Das Erbstück - Anne B. Ragde - E-Book

Das Erbstück E-Book

Anne B. Ragde

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Beschreibung

Als die alte Amalie Thygesen stirbt, jubeln viele in der Familie. Nur eine trauert ehrlich und ist entsetzt über die hasserfüllten Reaktionen, die selbst die Trauerfeier überschatten: Therese, die Enkelin. Sie hat ihre exzentrische Großmutter, die selbst im fortgeschrittenen Alter noch mit jedem Mann flirtete und zauberhafte Märchen kannte, geliebt. Aber kennt sie wirklich die ganze Geschichte? Während sie das Haus ihrer Großmutter ausräumt, erfährt sie immer mehr über Amalies bewegte Vergangenheit, und für Therese beginnt eine ungewöhnliche Spurensuche.

(Dieses Buch ist im btb Verlag schon einmal unter dem Titel "Der Arsenturm" erschienen.)

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Als die alte Amalie Thygesen stirbt, jubeln viele in der Familie. Nur eine trauert ehrlich und ist entsetzt über die hasserfüllten Reaktionen, die selbst die Trauerfeier überschatten: Therese, die Enkelin. Sie hat ihre exzentrische Großmutter, die selbst im fortgeschrittenen Alter noch mit jedem Mann flirtete und zauberhafte Märchen kannte, geliebt. Aber kennt sie wirklich die ganze Geschichte? Während sie das Haus ihrer Großmutter ausräumt, erfährt sie immer mehr über Amalies bewegte Vergangenheit, und für Therese beginnt eine ungewöhnliche Spurensuche.

ANNE B. RAGDE wurde 1957 im westnorwegischen Hardanger geboren. Sie ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten Autorinnen Norwegens und wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt mit dem Norwegian Language Prize und dem Norwegischen Buchhandelspreis. Mit ihrer Trilogie »Das Lügenhaus«, »Einsiedlerkrebse« und »Hitzewelle« schrieb sie sich auch in die Herzen der deutschen Leserinnen und Leser; ihre Romane erreichen eine Millionenauflage. Die Autorin lebt in Trondheim.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungTeil ITeil IITeil IIITeil IVTeil VTeil VICopyright

Für Mama und zur Erinnerung an Palle.

»Schau mich an«, sagte Oma. »Sag, was du siehst!« »Oma, ich sehe Oma«, erwiderte ich, nach einer Pause, in der ich nicht überlegt hatte, was ich sah, sondern, was ich sagen sollte. Ich sehe Oma.»Genau«, sagte sie. »Aber gerade darin irrst du dich, meine süße, kleine Therese.«

Teil I

Friede deiner Seele!Wir versenkendeinen Staub in Liebe.

Edith Reumert

Für meine süße, kleine Therese, schrieb meine Großmutter auf ein Stück weißes Papier, das sie an einer Golduhr befestigt hatte. Die Uhr lag in ihrer Nachttischschublade, der Zettel war mit einem Gummi am Armband festgemacht.

Diese Wörter waren mit seegrüner Tinte geschrieben. Die Armbanduhr war einer von zwei Gegenständen, die sie mir vermachen wollte; mir und keiner anderen. Das Gummiband war rot und brüchig. Alle ihre Habseligkeiten waren mit Gummis umwickelt, sie schienen sorgfältig zusammengezurrt worden zu sein, um auf eine lange Reise oder einen Umzug mitgenommen zu werden. Wir fanden sogar Gummibänder um kleine Gläser mit zugeschraubten Deckeln, so als solle das Glas an sich zusammengehalten werden. Ich kann sehen, wie Omas kleine runzlige, krallenhafte Hände mit dem abblätternden rosa Nagellack die Gummis um die Gläser wickeln – eine sinnlose Tätigkeit –, und ich kann hören, wie totenstill es derweil im Haus ist.

Es war die Verlängerung dieser Stille, auf die meine Mutter mich aufmerksam machen wollte, als sie am Telefon sagte:

»Mutter ist tot.«

Und dann lachte sie. Sehr lange. Ein lautes, schroffes Lachen mit keuchendem Atem.

»Oma ist tot?«

»Ja. Ist das nicht fantastisch?«

Der kleine Stian stand mit einem Stück Klopapier neben mir, ich hatte ihm gerade die Nase putzen wollen.

»Ist Oma etwa tot?«, rief er.

»Nein, nicht deine Oma«, sagte ich. »Meine Oma. Die Mutter deiner Oma.«

Ich klemmte mir den Hörer zwischen Kinn und Schultern und putzte Stian die Nase, drückte ein Nasenloch nach dem anderen zusammen. Auf jeder Seite zweimal blasen, eine gemeinsame Aktion seiner Nase und meiner Finger, die keine Worte brauchte. Danach lief er auf braunen, dünnen Beinen und mit eifrig wackelnden Ellbogen auf die Veranda hinaus.

»Ich höre, dass du dich freust, Mutter.«

»Ja. Ich bin so glücklich, Therese! Ich ... und Ib geht es auch so, er hat angerufen, wir sind so ... so ... Und du musst mit nach Kopenhagen kommen! Endlich können wir das ganze Haus durchsehen, können alle Schubladen und Schränke öffnen. Das wird fantastisch, Therese.«

»Ich kann mir im Moment keine Reise nach Kopenhagen leisten, Mutter.«

»Ich lade dich ein. Das wird fast wie ein Kurzurlaub. Und Ib hat doch Stian noch nie gesehen! Gott, wird das schön ...«

Wieder lachte sie, ein verirrtes Mädchenlachen, dem ich atemlos lauschte. Die langen Vorhänge vor der Balkontür bewegten sich leicht, so wie Vorhänge das im Spätsommer immer tun, so wie alle Vorhänge das zu allen Zeiten getan haben. Ich fing an zu weinen, gab mir aber alle Mühe, meine Mutter das nicht merken zu lassen.

»Lädst du mich wirklich ein?«

»Ja. Wirklich. Wir bekommen doch das Haus, Therese. Das wird kein Problem.«

Ich sagte, dass ich an diesem Abend nicht mehr bei ihr vorbeischauen könne, dass das wirklich unmöglich sei, dass ich keinen Babysitter hätte. Sie fand sich sofort mit dieser Erklärung ab und erzählte, dass sie eine Flasche Wein öffnen, sich in den Sonnenwinkel auf der Veranda setzen und richtig feiern wollte.

Ich sagte, bis dann, und blieb ganz still am Telefontisch sitzen. Ich legte die Hände in den Schoß und musterte sie. Wie viele Jahre hatte ich die Möglichkeit gehabt, sie den Hörer hochheben und Omas Telefonnummer wählen zu lassen? Oder einen Brief zu schreiben? Oder hinzufahren? Ich war neun Jahre zuvor von zu Hause ausgezogen. Neun Jahre lang hatte ich die Möglichkeit gehabt, mich gegen die Loyalität gegenüber meiner Mutter zu entscheiden. Auf jeden Fall hatte ich die Möglichkeit gehabt, es zu verbergen. Aber Oma hätte das nicht geschafft. Sie hätte sich den Triumph nicht verkneifen können. Sie hätte mich wie eine Trophäe vor Mutters Gesicht hin und her geschwenkt.

Stian vergaß alles, bis er im Kinderfernsehen sah, wie eine tote Katze beerdigt wurde. Er brach in Tränen aus. Er sagte: »Du bist traurig, du, Mama.«

»Weinst du deshalb?«

»Oma ist doch nicht tot?«

»Nein. Sie lebt, genau wie immer. Und weißt du was, wir fahren mit ihr zusammen nach Kopenhagen. Du und ich und Oma. Kopenhagen liegt in Dänemark.«

»Wo Oma gewohnt hat, als sie noch klein war?«

»Ja. Genauda.«

»Wo ihre Mama tot ist?«

»Ja.«

»Sehen wir sie dann? Wo sie doch tot ist?«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Möchtest du das?«

»Ist sie ganz weiß und hat sich zu einem Klumpen zusammengerollt?«

»Sie liegt bestimmt auf dem Rücken.«

»Die Katze, die tot war, lag wie ein Klumpen da. Die lag nicht auf dem Rücken.«

»Tiere liegen nicht so oft auf dem Rücken. Das liegt daran, dass sie auf vier Beinen gehen. Menschen gehen auf zwei, deshalb liegen sie auf dem Rücken.«

Das hörte sich natürlich und logisch an, obwohl ich im Moment den Zusammenhang nicht durchschauen konnte. Aber Stian war mit dieser Antwort zufrieden. Seine Hand lag kurz und braun und krumm über der Armlehne des Sessels, in dem er saß. Er hielt es für selbstverständlich, dass sie dort lag und lebendig war, dass sie dort lag und auf ihn wartete, auf den Moment, in dem er beschloss, sie zu etwas zu benutzen.

»Du gehst aber nicht tot, Mama?«

»Nein. Spinnst du? Nie im Leben. Mama wird immer hier sein.«

Ich dachte, er würde darum bitten, in dieser Nacht in meinem Bett schlafen zu dürfen, aber das tat er nicht. Ich hätte mich gerne ganz und gar auf ihn konzentriert; mich seinem Schlaf angepasst, auf seinen Herzschlag gehorcht und gesehen, wie seine Augenlider im Traum zitterten. Aber stattdessen lag ich allein in der Dunkelheit, mit einem Schuldgefühl, das alle guten Erinnerungen an meine Großmutter überlagerte. Ich lag mit trockenen Augen in der Dunkelheit und spürte, wie überraschend warm es unter der Decke geworden war. Es war eine Wärme, die von meinem eigenen Körper stammte, eine Wärme, über die ich keine Kontrolle hatte. Endlich würde ich zu ihr fahren dürfen.

Ich wollte, dass Stian sich für den Rest seines Lebens an diese Reise erinnern könnte, und dass seine Erinnerungen ganz anders aussähen als meine. Ich wurde Zeugin seines äußerlichen Erlebens; er dagegen besaß den kleinen Körper, der zwischen Schopf und Fußsohle steckte. Ich erhielt meine Version des Verlaufs der Ereignisse, er die seine. Jede auf ihre Weise verließen unsere Geschichten die Wirklichkeit und wurden zu dem Widerschein. So wie meine Oma eine andere war als die Mutter meiner Mutter. So wie meine Liebe zu ihr existierte, vielleicht unverständlich für alle, außer für meinen Großvater.

Mutter hatte fieberheiße Augen, lachte laut und häufig und erlitt am Flughafen einen Anfall von Panik, weil wir unsere Pässe vergessen hatten, doch dann fiel ihr ein, dass wir ja nur nach Dänemark wollten. Sie entschuldigte sich damit, dass sie ein Gefühl im Leib habe, als solle es auf eine viel weitere Reise gehen. Während wir zum Einchecken Schlange standen, betrachtete ich Stian, sah, wie er ihre Hand suchte. Ich dachte daran, wie ich sie als Kind ebenfalls gesucht hatte, aber ich wusste auch, dass sie seine Hand auf eine ganz andere Weise anfasste, als sie das jemals mit meiner gemacht hatte. Und mich überkam plötzlich ein heißes Glücksgefühl, weil ich einen Sohn hatte und keine Tochter, weil ich keine künftige Mutter liebte und großzog, sondern einen Vater. Über Väter weiß ich nämlich nichts, diese Rolle würde ich ihm also niemals verderben können.

Wir fanden unsere Plätze und schnallten uns an. Ich schloss die Augen und war plötzlich sechs Jahre alt, in neuen Ferienkleidern, mit der Puppe Liv in einem winzigen roten Koffer, unterwegs zu einer lebendigen Oma. Die Stewardess bemühte sich um das allein reisende kleine Mädchen, lächelte ihm beruhigend zu, versprach, es zum Kapitän zu bringen, wenn das Flugzeug erst seine Flughöhe erreicht hätte, und dann könnte es alle Knöpfe und Lämpchen sehen und feststellen, dass auch riesige Flugzeuge Scheibenwischer hätten.

Ich öffnete die Augen und sah, dass Stian auf dem Klapptisch ein Legoflugzeug zusammensetzte. Er hatte Limo und Aufkleber und einen SAS-Anstecker für seine Windjacke bekommen. Mutter saß neben ihm, auf der Gangseite. Sie trank mit gespreiztem kleinen Finger Kaffee, hatte die Augen zusammengekniffen und sagte, sie freue sich auf die erste Zigarette nach der Landung. Sie trug Gold mit türkisen Steinen in den Ohrläppchen. Diesen Schmuck hatte sie im Vorjahr in Marokko gekauft. Sie war zu Weihnachten hingefahren, um sich den ganzen Stress zu ersparen. Stian hatte geweint, als sie gefahren war, und das hatte ihr ein dermaßen schlechtes Gewissen verpasst, dass sie schon am ersten Tag in Marokko nur für ihn Kleider und Spielzeug gekauft hatte. Als sie am Heiligen Abend anrief, hatte Stian vergessen, dass sie verreist war, und glaubte, sie wolle sagen, dass sie auf dem Weg zu uns sei. Wieder brach sie unter ihrem schlechten Gewissen fast zusammen, als ich den Hörer übernahm, aber inzwischen hatte Stian sich schon in seine Geschenke vertieft. So wie jetzt: Mit sanften Händen und konzentriertem Blick fügte er die Legosteine auf dem Klapptisch zu einem Flugzeug zusammen. Er schwenkte es in der Luft und produzierte Flugzeuggeräusche, während Mutter abermals von der bevorstehenden Zigarette schwärmte. Kaffee zu trinken und mit Marmelade gefüllte Muffins zu verzehren, ohne den Geschmack danach mit einer Zigarette abzurunden, habe doch keinen Sinn, sagte sie, dann bekomme man nicht das, wofür man bezahlt habe.

Meer und Luft nahmen ein Ende, wurden zu plattem Land. Nordseeland, dann Amager und Kastrup. Die Räder setzten auf. Der plötzliche Luftwiderstand sorgte dafür, dass der Flugzeugrumpf sich ruckhaft bewegte.

»Kann man einfach Ib heißen?«, fragte Stian.

»In Dänemark heißen viele so«, sagte Mutter. »Und Frauen heißen Iben.«

Ich befestigte den Anstecker an seiner Windjacke und streichelte seine Haare und seine Wangen. Mutter fügte hinzu: »Auch Norwegerinnen heißen Iben, aber kein Norweger heißt Ib, ich kenne jedenfalls keinen. Aber in Norwegen heißen Männer Inge, und in Dänemark ist das ein Frauenname, und Kari ist in Norwegen ein Frauenname, aber in Finnland heißen nur Männer so.«

»Ich kenne aber sonst keine, die Ruby heißt«, sagte Stian.

»Wenn wir nach Dänemark kommen, heiße ich Ruuubi, nicht Rübi, wie zu Hause, Schätzchen. Ist das nicht witzig?«

Ich betrachtete ihr Profil. Es war straff und hoch erhoben. Nur ein wenig lockere Haut am Kinn verriet ihr Alter. Ihre Ohrringe hüpften im Takt mit dem Rucken des Flugzeugs. Stian schaute sie ebenfalls an, sagte aber nichts.

»Wir haben für Onkel Ib und Tante Lotte Ziegenkäse dabei«, sagte ich und strich ihm noch einmal über die Haare, er wich meiner Hand aus und machte Flugzeuggeräusche. »Der ist in Dänemark sehr teuer, und sie essen gern Ziegenkäse«, erklärte ich dann.

»Ist Dänemark Ausland?«

»Ja, das ist es.«

»Aber wir verstehen, was sie sagen. Die Wörter«, sagte Stian.

»Vielleicht nicht alle«, sagte ich.

»Ich hab Ohrenschmerzen«, sagte er.

Oma habe bei ihrem Tod nur vierundvierzig Kilo gewogen, hatte Ib Mutter am Telefon erzählt.

Mutter, Ib und Lotte standen mitten in der Ankunftshalle, tauschten Umarmungen und schauten einander tief in die glücklichen Augen. Sie schienen zu tanzen. Ich dachte an die vierundvierzig Kilo, die für sie so wichtig geworden waren, denn jetzt handelte es sich dabei um eine tote Masse ohne Blutkreislauf. Vierundvierzig Kilo biologisches Material, fast achtzig Jahre alt. Sie umarmten einander und bewegten sich im Kreis, ohne gleich miteinander zu reden. Es sah aus wie eine Art Reigen. Ich stand mit Stian an der Hand daneben und fragte mich, wie die vierundvierzig Kilo in diesem Moment wohl aussahen.

Stian stand mitten im Chaos aus Willkommensgrüßen und Gepäck, Blumen, dänischen Papierfähnchen, Lachen, Liebkosungen, Menschen, die aufeinander zustürzten, anderen, die ganz allein dastanden und das Laufband anstarrten, das sich noch nicht in Bewegung gesetzt hatte. Hinter den großen Fenstern wartete Kopenhagen.

Ib riss sich als Erster los und streckte die Arme nach ihm aus. Stian drückte sich an mich und vergrub sein Gesicht in meiner Jackentasche, doch Ib hob ihn hoch und schwenkte ihn durch die Luft.

»Ich bin Onkel Ib!«, rief er. »Dein Onkel Ib!«

Lotte kam langsam die wenigen Meter, die uns trennten, auf mich zu. Sie tanzte noch immer, wollte mich auffordern, legte die Arme um mich und schwenkte mich hin und her, wie in einer Wiege. Sie sagte immer wieder, wie sehr sie sich freue, mich zu sehen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihr Gesicht war weiß. In ihren Haaren leuchteten graue Streifen. Ich versuchte, eine alltägliche Bemerkung zu machen, konnte zum Glück aber darauf verzichten, denn da rief Mutter, dass das Gepäck unterwegs sei.

Lotte hatte den Tisch mit Blumen aus dem Garten dekoriert. Nicht mit weißen Beerdigungsnelken, sondern mit Astern und blühendem Bambus. Alle Bambuspflanzen auf der ganzen Welt blühen gleichzeitig auf dem ganzen Erdball, und das offenbar nur alle hundert Jahre, und jetzt blühten sie. Sie boten keinen sündhaft schönen Anblick, aber sie standen in ihrer Vase als ein aufeinander abgestimmtes biologisches Phänomen, das wir bewunderten und bestaunten. Wir aßen dänisches Fleisch in unversehrter und zermahlener und geräucherter und gekochter und marinierter Form und tranken kalifornischen Rotwein aus Karaffen mit weit aufgerissenem Hals.

»Die leeren Flaschen lassen sich dann noch als Blumenvasen verwenden«, sagte Lotte.

Mutter lächelte und kaute mit offenem Mund. Ihre Ohrringe baumelten. Sie sorgte dafür, dass Stian genug auf dem Teller hatte, dass er keine rohen Zwiebeln essen musste, weil ihm davon die Nase brannte. Sie sagte, sie freue sich schon darauf, nachher zum Haus zu gehen. Lotte fand, wir könnten dort schlafen, wo sie selber so wenig Platz hatten. Sie hatte die Betten für uns bezogen und im Badezimmer geputzt.

»Dass wir nachts jetzt endlich schlafen können«, sagte Lotte. »Dass Ib nicht im Schlafanzug aufs Fahrrad springen muss, weil ihr das Feuerzeug unters Bett gefallen ist oder weil sie ihre Brille nicht findet, obwohl sie sie vor der Stirn sitzen hat, oder weil sie glaubt, dass im Garten ein Mörder lauert.«

»Ein Mörder?«, fragte Stian.

»Nicht wirklich«, sagte ich.

Großmutters Haus lag nur zwei Blocks weiter. Mutter schien die Vorstellung, nach all den Jahren wieder dort schlafen zu sollen, weiter nichts auszumachen. Sie leerte ihr Rotweinglas und hatte rosa Flecken oben auf den Wangen. Ihre grauen Augen wurden kohlschwarz. Sie war blond und schön. Sie sagte, sie fühle sich so frei.

»Ja, was glaubst du denn, wie wir uns fühlen?«, fragte Ib und lachte schrill. »Wo wir sie doch die ganze Zeit am Hals hatten!«

»Ach«, sagte Mutter, ein Ach, in dem sich Anerkennung für die geleistete Arbeit und eine gute Portion schlechtes Gewissen verbargen, das sie ihnen voller Großzügigkeit zeigen wollte.

Stian lächelte und aß und wich meinem Blick aus. Er hatte offenbar beschlossen, die Laune der Menschen nachzuahmen, die ihm am nächsten standen. Er war zu klein, um zu begreifen, dass er mir gehörte, nur mir. Vor einigen Tagen war ich Nr. 3 gewesen, jetzt war ich Nr. 2. Die Zeit rückte mir auf die Pelle. Das, was im Norwegischen »føflekk« heißt, also Geburtsfleck, heißt auf Dänisch »modermӕrke«, Muttermal. Bei diesem Begriff wird die Frau enger mit der Geburt in Verbindung gebracht. Auf Norwegisch wird dieser Zusammenhang zu einer Selbstverständlichkeit, die Mutter hat ein Kind mit einem Flecken geboren. Ich aß Fleisch und trank Rotwein und kostete das Ritual hinter der Mahlzeit aus und dachte, dass Familien wie Staaten sind, mit einer politischen Leitung und Hierarchien, und dass es Gefühle gibt, zu denen man verpflichtet sein müsste. Aber was hilft es, solange man die Gefühle nicht aus den Leuten herausschütteln kann, wie Münzen aus einer Spardose. Meine Großmutter hatte immer zu meiner Mutter gesagt: »Geh weg, von dir will doch niemand etwas wissen.«

Es war schon dunkel, als wir satt und leicht beschwipst an den Hecken entlang zu Großmutters Haus wanderten. Es war eine europäische Dunkelheit mit dem Geruch von Straßenstaub und Hausgärten, in denen welkes Laub und Zweige in Öltonnen verbrannt wurden. Ib hatte noch eine Flasche Rotwein mitgenommen. Er schwenkte sie vor und zurück und ging mit fröhlichen, jugendlichen Schritten. Ich fürchtete schon, er könnte die Flasche irgendwo zerbrechen, an einem Straßenschild oder einem offenen Gartentor.

Stian war müde, er hing fast mit seinem ganzen Gewicht an meiner Hand. Zottige Disteln und rot glühender Mohn lugten unten aus den Hecken hervor. Streunende Katzen liefen vor uns über die Straße, eine Straße, die ganz anders aussah als eine norwegische. Der Asphalt war heller und löchriger, und die Bürgersteige waren mit Platten belegt. Die Gartenzäune waren aus Metall, nicht aus Holz. Die Grundstücke waren platt und viereckig, die Häuser aus Stein. Die Häuser waren auch kleiner als die norwegischen, sahen nach mehr aus, mit der Veranda vorn, und sie verschwanden fast zwischen den vielen Hecken und Bäumen. Ib schwenkte die Flasche und erzählte von Omas Nachbar, der auf seiner Seite nie die Hecke schneiden wollte, worauf Oma von der Gemeinde Hilfe geholt und sich vor zwei Jahren mit dem Nachbarn auf ewig verfeindet hatte. Die Ewigkeit hatte für Oma also zwei Jahre gedauert. Ib hatte auf Omas Seite geschnitten, gewissenhaft, wie alle Dänen sind, oder wie sie es sein sollten. Die dänische Hecke ist ebenso heilig wie die heimischen vier Wände. Eine Hecke, die nicht auf beiden Seiten beschnitten wird, ist eine vernachlässigte Hecke, die in sich zusammenbrechen wird. Es kann an die zwanzig Jahre dauern, bis eine neue herangewachsen ist. Ich frage Ib, womit der Nachbar sich entschuldigt hatte, aber das wusste er nicht, er konnte nur erzählen, dass es sich um ein junges Paar mit kleinen Kindern handelte, und dass Großmutter behauptet hatte, sie stritten sich oft.

Ich konnte verstehen, dass Oma keine streitsüchtige Familie mit kleinen Kindern durch eine schüttere Hecke lugen lassen wollte, durch die Dornröschenhecke, von der sie sich wünschte, dass sie vor dem hundertjährigen Schlaf dicht und gewaltig hochwuchs.

Stian quengelte jetzt, seine kleinen Turnschuhe schleiften über den Boden. Ich nahm ihn auf den Arm. Er roch so, wie sich das gehört. Ich fühlte mich wieder warm und glücklich, als ich an ihm schnuppern konnte, und ich war froh darüber, dass ich es getan hatte. Wir wollten doch nur in Omas Haus übernachten, mehr nicht, und ein wenig Wein trinken. Der Tag war zu Ende, und Lotte hatte die Betten für uns bezogen und im Badezimmer geputzt, daran dachte ich jetzt. Und daran, wie sehr ich meine Großmutter geliebt hatte. Ich hatte gerade die vollkommene Unberechenbarkeit geliebt, die niemals die auffälligste Eigenschaft einer Mutter sein darf. Die Rücksichtslosigkeit und die Freiheit, Begriffe, die ich damals nicht kannte, die ich aber beobachten konnte. Schroffe, lebhafte Bewegungen. Ihre Arme, die in vielen beweglichen Stoffen verschwanden, am liebsten in rosa Seide und Tüll.

Das Haus war kleiner als in meiner Erinnerung. Die helle, unebene Mauer niedriger. Omas Pergola, einst ihr großer Stolz, war überwuchert von wildem Wein, Efeu und blühenden Kletterrosen. Aber auch wenn sie überwuchert war (wie es sich für eine Pergola ja eigentlich gehört), wirkte sie doch vernachlässigt. Sie wies klaffende Löcher auf. Die Stängel wanden sich nicht richtig um die Balken. Unter einer Pergola müsste man bei strömendem Regen sitzen können, ohne nass zu werden, ohne anderen Schutz als den des Blattwerks. Jetzt hingen die Stängel fast bis auf den Boden, man konnte drauftreten. Ich nahm an, dass in der Pergola auch ein ganzes Spinnenheer hauste.

Ich wollte Stian sofort ins Bett bringen. Er würde mit mir auf dem breiten Sofa in dem kleinen Schlafzimmer hinter den Wohnzimmern liegen. Lotte hatte zwei von Großmutters Puppen auf die Bettdecke gesetzt. Ich hob die eine an mein Gesicht und nahm denselben Geruch wahr wie aus Omas Paketen, die sie bis zu Großvaters Tod nach Norwegen geschickt hatte. Es war immer derselbe Geruch, der Briefen, Geschenken, Packpapier anhaftete. Und dieser Puppe. Ich nieste dreimal hintereinander. Stian lachte schläfrig, mit geschlossenen Augen, seine Hände waren noch immer schmutzig, obwohl ich sie gewaschen hatte. Sie waren viel zu schmutzig für die weiße Bettdecke mit den Tupfen in Rosa, Omas geliebtem Rosa. Ich ließ die Puppe los und nieste weiter. Mutter kam ins Zimmer.

»Du niest ja vielleicht«, sagte sie ohne Mitgefühl in der Stimme, es klang eher, als hätte ich einen Farbfleck auf der Nase, den ich im Spiegel übersehen hatte. »Hast du Heuschnupfen?«

»Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Heuschnupfen« , antwortete ich zwischen zwei Niesanfällen.

»Wieso kriegt Heu denn Schnupfen?«, fragte Stian und ballte seine kleinen Fäuste, wie Kinder das eben tun, eine locker geballte Faust auf jeder Seite seines Kopfes.

»Heu kriegt Schnupfen, wenn es regnet«, sagte Mutter, seine Oma, und lachte. Aber er war wohl schon eingeschlafen.

Ich nieste weiter und ging ins Wohnzimmer. Ich merkte, dass Ib mir ein Glas Rotwein reichte. Fast wäre es mir auf den Boden gefallen. Meine Tränen flossen. Mutter zählte mein Niesen und lachte. Als sie bei dreißig angekommen war, stellte ich das Glas ab und ging ins Badezimmer. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, in die Augen, ich feuchtete ein Handtuch an, dachte daran, dass Geschirrtücher auf Dänisch »viskestykke« heißen, also Wischstück, und endlich war Schluss mit der Nieserei.

Meine Augen waren zu schmalen roten Schlitzen geworden. Ich drückte meinen Nasenrücken zusammen und dachte an damals, als Mutter von Großvaters Tod erfahren hatte, sie hatte Nasenbluten bekommen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte es eingesetzt. Oma hatte unsere Nachbarn angerufen. Wir hatten kein Telefon. Wir standen bei den Nachbarn in der Diele, und das Blut strömte nur so aus ihr heraus. Sie trug eine geblümte Kittelschürze, sie entdeckte das Blut erst nach einer ganzen Weile, die Nachbarin musste sie darauf aufmerksam machen.

Mein Gesicht sah im Spiegel weißgrün aus. Das lag sicher am Licht und am Mangel an Farben; weiße Fliesen von der Decke bis zum Boden, weißes Waschbecken, weiße Badewanne, weiße Regale, weiße Handtücher, nur ein dunkelbrauner Toilettensitz aus Mahagoni brach das viele Weiß. Ich atmete tief durch und wusste, dass ich in diesem Haus nur schlafen könnte, wenn ich Stian unter der Decke ganz fest an mich drückte.

Als ich ins Wohnzimmer ging und mir dabei das Handtuch an die Augen hielt, sagte ich: »Nimm die Puppen weg, Mutter, ich glaube, es liegt an ihnen.«

Später hörte ich zu und trank bis zur Benommenheit. Ib und Mutter redeten. Mutter wollte sichergehen, dass das Krankenhaus wirklich begriffen hatte, welche Art von Trauerfeier sie sich wünschten. Oder eben nicht.

»Aber ich konnte nicht verhindern«, sagte Ib, »dass in der Zeitung eine Todesanzeige erschien. Und da steht auch, dass die Beisetzung am Donnerstag stattfindet.«

»Verdammt«, sagte Mutter.

»Ich konnte das nicht verhindern, hab ich doch gesagt! Aber sie hatte kaum noch Kontakt zu den Alten.«

»Weißt du«, sagte Mutter. »Jetzt muss ich es fast erzählen. Vor ungefähr einem Jahr hat sie mir einen Brief geschickt. Den hatte sie geschrieben, als sie getrunken hatte ... Prost!«

Sie hob das Glas und leerte es. Sie sprach jetzt mit immer stärkerem dänischem Akzent; öffnete den Rachen und saugte die Töne hinein. Die Flasche war schon fast leer. »... und da standen die Namen von drei Männern«, sagte sie nun, »ich hatte keinen davon je gehört. Sie behauptete, alle drei seien tot. Aber einer von ihnen sei aller Wahrscheinlichkeit nach mein Vater gewesen.«

Ib beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Aber Schwesterchen, hast du das überprüft? Die Namen? Ob sie ...«

»Nein, ich wollte nicht. Sie hat mir doch so viele Namen genannt. Die von allen möglichen Schauspielern, lebenden und toten. Aber in diesem letzten Brief ... ich hatte seit Papas Tod nichts mehr von ihr gehört.«

»Du hättest unbedingt ...«

»Ich habe ihn weggeworfen. Und die Namen vergessen.«

Er ließ sich wieder zurücksinken. »Diese Thalia, diese Thalia« , sagte er und schüttelte den Kopf. »Und jetzt wird sie uns zweihundert Kronen kosten. So viel verlangt das Krankenhaus.«

»Keine Plakette«, sagte Mutter. »Oder wie das nun heißt.«

»Ich weiß. Ich habe schon Bescheid gesagt. Die Urne geht direkt zu den Anonymen.«

»Von mir aus können sie die Asche auch von der Knippelsbro streuen. Oder damit die Tauben auf dem Kongens Nytorv füttern« , sagte Mutter und lachte schrill.

»Das ist leider verboten.«

»Sie kann ja neben Papa landen. Neben deinem Vater«, sagte Mutter.

»Und auch deinem. Er war auch dein Vater, Schwesterchen.«

»Ja, das habe ich doch auch geglaubt ... sehr lange.«

»Aber der Herr möge verhüten, dass er von den Toten auferweckt wird ... von ihr!«

Sie lachten. Mutter starrte die leere Flasche an. Die wenigen brennenden Wandlampen tauchten ihr Gesicht in ein goldgeflecktes Licht, ein junges Licht. Vor allem ihre Augen sahen jung und blank aus, wie die eines Teddybären. Hinter ihr lagen Omas rosa und schwarz bestickte Sofakissen.

»Auf seiner Beisetzung«, sagte Ib langsam und mit einem höhnischen Halblächeln, als werde er jetzt gleich einen Witz erzählen, deshalb wusste ich, dass die Geschichte von Oma handeln würde, nicht von Opa.

»Als sie da in der ersten Reihe saß«, sagte er, »und in ihren Krokodilstränen badete, um ihn in den Ofen und die Asche danach ins Unbekannte zu schicken ... da kam Kristen herein. Du weißt doch, der Älteste von Tutt und Käse-Erik, und sie drehte sich um und entdeckte ihn. Die Kirche war voller Menschen, aber sie rannte durch den Mittelgang auf ihn zu. Vermutlich wusste sie, dass das ihre letzte Möglichkeit zu einem kleinen öffentlichem Drama war. Sie rannte also auf ihn zu und schrie Kristen, Kristen, ich habe meinen Ernährer verloren!«

»Herrgott! Drama bis zur letzten Minute!«, sagte Mutter.

»Drama, ja! Lotte, weißt du noch, wie der Wind ein Loch in ihre Markise gerissen hat?«

»Ja, danke«, sagte Lotte. »Ein zehn Zentimeter langer Riss, das war alles.«

»Und sie heulte und schrie am Telefon herum und jammerte: Der Sturm zerstört mein Heim!«, rief Ib.

Sie mussten sich beide zur Seite neigen, um ungehindert lachen zu können, ich selber lachte über den Tisch gebeugt, wegen Stian. Ich beobachtete dieses Lachen, sah mir an, wie es rein physisch produziert wird, dass die Luft stoßweise gegen die Stimmbänder gepresst wird, um dann den Hals hochgeschoben zu werden. Und der Mund: Der wird zu beiden Seiten ausgedehnt. Und die Augen werden ein wenig zusammengekniffen, wie bei grellem Sonnenschein. Es kann zu einem heftigen Schmerz in den Schläfen führen, wenn wir uns unseres eigenen Lachens so klar bewusst sind.

Nichts von allem, was ich sagen könnte, wäre eine Lüge, sondern einfach nur eine andere Version der Geschichte, der Art, wie ich sie erlebt hatte. Denn ich war die Auserwählte gewesen. Ich war durch ihr Haus getrippelt und eine Prinzessin gewesen, so sehr Prinzessin, dass Mutters Stimmungen mich nicht beeinflusst hatten. Ich wurde eines Abends von ihrem Weinen geweckt. Sie lag in Omas Haus in ihrem alten Bett und weinte in der Dunkelheit. Ich drehte mich um und schlief weiter. Es ging mich nichts an, bedrohte mich nicht. Ich würde in der Sekunde, in der ich erwachte, wieder Omas kleine Prinzessin sein. Der Wohnblock in Norwegen war unendlich weit weg, und wenn Opa nach Frederiksberg radelte, um sein Porzellan zu bemalen – der kleine unsichtbare graue Opa mit seiner flachen Ledertasche, die an der Stelle ausgebeult war, wo seine selbst geschmierten Brote lagen  –, und wenn Mutter allein in die Innenstadt ging, dann tanzten Oma und ich mit wilden Armbewegungen durch die Zimmer. Sie brachte mir bei, Gedichte zu deklamieren, sie gab mir einen Satz nach dem anderen, hüllte mich in Tüll und Samt, befestigte Kameenbroschen an meinem Hals und Glitzer in den Ohren, gab mir Lippenstift.

»Groß war ihr Glück im Musentempel ...«, setzte Oma an.

»Grouß woar ieer Glück im Muosentemmmel«, wiederholte die Prinzessin mit erhobenem Kinn und stahlhartem Blick. »Der Ballettmeister drüchte den letzten Stemplel...«

»Der Ballettmeister drückte den letzten Stempel ...«

»Der Ballettmaaister drückte den lätzen Stemmel.«

»Stempel!«, sagte Oma.

»Lätzen Stemmel.«

»Ihr auf, und kaum war das geschehen ...«

»Ih rauf und koam woar das gescheeen.«

»Schon wollte alle Welt sie sehen.«

»Schoun wollte alle Wält sie seeen.«

»Ei, was bist du tüchtig, mein kleines Mädchen. Du gehörst auf die Büüühne!«

Ihr selber war das Traurige, das Tränentriefende am liebsten, das Publikum sollte aus vollem Herzen weinen. Sie wollte das Schluchzen hören, das unterdrückte Stöhnen. Sie wollte in den dunklen Saal hinausblicken und die feuchten Taschentücher ahnen, wie weiße Tupfen, Symbole für ihre Tüchtigkeit, weiße Flaggen als Symbol der Hingabe, ich kann nicht mehr, ich kann diesen Schmerz nicht ertragen, diese Feinfühligkeit. So, erklärte sie, sollte das Publikum denken, sollte flehen, sollte sie bitten, bald aufzuhören.

Sie hätte sie jetzt sehen sollen, wie sie in ihrem eigenen Wohnzimmer saßen und lachten. Hier waren nicht viele Taschentücher zu sehen, nur mein eigenes feuchtes Wischstück nach dem Niesanfall. Ich hätte auf einen Stuhl steigen und laut das Gedicht aus meiner Handtasche vortragen sollen, abgeschrieben aus einem Buch, das meine Großmutter mir vor einigen Jahren geschickt hatte. Oma zog die Höhe vor, wenn Pathos angesagt war. Sie konnte sich mitten beim Essen erheben, auf einen Stuhl steigen, beide Hände an ihr Schlüsselbein legen und die rotweinglänzenden Augen zur Decke hochwandern lassen, eine blonde und damals mollige kleine Gestalt, zu der ich beglückt hochlachte, und ich klatschte in die Hände, während die anderen sie baten, wieder herunterzukommen. Sie blieb aber immer oben, bis sie fertig war.

Ich weiß nicht, was ich mir beim Abschreiben gedacht hatte, vielleicht, dass ich es in der Kapelle vortragen könnte. Ich sagte Gute Nacht. Sie registrierten das kaum. Sie lachten über etwas anderes, über eine neue Erinnerung. Ich putzte mir die Zähne und wusch mir schwarze Wimperntusche von der Wange. Ich klammerte mich an den Solidoxgeschmack, ich fischte das jetzt zerknüllte Blatt aus der Tasche und ging in den Garten. Die anderen merkten nicht einmal, dass die Haustür hinter mir ins Schloss fiel. Und dort, unter der Pergola, las ich das Gedicht vor, und ich wusste, dass ich es donnerstags nicht in der Kapelle würde vortragen können. Ich flüsterte, und trotz der fehlenden Resonanz konnte ich Pathos in die Worte legen und die richtigen Stellen betonen. In meinen Ohren klang es Dänisch. Dänisch und weich, mit einer heißen Kartoffel im Mund – kartoffelweich:

Dein Puls hat das Schlagen nun eingestellt,wir konnten nicht einmal Lebwohl dir sagen,doch alle guten Freunde auf dieser Weltstehen um dein Lager in diesen Tagen.Friede deiner Seele! Wir senkendeinen Staub in Liebe.

Wenn ich nüchtern gewesen wäre, hätte ich jedes einzelne »wir« und »unser« durch »ich« und »mein« ersetzen können. Ich weinte und hob einen Zweig der Kletterrose hoch und steckte ihn zwischen die anderen Zweige, aber meine Nase war noch immer so verstopft, dass ich den Duft der Blüten kaum wahrnehmen konnte.

Das hätte ihr gefallen. Ja, es hätte ihr gefallen. Meine Darbietung und die Vorstellung, dass ich in Oslo gesessen und mühsam dieses Gedicht abgeschrieben hatte, aus dem Buch, das sie mir selber geschenkt hatte. Sie hätte in die Hände geklatscht und mich überall gestreichelt, wo mein Kostüm das zuließ, und sie hätte mir einen sucre d’or geholt und ihn zwischen meine lippenstiftroten Lippen geschoben. Ich hätte das Bonbon meine eine Wange ausbeulen und es dann von Oma in die andere schieben lassen. Wir hätten laut und ekstatisch zusammen gelacht, ohne dass sie meinen Blick losgelassen hätte.

Großmutter hatte an fast allen ihren Habseligkeiten weiße Aufkleber mit Namen angebracht. Auf der Rückseite der Gemälde befanden sich lange Namenslisten, Kritzelschrift auf der Leinwand, lange Kolonnen aus durchgestrichenen Namen, und ganz unten der Name, der ihr im Moment der liebste war. Derselbe Name tauchte oft mehrere Male in einer Reihe auf. Sie konnte diesen Menschen um drei Uhr nachts zum Plaudern angerufen haben, und wenn er dann nicht reagierte, dann war sie zu dem ihm zugedachten Bild getaumelt, hatte den Namen gestrichen und einen neuen hinzugefügt. Mehrere der erwünschten Erben seien schon tot, meinte Ib. Sie lachten über die vielen Namen und hatten durchaus nicht vor, Rücksicht auf Omas Wünsche zu nehmen. Mutters Anteil an den Bildern wollte Ib mit der Fähre nach Norwegen schaffen lassen.

»Als ob wir nach Charlottenlund fahren und Käse-Erik ein Bild eines Reitpferdes überreichen würden!«, sagte Mutter und schwenkte das Gemälde.

»Der ist übrigens auch tot«, sagte Ib. »Die sind alle tot.«

»Wirklich? Käse-Erik mochte ich gern. Der gehörte doch zu den Normalen.«

Weiße Aufkleber fanden wir in Mengen, bereit zum Gebrauch. Sie hatte sie offenbar abgerissen und durch neue ersetzt, je nach Lust und Laune. Oder sie hatte einen kleinen Zettel beschrieben und mit einem Gummiband befestigt, wie bei der goldenen Uhr, die doch nicht aus echtem Gold war. Für meine süße, kleine Therese.

Im Haus wimmelte es nur so von Gemälden. Als wir sie von den Wänden nahmen, zeichneten sich die Quadrate sauber und weiß auf den Tapeten ab. Mein Name stand auf keinem Gemälderücken. Am Ende war nur noch ein Foto übrig, weder Mutter noch Ib hatten sich die Mühe gemacht, auf der Rückseite nachzusehen. Das Glas war zerbrochen. Das Foto sah dunkel aus, denn es hing neben der Gartentür, wo das Licht an ihm vorbei ins Zimmer fiel und ihm deshalb eine zwielichtige Belanglosigkeit verpasste. Man musste dicht davor stehen bleiben, um es zu bemerken, und das tat ich jetzt: Ich betrachtete den nackten Frauenleib, der vor drei dicht aneinander gedrängten schwarz gekleideten Frauen fast bis zum Zerbrechen gedehnt wird. Es war provozierend und schön, unverständlich und beunruhigend. Der schmale Rahmen war tiefrot, aus gesprungenem Kirschbaumholz. Ich nahm das Foto vorsichtig von der Wand und hielt es ins Licht.

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