläuterte Torriani in dem Stück »Kalkutta liegt am Ganges«. »Pedro aus Caracas in Südamerika / Handelt mit Ananas, Ananas«, hieß es in »Ananas aus Caracas«: »Olé, olé, kauft Ananas / Olé, olé, aus Caracas / Olé, olé, kauft Ananas / Olé, olé, olé, oléi, aus Caracas.« Und in »Schön und kaffeebraun« ging die Reise sogar bis in die Karibik: »Schön und kaffeebraun sind alle Frau’n in Kingston Town / Schön und kaffeebraun sind die Jamaica Frau’n«, doch Vorsicht: »Der Jimmy, der Johnny, die gingen in die Bananabar / Der Jimmy, der Johnny, die ahnten keine Gefahr / Calypso Küsse und Rum / Nein, das geht nicht gut, das haut einen um.«
Anfang der 1950er-Jahre wurde dann Frankreich zum bevorzugten Sehnsuchtsort für die Deutschen. Eine knappe Dekade zuvor hatte man das Land noch überfallen und zerbombt. Nun wurde Paris wieder als Stadt der prächtigen Boulevards und der Liebe gefeiert: »Im Café de la Paix in Paris / Sitzt ein Mädel, wie Honig so süß«, so sang Gitta Lind 1950 in dem Lied »Im Café de la Paix in Paris«. »Hand in Hand mit einem netten jungen Mann / Und sie schauen sich so verliebt und glücklich an / Die Musik spielt ganz leis’: Je vous aime / Und es gibt für die zwei kein Problem / Er ist jung, sie ist süß / Und die Welt ein Paradies / Im Café de la Paix in Paris«, was nicht zuletzt wegen der Reimtechnik bemerkenswert war: So selbstverständlich, wie Gitta Lind hier »aime« auf »Problem« reimte, könnte man meinen, dass das Deutsche und Französische gerade dabei waren, zu ein und derselben Sprache zu verschmelzen. In der Sehnsucht nach dem Fantasie-Paris aus der Zeit vor der deutschen Okkupation spiegelte sich auch der Wunsch, sich aus der Rolle der Besatzungsmacht zu befreien und zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkerfamilie zu werden – mit einer einheitlichen Sprache, bei der es nichts mehr ausmachte, wenn sich Deutsches auf Französisches reimte. Dabei war es aber auch immer noch selbstverständlich, »Paris« so deutsch auszusprechen, dass es gut auf »Paradies« klingt. Und auf »süß«.
Eines stand jedenfalls für das deutsche Publikum fest: »Ganz Paris träumt von der Liebe.« Dieser weitere große Hit des Jahrzehnts erschien im Jahr 1954 und wurde gesungen von Caterina Valente. »Ganz Paris träumt von der Liebe / Denn dort ist sie ja zu Haus«, erfahren wir darin. »Wer verliebt ist in die Liebe / Kommt nach Paris zurück.« Dieses Lied kam ohne französisches Vokabular aus, doch es war auf eine andere Art als Sehnsuchtsfantasie gekennzeichnet, nämlich durch den Akzent der Sängerin, der sich in schwer zu fassender Weise zwischen dem Französischen und Italienischen bewegte. Caterina Valente wurde in Paris geboren, doch stammte sie aus einer italienischen Familie von reisenden Zirkusartisten. Ihre musikalische Karriere hatte sie Anfang der 50er-Jahre in der Big Band des deutschen Jazzmusikers Kurt Edelhagen begonnen. »Ganz Paris träumt von der Liebe« war eine deutschsprachige Coverversion des Cole-Porter-Stücks »I Love Paris«, später unter anderem interpretiert von Ella Fitzgerald, Frank Sinatra und Doris Day. Caterina Valente beherrschte die Techniken des Jazz- und des Scat-Gesangs, also der lautmalerischen Improvisation über den melodischen Linien ihrer Begleitmusiker. Sie benutzte ihre »Stimme als Material«, wie es 1955 in einem Porträt im Spiegel hieß.3 Vor allem setzte sie aber auch unterschiedliche Akzente und sprachliche Färbungen ein und verband sie zu einer Art kosmopolitischem Gesang, der eine gewisse Fremdheit suggerierte, ohne sich einem bestimmten Land zuordnen zu lassen. In »Ganz Paris träumt von der Liebe« wirkt es, als ob die Sängerin sich sicher, aber doch mit Anspannung in einer ihr fremden Sprache bewegt. Sie dehnt die Vokale in leicht tremolierender Weise und setzt die einzelnen Wörter voneinander ab, als würde sie sich bei jedem Wort von Neuem an dessen Bedeutung erinnern. Hyperkorrektur nennt man diese Technik in der Linguistik. Passt man seinen Sprachgebrauch an eine als vorbildlich eingestufte Norm an und spricht dabei korrekter, deutlicher und distinguierter als die Muttersprachler und -sprachlerinnen, ist man gleichwohl als fremd zu erkennen, da die natürlichen Verschleifungen und die angeborene Lässigkeit fehlen.
Caterina Valente intonierte »hyperkorrekt«, was den besonderen Charme, die Koketterie und auch den erotischen Reiz ihres Gesangs ausmachte. Sie wirkte fremd, ohne dass man eine Herkunft aus einem bestimmten Land hätte identifizieren können; vielmehr war diese Fremdheit aus der Struktur ihres Deutschsingens herauszuhören. 30 Jahre später hätte man diese Ästhetik als postmodern-eklektizistisch bezeichnet. Es ist jedenfalls interessant – und wird in der Rückschau auf den Pop der 50er-Jahre viel zu wenig gewürdigt –, dass in der Hochzeit der nachkriegsdeutschen Begeisterung für fremde Sprachen und Exotik eine solche Art des Eklektizismus derart erfolgreich wurde: eine sprachliche Exotik zweiter Ordnung.
Die folgenden Hits von Caterina Valente hießen »Fiesta Cubana«, »Komm ein bißchen mit nach Italien« oder »Tschau Tschau Bambina«. In »C’est si bon« sang sie auf Englisch, aber mit übertriebenem französischem Akzent. In dem Film »Und abends in die Scala« von 1958 imitierte sie in ihrem Hit »Spiel noch einmal für mich, Habanero« Elvis Presley, Maurice Chevalier und Charlie Chaplin. Sie verkörperte unterschiedliche Rollen, so wie sich ihre Musik und ihre Sprache durch die verschiedensten Stile bewegten. In ihrer Musik verbanden sich Stilelemente der Operette und des Belcanto, des gesanglich zurückgenommenen Folk und des dramatischen Kunstlieds. Man fand wuchtige Big-Band-Bläser-Einsätze neben schwelgenden Streichern, Bossa-Nova-Rhythmen wie auch das für den Schlager der frühen 50er typische Walzer-Geschunkel.
Ihr erstaunlichstes Stück, »Tipitipitipso«, erschien im Jahr 1957 und wurde wiederum vom Kurt Edelhagen Orchester begleitet. In »Tipitipitipso« verkehrte Caterina Valente die Hyperkorrektheit ihrer sonstigen Aussprache in einen grammatisch rundum unkorrekten Slang. Sie sang wie jemand, der gerade erst die deutsche Sprache zu lernen beginnt – oder wie jemand, der in einem Umfeld aus Nicht-Muttersprachlern aufgewachsen ist und deren fehlerhafte Grammatik zu einer eigenen Sprechweise ausgebaut hat: »Coco kauft sich bittesehr / Eines Tages Schießgewehr / Weil ein Mexicano das / Macht so großen Spaß / Coco zielt, schießt sogar / Loch in Wand von Billys Bar / So entsteht ganz nebenbei / Schöne Schießerei / Tipitipitipso / Beim Calypso / Ist dann alles wieder gut / Ja das ist mexikanisch / Tipitipitipso / Beim Calypso / Sind dann alle wieder froh / Im schönen Mexiko.« Die gleichen Versöhnungsstrategien funktionieren auch, wenn der kleine Coco sich im weiteren Verlauf die groß gewachsene »Braut von Don Pedro« ansieht und von diesem deswegen zunächst »durchs Fensterglas / Rein auf Schreibtisch von Kanzlei / Bei der Polizei« geworfen wird, oder wenn er wegen der plötzlichen Lust auf »gut gebrat’nes Beefsteak« kurzerhand »großes Pferd« aus »Billys Stall« stiehlt und filetiert. In »Tipitipitipso« wird die Liebe zur inhaltlichen und sprachlichen Exotik zu einem artifiziellen Slang. Wenn man dieses Stück heute spielt, dann hört man, wie die beliebteste Sängerin jener Zeit die Sehnsüchte und Wünsche ihres Publikums befriedigte und dabei zugleich über sie lachte: Sie nimmt die Sehnsucht der Menschen nach der Ferne an und die damit verbundenen Klischees des Fremden – und spielt damit in einer Weise, in der diese Klischees zwar einerseits kenntlich werden, aber andererseits nicht so, dass das Publikum beim Blick in den Spiegel seiner weltanschaulichen Verzerrungen vor sich selber erschrecken müsste.
Die deutsche Popmusik der frühen 1950er-Jahre war noch geprägt vom Fernweh nach Frankreich und Italien, doch es wuchs die Sehnsucht nach dem Reisen überhaupt. Auch weiter entfernte Urlaubsziele lockten und förderten andere Arten des Exotismus. Heute weitgehend vergessen ist die damalige Begeisterung für das ferne, nahezu unerreichbare und deshalb umso mehr mit Mythen beladene Hawaii. Das Hula Hawaiian Quartett reüssierte 1953 mit dem Lied »Vaya con dios«, einer in die Südsee verlegten Variante der »Capri-Fischer«. »Weiße Boote legen ab vom steilen Ufer«, hieß es darin. »Und im Mondlicht auf dem Fels / Da steh’n die Rufer / Vaya con Dios, so klingt es / Weit übers nächtliche Meer / Denn im blassen Fackelschein / Fährt zu den Riffen / Der verlor’nen Fischer Schar / Auf ihren Schiffen / Vaya con Dios, so klingt es / Hinter den Perlfischern her.« Zu dem melancholisch-süßlichen, leicht leiernden Chorgesang wimmert eine Pedal-Steel-Gitarre und verschafft dem Song damit das gewünschte Südsee-Flair. Warum sich die Perlenfischer vor den Stränden Hawaiis ausgerechnet auf Spanisch »Vaya con dios« hinterherrufen lassen, blieb freilich das Geheimnis des deutschen Quartetts und seiner Texter.
Weitere Songs des Hula Hawaiian Quartetts hießen »Dort in Hawaii« (ihre Debüt-Schellacksingle aus dem Jahr 1951), »Heimweh nach Hawaii (wenn die Gitarre von der Südsee singt)«, »In Honolulu an der Hafenbar«, »Wenn Matrosen Abschied nehmen von Hawaii« oder auch »Roter Mond von Haiti«. Ihren größten Erfolg erzielten sie 1954 mit der Single »Jim, Jonny und Jonas«, die sich über ein Jahr lang auf den vorderen Plätzen der Hitparade halten konnte. »Jim, Jonny und Jonas / Die fahren an Java vorbei«, erfahren wir darin. »Jim, Jonny und Jonas / Die fahren direkt nach Hawaii / Jim, Jonny und Jonas / Die haben so viel schon gesehen / Doch nirgendwo leuchten die Sterne / Die Sterne der Liebe so schön« – womit Hawaii hier also Paris als der Welthauptstadt der Liebe Konkurrenz zu machen beginnt. Die vier Mitglieder des Quartetts, zwei Frauen und zwei Männer, waren sämtlich Deutsche. Eine der beiden Frauen, Barbara Kist, sang unter anderem mit dem bereits erwähnten Italienfreund René Carol 1952 das Lied »Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein« und hatte 1957 ihren größten Soloerfolg mit einer deutschsprachigen Coverversion des Doris-Day-Stücks »Que sera, sera«. Der außergewöhnliche, fremdländische Eindruck des Gesangs wurde vom Hula Hawaiian Quartett nicht durch einen sprachlichen Akzent hergestellt, sondern durch die klischeehafte Dehnung der Intonation. Freilich rief der Erfolg dieser Musik zahlreiche Nachahmer auf den Plan – unter anderem die Hilo Hawaiians, deren Mitglieder tatsächlich von Hawaii stammten und die mit »Domingo, Santo Domingo« 1955 einen Nummereins-Hit in Deutschland hatten.
Der Song »Jim, Jonny und Jonas« vom Hula Hawaiian Quartett ist aber auch noch aus einem anderen Grund interessant: Es war einer der ersten erfolgreichen deutschen Popsongs nach 1945, dessen Protagonisten nicht wahlweise deutsche, französische oder italienische Namen trugen, sondern englisch klingende. Im Wechsel der Perspektive auf den Exotismus der Südsee zeigte sich erstmals auch jene Neuorientierung nach Westen und in den englischsprachigen Teil der Welt, der die deutsche Popmusik der folgenden Jahrzehnte wesentlich prägen sollte. Wer die Soldatensender der amerikanischen und britischen Alliierten empfing, konnte damals schon deren Popmusik hören. Die dazugehörigen Singles gab es in Deutschland allerdings noch nicht zu kaufen, und auch wenn die westdeutsche Gesellschaft das Streben des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer nach politischer Westbindung unterstützte, so lehnte die noch im Dritten Reich sozialisierte Generation den Import der US-amerikanischen Kultur mehrheitlich ab. Man fürchtete sich vor Überfremdung und dem Verlust des Eigenen (nur deswegen konnte die nächstfolgende Generation in der Orientierung an amerikanischen Sounds ja eine Quelle des Rebellionsausdrucks finden).4
Um diese Ambivalenz aus politischer Identifikation und kulturellem Ressentiment aufzulösen, begann man sich ersatzweise für mythisierte Bilder des englischsprachigen Westens zu begeistern, in denen dieser gleichsam im Rahmen der durch die deutsche Kultur klischierten, also vertrauten und für das »Eigene« ungefährlichen Bildern verblieb. Neben der sonderbaren Faszination für Hawaii diente dazu vor allem das Klischee des »Wilden Westens« mit seinem Personal aus Cowboys und Indianern. So wechselte die dritte bedeutende Hawaii- und Tiki-Combo dieser Zeit in ihrem Repertoire denn auch praktischerweise zwischen Südsee- und Cowboy-Romantik hin und her: Die Kilima Hawaiians kamen zwar aus den Niederlanden, sangen aber auf Deutsch. Bei ihren Konzerten traten sie abwechselnd in Hawaii-Kostümen mit Blumengirlanden und in Wildwest-Cowboy-Verkleidungen auf. Ihre Lieder hießen »King Kamehameha«, »Märchen von Tahiti« oder »Wenn in Hawaii die Liebe blüht« – aber auch »Cowboys Heimweh« und »Ein Pferd kehrt heim«. Ihren größten Erfolg in Deutschland hatten sie 1953 mit dem Stück »Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand«, einer Coverversion des Stücks »Bridle Hanging on the Wall« des US-Countrysängers Carson Robinson.
Die popmusiktypischen Motive des Abschieds und der Trauer bezogen sich hier nicht auf einen geliebten Menschen oder eine verlorene Heimat, sondern auf ein Tier. Offenkundig war gerade das Pferd jenes Cowboys verblichen, der hier als lyrisches, singendes Ich fungiert: »Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand / Und der Sattel liegt gleich nebenan / Fragt ihr mich, warum ich traurig bin / Schau ich nur zum Pferdehalfter hin.« Man kann diese Zeilen als eskapistische Wildwestfantasie abtun. Man kann das Lied aber auch als politische Allegorie lesen, wie es André Port le roi in seinem Buch »Schlager lügen nicht« getan hat. Ihm zufolge lässt sich das tote Pferd als Metapher für einen im Krieg gefallenen Kameraden verstehen und der singende Cowboy als ein Wehrmachtsveteran.5