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Jens Balzer

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Beschreibung

Es sieht nicht alles schlimm aus in den achtziger Jahren. Aber vieles. Es ist das Jahrzehnt der explodierenden Dauerwellen und Pornoschnauzbärte, der aufgepumpten Schulterpolsterjacketts und schrillen Herumprotzerei; in den Achtzigern werden die Yuppies zu Vorreitern einer neuen Egoistenkultur. Doch gleichzeitig herrscht die Angst vor der Apokalypse, vor dem Atomtod und der Umweltzerstörung; die Menschen sehnen sich nach Utopien und Zukunft, nach neuer Gemeinschaft und Wärme. Helmut Kohl lässt die «geistig-moralische Wende» ausrufen, aber Hunderttausende demonstrieren auch für Frieden und Abrüstung, die Grünen etablieren sich als politische Kraft. Die Popkultur wird zum Schauplatz der feministischen und schwulen Emanzipation, mit dem Hip-Hop erhalten Minderheiten eine Stimme, die bis dahin fast unsichtbar waren. Eine ganze Generation lernt am Commodore 64 das Programmieren und begibt sich auf den Weg in die digitale Gesellschaft. Am Ende des Jahrzehnts fällt die Berliner Mauer, eine Umwälzung, die unsere Welt bis heute prägt. Jens Balzer bringt die Widersprüche der Achtziger zum Leuchten, ihre befremdlichen Moden und bizarren Lebensstile ebenso wie ihren Revolutionsdrang, in dem die Wurzeln unserer Gegenwart liegen.

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Jens Balzer

High Energy

Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt

 

 

 

Über dieses Buch

Es sieht nicht alles schlimm aus in den achtziger Jahren. Aber vieles. Es ist das Jahrzehnt der explodierenden Dauerwellen und Pornoschnauzbärte, der aufgepumpten Schulterpolsterjacketts und schrillen Herumprotzerei; in den Achtzigern werden die Yuppies zu Vorreitern einer neuen Egoistenkultur. Doch gleichzeitig herrscht die Angst vor der Apokalypse, vor dem Atomtod und der Umweltzerstörung; die Menschen sehnen sich nach Utopien und Zukunft, nach neuer Gemeinschaft und Wärme. Helmut Kohl lässt die «geistig-moralische Wende» ausrufen, aber Hunderttausende demonstrieren auch für Frieden und Abrüstung, die Grünen etablieren sich als politische Kraft. Die Popkultur wird zum Schauplatz der feministischen und schwulen Emanzipation, mit dem Hip-Hop erhalten Minderheiten eine Stimme, die bis dahin fast unsichtbar waren. Eine ganze Generation lernt am Commodore 64 das Programmieren und begibt sich auf den Weg in die digitale Gesellschaft. Am Ende des Jahrzehnts fällt die Berliner Mauer, eine Umwälzung, die unsere Welt bis heute prägt. Jens Balzer bringt die Widersprüche der Achtziger zum Leuchten, ihre befremdlichen Moden und bizarren Lebensstile ebenso wie ihren Revolutionsdrang, in dem die Wurzeln unserer Gegenwart liegen.

Vita

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für die «Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam … Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher – und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.»

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt·Berlin Verlag GmbH, Berlin

Covergestaltung Frank Ortmann

Coverabbildung Thoth_Adan/iStock

ISBN 978-3-644-00934-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Einleitung Alle wollen die Wende

Teil I Ökos, Punks und Popper: Eine Typenlehre der achtziger Jahre

1. Kapitel Schlabberpullis im Deutschen Bundestag: Protestbewegungen und der Marsch durch die Institutionen

2. Kapitel Spermavögel tanzen den Bullenpogo: Die Rebellion der Punks gegen rechte und linke Spießer

3. Kapitel Gut geföhnte Zyklopenfrisuren erobern die Zukunft: Über Popper, Preppies und Sloane Rangers

Teil II Von der «Schwarzwaldklinik» bis zur Dritten Welle des Feminismus: Wie sich die Gesellschaft verändert

4. Kapitel Von glücklichen Patchwork-Familien: Professor Brinkmann und die neue Unübersichtlichkeit der Liebes- und Lebensverhältnisse

5. Kapitel Und wann gehen Sie wieder zurück in die Türkei? Deutschland auf dem Weg zur multikulturellen Gesellschaft

6. Kapitel Schwarzer Kopf, schwarzer Bauch, schwarze Füß: Der erfolgreichste Film des Jahrzehnts und die Welt als Zeichengestöber

7. Kapitel Frauen sehen wie Männer aus, die wie Frauen Aussehen: Was Margaret Thatcher mit Modern Talking verbindet

Teil III Video, Walkman, Computerkultur: Der Beginn des digitalen Zeitalters

8. Kapitel Ihr wolltet die sexuelle Befreiung? Hier habt ihr Porno! Der Videorecorder und die mediale Revolution der Wohnzimmer

9. Kapitel «’cause this is thriller, thriller night»: Über Michael Jackson, Walkman-Träger und Andere Zombies

10. Kapitel Ein italienischer Klempner rettet die Welt: Die neue Jugendkultur der Computerspiele

11. Kapitel Fickt das System! Die neue Hackerszene und der Computer als Werkzeug der politischen Subversion

Teil IV Fitness, Fetisch, Cyborgs: Das Jahrzehnt der Körperkultur – und der tödlichen Seuche

12. Kapitel Spandexhosen, Stulpen, Spaghettiträger: Vom Aerobic-Trend bis zum Jogging-Rausch

13. Kapitel Wir feiern eine Party, als wäre es 1999: Prince und eine Zukunft der sexuellen Entfesselung

14. Kapitel Die Seuche, die alles verändert: Aids, die Angst und das Sterben – und eine neue Emanzipation

15. Kapitel Wir sind alle Cyborgs: Arnold Schwarzenegger und die Erfindung der Gender Studies

Teil V Angst vor der Zukunft, Besinnung auf die Vergangenheit: Weltflucht und neues Gedächtnis

16. Kapitel Tödliche Strahlung und nuklearer Winter: Bilder vom nahen Ende der Welt

17. Kapitel Ist der Fluxkompensator die Rettung? Reisen in die Vergangenheit – und zurück in die Zukunft

18. Kapitel Fight the Power: Hip-Hop als Kultur der schwarzen Selbstermächtigung und der Wiederaneignung der Geschichte

19. Kapitel Mein Vater blutet Geschichte: Neue Formen der Erinnerung und der Holocaust mit Katzen und Mäusen

Teil VI High Energy: Das Jahrzehnt der Beschleunigung und Intensivierung

20. Kapitel Fegefeuer der Eitelkeiten: Willkommen in der Welt der Yuppies

21. Kapitel Mobiltelefon, Filofax, Büffelkäse mit Pesto: Das Zeitalter des Kosmopolitismus und der globalen Vernetzung

22. Kapitel Orgasmus, Sex on the Beach, Energydrinks: Eine kleine Getränkekunde der Achtziger

23. Kapitel War das die «geistig-moralische Wende»? Entfesselte Märkte und der neue Geist des Individualismus

Schluss Und die Wende kommt

Dank

Bildnachweis

EinleitungAlle wollen die Wende

Es ist ein bisschen wie Woodstock. Das ist das Gefühl, das viele Menschen ergreift, die sich an diesem kühlen, frühherbstlichen Sonnabend im Bonner Hofgarten versammeln. Es ist grau und bewölkt, gelegentlich gehen kurze Schauer nieder, aber von den sintflutartigen Regenfällen, die dereinst das Woodstock-Festival verheerten, ist das Wetter an diesem Tag weit entfernt. Dreihunderttausend Menschen sind hier zusammengekommen, am 10. Oktober 1981, um für den Weltfrieden zu demonstrieren, für «Peace, Love and Harmony»: ganz wie die Hippies und Blumenkinder zwölf Jahre zuvor bei ihrem großen Stammestreffen am Ende der bürgerrechtsbewegten Sechziger. Damals war es eine halbe Million, die sich etwas nördlich von New York auf den Feldern des Bauern Max Yasgur versammelte, um Musik zu hören und Drogen zu nehmen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren und gegen die ungerechte Verfassung der Welt im Ganzen. Die Verhältnisse waren chaotisch, viele blieben in ihren Autos schon auf den überfüllten Straßen zum Festivalgelände stecken, und wer ankam, hatte oft kaum die Gelegenheit, einen Blick auf die Bühnen zu erhaschen.

In der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1981 ist alles besser organisiert, um nicht zu sagen: perfekt. Die demonstrationswilligen Massen werden in Sonderzügen der Deutschen Bundesbahn oder in Bussen in die Bundeshauptstadt Bonn gebracht, dort bewegen sich die Demonstranten in einem fünfzackigen Sternmarsch aufeinander zu, um sich bei der Abschlusskundgebung zu treffen. «Die achtziger Jahre werden mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit. Ein Dritter Weltkrieg wird aufgrund der weltweiten Aufrüstung immer wahrscheinlicher.» So lauten die ersten Zeilen des Aufrufs zur Demonstration, und am Ende heißt es: «Wir sind alle aufgerufen, uns mit Mut, Phantasie und langem Atem gegen einen drohenden Atomkrieg zu wehren und Alternativen zur gegenwärtigen Militärpolitik zu entwickeln.» Schier unüberschaubar sind die Menschenmengen, die für dieses Ziel demonstrieren, es sind junge Hippies und Ökos darunter sowie Hippies und Ökos mittleren Alters, Angehörige von Kirchengruppen und der im Vorjahr neu gegründeten Partei Die Grünen, Gewerkschafter, Mitglieder von DKP und CDU, aber auch solche aus der SPD, die sich gegen den offiziellen Regierungskurs des Bundeskanzlers Helmut Schmidt aussprechen. Es reden der evangelische Pastor und ehemalige SPD-Bürgermeister Westberlins, Heinrich Albertz; zwei Prominente aus der Partei Die Grünen, Petra Kelly und Gert Bastian; die Witwe des US-amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, Coretta Scott King, versucht, ein wenig Hoffnung auf eine friedliche Welt zu stiften; die Theologin Uta Ranke-Heinemann hingegen malt die Gesamtlage in den düstersten Farben.

Zu Beginn der achtziger Jahre spitzt sich der Kalte Krieg zu; bei vielen Menschen wächst die Angst, er könnte bald in einen heißen Krieg umschlagen. Seit 1977 hat die Sowjetunion in den Staaten des Warschauer Pakts neue Waffen für einen Atomkrieg in Stellung gebracht. Die zwanzigste Generation der «Surface-to-surface»-Raketen, kurz SS-20, kann fünftausend Kilometer weit fliegen und also im Ernstfall ganz Westeuropa verheeren. Dagegen verabschiedet das westliche Militärbündnis im Dezember 1979 den NATO-Doppelbeschluss. Darin heißt es: Wenn die Sowjetunion sich nicht binnen vier Jahren für den Rückzug der SS-20 entscheide, dann werde man selbst neue atomare Mittelstreckenraketen stationieren. Mit den Pershing-II-Flugkörpern will die NATO jenes «Gleichgewicht des Schreckens» wiederherstellen, das – wie die Vertreter beider Militärblöcke behaupten – in der gegenwärtigen Lage einzig und allein den Frieden garantiert. Die Sowjetunion bleibt vom Doppelbeschluss unbeeindruckt, mehr noch: Zwei Wochen danach, am 25. Dezember 1979, lässt sie Truppen in Afghanistan einmarschieren, um das seit dem vorigen Jahr dort herrschende kommunistische Regime zu unterstützen. Dieses hat sich eine Modernisierung und Säkularisierung des Landes zum Ziel gesetzt, unter anderem mit gleichen Bürgerrechten für Frauen und einem Burkaverbot. Darum wird es von den islamistischen Mudschaheddin bekämpft, welche wiederum – rückblickend betrachtet eine allerdings bizarre historische Wendung – die Unterstützung der USA genießen.

Die Konfrontation zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten ist damit in eine neue Phase der Eskalation eingetreten; nicht wenige Menschen sehen sich, wie es schon im Aufruf zur Demonstration in Bonn anklingt, am Vorabend eines Dritten Weltkriegs. Die dreihunderttausend Demonstranten in der Bundeshauptstadt bekunden ihre Ohnmacht und ihre Angst angesichts einer politischen Lage, die jederzeit zu einer globalen Katastrophe führen könnte. Dass so viele Menschen zusammenkommen, um ihren Unmut zu bekunden, verschafft vielen Glücks- und Gemeinschaftsgefühle; darin ähnelt die Stimmung tatsächlich jener in Woodstock zwölf Jahre zuvor, als Janis Joplin beim Blick von der Bühne ins Publikum ergriffen ausruft: «Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viele sind!» Auch in Woodstock sind die Besucher und Besucherinnen im Protest gegen einen Krieg geeint, den Vietnamkrieg.

Aber es gibt doch einen Unterschied, der wiederum etwas aussagt über den Unterschied zwischen den siebziger Jahren, die in Woodstock beginnen, und den Achtzigern, die ihren Ausgang im Bonner Hofgarten nehmen. In Woodstock wähnen sich die Menschen am Beginn einer neuen Epoche; einer Epoche, die weniger kriegerisch und konfrontativ sein wird als die bisherige Menschheitsgeschichte. Sie betrachten sich, nach dem Titel eines Woodstock-Songs von Melanie Safka, als «beautiful people», deren harmonischer und friedfertiger Geist bald die ganze Welt beglücken wird – gewissermaßen als Avantgarde einer Globalisierung, die die gesamte Menschheit einer besseren Zukunft entgegenführt. In Bonn fehlt dieser utopische Glaube. Wer im Hofgarten für den Frieden demonstriert, der tut dies nicht aus dem optimistisch gestimmten Geist der Friedfertigkeit heraus – sondern aus der Angst vor einer atomaren Apokalypse. Man glaubt nicht mehr daran, dass sich die Welt durch das eigene Handeln zum Besseren verändern lässt – sondern handelt politisch, um die Veränderung der Welt zum Schlechteren aufzuhalten. Auch hier geht es um Globalisierung, auch hier betrachtet man den Planeten im Ganzen. Doch betrachtet man ihn aus der Perspektive einer möglichen planetarischen Apokalypse.

Und es gibt noch einen Unterschied zwischen Woodstock und Bonn. Das musikalische Programm der Hofgartendemonstration ist, um es vorsichtig zu sagen, nicht ganz so toll. Unter anderem treten die Liedermacher Hannes Wader und Franz Josef Degenhardt auf und der in der DDR lebende kanadische Banjospieler Perry Friedman, der in seiner Wahlheimat die sogenannte Singebewegung mitgegründet hat; der Calypso-Sänger Harry Belafonte intoniert mit den Massen das Erkennungslied der alten US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, «We Shall Overcome». Vielleicht könnte man sagen: Fortschrittliche politische Botschaften werden hier in musikalisch eher traditionsseligem Ton vorgetragen. Dies gilt auch für die jüngsten Künstlerinnen und Künstler, die im Hofgarten auf der Bühne stehen. Die Folksängerin, Gitarristin und Querflötenspielerin Angi Domdey etwa hat seit Mitte der Siebziger mit ihrer Gruppe Schneewittchen an einer Verbindung von deutschen Volksliedern und Blues-Balladen mit feministischen Botschaften gearbeitet; auf ihrem Debütalbum «Zerschlag deinen gläsernen Sarg (Frauenmusik – Frauenlieder)» aus dem Jahr 1978 findet sich eine populäre Parole der Gegenkultur, instrumentiert mit Flöte, Bratsche und Akkordeon: «Unter dem Pflaster liegt der Strand.»

Die Stars des Abends sind aber die Bots: eine Folkgruppe aus den Niederlanden, die Ende der Siebziger angefangen hat, auf Deutsch zu singen. «Aufstehn» heißt ihr Erfolgsalbum aus dem Jahr 1980, auf dem sich auch der größte Hit findet, «Sieben Tage lang». Zu einer markanten, von Flöte und Glockenspiel eingeleiteten Melodie und einem schließlich einsetzenden, spielmannszugartigen Schlagzeug singen die fünf Musiker im Chor mit starkem niederländischen Akzent, dass sie nicht wüssten, was sie sieben Tage lang trinken wollen: «… so ein Durst!» Doch findet sich die Lösung der Frage alsbald im Bekenntnis zur Gemeinschaftlichkeit: «Es wird genug für alle sein / Wir trinken zusammen / Roll das Fass mal rein! / Wir trinken zusammen / Nicht allein!» Vor dem Auftritt im Hofgarten ist gerade das zweite deutschsprachige Album der Bots erschienen: «Entrüstung». Auf dem Cover sieht man einen Kampfpanzer der Marke Gepard. Allerdings sind die beiden Kanonenrohre seitlich des Ausguckturms durch zwei E-Gitarren ersetzt, und die Panzerketten bestehen aus Klaviertasten. Auf «Entrüstung» ist der zweite große Hit der Gruppe zu hören, «Das weiche Wasser», das wie ein Thesenstück für die Friedensdemonstrationen komponiert worden ist: «Europa hatte zweimal Krieg / Der dritte wird der letzte sein», heißt es darin. «Gib bloß nicht auf, gib nicht klein bei / Das weiche Wasser bricht den Stein.» Und: «Komm, feiern wir ein Friedensfest / Und zeigen, wie sich’s leben lässt.»

«Das weiche Wasser bricht den Stein»: So könnte man auch die Botschaft der zentralen Rede im Bonner Hofgarten paraphrasieren. Sie wird gehalten von dem Schriftsteller Heinrich Böll, der seit den Siebzigern zu einem der wichtigsten Festredner des zivilen Widerstands gegen die als ungerecht empfundenen gesellschaftlichen Verhältnisse geworden ist. In Bonn fordert Böll sein Publikum dazu auf, sich von der scheinbaren Ausweglosigkeit der Situation nicht einschüchtern und lähmen zu lassen; man dürfe nicht glauben, die «kleinen Leute» hätten keine Möglichkeit, gegen das anzugehen, was «die Politiker» entscheiden. «Die Politiker haben ja die Wahl, uns zu apathischen Zynikern zu machen», sagt Böll. «Das ist sehr leicht geschehen. Sie können es haben, sie können eine gelähmte Bevölkerung auf der ganzen Welt haben, die gelähmt ist von diesen Waffenpesten und Waffenzahlen. Wir wollen uns nicht lähmen lassen!»

Was die Bereitschaft zur massenweisen Meinungsbekundung betrifft, so muss Heinrich Böll sich einstweilen keine Sorgen darum machen, dass die Gesellschaft unter Lähmungserscheinungen leidet. Jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland wird Anfang der achtziger Jahre so viel demonstriert wie nie zuvor. Weitaus mehr als selbst zur Hochzeit der 68er-Bewegung: Als im Mai 1968 im Bonner Hofgarten gegen die Notstandsgesetze demonstriert wird – auch damals ist Heinrich Böll schon als Hauptredner dabei –, kommen gerade einmal fünfzigtausend Menschen zusammen. Bei der Kundgebung gegen den NATO-Doppelbeschluss sind es sechsmal so viele.

Aber man demonstriert Anfang der achtziger Jahre nicht nur gegen den NATO-Doppelbeschluss. Man kettet sich zum Beispiel auch an Bäume, die für die Erweiterung des Frankfurter Flughafens durch eine Startbahn West gerodet werden sollen. Und vor allem versucht man, den Bau von Atomkraftwerken oder nuklearen Endlagern zu verhindern. Schon ein halbes Jahr vor der Kundgebung im Bonner Hofgarten, am 28. Februar 1981, sind hunderttausend Menschen in Brokdorf zusammengekommen, einem Dorf an der Elbe etwas nordwestlich von Hamburg. Dort soll seit Anfang der siebziger Jahre ein Atomkraftwerk errichtet werden, doch haben zahlreiche Gerichtsverfahren die Bauarbeiten immer wieder verzögert. Jetzt hat das Oberlandesgericht Lüneburg die letzte Baustopp-Verfügung aufgehoben; schon zum Weihnachtsfest 1980 versammeln sich darum Tausende Menschen auf den Marschwiesen vor dem eingezäunten Gelände, Anfang Februar demonstrieren zehntausend in Hamburg. Am Ende des Monats ist es die zehnfache Menge, die sich auch hier in einem Sternmarsch auf den Weg zur Baustelle macht. Anders als die Versammlung im Hofgarten ist diese allerdings «wegen der Erwartung unfriedlicher Aktionen» verboten. Die Demonstranten und Demonstrantinnen umgehen die Straßensperren der Polizei und schlagen sich, von Kradmeldern mit Handfunkgeräten geleitet, auf manchmal abenteuerlichen Wegen durch das norddeutsche Flachland. Vor Ort werden sie von der Staatsmacht mit Hubschraubern und Wasserwerfern empfangen. Wer an dieser Veranstaltung teilnimmt, fühlt sich weniger an Woodstock erinnert als vielmehr an Krieg. Oder wenigstens an die dramatischen Bilder von Militärhubschraubern in Vietnam, die Francis Ford Coppola in seinem kurz vorher herausgekommenen Film «Apocalypse Now» zeigt.

 

«Apokalypse» heißt auch ein Lied der Düsseldorfer Gruppe Fehlfarben, das auf dem Debütalbum «Monarchie und Alltag» im Oktober 1980 erscheint; es bringt die Stimmung vieler Menschen am Beginn dieses Jahrzehnts auf den Punkt. Der Fehlfarben-Sänger Peter Hein kündet darin von einer Apokalypse, die wie bei Coppola nicht mehr bevorsteht, sondern längst eingetreten ist. Aus der Zivilisation ist eine «Un-Zivilisation» geworden, man lebt in verbotenen Zonen voller Fabriken, «in die keiner seine Nase steckt», während die «Waffenschmieden der Nation» unentwegt Panzer und Raketen produzieren. «Ernstfall – es ist schon längst so weit / Ernstfall – Normalzustand seit langer Zeit», heißt es im Refrain, und am Ende bekundet Peter Hein in gleichsam heroischer Resignation: «Ich fürchte nicht um mein Leben / Ich hab nur Angst vor dem Schmerz.»

Es finden sich am Anfang der achtziger Jahre viele Gründe, Angst zu haben – darunter das nukleare Wettrüsten der Großmächte und der NATO-Doppelbeschluss. Im Oktober 1981 demonstrieren dreihunderttausend Menschen im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland und für eine friedliche Welt.

Angst ist das Leitmotiv für die sozialen Bewegungen und für die Popkultur am Beginn der achtziger Jahre. «Aufrüstung macht mir Angst», steht auf einem der Schilder, das auf der Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten hochgereckt wird; das «t» in «Angst» ist in der Form eines Totenkreuzes gezeichnet. Auf einem anderen liest man: «Ich wollte doch Großvater werden.» Es gibt viele Gründe, in dieser Zeit Angst zu haben, zu Atomkrieg und Atomkraft kommen die verschiedensten Arten der Umweltverschmutzung. Am Anfang des Jahrzehnts sind es zunächst das Waldsterben und der saure Regen, die das Kommen der Apokalypse ankündigen; in der Mitte der Achtziger gerät das Ozonloch in den Mittelpunkt des Interesses: eine Schädigung der Atmosphäre, durch die das Risiko von Hautkrebs und anderen Erkrankungen steigt. Man hat Angst vor chemischen Giften wie Dioxin, die in rostigen Fässern endgelagert werden und in das Grundwasser eindringen. Die Angst vor der unbeherrschbaren Atomtechnologie wird in der zweiten Hälfte der Achtziger noch einmal befeuert durch die Kernschmelze im Kraftwerk von Tschernobyl.

Wer sich in dieser Zeit auf der progressiven Seite der Gesellschaft verortet, der glaubt nicht daran, dass «die Mächtigen», «der Staat» oder «der militärisch-industrielle Komplex» im Interesse der Menschen und mit Blick auf eine friedliche Welt und das Leben kommender Generationen handeln. Vielmehr meint man, dass es den Mächtigen nur um den kurzfristigen Eigennutz geht oder darum, nichts ändern zu müssen an dem verschwenderischen Lebensstil, den sie sich angewöhnt haben. Wenn alles so bleibt, wie es ist, dann ist die ganze Menschheit verloren. «Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann»: So lautet der – angeblich von einem Häuptling des nordamerikanischen Cree-Stammes geprägte – Spruch auf einem Transparent, das zwei Mitglieder der Umweltschutzorganisation Greenpeace im Juni 1981 an einem Schornstein der Hamburger Chemiewerke Boehringer anbringen.

Die Menschheit braucht eine «planetarische Wende»: So hat es schon im Jahr 1975 der CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl formuliert. In seinem Buch «Ein Planet wird geplündert» beschreibt Gruhl den «Raubbau» an der Natur und die «Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen», die zu «irreversibler Umweltverderbnis» führen; er warnt vor der Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, vor der Verseuchung der Seen und der Vergiftung der Luft – und vor allem davor, dass das Sterben der Wälder und die Verkarstung der Böden bald schon dazu führen wird, dass in der Atmosphäre nicht mehr genug Sauerstoff ist, um die Menschheit überleben zu lassen. Auch könne die bei der Energieproduktion entstehende Abwärme eine «Veränderung des Weltklimas» hervorrufen; wenngleich sich die Menschheit schon auf anderem Wege umgebracht haben dürfte, bevor die Klimaerwärmung zu einem existenziellen Problem werde.

Es sei denn, die Menschheit vollzieht jene «totale Wendung», die Gruhl in seinem Buch fordert; das bedeutet, dass «der Mensch nicht mehr von seinem Standpunkt aus handeln kann, sondern von den Grenzen unserer Erde ausgehend denken und handeln muss. Wir nennen diese radikale Umkehr die Planetarische Wende. Das bisherige Denken ging von den Wünschen und Bedürfnissen des Menschen aus. Er fragte sich: Was will ich noch alles? Das neue Denken muss von den Grenzen dieses Planeten ausgehen und führt zu dem Ergebnis: Was könnte der Mensch vielleicht noch?»

Als das Buch erscheint, ist Herbert Gruhl als Sprecher für Umweltfragen in der Bundestagsfraktion der CDU tätig. Doch wird ihm dieses Amt wegen seiner kritischen Einstellung zur Nutzung der Atomenergie bald entzogen. 1978 tritt er aus der CDU aus und gründet eine eigene Partei, die Grüne Aktion Zukunft; zwei Jahre später schließt sich diese mit anderen Gruppierungen zur neuen Partei Die Grünen zusammen. Auf deren Gründungsparteitag am 12. Januar 1980 hält Gruhl die Eröffnungsrede.

 

Die Grünen sind die Partei der «planetarischen Wende», das ist jedenfalls die Hoffnung, die Gruhl und seine Anhänger und Anhängerinnen im Jahr 1980 hegen. Freilich sind sie nicht die Einzigen, die sich eine Wende auf die Fahnen geschrieben haben. Auch Gruhls ehemalige Partei, die CDU, ruft im selben Jahr eine solche aus: Sie fordert eine «geistig-moralische Wende», wie es in einem später geprägten Schlagwort heißt. «Die Wende ist fällig», so heißt es im «Mannheimer Manifest der Union für die Wende in Deutschland», das im September 1980, kurz vor den Wahlen zum Bundestag, veröffentlicht wird; und schon im ersten Satz erklärt die aus den christlichen Parteien CDU und CSU bestehende Union, dass sie «mit aller Kraft für die geistige und politische Wende in Deutschland kämpfen» will. «Es ist Zeit, dass die Wende jetzt kommt», schreibt ihr Kanzlerkandidat, der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß: «Wir sind entschlossen, sie herbeizuführen, um Deutschlands willen.»

Mit dieser Wende soll also nicht der ganze Planet gerettet werden, sondern erst einmal nur Deutschland. Auch geht es in der Politik, die hier beschworen wird, nicht um den Schutz der Umwelt und um ein anderes, neues Verhältnis der Menschen zu ihren natürlichen Lebensgrundlagen. Vielmehr wünscht sich der deutsche Konservatismus eine Wende zurück zu verlorengegangenen «Werten» und «Tugenden», zu Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative, zu «Lebenstüchtigkeit» und «Selbständigkeit», wie es der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl formuliert. Auch gelte es, die brüchig gewordenen Bindungen zwischen den Menschen zu festigen; die Ehe und die Familie sollten wieder ins Blickfeld der Politik rücken.

Es geht bei dieser Wende um die Korrektur falscher Entwicklungen, für die konservative Politiker gerade diejenigen verantwortlich machen, die ihrerseits eine planetarische Wende fordern: also die Grünen und jene sozialen Bewegungen, aus denen heraus diese Partei wesentlich entstanden ist, die Umweltbewegung, der Feminismus, die Verfechter und Verfechterinnen einer antiautoritären Erziehung; alles das, was die Konservativen als Erbe der 68er und ihrer fundamentalen Kritik der bürgerlichen Institutionen betrachten. Diese Kritik, so Helmut Kohl auf dem Mannheimer Parteitag der CDU im März 1981, habe zu einer grundlegenden «Sinnkrise» geführt: «Es besteht eine tiefe Unsicherheit, gespeist aus Angst und Ratlosigkeit, Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst vor Umweltzerstörung, vor Rüstungswettlauf, Angst vieler junger Menschen vor ihrer Zukunft. Manche dieser jungen Mitbürger fühlen sich ratlos, steigen aus, flüchten in Nostalgie oder Utopien.»

Auch auf der konservativen Seite des politischen Spektrums sieht man sich also von Ängsten umgeben. Doch ängstigt man sich hier nicht vor dem Untergang der Welt, sondern vor dem Zerfall der Gesellschaft, vor einem grassierenden neuen Individualismus – also davor, dass die Menschen nicht mehr das große Ganze im Blick haben, sondern nur noch an sich selber denken; dass sie ihre eigenen Interessen wichtiger nehmen als die Gemeinschaft. Nicht nur Helmut Kohl glaubt, dass gegen diese Entwicklung etwas getan werden muss. Zwei Jahre zuvor, 1979, ist in Großbritannien die konservative Politikerin Margaret Thatcher zur Premierministerin gewählt worden; schon sie hatte sich «change», die Wende oder den Wandel, auf die Fahnen geschrieben. Und im November 1980 gewinnt der republikanische Kandidat Ronald Reagan die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen; er verspricht seinem Wahlvolk, die «Sinnkrise» der siebziger Jahre mit einer «Revolution» zu überwinden.

Diese Sinnkrise erzeugt ebenso Ängste wie der drohende Atomkrieg und die Umweltverschmutzung. Die ältere Generation hat Angst davor, dass der Pazifismus der langhaarigen Demonstranten die Wehrbereitschaft der Nation schwächt und die Russen eines Tages doch noch über die Elbe kommen. Sie hat Angst vor der Jugend und ihrer wohlstandsgenährten Verantwortungslosigkeit, vor ihrer Verrohung und Traditionsvergessenheit, vor dem Verlust von Tugenden, Bindungen, Identität. Man hat Angst davor, dass es bald keine «intakten» Familien mehr gibt, weil der Nachwuchs zu selbstbezogen ist, um überhaupt Kinder in die Welt zu setzen. Man hat Angst davor, dass junge Menschen sich dem schmutzigen und aggressiven Nihilismus zuwenden, der sich am Anfang der achtziger Jahre mit der neuen Jugendkultur Punk auch in Deutschland ausbreitet. Man hat aber auch Angst davor, dass ganz normale Jugendliche ihre Zeit nur noch mit dem Konsum gewaltverherrlichender Videofilme verbringen und eine ganze Generation darüber ihre Empathiefähigkeit verliert, emotionslos und aggressiv wird. Man hat Angst davor, dass die ebenfalls durch das neue Medium des Videorecorders flächendeckend verbreitete Pornokultur zu einer dauerhaften Störung der Bindungsfähigkeit führt.

In dieser zweiten Art von Angst spiegelt sich der gesellschaftliche Wandel der Zeit: Vertraute Sicherheiten und Institutionen verschwinden; herkömmliche biographische Muster und Lebensformen verlieren an Bedeutung. Am Beginn der achtziger Jahre ist es nicht mehr selbstverständlich, dass junge Frauen und Männer einander heiraten, Kinder kriegen und diese dann auch gemeinsam aufziehen. Die Geburtenrate sinkt, die Zahl der Kinderlosen steigt ebenso wie jene der Geschiedenen, der alleinerziehenden Mütter und der Patchwork-Familien, in denen Kinder aus unterschiedlichen früheren Beziehungen miteinander aufwachsen. Die gesamte Gesellschaft scheint sich in ein «Patchwork der Minderheiten» zu verwandeln, wie es der französische Philosoph Jean-François Lyotard schon in einer Schrift aus dem Jahr 1977 genannt hat, oder auch: in eine «multikulturelle Gesellschaft», wie man Anfang der achtziger Jahre erstmals sagt.

Aber Angsthaben: Das ist nur die eine Seite der politischen und kulturellen Entwicklung in dieser Zeit. Dass man so viel Angst hat am Beginn der achtziger Jahre – das heißt gerade nicht, dass die Gesellschaft deswegen «gelähmt» wäre, wie es Heinrich Böll bei seiner Rede im Bonner Hofgarten befürchtet, oder dass die kommende Generation sich in «Nostalgie oder Utopien» flüchtet, wie Helmut Kohl glaubt. Das Gegenteil ist richtig: Die Ängste vor der Apokalypse entfesseln auch neue Energien, stiften neue Gemeinschaften und politische Kollektive. Was die Konservativen als Sinnkrise beklagen, wird von immer mehr Menschen als Befreiung aus den Fesseln der Tradition empfunden – als ein Wandel, der jedem und jeder mehr Möglichkeiten gibt, das eigene Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Die Achtziger sind also nicht nur ein Jahrzehnt der Ängste, sondern ebenso sehr eines des Aufbruchs; eine Zeit, in der sich politische, soziale, kulturelle Strömungen bilden, die bis in unsere Gegenwart reichen.

Nicht zuletzt sind sie ein Jahrzehnt des technologischen Wandels: Es entsteht, was wir heute als digitale Gesellschaft begreifen. Auch davor haben viele Menschen erst einmal Angst. Sie fürchten sich vor der Verbreitung der Personal Computer in den Kinder- und Jugendzimmern; also davor, dass die heranwachsende Generation über den süchtig machenden Computerspielen jeden Kontakt zur echten Realität verliert. Auf der Seite jener, die den Mächtigen und ihren Absichten grundsätzlich misstrauen, hat man dagegen Angst, dass die Computertechnologie direkt in einen neuen Überwachungsstaat führt, in dem der herrschende militärisch-industrielle Komplex seine Untertanen bis in die intimsten Details ihres Daseins durchleuchtet. Im «Orwell-Jahr» 1984 kommt es darum zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung gegen die von der Bundesregierung beabsichtigte Volkszählung.

Im selben Jahr tritt eine weitere Angst hinzu: jene vor der sich ausbreitenden Aids-Epidemie. Die Mehrheitsgesellschaft bekommt Angst vor den Schwulen, die als «Superspreader» dieser unweigerlich tödlichen Krankheit erscheinen. Die Schwulen wiederum haben Angst davor, dass die Fortschritte der sexuellen Emanzipation in den siebziger Jahren wieder rückgängig gemacht werden könnten – und natürlich bangt jeder Einzelne darum, nicht selbst von der tödlichen Krankheit getroffen zu werden. Doch haben diese Ängste auch den Effekt, dass in der Gesellschaft nun offener über das Sexuelle gesprochen wird; über das Recht jedes Menschen, das eigene sexuelle Begehren auszuleben; aber auch über die Verantwortung, die jeder und jede für die Gesundheit – und für das Glück – des Sexualpartners besitzt.

Die Achtziger sind ein Jahrzehnt, das getrieben ist von einer Dialektik aus Furcht und Aufbruch, aus restaurativem Verzagen und der Entfesselung neuer Energien: «Hi-NRG» – kurz für «High Energy» – heißt nicht umsonst das musikalische Genre, mit dessen Erfindung der Pop der achtziger Jahre beginnt. Der Entstehung dieser Energien möchte ich im Folgenden nachgehen. Dabei ist es oft schwer oder gar nicht mehr zu entscheiden, welche politischen und kulturellen Entwicklungen in dieser Zeit wahrhaft progressiv waren und welche konservativ oder reaktionär. Vielleicht haben diese Begriffe schon in den achtziger Jahren nicht mehr dazu getaugt, die Komplexität der Verhältnisse zu beschreiben? Der Philosoph Jürgen Habermas hat die geistige Situation seiner Zeit im Jahr 1985 als «neue Unübersichtlichkeit» beschrieben.

Am Ende stellt man jedenfalls fest, dass es weder zu einer «planetarischen Wende» im Sinne der Öko- und Friedensbewegung gekommen ist noch zu einer «geistig-moralischen Wende» im Sinne der Konservativen. Die Achtziger sind auch ein Jahrzehnt der Erfolglosigkeit, der Rückschläge und der Erkenntnis, dass ein tiefgreifender Bewusstseinswandel in der Gesellschaft nicht von heute auf morgen zu haben ist. Die Grünen schaffen es langsam in die Parlamente, aber weder können sie die Stationierung von Atomraketen verhindern – im November 1983 beschließt die Bundesregierung unter dem CDU-Kanzler Kohl, den Doppelbeschluss umzusetzen –, noch können sie den Ausstieg aus der zivilen Atomenergie erzwingen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums mag Helmut Kohl noch so oft von einer geistigen und politischen Wende zurück zu alten Bindungen und Tugenden reden – die Individualisierung der Gesellschaft erweist sich als unaufhaltsam. Nicht zuletzt deswegen, weil die Konservativen in Deutschland und anderswo zwar eine Rückkehr zu Familie, Tradition und Gemeinschaft beschwören, aber mit ihrer Politik des entfesselten Marktes zugleich jene Individualisierung und «Ego-Gesellschaft» befördern, die sie zu bekämpfen vorgeben.

Die Achtziger beginnen damit, dass allenthalben eine Wende beschworen wird und es doch so weitergeht wie zuvor. Sie enden damit, dass es tatsächlich zu einer Wende kommt: einer Wende, die nun allerdings grundstürzend ist und planetarische Dimensionen besitzt – die aber niemand beschworen hat und von der auch fast niemand etwas ahnte. Vieles in diesem Jahrzehnt wirkt heute schrill oder fern wie Föhnfrisuren und Pornoschnauzbärte, Aerobic-TV und Atari-Konsole. Aber vieles, was in den Achtzigern anfängt, ist bis in unsere Gegenwart prägend, von der Yuppie-Kultur bis zur Digitalisierung. Wir reisen zurück in eine pulsierende Zeit – die sich selber ebenso grundlegend verkannte wie ihre Zukunft. Auch darin ist uns dieses Jahrzehnt heute vielleicht näher, als wir denken.

Teil IÖkos, Punks und Popper: Eine Typenlehre der achtziger Jahre

1. KapitelSchlabberpullis im Deutschen Bundestag: Protestbewegungen und der Marsch durch die Institutionen

Im Januar 1980 findet in Karlsruhe der Gründungsparteitag der Grünen statt. Wie bei der Demonstration im Bonner Hofgarten versammeln sich auch hier viele Menschen, um gemeinsam ihr Dagegensein auszudrücken. Wobei sich das Dagegensein nicht auf die zivile Nutzung der Atomenergie und die nukleare Aufrüstung beschränkt. In der neuen Partei treffen sich politische Strömungen, die in den siebziger Jahren noch getrennt verlaufen sind. Neben den Friedens- und Umweltbewegten finden sich Aktivistinnen aus der Neuen Frauenbewegung, aber auch Dritte-Welt-Initiativen, die gegen den Hunger in unterentwickelten Ländern kämpfen oder dortige Befreiungsbewegungen gegen die kapitalistische Ausbeutung unterstützen. Und schließlich wechseln die letzten noch aktiven Protagonisten aus dem zerfallenden Milieu der K-Gruppen in die Partei. Eine Abspaltung des Kommunistischen Bundes, die Gruppe Z, bemüht sich schon auf dem Gründungsparteitag darum, die generelle politische Orientierung der Grünen nach links zu verschieben.

Dabei wollen sich diese anfangs ausdrücklich nicht im herkömmlichen politischen Koordinatensystem positionieren. «Nichts links, nicht rechts, sondern vorn» – so lautet einer der Slogans, die man in Karlsruhe auf Plakaten und Spruchbändern findet. «Weder Kapitalismus noch Kommunismus. Wir brauchen neue Wege» – heißt es dann auf einem Plakat für den Bundestagswahlkampf im Herbst 1980. Eigentlich möchten die Grünen auch gar nicht als Partei verstanden werden; vielmehr sehen sie sich als Anti-Partei, als Anti-Parteien-Partei oder – wie es im ersten Wahlkampfprogramm heißt – als «Alternative zu den herkömmlichen Parteien». Sie treten bei diesem und den folgenden Wahlkämpfen entsprechend auch nicht als Partei im Singular an, sondern als «Die Grünen» im Plural oder in Form von «Listen»: als «Grüne Liste», «Alternative Liste» oder auch «Grün-Alternative Liste». So wollen sie zum Ausdruck bringen, dass sie keine hierarchische Organisation sind, sondern ein «Sammelbecken» von außerparlamentarischen Strömungen. Mit einem später etablierten Begriff würde man sagen: Es geht um die Vernetzung von Menschen, die aus unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Traditionen kommen, zum Teil auch sehr unterschiedliche politische Ziele verfolgen – und doch in der Auffassung übereinstimmen, dass die drängendsten Probleme der Gegenwart von den etablierten Parteien ignoriert oder gar erst erschaffen werden.

Die Eröffnungsrede auf dem Karlsruher Parteitag wird, wie schon erwähnt, von dem konservativen Ökologen und ehemaligen CDU-Abgeordneten Herbert Gruhl gehalten; er trägt bei seinem Auftritt, wie es für Politiker damals üblich ist, Anzug und Schlips. Damit steht er in der Karlsruher Stadthalle beinahe alleine da. Der einzige andere prominente Anzugträger ist der Westberliner Anwalt Otto Schily, der in den siebziger Jahren dadurch bekannt geworden ist, dass er die Mitglieder der RAF im sogenannten Stammheim-Prozess verteidigte. Zu Beginn seiner Zeit bei den Grünen wird er sich vor allem dem Vorhaben widmen, die Angehörigen weltanschaulich eher konservativer Strömungen wieder aus der Partei zu drängen – wie zum Beispiel eben Herbert Gruhl, der die Grünen darum zwei Jahre später verlässt.

Abgesehen von den beiden verfeindeten Anzugträgern Schily und Gruhl, sind die grünen Männer in Karlsruhe mehrheitlich informell, schluffig und schlampig gekleidet. Sie tragen grob gestrickte, gern auch zu weit geschnittene Pullover – sogenannte Schlabberpullover –, dazu Cordhosen und manchmal Cordjacketts mit großen Lederaufnähern an den Ellbogen. Das lange Haupthaar fällt oft in fettigen Strähnen in die Stirn, wenn es nicht zu einem –  bis dahin im wesentlichen Frauen vorbehaltenen – Pferdeschwanz zusammengebunden wird oder aber, je nach Spannkraft und Haartyp, als voluminöses Wuschelgebilde um den Kopf schwebt. Die Bärte der grünen Männer sind ebenfalls grundsätzlich unbeschnitten und ungepflegt, weswegen sie auch als Fusselbärte firmieren. Die Bekleidung der weiblichen Grünen-Mitglieder wird ebenso von selbstgestrickten Pullovern beherrscht sowie von weiten Maxiröcken, die bis auf den Boden fallen; wenn Hosen getragen werden, dann handelt es sich um weite, sehr bequeme und die Körperform verhüllende Pluderhosen oder um die noch aus der Neuen Frauenbewegung stammenden Latzhosen. Röcke, Hosen und auch Blusen werden gerne selber genäht und gefärbt, Letzteres am liebsten im Batikverfahren, bei dem man durch das Zusammenknüllen der Textilien während des Färbeprozesses knittrige Muster erzeugt, die wahlweise exotisch oder psychedelisch wirken oder beides.

Diese Art der negativen Uniformierung ist interessant, gerade angesichts der Beschwörung von Vielheit und Individualismus. Wenn die Grünen sich am Anfang der achtziger Jahre auch als Sammelbewegung verstehen, so kann man ihre Mitglieder und Sympathisanten doch auf den ersten Blick an ihren Frisuren und an ihrer Bekleidung identifizieren. Aus der scheinbaren Verweigerung gegen Modestile jeglicher Art entsteht eine eigene, äußerst prägnante Mode. Zu der wesentlich gehört, dass man zwischen formellen und informellen Bekleidungsstilen nicht mehr unterscheidet, weswegen bei politischen Versammlungen dasselbe schluffige Zeug getragen wird wie zu Hause oder beim Demonstrieren. Als besonders wichtig wird es angesehen, sich auch in bürgerlichen Institutionen, für deren Besuch man sich bis dahin feinzumachen pflegte, den herrschenden Bekleidungskonventionen zu widersetzen. Das gilt für die Oper und das Theater ebenso wie für die Parlamente. Als die Grünen – die beim ersten Anlauf im Herbst 1980 nur 1,5 Prozent der Stimmen erhalten und damit an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern – im März 1983 erstmals in den Deutschen Bundestag einziehen, genießen sie sichtlich die Verstörung, die sie bei Plenardebatten auslösen: als chaotischer, bunter und offensiv ungepflegter Haufen in einer ansonsten uniformen und grauen Menge von Anzugträgern.

«Man betonte das Unfertige, Spielerische, Lässige und Gestaltungsoffene gegenüber einer normierten und formierten Gesellschaft», so hat der Kulturhistoriker Sven Reichardt diese Stilistik des Dagegenseins in seinem Buch «Authentizität und Gemeinschaft» charakterisiert. «Den antibürgerlichen Effekt erzielte man dadurch, dass die Kleidung Löcher aufwies oder nachlässig mit Flicken versehen war. Sauberkeits- und Ordnungsvorstellungen wurden durch nachlässige Pflege und achtlose Handhabung herausgefordert.» Man ist ja auch dagegen, große Mengen umweltschädlichen Waschpulvers zu verwenden, darum stört man sich nicht an kleinen oder auch größeren Flecken auf der Kleidung. In einem sauberen und eventuell sogar gebügelten Anzug herumzulaufen gilt als Ausweis der Spießigkeit und Ressourcenverschwendung. Die mit der Umwelt- und Friedensbewegung durchaus sympathisierende Kölner Rockgruppe BAP besingt diese Ästhetik 1982 in ihrem Lied «Müsli-Man» folgendermaßen: «Lange blonde Hoor, bläcke Fööß met nur Sandale draan, / Schweb hä op mich zo, speut messjanisch op ming Currywoosch / Ich saare: Hühr ens, wer bess do? / Typisch, dat do mich nit kenns, ich benn dä Müsli-Män.» Auf Hochdeutsch etwa: «Lange blonde Haare, nackte Füße mit nur Sandalen dran, / Schwebt er auf mich zu, spuckt messianisch auf meine Currywurst. / Ich sage: Hör mal, wer bist du? / Typisch, dass du mich nicht kennst, ich bin der Müsli-Man.»

Mit den Grünen ziehen 1983 auch die Frisuren- und Bekleidungsstile der westdeutschen Gegenkulturen in den Bundestag ein. Hier der Abgeordnete Walter Schwenninger aus Tübingen, von Beruf Studienrat, im Alpaka-Grobstrick vor dem traditionell eingekleideten Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU).

Dass die Angehörigen der Alternativkultur als Müsli-Männer und -Frauen bezeichnet werden, hängt natürlich mit ihrer Neigung zum Müsli-Essen zusammen. Auch ansonsten ist ihre Ernährung durch den Willen zu Natürlichkeit und Authentizität geprägt. So wie die Liedermacherinnen und Liedermacher sich zum Zeichen ihres Protests gegen die moderne Gesellschaft an alten und traditionellen musikalischen Formen orientieren, so werden in der grünen Kulinarik vor allem vergessene und traditionelle Lebensmittel und Rezepte wiederentdeckt. Zum Beispiel die Weizenart Dinkel, die sich bis ins 19. Jahrhundert in Deutschland großer Beliebtheit erfreute, dann aber wegen ihrer schlechten Ernteerträge kaum noch angebaut wurde. In der grünen Naturkostbewegung rückt der Dinkel wieder ins Zentrum, auch dank seiner spirituellen Qualitäten – er wurde schon von der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen als gesundheitsförderndes Getreide empfohlen.

In dem Buch «Der grüne Zweig. Ernährung und Bewusstsein», das von 1973 bis 1981 in diversen Auflagen und Fassungen zum Hauptwerk der Naturkostbewegung wird, ist der Wiederentdeckung des Dinkels ein ganzes Kapitel gewidmet, ebenso wie den in der deutschen Küche bis dahin eher übersehenen Sprossen und Keimen. Eine ausführliche Darstellung widmet sich der Technik des Einmachens, also dem Haltbarmachen von Gemüse und Früchten durch luftdichtes Erhitzen. Wobei gerade diese Technik in den Achtzigern eigentlich noch gar nicht verschwunden ist, sondern sich wenigstens im ländlichen Raum gut gehalten hat – überall dort, wo die ersten Nachkriegsgenerationen in ihren Einzel- und Reihenhaussiedlungen noch genug Platz für einen Gemüsegarten besitzen, dessen Ernte dann durch das Einmachen über den Winter hinweg haltbar gemacht wird. In der Leidenschaft für das Einmachen trifft sich daher das ganz traditionelle Milieu der CDU-Stammwählerschaft (zu dem zum Beispiel meine Eltern gehörten) mit den Angehörigen der Alternativkulturen und den Wählern der Grünen; beiden Kohorten ist diese kulinarische Verwandtschaft aber nur selten bewusst.

Darüber hinaus verfügen Ökos, Späthippies und Friedensbewegte über keine nennenswerte Ess- oder Trinkkultur. Dafür sind sie fast durchweg begeisterte Raucher und Raucherinnen. Was sie rauchen und wie sie es rauchen: Darin versuchen sie sich von ihrer Umwelt wiederum deutlich zu unterscheiden. Zigaretten sollen etwa nicht in fertiger Form und in Verpackungen aus Pappe gekauft werden, als sogenannte Industrie- oder Fabrikzigaretten. Stattdessen wird «Halfzware Shag», also loser Tabak, den man in Beuteln erwirbt, in Zigarettenpapiere gerollt. Das Selberdrehen verleiht einen Zug von ökologischer Bewusstheit und Autonomie. Der Verpackungsmüll wird reduziert, und da selbstgedrehte Zigaretten in den Achtzigern noch durchweg ohne Kunststofffilter auskommen, bleiben auch diese nicht als Restmüll zurück. Das Selberdrehen ist individualistisch – aber gleichzeitig gemeinschaftsbildend, weil es zum guten Ton gehört, den Tabakbeutel in der Kleingruppe kreisen zu lassen; und es ist natürlich die unabdingbare Grundlage für das «Bauen» von Joints.

Beim Bekleiden, Essen und Rauchen herrscht also der Geist des «Do it yourself»; wobei dies im Falle der Kleidung nicht zwangsläufig bedeutet, dass man alles selber schneidern, nähen und färben muss. Man kann den Willen zur Nachhaltigkeit auch dadurch unter Beweis stellen, dass man in Secondhandläden kauft. Auf diesem Weg kommen die Angehörigen der Alternativkultur massenhaft zu einem Bekleidungsstück aus einer von ihnen eigentlich abgelehnten Institution: zum Bundeswehr-Parka. Das ist ein gefütterter, olivgrün gefärbter Anorak mit Kapuze, wie er bei den westdeutschen Streitkräften zur Grundausstattung gehört. Der Parka ist robust und hält auch bei winterlichen Anti-AKW-Demonstrationen im norddeutschen Flachland warm; wenngleich man, sobald man in den Strahl eines Wasserwerfers gerät, schnell feststellt, dass es mit seiner feuchtigkeitsabweisenden Imprägnierung nicht sonderlich weit her ist. Dafür symbolisiert er mit seiner militärischen Gesamtanmutung immerhin, dass der Träger oder (seltener) die Trägerin zum entschlossenen Widerstand gegen die Staatsmacht bereit ist. Bundeswehr-Parkas werden mit aufgestickten kleinen Deutschlandfahnen ausgeliefert, die vor dem ersten Tragen natürlich abgetrennt werden müssen. Wer das nicht tut, geht das Risiko ein, bei Demonstrationen in Diskussionen verwickelt zu werden über die Frage, ob man das, wofür diese Fahne steht, etwa gut findet; wer sich hingegen – wie es damals noch verbreitete Sitte ist – mit einem roten Stern an der Mütze oder mit einem Aufnäher der sowjetischen Hammer-und-Zirkel-Fahne schmückt, hat vergleichbare Diskussionen nicht zu befürchten.

Zur Standardausrüstung der Alternativkultur gehören auch wetterfeste Kleidungsstücke wie der Bundeswehr-Parka und der Friesennerz. Diese erweisen insbesondere auf Anti-AKW-Demonstrationen gute Dienste, wenn die Staatsmacht – wie hier 1986 in Brokdorf – mit dem Einsatz von Wasserwerfern für Erfrischung sorgt.

Bessere Dienste in der direkten Konfrontation mit Wasserwerfern leistet das zweitbeliebteste Oberbekleidungsteil jener Zeit: der Friesennerz. Dabei handelt es sich um eine Regenjacke, die dank ihres Überzugs aus synthetischem Kautschuk oder PVC besonders wind- und wasserabweisend ist. Der Friesennerz hat üblicherweise ein kräftiges Gelb, während die Innenseite blau ist und bei Bedarf nach außen gestülpt werden kann. Im Unterschied zum klassischen Ölzeug der Seeleute, das hierfür Pate gestanden hat, reicht diese Jacke nur bis zu den Oberschenkeln hinunter, ist also eher wie ein Parka geschnitten. So wie dieser von umwelt- und friedensbewegten Menschen seiner militärischen Bestimmung entwendet wird – die auf der symbolischen Ebene kenntlich bleibt –, so wird auch der Friesennerz nicht nur zum Schutz gegen widriges Wetter oder Wasserwerfer getragen, sondern auch bei milden Temperaturen und Sonnenschein, also: als Zeichen. Wer einen Friesennerz trägt, demonstriert damit, dass er oder sie, unter welchen klimatischen Umständen auch immer, für die Rettung des Planeten einzustehen gedenkt. Kombiniert wird der Friesennerz gern mit einer Jeans des deutschen Herstellers Mustang, dessen Hosen zwar nicht so robust und gut geschnitten sind wie die amerikanischen Originale – aber dafür auch nicht belastet mit der Symbolik des US-amerikanischen Wirtschafts- und Kulturimperialismus, wie er den Angehörigen der alternativen Bewegungen Anfang der achtziger Jahre immer noch als bevorzugtes Feindbild dient.

 

Einen ausgeprägt antiimperialistischen Charakter hat auch das beliebteste Oberbekleidungs-Ergänzungsstück in dieser Zeit: das Palästinensertuch, kurz «Palituch» oder nur «Pali» genannt. Manchmal firmiert es auch als «Arafat-Schal» oder – wie in einer anderen Strophe des BAP-Songs «Müsli-Man» zu hören – als «Schal von Al-Fatah». Das weiße Baumwolltuch mit Quastenrand ist mittig mit einem schwarzen oder roten Karomuster bedruckt; an den Rändern sind lange Streifen in jeweils derselben Farbe eingestickt. Es geht auf die Kufiya zurück, eine nach der irakischen Stadt Kufa benannte Kopfbedeckung von Beduinen und Bauern, die zum Schutz vor der Wüstensonne und vor Sandstürmen dient. Entsprechend gut kann das Palästinensertuch bei Demonstrationen dazu gebraucht werden, sich gegen Tränengas und Wasserwerfer zu wappnen.

Der wesentliche Grund für die Palituch-Mode ist aber nicht praktischer, sondern symbolischer Art. Als Trendsetter für das Tuchtragen wirkt seit Ende der sechziger Jahre der bei deutschen Öko- und Friedensbewegten ausgesprochen populäre palästinensische Politiker Jassir Arafat; er zeigt sich in der Öffentlichkeit niemals ohne Kufiya, die er mit einer schwarzen Kordel am Kopf befestigt. Als Vorsitzender der Fatah-Partei und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) kämpft Arafat für die «Ausrottung der ökonomischen, politischen, militärischen und kulturellen Existenz» des Staates Israel, wie es in der Verfassung der Fatah aus dem Jahr 1964 heißt. Das ist ein Ziel, dem sich schon die linke Avantgarde des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) gerne angeschlossen hat. 1969 reist eine Delegation des SDS zu einer PLO-Konferenz nach Algier, auf der Arafat den baldigen «Endsieg» über Israel und den Zionismus ankündigt, «ein rassistisches, expansionistisches und kolonialistisches System, das untrennbar ist vom Welt-Imperialismus mit den Vereinigten Staaten an der Spitze». Zu den Mitreisenden gehört der damals einundzwanzigjährige Joschka Fischer, der 1982 dann den Grünen beitritt und 1985 als erstes Mitglied dieser Partei ein Ministeramt bekleiden wird. Bei seiner Vereidigung zum hessischen Staatsminister für Umwelt und Energie in der ersten rot-grünen Landesregierung sorgt Fischer dadurch für Aufsehen, dass er ein zu großes, schlabbriges Sakko trägt, eine ausgebeulte Jeans und weiße Turnschuhe; von der Presse wird er daraufhin als «Turnschuhminister» bezeichnet.

Während die Grünen im Verlauf der achtziger Jahre den Marsch durch die Institutionen antreten, steigt das Palituch zum Lieblingsaccessoire der Alternativkultur auf. Wer es trägt, bekundet damit nicht nur seine Solidarität mit Arafat und der PLO, sondern darüber hinaus auch mit den «antiimperialistischen Befreiungskämpfen» in aller Welt. Besonders beliebt sind in dieser Zeit etwa auch die Sandinisten in Nicaragua, die man unter anderem mit dem kollektiven Kauf von fair gehandeltem Kaffee, der «Sandino-Dröhnung», unterstützt. Aber auch die kubanische Revolutionsregierung unter dem Diktator Fidel Castro und die baskischen Separatisten der ETA werden von westdeutschen Linken als gerechte Kämpfer für die Freiheit und Selbstbestimmung ihrer Völker verehrt. Lediglich dem Volk der Juden gesteht man weder das eine noch das andere zu; wer Anfang der Achtziger ein Palituch trägt, unterstützt damit willentlich oder auch nicht das – erst in den neunziger Jahren widerrufene – Ziel Jassir Arafats und der PLO, im «Endkampf» gegen den Staat Israel diesen ein für alle Mal von der Landkarte zu tilgen.

Diese Idolisierung des antiisraelischen Kampfes passt gut in die lange Tradition des linken Antisemitismus in Westdeutschland. Doch gibt es noch eine weitere Bedeutungskomponente darin: die alternativkulturelle Sehnsucht nach Authentizität. Mit dem Palituch verwandelt sich der Träger, jedenfalls auf symbolischer Ebene, in den Angehörigen eines einfachen (Wüsten-)Volkes, das auch unter widrigen Naturbedingungen zu leben und zu kämpfen versteht, nicht so entfremdet ist wie das eigene – und sich auch noch im revolutionären Kampf gegen eine niederträchtige Besatzungsmacht befindet. Wer sich mit der Kufiya zum ideellen Palästinenser oder zur ideellen Palästinenserin erklärt, wird damit Teil eines globalen Kampfes gegen kolonialistische Mächte oder jedenfalls gegen zwei bestimmte kolonialistische Mächte, nämlich die USA und Israel. (Der russische und der chinesische Imperialismus gelten unter westdeutschen Linken als irgendwie nicht so schlimm; zumindest wird dagegen nicht protestiert.)

Diese Aneignung einer politisch aufgeladenen ethnischen Symbolik ist nicht neu und auch nicht exklusiv mit den Alternativkulturen verbunden; man findet sie in Westdeutschland schon lange vor der Ausbreitung des Palituchs, und zwar in der großen Leidenschaft für Indianerkostüme und das Cowboy-und-Indianer-Spielen. Bis in die siebziger Jahre verkleiden sich nicht nur Kinder beim Fasching gerne als Indianer, es gibt unzählige Wildwest-Vereine, in denen auch Erwachsene als Trapper und Apachen posieren. Die erfolgreichsten Filme der Sechziger sind die «Winnetou»-Filme mit Pierre Brice, zu den meistbesuchten Theaterinszenierungen zählen bis in die achtziger Jahre und darüber hinaus die Karl-May-Spiele im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg. Wenn dort in jedem Sommer die «Winnetou»-Romane in Freilichttheater-Fassungen aufgeführt werden, kostümieren sich nicht nur die Schauspieler, sondern auch viele Zuschauer und Zuschauerinnen als Cowboys und Indianer.

Die Parallelen zur Palästinenserverkleidung liegen auf der Hand: Auch wer sich zum Indianer macht, identifiziert sich mit einem Volk, das authentisch und naturverbunden ist – und zugleich von der Ausrottung durch eine unbarmherzige Kolonialmacht bedroht wird. Darum begeistern sich die Deutschen gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit so sehr für die Indianer. Nachdem sie sich selber gerade noch an der Ausrottung eines ganzen Volkes versucht haben, können sie im Indianerkostüm aus der Rolle der Täter in jene der Opfer wechseln. Hinzu kommt, dass bei Karl May die guten Cowboys und «Westmänner» immer Deutsche im Ausland sind, die als strahlende Helden den bedrängten Indianern beistehen. Das heißt: Man befindet sich, in welche Kostüme auch immer man schlüpft, auf der richtigen Seite der Geschichte und kann sich von der eigenen historischen Schuld befreien.

So ist Jassir Arafat der Winnetou der achtziger Jahre und das Palituch die alternativkulturelle Version des Indianerkopfschmucks. Wobei den Palituchträgern und -trägerinnen sogar noch jene Vollendung der Vergangenheitsverdrängung gelingt, an der die restaurativen Kräfte der Nachkriegszeit trotz intensiven Bemühens doch scheitern mussten: nämlich sich als Deutsche wieder in die Position einer politischen und moralischen Überlegenheit über die Juden zu begeben.

Der linke Antisemitismus ist uns, wie wir wissen, bis in die Gegenwart des Jahres 2021 erhalten geblieben; hingegen wird die Verwendung symbolisch aufgeladener ethnischer Bekleidungsstücke mittlerweile mehrheitlich als «cultural appropriation» abgelehnt. Dies gilt für den Indianerschmuck wie für die Kufiya; aber auch für die Dreadlocks, also die aus Jamaika stammende Zopffrisur, die an der Wende zu den achtziger Jahren nach dem Vorbild des Reggae-Sängers Bob Marley besonders beim alternativkulturellen Nachwuchs populär wurde. In alldem sieht man heute vor allem illegitime Formen einer Aneignung und Ausbeutung von unterdrückten Kulturen durch Angehörige einer überlegenen Kultur.

Im Faible für ethnische Stammesbekleidung zeigt sich noch etwas anderes: nämlich dass ihre Träger sich eben als Angehörige eines Stammes betrachten, als Mitglieder einer Gemeinschaft, die in einer feindlichen Welt gemeinsam einen sicheren Platz für sich suchen. Das ist ein Unterschied zu dem Selbstverständnis der Alternativkultur in den Siebzigern, zumindest noch zu Beginn des Jahrzehnts. Im Nachklang von Woodstock und 68er-Bewegung sahen sich die Angehörigen der neuen sozialen Bewegungen als Erfinder und Schöpfer, als Avantgarde einer globalen Weiterentwicklung der Menschheit. In den Achtzigern ist diese Gegenkultur defensiv geworden und fragmentiert; es geht ihr nicht mehr darum, etwas Neues zu erschaffen, sondern darum, Schlimmeres abzuwenden; man bildet Stämme, um sich von der Welt abzugrenzen und sich im gemeinsamen Dagegensein vor ihr zu schützen.

Als «Stadtindianer» bezeichnen sich – nach dem Vorbild der italienischen «indiani metropolitani» – noch in den Achtzigern Gruppen von rebellischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in den Innenstädten leerstehende Häuser besetzen, um dort «autonome» Jugend- und Kulturzentren zu gründen oder sich in Wohngemeinschaften gleich häuslich einzurichten. Unter den vielen Gruppen, die sich im Januar 1980 beim Gründungsparteitag der Grünen versammeln, gibt es ebenfalls eine mit dem Namen «Stadtindianer». Sie hat eigentlich nur ein politisches Anliegen, nämlich die «Legalisierung aller zärtlichen sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern».

2. KapitelSpermavögel tanzen den Bullenpogo: Die Rebellion der Punks gegen rechte und linke Spießer

Nun bilden die Umwelt- und die Friedensbewegung und die verschiedenen Strömungen der Alternativkultur, die sich bei den Grünen sammeln, keineswegs den einzigen Stamm, der sich am Anfang der achtziger Jahre durch gemeinschaftliches Dagegensein definiert. Eine wichtige stilistische und weltanschauliche Konkurrenz erwächst den Ökos, Hippies und Müslis in den Punks – oder wie man damals noch sagt: in den Punkern. Auch diese werden geeint durch ihr Dagegensein; sie sind gegen die bürgerliche Gesellschaft, ihre Konventionen und Normen; allerdings sind sie zugleich gegen die Ökos, Hippies und Müslis. Deren Gefühligkeit und Weichheit verachten die Punks, insbesondere auch den – nach ihrer Ansicht – naiven Glauben, dass sich am bevorstehenden Weltuntergang noch etwas ändern lässt. Nichts finden sie alberner als die Idee, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen, hin zu einem Zustand, in dem die unberührte und also auch unschuldige Natur wieder zu ihrem Recht kommen könnte. «Zurück zum Beton» heißt ein Lied der Düsseldorfer Punkgruppe S.Y. P. H. aus dem Jahr 1980: «Ich glaub, ich träume / Ich seh nur Bäume», heißt es darin: «Wälder überall / Ich merk auf einmal / Ich bin ein Tier hier / Ein scheiß Tier hier / Da bleibt mir nur eins: / Zurück zum Beton / Zurück zum Beton / Da ist der Mensch noch Mensch / da gibt’s noch Liebe und Glück / Ekel Ekel Natur Natur / Ich will Beton pur.»

Die Ökos und Müslis wollen reden, «die Verhältnisse hinterfragen», wie man damals gern sagt, sie wollen alles «ausdiskutieren» und ihr «Bewusstsein erweitern». Die Punks können darin nur weichliches Gelaber erkennen, eine endlose Nabelschau, bei der sich die Beteiligten ausschließlich um sich selbst drehen, während die Welt um sie herum dann eben doch so bleibt, wie sie ist. Die Punks wollen das Gelaber beenden und den Verhältnissen ihre Abwehr und ihren Hass in möglichst bündiger und drastischer Weise entgegenschreien. Mit den Angehörigen der Alternativkultur teilen sie das Interesse an möglichst verwahrlost anmutender Bekleidung; doch während die Ökos und Müslis den Eindruck der Verwahrlosung durch einfaches Nichtstun erzeugen, wird er von den Punkern aufwendig hergestellt. Ihre Haare festigen sie sich liebevoll zu toxisch wirkenden Stachelfrisuren oder zu sogenannten Irokesenhaarschnitten, bei denen der Schädel vollständig geschoren wird mit Ausnahme eines schmalen, von vorn nach hinten verlaufenden Streifens, in dem die Haare bürstenförmig nach oben stehen. Je nach Neigung werden die Bürsten schwarz gefärbt, durch giftige Chemikalien gebleicht oder aber in den verschiedensten Farben zum Leuchten gebracht. In einer Variante lappt der Irokesenschnitt vorn über die Stirn; hier hängt die Spitze des Haarkamms schlaff zwischen und über den Augen, sodass der Träger oder die Trägerin nicht mehr normal geradeaus gucken kann.

Die schwarzen Lederjacken, die zum Grundbestand der Punk-Bekleidung gehören, werden mit Nieten verziert und mit Selbstbekundungen und Parolen bemalt, oftmals mit stark nach unten verlaufender Farbe, sodass sich die Selbstbekundungen und Parolen gar nicht entziffern lassen. Dazu trägt man schwere Stiefel und eng anliegende zerfetzte Hosen oder auch nicht ganz so eng anliegende zerfetzte Strumpfhosen; manchmal sind die eng anliegenden Hosen auch in der heimischen Waschküche mit ätzendem Toilettenreiniger (besonders beliebt ist die Marke Domestos) so behandelt worden, dass von der Grundfarbe nur noch ein ungesund wirkender Flickenteppich zurückbleibt. Ungesund ist auch ansonsten der Gesamteindruck, den die Punks gewissenhaft pflegen. Ihre Gesichter zeigen bevorzugt eine kränkliche Blässe, die mit schwarzer Beschminkung der Augenpartien konturiert wird. Damit die Haut noch unreiner, pickliger und fettiger wirkt, legen sich Punks vor dem Einschlafen gern Masken aus Mettwurstscheiben auf das Gesicht.

Diese Basisausstattung im Styling wird durch unterschiedliche Accessoires ergänzt. So tragen Punks gerne schwere Halsketten, an denen wiederum große Vorhangschlösser baumeln. An kleinere Ketten werden scharfe Rasierklingen gehängt; anstelle von Ohrringen trägt man gebogene rostige Nägel im Ohr. Punks wollen sich als Aussätzige der Gesellschaft inszenieren, als deren Abschaum. Deswegen halten sie sich am liebsten solche Haustiere, die von der Gesellschaft als eklig und als Überträger von Krankheiten angesehen werden, nämlich Ratten. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kommen Hunde hinzu, wobei es sich dabei ausschließlich um große Promenadenmischungen handelt. «Ratte» und «Köter» sind denn auch beliebte Spitznamen, mit denen Punks sich anreden. Durch die Straßenpseudonyme soll der Abstand zur bürgerlichen Gesellschaft und der Abschied von der eigenen Herkunft bekräftigt werden. Gängig sind auch Namen wie «Krätze», «Pisskopf», «Rotze» oder «Kotze», worin sich ein Interesse an kollektiv schambehafteten Ausscheidungen und den dazugehörigen Körperöffnungen zeigt. Prägende deutsche Punkbands der frühen Achtziger tragen Namen wie Slime, Cotzbrocken, Brutal Verschimmelt, Toxoplasma, Schließmuskel, Notdurft, Spermbirds (zu Deutsch: Spermavögel) oder auch cAnalterror.

Wer so viel Wert auf Aussehen und Styling legt, muss dieses natürlich auch in die Öffentlichkeit tragen. Die beliebteste