Die Liebesangst - Anne B. Ragde - E-Book

Die Liebesangst E-Book

Anne B. Ragde

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Beschreibung

Über Liebe, Sex und alles, was dazugehört

Ingunn, 39, äußerst attraktiv und erfolgreich, ist eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Leben. Sie kann jeden Mann haben, den sie will, und sie nimmt sich auch jeden, der ihr gefällt. Hauptsache, es sind keine Gefühle im Spiel! Denn Ingunns größte Angst ist es, verlassen zu werden; sie will diejenige sein, die verlässt. Doch dann lernt sie durch Zufall Tom kennen und verliebt sich auf der Stelle in ihn – für Ingunn ein Dilemma, beherrschte doch bisher der Kopf und nicht der Bauch ihre Gefühle und ihr Handeln. Auch wenn sie sich noch so sehr dagegen sträubt, Toms ernst gemeinten Avancen nachzugeben, kann sie die Veränderung in ihrem Leben nicht aufhalten. Als sie auch noch erfährt, dass sie schwanger ist, bekommt ihre sonst so professionelle Hülle endgültig Risse …

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Seitenzahl: 313

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Anne B. Ragde

Die Liebesangst

Roman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die norwegische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel»Nattønsket« bei Forlaget Oktober A / S, Oslo
Copyright © 2009 by Forlaget Oktober A / S, OsloCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-04028-4V002
www.btb-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Für Jo und Siri.

»In order to get to it,

you got to go through it.«

Jim Ford

1

Sie ging immer dann, wenn ihr die ersten Anzeichen dafür auffielen, dass seine Liebe allmählich zu erlöschen begann. Doch dieses Mal hatte sie so lange mit dem Davonlaufen gewartet, bis sie spürte, wie ihr Puls ein wenig schneller wurde, wann immer er sie mit ernster Miene ansah und auf eine besondere Weise schnell Luft holte, ehe er etwas sagte. Sie wartete auf den Satz: Diese Beziehung läuft nicht mehr so richtig.

Mehrfach schon hatte sie verdrängt, dass sie diese Worte insgeheim erwartete, aber als die Erkenntnis dann im Bruchteil einer Übelkeit erregenden Sekunde bei ihr ankam, rief sie sofort die Kontoauskunft an, überprüfte ihr Guthaben, packte einen Koffer und drei Taschen, schmierte sich ein paar Brote als Proviant, füllte eine Thermoskanne mit Tee, lud alles ins Auto und fuhr nach Norden, bis sie vom Anblick der vorüberziehenden Telegraphenmasten und Peitschenlampen total erschöpft war.

Bei einem Schild, auf dem mit Hand geschrieben ZIMMER FREI stand, fuhr sie von der Straße ab und mietete sich im ersten Stock ein; ein Schlafzimmer mit eigenem Bad, im Haus eines alten Ehepaares mit einem Elchhund, der an einer langen Leine zwischen Wohnhaus und Holzschuppen hin und her lief. Dort wohnte sie drei Tage. Als seine Nachrichten immer panischer wurden, voller Verzweiflung, voller Liebe, wie sie sie lange, lange nicht mehr erlebt hatte, rief sie ihn bei der Arbeit an, mitten in der Mittagspause.

»Ich bin’s.«

»O Gott, Ingunn. Warte eine Sekunde, ich geh nur schnell auf den Gang …«

»Keine Panik. Ich leg schon nicht auf. Schließlich habe ich ja bei dir angerufen!«

Sie hörte, wie er hart ins Telefon atmete, sah vor sich, wie er den kleinen Gegenstand, ein Nokia 8800 Saphire, an seine Wange presste, während er eilig auf dem langen Gang der Anwaltskanzlei eine ungestörte Stelle suchte. Sein Büro lag einen Stock höher, zu weit weg, um sich dort hinzuflüchten, sie hörte, wie er eine Tür öffnete, wusste, dass er auf den kleinen Balkon hinausging, auf dem sich nach dem Essen alle Raucher versammelten. Da die Mittagspause gerade erst angefangen hatte, stand er dort allein, das alles wusste sie über ihn, und noch viel mehr. Und fast alles an ihm glaubte sie zu lieben, er fehlte ihr so sehr, dass sie Salzgeschmack im Mund hatte.

Sie schaute den Elchhund an, der auf dem zertrampelten Rasen aussah wie ein graues Fellbüschel, er hatte sich die Leine um das eine Hinterbein gewickelt und zog mit dem Fuß daran, obwohl er zu schlafen schien. Seine buschigen Ohren drehten sich wie kleine Radargeräte, während er die Augen geschlossen hielt.

»Wo bist du, Ingunn? Ich habe bestimmt tausendmal bei dir angerufen. Hattest du kein Netz? Gestern Abend hätte ich fast die Polizei alarmiert. Bist du noch dran …?«

»Ja … Es ist aus mit uns.«

»Was? Hast du einen anderen? Willst du mir das damit sagen?«

»Nein … Ich …«

»Aber was zum Teufel soll das dann alles? Was zum Henker willst du damit …?«

»… Ich hatte das Handy extra ausgeschaltet. Die ganze Zeit über.«

Es wurde still.

»Ich werde in zwei Wochen wieder zurück sein, und dann teilen wir das unter uns auf, was wir uns zusammen angeschafft haben«, sagte sie.

»Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«

»Wir passen einfach nicht zusammen.«

»Das ist doch lächerlich. Lass uns treffen und darüber sprechen. Du kannst unmöglich allein entscheiden, ob wir beide zusammenpassen oder nicht!«

»Ich habe gesagt, es ist aus.«

»Also hast du doch jemand anderen kennengelernt? Gib es zu!«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Du lügst.«

»Nein. Ich will einfach nur allein sein.«

»Lieber als mit mir zusammen?«

»Ja.«

2

Jedes Mal, wenn sich Ingunn von einem Mann trennte, litt sie meist mehr als derjenige, den sie verlassen hatte. Sie bildete sich ein, die Männer zu lieben und sie deshalb verlassen zu müssen. Das Einzige, was sie in diesen Situationen stets aufrecht hielt, war die pure Erleichterung darüber, nicht selbst am anderen Ende der Leitung zu sein.

Die Angst, verlassen zu werden, Ablehnung zu erfahren, den Rücken zugekehrt zu bekommen, nicht schön genug, klug genug, gut genug im Bett zu sein, nicht die attraktivste Frau, nicht die Auserwählte, nicht die Erste zu sein, an die er dachte, wenn etwas Schönes oder Trauriges passierte, nicht die Allererste zu sein, mit der er alles teilen wollte, ob es sich nun um eine ungerechte Buße wegen Falschparkens oder um etwas Witziges auf YouTube handelte – diese Angst konnte sie nicht ertragen. Ihr war klar, dass das albern und banal war. Aber die Welt wimmelte nur so von lächerlichen, sitzen gelassenen Menschen, mit denen alle Mitleid hatten.

Solche Menschen trugen ein Kainszeichen auf der Stirn, während andere sich das Maul darüber zerrissen, was mit ihm oder ihr wohl nicht stimmte, und sich gegenseitig an Feste und gesellige Ereignisse erinnerten, an denen die sitzen gelassene Person in spe sich unmöglich benommen oder blöde Dinge gesagt hatte, hoffnungslos stur gewesen war, Seiten gezeigt hatte, mit denen auf Dauer natürlich niemand leben konnte. Die Welt hatte in den Augen derer, die sich so herablassend äußerten, zu stimmen, damit sie selbst nachts nicht wachliegen und sich darum sorgen mussten, was in ihrer eigenen Beziehung alles schiefgehen konnte. Niemals wurden Liebesschwüre dem Gegenüber häufiger abverlangt als nach einer Trennung im engsten Freundeskreis. Wenn er sie verließ, musste etwas mit ihr nicht in Ordnung sein. Und umgekehrt. Aber der Verlassenen gegenüber bestand man darauf, dass es unbegreiflich sei, dass sie sitzen gelassen worden war, sicher hatte er eine Neue, auch wenn er das nicht zugeben wollte, eine andere Erklärung war unmöglich, er konnte doch nicht sehenden Auges eine Frau wie sie über Bord werfen.

Es gab so unendlich viele sitzen gelassene Frauen. Frauen, die es sogar immer wieder erlebten. Ingunn glaubte, dass Männer es besser ertragen konnten. Sie lernten früh, abgewiesen zu werden, sie hatten ihr Leben lang Abweisung erlebt, von der Mutterbrust, in der Pubertät mit all den unerreichbaren Mädchenunterhosen. Sie lernten, das nicht persönlich zu nehmen, sie lernten, damit zu leben. Sie wurden damit fertig.

3

»Lieber allein als zusammen mit mir?«

»Ja.«

Wenigstens konnte er wütend sein. Wenn er später am Boden zerstört wäre und sich vor Sehnsucht krankschreiben lassen müsste, dann würde es unendlich wichtig für ihn sein, dass sie nichts davon erfuhr. Diese Befriedigung sollte sie keinesfalls haben. Männer entwickelten Trotz, einen Selbsterhaltungstrieb, der seinen Ursprung im maskulinen Wesen haben musste, dachte sie.

Die Beziehung, die Ingunn im Nachhinein am beunruhigendsten erschien, war jene mit dem Typen aus Bergen. Da wäre es fast so weit gewesen, dass nicht sie ihn, sondern er sie verlassen hätte.

Es war ein Dienstag, Ende November. Er hatte das Wochenende bei ihr in Trondheim verbracht und ziemlich zerstreut gewirkt – schon bei seiner Ankunft, aber auch, als er wieder wegfuhr. Sie hatten das ganze Wochenende über so gut wie keinen Sex gehabt, nur einen blitzschnellen Fick hatte es gegeben, am Sonntagmorgen. Er hatte sie von hinten genommen, sie war nicht einmal feucht geworden. In den wenigen Minuten sprachen sie kein Wort miteinander, sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht zu stöhnen.

Als übergriffig war ihr dieser Akt nicht vorgekommen, er befriedigte nur ein Bedürfnis, wie ein Glas Wasser zu trinken, und zufällig lag sie da und hatte ihm den Hintern zugekehrt.

Sie nahm es nicht persönlich.

Als er fertig war und aus ihr herausglitt, griff sie sich eine Handvoll Kleenex vom Nachttisch, stopfte sie sich in den Schritt und ging ins Badezimmer, wobei sie ihm noch immer den Rücken kehrte. Sie dachte an nichts Besonderes, war eben erst aufgewacht und steckte mit ihren Gedanken noch halb in einem seltsamen Traum, der von Eiern handelte, bei denen die Schale nur in winzig kleinen Stücken abging.

Sie duschte, zog sich an und rief ins Schlafzimmer, ob er ein Ei zum Frühstück wollte, weil doch Sonntag sei. Das waren die ersten Worte, die sie an diesem Tag wechselten.

»Ja, auf beiden Seiten gebraten und mit zerstochenem Dotter«, antwortete er.

Später dachte sie bei sich, ihr Traum sei vielleicht ein Omen gewesen. Wenn sie abergläubisch gewesen wäre, hätte sie ihn zweifelsohne als Omen bewertet, immerhin hatte sein kurzer Höhepunkt sie geschwängert.

Nachdem sie ihn zum Flughafen gefahren hatte und auf dem Heimweg auf der Autobahn unterwegs war, dachte sie darüber nach, wie nah dran sie gewesen war, von einem Mann verlassen zu werden. Sie musste dringend Schluss machen, bevor es zu spät war. Nicht eine Sekunde hätte es sie gewundert, wenn er ihr nach ihrer mechanischen Umarmung in der Abflughalle für immer Adieu gesagt hätte. Dann wäre sie an einem Sonntag im November allein dagestanden, alleine und sitzen gelassen. Nur einen Monat vor Weihnachten, wie hätte das denn ausgesehen?

Als er zu Hause ankam, schickte er ihr eine SMS. Sie antwortete ihm mit einem Smiley und mit »Vermiss dich«, um ihn bei Laune zu halten. Am Montag drauf leitete sie ihm per E-Mail einige Links weiter, er war ein fanatischer Segler. Sie waren nie zusammen gesegelt, und bei der bloßen Vorstellung bekam sie schon eine Höllenangst. Aber sie wollte ihre Angst nicht zugeben, weshalb sie Interesse vortäuschte und im Internet nach spannenden und ausgefallenen Dingen suchte, die mit Segeln zu tun hatten. Bei ihren Recherchen entdeckte sie unter anderem einen Beitrag über ein Segelboot von zweiundvierzig Fuß, das in einem tropischen Zyklon vor der indonesischen Küste hoffnungslos untergegangen war. Am Dienstag rief sie ihn an und machte Schluss.

»Schluss?«

»Ja. Diese Beziehung führt zu nichts.«

»Na gut«, sagte er.

»Es tut mir leid, wenn ich …«

»Schon in Ordnung«, sagte er. »Dann brauche ich zu Weihnachten nicht nach Trondheim fahren, dieses Scheiß- Hin- und Hergefahre habe ich eh zum Kotzen satt.«

»Das Hin- und Hergefahre oder mich?«, fragte sie.

»Beides, wenn ich ehrlich bin.«

»Ja, dann. Okay. Und ich hab dich zum Kotzen satt.«

So nah am Sitzengelassen werden war sie noch nie gewesen.

4

Sie sagte ihm nicht, dass sie schwanger war, warum hätte sie das tun sollen? Sie sprachen nicht mehr miteinander.

Ein halbes Jahr später begegnete sie ihm vor einem Kino, ausgerechnet in Oslo. Er wollte sich einen James-Bond-Film ansehen. Allein, was sie freute. Sie selbst war mit einem neuen Mann zusammen, einem ziemlich bekannten Fußballtrainer, was er später an diesem Abend per SMS kommentierte.

»Wusste gar nicht, dass du dich für Fußball interessierst?«

Also hatte er ihre Nummer nicht gelöscht. Sie seine auch nicht, sein Name tauchte im Display auf, und sie antwortete: »Doch, einzelne Aspekte von Bällen können faszinierend sein. Guter Film?«

Er antwortete mit einem Smiley, dem schwächsten, dem, der ein Lächeln nur andeutete.

Die Abtreibung überstand sie problemlos allein. Sie löschte ihre Erinnerung an den eiligen Sonntagsfick einfach aus dem Gedächtnis und schaltete den Gedanken aus, dass ein Fötus mehr ist als eine unerwünschte Visitenkarte, ein Fussel im Auge, der schnell entfernt werden muss, eine Fischgräte im Hals, weiße Hundehaare auf einem schwarzen Hosenbein, ein totes Blatt unter dem Scheibenwischer, ein Stück Eierschale im Waffelteig. Sie ließ sich bei der Gelegenheit gleich eine neue Spirale einsetzen, die alte war von selbst herausgefallen.

Wenn sie abergläubisch gewesen wäre, dann hätte sie auch das als Omen betrachtet. Dass ihr Gebärmutterhals sich auf eigene Faust öffnete und die Spirale ausstieß, um Spermien herzlich willkommen zu heißen. War es etwa möglich, dass sie und er eine geradezu himmlische DNA-Paarung aufwiesen, etwas, das ihr Gebärmutterhals vielleicht ermittelt hatte? Sie würde es nie erfahren. Sie blutete zwei Tage lang. Und sie warf die wenigen Gegenstände weg, die er bei ihr hinterlassen hatte. Rasierapparat, eine abgenutzte Zahnbürste, ein paar weiße Boxershorts und T-Shirts, einen Deostift von Boss, an dem sie lange schnupperte, einen Stapel Krimis, die er als Reiselektüre benutzt hatte, sowie einen Stapel der von ihr abonnierten Zeitung Morgenbladet, den sie um nichts in der Welt hatte wegwerfen dürfen, obwohl sie wusste, dass er diese blöden Zeitungen nur so wichtig nahm, um sie zu beeindrucken. Nichts hatte ihm mehr Spaß bereitet, als sie mit kulturpolitischen Fragen in die Ecke zu manövrieren, als müsse sie die Superexpertin in allen kleinen und großen kulturellen Interessengebieten sein, nur weil sie als Musikjournalistin arbeitete.

Zum Glück hatte sie schnell begriffen, dass hier lediglich Minderwertigkeitskomplexe zum Ausdruck kamen. Er war Naturwissenschaftler und Betriebswirt und hatte ständig Angst davor, von Bjørn Gabrielsen von Dagens Næringsliv mit der Frage angerufen zu werden, was gerade auf seinem Nachttisch lag. Na, hätte er dann antworten können – kein Buch, sondern ein ungelesener Stapel Morgenbladet. Sie warf auch einen absolut brauchbaren Isländerpullover mit schwarzweißem Fischgrätenmuster weg, nachdem sie ebenso lange daran geschnuppert hatte wie an dem Deostift.

5

Aber noch schlimmer war es mit dem, der ihr nach der Trennung Briefe schickte. Er war sechzehn Jahre jünger als sie, zum fraglichen Zeitpunkt erst zweiundzwanzig, so jung, dass sie sich mit ihm in der Öffentlichkeit nicht sehen lassen wollte. Er war eine Ausnahme, er hatte das Abgewiesenwerden offenbar noch nicht trainiert. Er sah so unglaublich gut aus, dass er sicher noch niemals verschmäht worden war. Bestimmt hatte seine Mutter ihn gestillt, bis er fünf Jahre alt gewesen war, und danach war er von einem Schoß zum anderen weitergereicht worden, bis ihm der Verdacht gekommen war, was sich in der Tiefe eines solchen Schoßes befand. Bei seinem sexuellen Debüt war er vierzehn gewesen, erzählte er.

»Und wie alt war das Mädchen?«

»Auch vierzehn.«

»Und niemand hat euch dabei erwischt?«

»Wir haben es draußen im Wald gemacht. Sie war Jungfrau und hat furchtbar geweint, während wir zugange waren und auch noch danach. Ich hatte mir verdammt noch mal dabei beide Knie aufgescheuert.«

»Das arme Mädchen.«

»Das arme Mädchen? Und was ist mit mir? Und meinen Knien?«

»Nun, es hat dir offenbar Lust auf mehr bereitet. Trotz allem.«

»Ja, klar. Wir waren mehrere Monate zusammen und haben meinem Bruder Kondome gestohlen. Sie hat sich mit Filzstift ein Herz auf den Arm gemalt und meinen Namen reingeschrieben, ich fand das super, kam mir richtig erwachsen vor.«

»Hat sie aufgehört, beim Vögeln zu weinen?«

»Ja, absolut. Nur fanden wir im Herbst dann keinen Ort mehr zum Vögeln, und damit war die Sache beendet.«

Er war ein phantastischer Liebhaber, sie wollte immer bei Licht mit ihm schlafen, weil er so schön war. Ihre eigenen Wülste und Cellulitis versuchte sie nicht einmal zu verbergen, sie hatte früh gelernt, dass Männer auf Geilheit abfuhren und nicht auf körperliche Perfektion, und Geilheit konnte sie wirklich eimerweise liefern.

Er war wie eine Maschine, ein Duracell-Kaninchen, er hatte seine Orgasmen vollkommen unter Kontrolle, ebenso seine steinharten Armmuskeln, die er einer Jahreskarte bei Sats zu verdanken hatte. Nie wurde er müde. Im Gegensatz zu ihr – nicht physisch, aber davon, mit ihm allein zu sein, wenn er sie besuchen kam. Er arbeitete als frischgebackener Polizist in Stavanger, sie hatte ihn in Fredrikstad in einem Straßencafé kennengelernt, als sie allein am Tisch saß und er sie um ihren Salzstreuer bat. Er hatte Hähnchen und Pommes gegessen und beim Essen mit offenem Mund gesprochen, sie fand das nicht im Geringsten abstoßend und wusste sofort, wie die Sache enden würde.

Nachdem sie ihn mit einem Blick bedacht hatte, der gerade den Bruchteil einer Sekunde zu lang gewesen war, setzte er sich an ihren Tisch, als sein Kumpel ging. Er war dienstlich in Fredrikstad, irgendetwas mit organisiertem Autodiebstahl, und hatte ein Hotelzimmer. Sie selbst war privat untergekommen. Sie hatte noch nie mit einem so schönen Mann geschlafen, braune Haut, steinharter Körper, alle Haare im Schritt wegrasiert. Sein Schweißgeruch erinnerte sie an den Duft von Kokos, vielleicht lag es an irgendeiner Creme.

Später kam er immer für drei, vier Tage am Stück nach Trondheim.

Bald gingen ihnen die Gesprächsthemen aus.

Er interessierte sich für Sport und Fitness, wies keinerlei politisches Engagement auf, sie machte einen Bogen um etliche Themen, hatte furchtbare Angst, er könnte sich als potenzieller Anhänger der Rechtsliberalen entpuppen und das könnte abtörnend wirken. Wenn er ab und zu eine Bemerkung über Ausländer und Kriminalität fallen ließ, wechselte sie sofort das Thema. Deshalb war es einfach ausgeschlossen, sich mit ihm in aller Öffentlichkeit zu zeigen.

»Hast du keine Freunde?«, fragte er.

»Doch.«

»Und warum darf ich die nicht kennenlernen? Warum kommt nie jemand her?«

»Weil sie wissen, dass ich Besuch habe.«

»Aber wir können doch nicht die ganze Zeit vögeln?«

»Doch! Und den Rest der Zeit brauche ich, um wieder zu Kräften zu kommen.«

Er lachte und zog sie zu sich heran, sie streichelte seinen muskulösen Rücken und kniff in seine Pobacke. Nicht einmal, wenn sie aus allen Kräften zupackte, tat es ihm weh.

Auch mit ihm machte sie per Telefon Schluss.

6

Er reagierte total überraschend. Plötzlich liebte er sie. Liebte sie! Dieses Wort hatten sie nie benutzt. Und er weinte. Weinte! Sie saß ganz still am Küchentisch und lauschte der sechzehn Jahre jüngeren Stimme am Telefon. Egal, was sie sagte, es war falsch. Und sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihm zu erklären, dass sie nur seinen Körper und den kolbenharten phantastischen Sex liebte, dass die Sache aber inzwischen zu einseitig und seltsamerweise einsam geworden war. Er brachte den Altersunterschied aufs Tapet, sicher mache sie deshalb Schluss, sie unterwerfe sich den gesellschaftlichen Konventionen – wenn er diesen Ausdruck auch nicht benutzte. Sie stritt es energisch ab, aber er glaubte ihr nicht.

»Scheiße, du bist doch total altersfixiert«, schimpfte er. »Was ist denn Alter, zum Teufel? Verdammt …«

Mehrmals versuchte sie, das Gespräch zu beenden, ohne Erfolg.

»Du kannst doch jede haben, die du willst«, sagte sie. »Das weißt du genau.«

Aber er wollte nicht jede, er wollte sie.

»Du schämst dich für mich«, erklärte er.

Auf absurde Weise stimmte das, obwohl sie wusste, dass jedes weibliche Wesen in Trondheim, das älter als dreizehn war, sie vor Neid gehasst hätte, wenn sie mit ihm an einem Sommertag Hand in Hand am Flussufer entlangspaziert wäre.

»Ich habe einen anderen kennengelernt«, sagte sie endlich.

Da legte er auf.

Und dann kamen die Briefe. Voller Rechtschreibfehler und Floskeln von der Sorte: Ich kann mit dir nicht leben, aber ohne dich geht es auch nicht. Sie musste beim Lesen die Augen zusammenkneifen und warf die Briefe gleich weg, fast, um ihn vor sich selbst zu schützen.

Später fing er an, gleichzeitig zu den handgeschriebenen Briefen auch noch E-Mails zu schicken. Er fehlte ihr schrecklich, das musste sie zugeben, und sie ärgerte sich darüber, mit ihm Schluss gemacht zu haben. Es würde unendlich lange dauern, bis sie wieder einen so phantastisch guten Liebhaber fände, aber bei all den Gefühlen, mit denen er sie überschüttete, konnte sie die Trennung unmöglich zurücknehmen. Er würde glauben, dass sie seine Gefühle erwiderte, und so zynisch wollte sie nicht sein. Es wäre die pure Ausbeutung. Aber ungeheuer verlockend.

Als einige Zeit darauf ein Arbeitskollege von ihm anrief und sagte, er habe Angst, er könne sich etwas antun, nahm sie das Flugzeug nach Stavanger. Er erwartete sie am Flughafen, und im Auto glaubte sie, er werde sie plattdrücken.

»Ich bin nur gekommen, weil ich Angst um dich habe«, sagte sie. »Weil es dir so schlecht geht. Nicht, weil ich … dass wir …«

Sie fühlte sich erbärmlich, als sie zwei Tage darauf wieder ins Flugzeug stieg. Aber nun hatte er es begriffen, auch wenn sie eine Lüge nach der anderen hatte auftischen müssen, über diesen neuen Mann, während sie das Bett fast nicht verlassen hatten und der Sex besser gewesen war denn je. Sie konnte keine offene Beziehung zu einem sechzehn Jahre jüngeren Mann haben. Sie liebte ihn auch nicht, jedenfalls nicht, nachdem sie gesehen hatte, auf welche unbegreiflich hoffnungslose Weise er mit seiner eigenen Muttersprache umging. Wurden an der Polizeihochschule denn überhaupt keine sprachlichen Anforderungen gestellt? Mussten sie denn ihre Vernehmungsprotokolle und Fallberichte nicht auf ordentliche und verständliche Weise formulieren?

Sie stellte sich schlafend, als die Stewardess den Kaffee brachte, sie döste mit der Wange am kalten Fenster. Seine Haut war immer warm, von der guten Durchblutung nach dem vielen Training. Nie wieder würde sie ihn in sich spüren, ihre Knie bis zu seinen Wangen heben, seine Hinterbacken mit den Händen umfassen, spüren, wie seine Gesäßmuskeln auf und ab federten, als wären sie gefüllt mit kräftigen kleinen Tieren, die mit hängender Zunge keuchten. Nie wieder würde sie seinen Schweiß kosten, der von seinen Schläfen auf sie heruntertropfte, und seine unbegreifliche Kraft spüren, von den Fersen bis zu den Handgelenken, konzentriert darauf, sie so viel wie möglich empfinden zu lassen, sein Blick in ihrem.

»Komm, komm, komm«, hatte er gesagt, »komm zu mir.«

Sie öffnete die Augen und betrachtete einen Aufkleber von Ventelo, der unter der Tischklappe klebte.

Eine ältere Frau auf dem Mittelsitz neben ihr verschlang gerade einen Blaubeermuffin und schlürfte zwischen den Bissen Kaffee. Überall lagen Krümel herum. Da die Muffinfrau die Armlehne mit Beschlag belegt hatte, lehnte sie sich wieder an die eiskalte Flugzeugwand und hatte nur noch den Wunsch, bald in Værnes zu landen, damit sie sich in den Audi setzen und bei lauter Musik den ganzen Weg in die Stadt fahren konnte, um allein zu Hause einen Karton Weißwein aufzuschlitzen und lange und bitterlich über vergossene Milch zu weinen.

7

Ihre längste Beziehung hatte elf Monate gehalten. Sie glaubte wirklich, ihn geliebt zu haben, aber sicher war sie sich nicht. Es gab allerlei Kleinigkeiten an ihm, die ihr überhaupt nicht gefielen, und das beruhigte sie: die Art, wie er Luft holte, wenn er sich konzentrieren wollte, erst durch den Mund hinein, dann durch die Nase hinaus. Dass er immer ein Taschentuch aus Stoff bei sich trug, mindestens eine Woche lang dasselbe, obwohl er sich damit nicht nur die Nase putzte, sondern nach dem Essen auch den Mund abwischte. Und dass er nur alle zwei Tage eine frische Unterhose anzog.

Aber sie zweifelte nicht daran, dass er sie liebte, deshalb schockierte es sie umso mehr, als sie über eine anonyme Hotmail-Adresse erfuhr, dass er sie hinterging. Mit einer gewissen Astrid, mit der er zusammenarbeitete. Vermutlich versteckte diese Astrid sich hinter der Hotmail-Adresse, wer hätte sonst ein Interesse daran haben können, ihr so etwas mitzuteilen?

Sie wohnten zusammen, in ihrer Wohnung, er hatte fast alle seine Habseligkeiten eingelagert. Zwar hatten sie einen unterschiedlichen Bildungsstand – sie hatte die Journalistenschule besucht, er war Filialleiter der Kioskkette Narvesen und hatte nur den Gesamtschulabschluss –, aber an seinem Intellekt war nichts auszusetzen. Er schrieb fehlerfrei Norwegisch, las gute Bücher, hielt sich politisch auf dem Laufenden, brachte laut, deutlich und fundiert seine Meinungen vor, sie stritten sich fast nie, aßen mehrmals die Woche im Restaurant, sprachen zum Glück nicht über Kinder, jedoch viel darüber, ein Haus zu kaufen, sie schliefen fast jede zweite Nacht und an den Wochenenden bisweilen auch am Tag miteinander, er war vom Aussehen her ein richtiger Bär, drei Monate älter als sie, Mitglied in einem Weinclub, fuhr Gokart und downhill GT-Rad und konnte phantastisch massieren.

Elf Monate waren eine lange Zeit. Eine sehr lange Zeit. Sie hatten sogar zusammen Weihnachten gefeiert, nur sie beide. Am Heiligen Abend hatten sie Langenfisch gegessen und beide witzigerweise geriebenen braunen Ziegenkäse und Sirup als Beilagen gewählt.

Thomas hat ein Verhältnis mit einem Mädchen, das Astrid heißt. Nur damit du das weißt. Sie arbeiten zusammen.

Mädchen? Das klang jung. Das klang mindestens zehn Jahre jünger als sie selbst.

Am nächsten Tag musste er nach Oslo zu einem wichtigen Fundamentmeeting mit der Reitan-Gruppe. Sie hatten herzlich über diesen albernen Ausdruck gelacht. Nach der E-Mail war ihr klar, dass er ganz bestimmt mit Astrid zu einem romantischen Wochenende fahren wollte, und schon fand sie alles sehr viel weniger komisch. Sie hatte minutenlang vor dem Rechner gesessen und die E-Mail angestarrt.

Nur damit du das weißt.

Sie hatten sich um vier im ersten Stock des Credo zum Mittag verabredet, ihr blieben drei Stunden. In diesen drei Stunden musste sie eine Lösung finden. Sie versuchte zu weinen, aber es gelang ihr nicht. Ihre Enttäuschung war größer als ihr Kummer. Was zum Henker bildete er sich eigentlich ein? Sie würde nicht zum Weinen aufs Klo stürzen. Später, ja. Aber nicht jetzt. Sie blieb sitzen und schaute sich in dem Großraumbüro um, meterweise Ordner in den Regalen über dem Computer, Staub, der sich im Chaos der Leitungen unter der Computeranlage sammelte, ihre Tasche, die unter dem Kleiderhaken auf dem Boden stand und aus der ein halb gegessenes und in Zellophan gewickeltes Baguette aufragte. Sie verspürte plötzlich einen heftigen Zorn auf alle Baguetteschmierer, die Jahr für Jahr ungeschoren davonkamen, wenn sie einfach eine knochentrockene Baguettehälfte ohne Margarineschicht auf den Belag knallten. Sie musterte den toten Kaktus auf ihrem Schreibtisch, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte. Sie hatte ihn zu Tode gegossen, und jetzt kippte er mit einem Kern aus braunem Schleim über den Topfrand. Mit einem Kugelschreiber bohrte sie darin herum. Sie musste nachdenken, planen, ihren IQ von 132 benutzen, jedes einzelne Hundertzweiunddreißigstel. Sie sprang auf und warf Baguette und Kaktus in den Papierkorb, den Kaktus mit Tontopf und allem. Keine von den Kolleginnen an den anderen Tischen bemerkte etwas, zu sehr waren alle mit ihren Bildschirmen oder Telefonaten beschäftigt.

Sie löschte die Mail.

Jetzt hatte sie die Woche.

8

Sie traf ihn im ersten Stock des Credo, wie verabredet, sie lächelte und redete wie immer, hatte keine Ahnung, was sie aß, wusste aber aus Erfahrung, dass es sehr gut war, sie ging aufs Klo, als er abermals einen Witz über das Fundamentmeeting machen wollte. Jetzt musste sie nur noch eine einzige Nacht mit ihm durchstehen, danach wäre Schluss.

Am Freitag holte sie sich im Postamt einen Nachsendeantrag. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, hatte nur seinem Atem gelauscht und gewusst, dass sie ihn zum letzten Mal hörte. Er schnarchte nicht, atmete kaum hörbar. Wenn er ein Schnarcher gewesen wäre, hätte sie sein Schnarchen mit ihrem Handy aufgenommen, um es als Erinnerung zu bewahren. Zum Glück hatte er keinen einzigen sexuellen Vorstoß unternommen, was sie aber auch effektiv zu verhindern gewusst hatte, da sie am frühen Abend mit einer phosphorgrünen Gesichtsmaske herumgelaufen war und ein unrasiertes Bein ausgestreckt hatte, um ihm zu zeigen, wie lang die Haare dort waren.

»Weißt du, angeblich sind Frauen nur an den Beinen behaart, weil sie in der Steinzeit durch seichtes Wasser gewatet sind, um Fische zu fangen. Ist das nicht eine seltsame Vorstellung?«, fragte sie.

»Um nicht zu frieren, meinst du?«

»So ungefähr.«

»Aber du bist doch auch an anderen Stellen behaart.«

»Ja, auf dem Kopf.«

»Und an der Möse.«

Worauf sie ins Badezimmer stürzte und sich mit der Gesichtsmaske einschmierte. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam und sah, dass er sich ins Fernsehprogramm vertieft hatte, war sie erleichtert. Für ihn war es wohl auch nicht so leicht, ihr etwas vorzuspielen, während er in Gedanken schon auf dem Weg zu einem romantischen Wochenende nach Oslo mit Astrid war. Er wollte einen Film auf TV 3 sehen.

»Hast du auch Lust?«, fragte er. »Der hat fünf von sechs Sternen bekommen. Und Michael Madsen spielt mit.«

»Ich bin schrecklich müde. Sieh du ihn dir nur an.«

Als sie am Nachmittag nach Hause kam, war er schon nach Oslo unterwegs. Sie fand die letzte Überweisung für das Lager, in dem er seine Möbel aufbewahrte. Verschlag 28 bei Trondheim Safe-Hold. Sie füllte auf dem Antrag, den sie bei der Post geholt hatte, die Adressenänderung entsprechend aus.

In der Wohnung lagen viel mehr Dinge, die ihm gehörten, als ihr bisher klar gewesen war. Vor allem Klamotten. Statt sie in Bananenkisten zu packen, nahm sie Müllsäcke. Am Ende waren vier bis obenhin vollgestopft, unter anderem mit einem maßgeschneiderten Mantel von White Collar aus Jersey und einem drei Jahre alten Armanianzug aus anthrazitgrauer feiner Wolle. Die Kästen füllte sie mit Büchern, einer Smoothiemaschine, die er jeden Morgen benutzte, allen CDs mit der Musik, die sie mit diesen elf Monaten verband, abgesehen von Coldplays X & Y; die stellte sie wieder ins Regal zurück. Einem ansehnlichen Stapel DVDs, einem Fotodrucker, einer nagelneuen Digitalkamera und einer feschen Lampe von Interia, die er eines Tages einfach so mit nach Hause gebracht hatte.

Sie trug alles zum Audi, musste dreimal die Treppe hoch- und runterlaufen, und fuhr zum Laden der Heilsarmee in Møllenberg. Dort stellte sie die Sachen vor der Tür ab, weil der Laden geschlossen hatte. Ob Diebe oder Heilsarmee den Kram bekamen, war ihr egal, obwohl ihr eigentlich Diebe lieber gewesen wären, denn wegen der homofeindlichen Haltung wollte sie die Heilsarmee nicht länger unterstützen. Aber es war kein Tag für Prinzipien.

Später ließ sie einen Schlosser kommen, zum vierfachen Preis, die Hälfte davon schwarz in die Hand. Er wechselte das Schloss der Wohnungstür aus und gab ihr drei funkelnagelneue Schlüssel, die allesamt ihr gehörten.

Er rief am Samstagnachmittag an.

»Ich hatte den ganzen Tag Sitzung. Oh, verdammt, mein Kopf fühlt sich an wie mit Watte gefüllt, muss mich vor dem Essen kurz hinlegen. Und du?«

»Ich? Ich habe ziemlich viel zu tun gehabt. Du bist übrigens von heute an wohnhaft im Verschlag 28, Trondheim Safe-Hold. Deine Post habe ich umleiten lassen. Und deine Ummeldung schon ans Einwohnermeldeamt geschickt. Deine Sachen findest du bei der Heilsarmee. Du kannst sie sicher zurückkaufen. Die Kamera wird wohl nicht ganz billig sein, auch der Mantel aus Jersey nicht. Und nicht zu vergessen der Armanianzug. Scheint heute ein Glückstag für die Heilsarmee zu sein. Wenn nicht alles über Nacht gestohlen wird …«

»Was redest du da …«

»Und sag Astrid einen schönen Gruß. Weiß sie, dass du nur alle zwei Tage die Unterhose wechselst?«

9

Der Preis dafür, einen Mann zu verlassen, den sie zu lieben glaubte, war hoch. Sie musste ihre Tage strukturieren, immer bestimmte Aufgaben klar vor Augen haben. Die Arbeit half ihr dabei, sie liebte ihre Arbeit, sie lenkte sie ab. Schwer fielen ihr anfangs vor allem die Abende allein zu Hause. Deshalb bat sie in der ersten Zeit um Spätdienst, dann konnte sie lange liegen bleiben und den Tag weitgehend im Bett verbringen. Es war so verdammt ungerecht, dass sie mit dem größeren Kummer dasaß.

Aber immerhin wurde sie nicht öffentlich verschmäht. Obwohl es nur eine Frage der Zeit war, bis irgendein Verflossener mit einer neuen Dame am Arm durch die Stadt stolzierte, war es doch immer sie, die verließ, nicht umgekehrt.

Wenn nach zwei Wochen das Schlimmste vorbei war, legte sie eine Runde mit One-Night-Stands ein, die sie in der Stadt aufgabelte oder lieber noch im Netz fand. Es gab nie Probleme, Männer zu finden, sie war direkt und offen und machte sich nicht die Mühe, um den heißen Brei herumzureden. In den Dating-Plattform im Netz tummelten sich allerlei verheiratete Männer, die ungefährlich und diskret waren. Sie brauchte nur Ort und Alter einzugeben und zu warten, bis die Männer sich eingeloggt hatten, um dann Bilder auszutauschen, für eine Minute abzuwägen, ein Treffen zu vereinbaren, am besten noch am selben Abend, am besten bei ihr zu Hause. Sie hatte ein Öl, das in der Kondomerie verkauft wurde, falls sie also nicht sofort auf den Mann ansprang, half es ihr, trotzdem feucht zu werden. Und wenn er erst einmal losgelegt hatte, dann sagte sie ihm einfach, wie sie es gern wollte.

Es war natürlich anstrengend, sich durch einen dermaßen riesigen Haufen von Gefühlen durchzuvögeln, die Trauer auf jede erdenkliche Weise zu bearbeiten, zu feiern und sich durch das Wissen hindurchzuficken, den anderen zwar verlassen zu haben, aber dennoch den Verlust ertragen zu müssen. Sie verbrachte viel Zeit mit vergeudeten, verkaterten Samstagen und Sonntagen. Überall lagen CDs auf dem Wohnzimmerboden, halbvolle Champagnerflaschen, Dreck, verdammt viel Dreck, Flecken auf Sofa und Sesselbezügen, die sich nicht entfernen ließen, SMS-Chaos, an die falsche Adresse geschickte Nachrichten, ein falscher Name, mitten in der Nacht angerufen, oder auch das: leichtfertig abgegebene schallende Fürze, weil sie vergessen hatte, dass sie frisch gevögelt war und dass noch immer ein Mann neben ihr lag.

Zugleich musste sie trotz dieses ganzen Gevögels ihr eigenes Leben leben: ihre Arbeit bis zum i-Tüpfelchen perfekt ausführen, Fenster putzen, Blumen gießen, den Stromzähler ablesen, Benzin nachfüllen und lustig auf kollegiale Scherzmails antworten. Dieselbe sein wie vorher. Es hatte viele Nachteile, die Trauer mit Hilfe von One-Night-Stands überspielen zu wollen, aber es machte auch viel Spaß, und eines Tages würde sie im Altersheim darüber kichern können, wenn sie überhaupt so lange lebte. So wie über den, der sich als SM-Fan entpuppte, nachdem er ihre Wohnung betreten hatte. Der E-Mail-Wechsel zuvor hatte keinerlei Hinweise auf eine solche Veranlagung gegeben. Aber als er zu ihr nach Hause kam und sie ihn fragte, welche Phantasien ihn hochbrächten, quoll es nur so aus ihm heraus. Er wollte dominieren, schlagen und ohrfeigen und an den Haaren ziehen. Sie dachte nur, na gut, probier ich das mal aus, kann ja sein, dass ich auch darauf abfahre, man kann nie wissen.

10

Sie fuhr nicht darauf ab.

Zuerst vereinbarten sie ein Stoppwort –so hieß das offenbar. Sie einigten sich darauf, dass sie SCHLUSS sagen sollte. Das Gespräch über den Verlauf, das sie bei einer Flasche Sancerre am Tisch führten, als sie einander noch nicht berührt hatten, machte sie geil, was er natürlich missverstand, als er später im Schlafzimmer einen forschenden Finger in sie hineinschob. Seine Kleider faltete er zusammen und legte sie auf einem ordentlichen Stapel ab, dann stand er nackt und erigiert vor ihr, mit einem befriedigend großen Penis, der blank und verheißungsvoll auf und ab wippte. Dann ging es los.

Er wurde zum Tier, fickte sie aus allen erdenklichen kamasutrischen Winkeln, schleuderte sie aus einer Stellung in die andere, kaute hart auf ihren Brustwarzen herum, ohne zu saugen oder zu lecken. Wenn er sie von vorn vögelte, sah sie nur seine schwarzen Augenbrauen, wie wütende behaarte Schmetterlingslarven, die aufeinander zustürmten.

In seinen Augen lag Hass. Das Weiße darin war rot unterlaufen. Kein Wunder, bei der Energie, die er an den Tag legte. Anfangs war sie so überrascht, dass sie sich mitreißen ließ, es war wie eine Autokollision in Zeitlupe, aber sie wurde von Minute zu Minute immer trockener, sie hatte vergessen, sich mit dem raffinierten Öl einzuschmieren, sie wollte nur, dass er bald kam, um die Dürre zu verbergen.

Er drehte sie in Hundestellung und zerrte ihren Kopf an den Haaren nach hinten, bis sie das Gefühl hatte, dass die Haut über ihrem Kehlkopf riss und ihr Skalp sich löste. Als er sie zur guten alten und ersehnten Missionarsstellung auf den Rücken schob, glaubte sie, nun werde er endlich kommen.

Ihr Körper pochte vor Anstrengung und Schmerz. Aber er fing an, ihr Ohrfeigen zu verpassen. Immer, wenn er im Fickrhythmus den Oberkörper hob, schlug er sie, abwechselnd mit der linken und der rechten Hand.

»Nein! Aufhören!«, rief sie. »Scheiße, das tut doch WEH!«

Doch er hörte nicht auf. Ihr Kopf wurde von den Schlägen hin und her geschleudert. Er wurde immer wilder, fickte immer schneller, schlug immer häufiger.

»Aufhören. Aufhören!«, schrie sie.

Sie hatte das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht fallen zu müssen, als es ihr einfiel:

SCHLUSS!

Sofort zog er sich aus ihr heraus und setzte sich auf die Bettkante, keuchte mit hängenden Wangen.

»Warum denn?«, fragte er, ohne sie anzusehen.

Sie atmete tief und lange durch, schlug die Hände vors Gesicht. Die Matratze unter ihr fühlte sich seltsam uneben an, wie ein Schlachtfeld.

»Sag mal, warum bist du nicht gekommen?«, fragte sie.

»Ich komme nur bei Nutten, die ich bezahle.«

»Ich glaube, du solltest jetzt gehen. Das hier war nichts für mich. Tut mir leid.«

Tut mir leid …?! Warum entschuldigte sie sich auch noch? Sie fühlte sich wie gerädert, ihre Kopfhaut brannte, der Puls hämmerte ihr in den Brüsten, ihre Wangen glühten, und ihr Schritt war so furchtbar heiß vor knochentrockener Reibungswärme, als ob jemand ein Feuerzeug in sie hineinhielte.

Noch am selben Abend, als er gegangen war, nachdem er in der Küche drei Glas Wasser getrunken und sich dafür artig bedankt hatte, musste sie darüber lachen, dass sie gesagt hatte, es tue ihr leid, und nicht er. Sie hatte um Entschuldigung gebeten, obwohl sie wie ein körperliches Wrack dagelegen hatte und weil sie nicht auf SM abfuhr. Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid. Es war zum Totlachen. Am nächsten Tag kaufte sie sich in der Apotheke eine Creme gegen Blutergüsse, ihre Brüste sahen aus wie frisch geklopftes Filet. Was stimulierte Menschen sexuell daran? Sie hätte sich auch gleich einen Job als Stoßdämpfer nehmen können, aber jeder nach seinem Geschmack, dachte sie. Es ärgerte sie, dass sie sich trotz allem darüber Gedanken machte, ob er in ihr gekommen wäre, wenn sie Geld von ihm genommen hätte, und ob sein abrupter Abgang sich damit hätte vermeiden lassen können. Vielleicht hätte er sich ja doch als brauchbarer Mann entpuppt, wenn er nur seine Phantasien für sich behalten hätte und mit einer ganz normalen alltäglichen Lebenslüge auf Nummer sicher gegangen wäre.

11

»Mal sehen … Sie leben allein?«

»Ja, bisweilen.«

»Hatten Sie Ausfluss? Unregelmäßige Blutungen?«