Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann - E-Book

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots E-Book

Herbert Huesmann

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Beschreibung

Die vorliegende Studie ist die erste Monographie über das gesamte Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Da Wajsbrot mehrfach die Bedeutung von Orten und Räumen für ihr Erzählen betont hat, konzentriert Huesmann seine kontextualisierenden Analysen, in denen er hermeneutische und semiotische Methoden integriert, auf die Aspekte "Raum und Bewegung". Aufgrund persönlicher Konflikte, der Nachwirkungen des II. Weltkriegs, des Holocaust und des Verlustes der Heimat oder aber in der Auseinandersetzung mit der Kunst bewegen sich die handelnden Figuren der inhaltlich und formal ansonsten sehr unterschiedlichen Romane stets in einem Raum zwischen zwei Welten.

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Herbert Huesmann

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

Eine literarische Suchbewegung

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0034-4

Inhalt

Für M.J.A.Die vorliegende Studie Das ...EinleitungERSTER TEIL (A) CÉCILE WAJSBROT UND DIE BEDEUTUNG VON RAUM UND BEWEGUNG IN DER ERZÄHLENDEN LITERATUR1 Cécile Wajsbrot1.1 Biographischer Hintergrund1.2 Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots1.4 Anmerkungen zur Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots in Frankreich und Deutschland2 Darstellung des literarischen Raums2.1 Von Ernst Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums2.3 Michail Bachtins Theorie der ChronotopoiZWEITER TEIL (B) ANALYSE DER LITERARISCHEN SUCHBEWEGUNGEN IM ERZÄHLWERK CÉCILE WAJSBROTS1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen1.1 Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder1.2 Inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen und Begründung des Themas2 Themenfeld I2.1 Atlantique – Entfaltung eines personalen Beziehungsgeflechts in Raum und Zeit2.1.1 Auswahl der Orte der Vorder- und Hintergrundhandlung2.1.2 Das Gewebe örtlich-räumlicher und personaler Beziehungen2.1.3 Perspektivierende Zusammenfassung2.2 Le Désir d’Équateur – Eine Suchbewegung „zwischen Welten“2.2.1 Reale Schauplätze2.2.2 Reisebewegungen2.2.3 Der Äquator als virtuelles Ziel2.2.4 Die Figurenkonstellation im Spiegel chronotopischer Beziehungen2.2.5 Perspektivierende Zusammenfassung2.3 Mariane Klinger – Auf dem Rückweg von der Neuen in die Alte Welt2.3.1 Heidelberg und die Hinreise nach New York2.3.2 New York vs. Heidelberg2.3.3 Eine Reise in die Ungewissheit2.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung2.4 Voyage à Saint Thomas – Suchbewegungen zwischen Paris und Saint-Thomas2.4.1 Zur raumkonstituierenden Funktion des ersten Kapitels2.4.2 Die Schauplätze – Auswahl und Entfaltung der wechselseitigen Beziehungen2.4.3 Die Chapelle Notre-Dame-de-Grâce als „image de la vie souhaitée avec Loïc“2.4.4 Medial vermittelte Räume2.4.5 Intertextuell vermittelte Räume2.4.6 Perspektivierende Zusammenfassung2.5 Zusammenfassung Themenfeld I3 Themenfeld II3.1 La Trahison – Louis Mérians Suche nach der eigenen Vergangenheit3.1.1 Die Bedeutung von Raum und (Nicht-)Bewegung für die Charakterisierung des Louis Mérian3.1.2 Die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Charakterisierung der Ariane Desprats3.1.3 Perspektivierende Zusammenfassung3.2 Nation par Barbès – Räume und „Nicht-Räume“ als handlungsauslösende und Gedanken und Gefühle widerspiegelnde Elemente3.2.1 Chronotopische Markierungen der familiengeschichtlichen Herkunft Lénas, Anielas und Jasons3.2.2 Die Métro – ein klassischer „non-lieu“ als „générateur de texte“3.2.3 Der Parc Monceau – ein heterotopisches Refugium in der „ville du dessus“3.2.4 Perspektivierende Zusammenfassung3.3 Beaune-la-Rolande – Annäherung an einen literarischen Erinnerungstext3.3.1 Beaune-la-Rolande – Annäherungen an einen Ort3.3.2 Von Beaune-la-Rolande nach Auschwitz – Orte der Identitätsstiftung3.3.3 Traumlandschaften3.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung – die Literatur als „sinnlicher Erinnerungsraum“3.4 Mémorial – Die Erzählerin auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln und dem Sinn ihres Lebens3.4.1 Warten auf einem Bahnsteig – Beginn eines „[…] voyage particulier, sur les traces d’une histoire, pour tenter de trouver une origine […]“3.4.2 Bahnfahrt nach Kielce – Fortsetzung und Vertiefung der „recherche de l’origine“3.4.3 Aufenthalt in Kielce3.4.4 Exkurse über die Schneeeule3.4.5 Perspektivierende Zusammenfassung3.5 Fugue – Die Geschichte einer Flucht- und Suchbewegung3.5.1 Entfaltung einer Seelenlandschaft in der Abfolge der Kapitel3.5.2 Perspektivierende Zusammenfassung3.6 Zusammenfassung Themenfeld II4 Themenfeld III4.1 Une vie à soi – Anne Figuières’ Anverwandlung ihres Vorbildes Virginia Woolf4.1.1 Entdeckung einer Leitfigur4.1.2 Annes Annäherung an die Lebensräume Virginia Woolfs4.1.3 Annes Annäherung an die innere Befindlichkeit Virginias4.1.4 Perspektivierende Zusammenfassung4.2 Caspar Friedrich Strasse – Der Ich-Erzähler auf dem Weg zu einem von Caspar David Friedrich inspirierten Verständnis seiner „histoire personnelle“ und der „histoire collective“4.2.1 Die Klosterruine bei Greifswald und Eichbaum im Schnee – Bemühungen um Orientierung in Raum und Zeit4.2.2 Meeresküste bei Mondschein – rester ou partir?4.2.3 Das Riesengebirge – die Caspar-Friedrich-Strasse als Straße der Zukunft4.2.4 Perspektivierende Zusammenfassung4.3 Le Tour du lac – Das sonntägliche Kreisen um einen See als Methode und Symbol einer Suchbewegung4.3.1 Von Neuilly nach Paris – Schreiben als Akt der Befreiung4.3.2 Das Dilemma des jungen Mannes – „gefangen im Labyrinth einer unmöglichen Beziehung“4.3.3 Perspektivierende Zusammenfassung4.4 Conversations avec le maître – Die Ich-Erzählerin und ihre Begegnungen mit dem Maître und einer illegal eingewanderten Ukrainerin4.4.1 Der Maître in der Parallelwelt seines tatsächlichen und imaginierten Lebensumfelds4.4.2 Die Ukrainerin in der Parallelwelt einer illegalen Einwanderin4.4.3 Perspektivierende Zusammenfassung4.5 L’Île aux musées – Die vier Protagonisten als Zeugen einer „[…] fusion […] entre deux mondes, l’art et la vie’“4.5.1 „Suchbewegungen“ in der „realen Welt“ der vier Protagonisten4.5.2 Die Parallelwelt der Kunst als „[…] le miroir des temps“4.5.3 Perspektivierende Zusammenfassung4.6 Sentinelles – Die Vernissage eines Videokünstlers – Einladung zu einer künstlerisch-intellektuellen Suchbewegung unter erschwerten Bedingungen4.6.1 Die Phase vor Einbruch der Dunkelheit4.6.2 Die Phase der Dunkelheit4.6.3 Die Phase nach der Rückkehr des Lichts4.6.4 Perspektivierende Zusammenfassung4.7 Totale Éclipse – Über die existentielle und künstlerische Krise der Erzählerin-Fotografin4.7.1 Die „errance intérieure“ der Erzählerin4.7.2 Perspektivierende Zusammenfassung4.8 Zusammenfassung zum Themenfeld III5 Die kurzen Erzähltexte5.1 Einordnung der kurzen Erzähltexte in das Gesamtwerk Cécile Wajsbrots5.2 La Ville de l’oiseau – Bindeglied zwischen vertrauter und neuer ThematikDRITTER TEIL (C) ZUSAMMENFASSUNG UND VERTIEFUNG1 Vorbemerkung2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der SuchbewegungenThemenfeld IThemenfeld IIThemenfeld III3 SchlussfolgerungenInhaltliche Schwerpunkte des Erzählwerks vor dem Hintergrund der literaturtheoretischen Positionen Cécile WajsbrotsDas den Haute Mer-Romanen zugrunde liegende Verständnis von KunstDas erzählerische Gesamtwerk Cécile Wajsbrots als Suchbewegung – eine inhaltlich- formale GesamtschauLeben und Kunst als BewegungANHANGInhaltlich-strukturierte ZusammenfassungenThemenfeld IAtlantique (1993)Le Désir d’Équateur (1995)Mariane Klinger (1996)Voyage à Saint-Thomas (1998)L’Hydre de Lerne (2011)Themenfeld IILa Trahison (1997/2005)Nation par Barbès (2001)Beaune-la-Rolande (2004b)Mémorial (2005a)Fugue (2005b)Themenfeld IIIUne vie à soi (1982)Caspar Friedrich Straße (2002a)Le Tour du lac (2004a)Conversations avec le maître (2007)L’Île aux musées (2008a)Sentinelles (2013)Totale Éclipse (2014)Die kurzen ErzähltexteLa ville de l’oiseau (2010a)LiteraturverzeichnisMehrfach zitierte SammelbändeCécile WajsbrotAndere PrimärtexteWeitere Internetquellen (geordnet nach Bezugstexten bzw. Anlässen)Sekundärliteratur zu Cécile WajsbrotInterviews (chronologisch geordnet)Ausgewählte Rezensionen zu einzelnen Werken Cécile Wajsbrots (Bezugstexte in eckigen Klammern)Weiterführende (Sekundär)literaturNachschlagewerke

Für M.J.A.

Die vorliegende Studie Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots – Eine literarische Suchbewegung ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die ich im November 2015 beim Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück eingereicht habe. Die Disputation hat am 8. Juli 2016 stattgefunden.

Dass es mir als Pensionär ermöglicht wurde, ein Forschungsprojekt im Rahmen einer Promotion durchzuführen, verdanke ich in erster Linie der Bereitschaft von Frau Prof. Dr. Andrea Grewe, mich trotz ihrer vielfältigen Verpflichtungen als Doktoranden über einen Zeitraum von annähernd fünf Jahren zu betreuen. Von ihrer immensen Erfahrung, ihren berechtigten Einsprüchen und konstruktiven Anregungen habe ich in allen Phasen der Arbeit in hohem Maße profitiert. Aufrichtigen Dank schulde ich auch Frau Prof. Dr. Susanne Schlünder für die Übernahme des Korreferats und hilfreiche Empfehlungen, die in die Schlussfassung des Textes eingegangen sind.

Sehr gerne richte ich meinen Dank an Herrn Prof. Dr. Asholt für seine Bereitschaft, meine Dissertation in die edition lendemains aufzunehmen, und Frau Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag für ihre kompetente lektoratsmäßige Betreuung des Projekts.

Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Familie, die meine zeitintensive Beschäftigung mit dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots mit großer Geduld und liebevoller Ermunterung begleitet hat. Danken möchte ich vor allem Veronika und Frank, die mir immer dann geholfen haben, wenn mir meine Unerfahrenheit in der digitalen Bearbeitung großer Textmengen im Wege stand.

(H.H.)

Einleitung

Margarete Zimmermann markiert im Titel ihres Artikels „Trop de mémoire – trop de silence. Schweigen und Vergessen im Werk von Cécile Wajsbrot“ jene „Pole“, „[…] zwischen denen sich das Werk der Cécile Wajsbrot bewegt“1. Tatsächlich stellen die Lasten der Erinnerung und die Unfähigkeit bzw. die mangelnde Bereitschaft, über die eigene Vergangenheit oder zurückliegende Kapitel der „großen“ Geschichte zu sprechen, ebenso wichtige Themen in den Romanen und Erzählungen Wajsbrots dar wie die Versuche der handelnden Figuren, verloren geglaubte Spuren, nicht zuletzt auch das rätselhaft Geheimnisvolle der persönlichen Herkunft aufzudecken, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden und Brücken in die Zukunft zu schlagen. Dabei sind, wie das Beispiel der Ich-Erzählerin in dem 2004 erschienenen Roman Le Tour du lac zeigt, die Bemühung um ein Gespräch mit einem – in diesem Fall fremden – Gegenüber und die Bewegung im Raum, und handle es sich nur um das sich sonntäglich wie ein Ritual wiederholende Umkreisen des Sees, immer auch „[…] Ausdruck der Suche nach einem ‚Ort‘ – als Individuum, als Schriftstellerin – in der Gegenwart und in der Zukunft“2. Dass Orte, Räume und die Suchbewegung zwischen den Orten, im Raum der Geschichte, für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots von großer Wichtigkeit sind, betont Margarete Zimmermann auch noch an anderer Stelle, allerdings ohne diesen Aspekt zu vertiefen.3 Dies gilt für die ganze bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autorin, sieht man einmal davon ab, dass Ottmar Ette sie bereits 2005 in den Kreis jener Schriftstellerinnen und Schriftsteller eingeordnet hat, deren Schaffen er sehr treffend als ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz4 charakterisiert hat. Diese geniale, aber gleichwohl globale „Verortung“ des Erzählwerks Cécile Wajsbrots vermag indes nicht das Desiderat einer Studie aufzuheben, die im Detail die Funktion und Bedeutung, die Raum und Bewegung in ihren Romanen und erzählerischen Kurztexten zukommt, analysiert und differenziert darstellt. Der Differenzierungsanspruch betrifft zu allererst den Begriff „Ort“, der im Hinblick auf das Erzählwerk Cécile Wajsbrots immer auch auf „innere Orte“, d.h. Standpunkte, Sichtweisen und Empfindungen zu beziehen ist.

Bei der Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit lässt sich der Verfasser nicht in erster Linie von jener Debatte über „Cultural Turns“ leiten, in deren Verlauf der Raum eine Aufwertung erfahren hat, die keineswegs nur die Literaturwissenschaften, sondern alle unter dem Dach der Kulturwissenschaften vereinten Disziplinen erfasst hat.5 Primär entscheidend ist vielmehr, dass die Suchbewegungen der handelnden Figuren im Erzählwerk Cécile Wajsbrots, die vielen ihrer Romane bzw. Erzählungen raum- bzw. ortsbezogene Titel gegeben hat, von besonderer Bedeutung sind. Dies drängt sich als Ergebnis einer ersten Lektüre der Texte geradezu auf. Zudem hat Cécile Wajsbrot inzwischen mehrfach, besonders deutlich in einem Gespräch mit Dominique Dussidour im Oktober 2005, erklärt, welche Funktion der Raum für ihr Schreiben hat:

Alors comment écrire, comment dire ce qu’on a à dire? En passant par des biais qui ne peuvent être ni tout à fait des personnages, ni tout à fait une action romanesque, ni un simple constat des choses. D’abord, il me semble que dans mes livres, cela passe par un ancrage, qu’il y a, à chaque fois ou presque, un lieu – au sens large du terme. La radio dans La Trahison, le métro dans Nation par Barbès, Berlin dans Caspar Friedrich Strasse, Kielce et la Pologne dans Mémorial, le bois de Boulogne dans Le Tour du lac. En même temps, ce lieu n’est pas donné, il est gagné (ou perdu), il est parcouru, constitué ou reconstitué. L’ancrage dans le lieu permet un ancrage dans le temps, car le lieu – souvent une ville – est imprégné de ce qui s’y est produit à différentes périodes et ce sont ces strates temporelles qui lui donnent existence. Les figures sans nom de mes romans les traversent et sont à leur tour traversées par ce qui s’y passe, ainsi y a-t-il une sorte d’échange entre le dedans et le dehors, une sorte de mécanique des fluides, un phénomène de vases communicants.6

Mit dem Bild des „[…] échange entre le dedans et le dehors […]“ bringt Cécile Wajsbrot zum Ausdruck, dass einerseits Orte und Räume durch geschichtliche Entwicklungen geprägt sind, andererseits die Figuren, die sie „durchqueren“, in ihrem Denken und Handeln durch die sich ebendort abspielenden Ereignisse beeinflusst werden. Die Metapher der kommunizierenden Röhren hebt somit die Interpendenz zwischen Raum, Zeit und handelnden Figuren als konstituierenden Elementen der erzählten Welt hervor. Diese Faktoren sind in einem Erzähltext wie die Fäden eines Gewebes, einer „texture“, miteinander verknüpft. Die Ankermetapher weist dem Ort/Raum gleichwohl eine besondere Bedeutung zu. So wie ein Anker immer nur das temporäre Verbleiben eines Schiffes an einem bestimmten Platz sichert, bevor es seine Fahrt fortsetzt, so hat man sich den Raum nicht als etwas unumstößlich Gegebenes, sondern eher, im Sinne eines dynamischen Prozesses, als ein stets neu zu gewinnendes und zu entdeckendes, aber zugleich als ein gefährdetes Gut vorzustellen. Die damit implizierte „Unbestimmtheit“ des Raumbegriffs bedeutet konsequenterweise auch, dass die Vorstellung von „Raum“ die Idee der „Bewegung“ geradezu voraussetzt, die beiden Begriffe also in einem komplementären Verhältnis stehen. Die Bedeutung und die Funktion des Raums werden dadurch in einen Bezugsrahmen eingeordnet, der auch im Titel der oben zitierten Studie von Ottmar Ette implizit zum Ausdruck kommt. Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots kann daher, ungeachtet seiner thematischen Differenziertheit, in seiner Gesamtheit als eine literarische Suchbewegung bezeichnet werden.7

Der erste Teil der vorliegenden Arbeit präsentiert in Kapitel A 1 Informationen über die Biographie Cécile Wajsbrots sowie über ihre literarhistorischen und literaturtheoretischen Äußerungen zum Roman als literarischer Gattung (A 1.1 und A 1.2). Dabei wird keineswegs Vollständigkeit angestrebt, die Auswahl der Aspekte orientiert sich vielmehr an ihrer funktionalen Bedeutung für die Schwerpunkte der Analyse in Teil B. Ergänzt wird Kapitel A 1 durch einen Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots (A 1.3) und Anmerkungen zur Rezeption ihrer Romane in Deutschland und Frankreich (A 1.4). Auch die Ausführungen zur „Darstellung des Raums“ in Kapitel A 2 erheben keineswegs den Anspruch, den wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema in seiner ganzen historischen Breite und Tiefe sowie in seiner komplexen theoretischen Differenziertheit abzubilden. Gleichwohl sollen die der Analyse zugrunde liegenden Fragestellungen und der methodische Weg der Erarbeitung in einer historisch und theoretisch fundierten Weise aufgezeigt werden.

Der zweite, der Hauptteil der Arbeit, führt in einem ersten Schritt (Kapitel B 1.1) zu einer inhaltlich-thematisch bestimmten Aufteilung des erzählerischen Werks auf drei Felder (B 2, B3, B4). (Die kurzen Erzähltexte werden in dem gesonderten Kapitel B 5 exemplarisch anhand der Erzählung La Ville de l’oiseau behandelt.) Eine Beschränkung auf eine exemplarische Auswahl im Bereich der Romane empfiehlt sich angesichts der inhaltlichen und formalen Verschiedenheit dieser Texte nicht. Unter Bezugnahme auf die Kapitel A 1 und A 2 werden sodann (Kapitel B 1.2) die inhaltlichen und methodischen Schwerpunkte der Untersuchung festgelegt und das Thema der Studie ausführlich begründet.

Grundsätzlich orientieren sich alle Werkanalysen an den in B 1.2 dargelegten Grundsätzen, passen sich aber immer auch der inhaltlichen und formalen Struktur der einzelnen Texte an. Aufgrund des kontextualisierenden Ansatzes der Analyse vermittelt die Studie trotz der konsequent eingehaltenen Konzentration auf die Thematik der literarischen Suchbewegung gelegentlich auch Einblicke in mit der zentralen Fragestellung verwobene inhaltliche und formale Details der Textgestaltung. Die wesentlichen Ergebnisse der Werkanalysen werden jeweils themenfeldbezogen zusammengefasst.

Der abschließende dritte Teil C arbeitet themenfeldbezogen und themenfeldübergreifend die Entwicklung der Suchbewegungen in ihrer räumlichen und ideellen Dimension heraus (C 2). In den Schlussfolgerungen (C 3) werden die Beziehungen zwischen dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots und von ihr vertretenen literaturtheoretischen Positionen beleuchtet sowie das den Haute Mer-Romanen zugrunde liegende Kunstverständnis in Ansätzen eruiert, bevor der Begriff der literarischen Suchbewegung in einer vertiefenden Gesamtschau abschließend definiert wird.

Um das Verständnis der vorliegenden Studie für alle Leserinnen und Leser zu erleichtern, sind im Anhang strukturierte inhaltliche Zusammenfassungen aller analysierten Texte beigefügt.

ERSTERTEIL (A) CÉCILEWAJSBROTUNDDIEBEDEUTUNGVONRAUMUNDBEWEGUNGINDERERZÄHLENDENLITERATUR

1Cécile Wajsbrot

Cécile Wajsbrot gehört seit vielen Jahren zu den vielseitigsten und produktivsten Autorinnen und Autoren des extrême contemporain in Frankreich. Durch die Übersetzung einiger ihrer Romane und Erzählungen ins Deutsche1 hat sie auch in Deutschland eine Lesergemeinde gefunden. Gleichzeitig ist sie durch die Übersetzung deutscher Autoren ins Französische zu einer Brückenbauerin zwischen beiden Ländern geworden. Am Anfang einer Beschäftigung mit dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots sollte ihr biographischer Hintergrund in dem Maße erhellt werden, in dem dies den Zugang zu ihren Romanen und Erzählungen erleichtert. Dasselbe gilt für ihre literaturtheoretischen, vor allem auch für ihre auf den Roman bezogenen Positionierungen, die sie in einem Essay und in Interviews dargelegt und erläutert hat. Ergänzt werden die Ausführungen durch einen Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots sowie durch Anmerkungen zur Rezeption ihrer Romane in Frankreich und Deutschland.

1.1Biographischer Hintergrund1

Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Ihre Mutter, deren jüdische Eltern aus Polen stammten, galt zwar als „Ausländerkind“, war aber, da sie in Paris geboren wurde, Französin. Sie überlebte den Krieg im Département Lot-et-Garonne in einem von Nonnen geleiteten Mädchenpensionat. Ihr Vater, der im Alter von 17 Jahren mit seiner Familie aus Polen nach Frankreich emigriert war, fand während der Kriegszeit Schutz in einem Versteck in der Auvergne. Der Großvater mütterlicherseits wurde im Mai 1941 von Beaune-la-Rolande in ein Lager im Loiret verbracht und im Juni 1942 von dort nach Auschwitz deportiert, wo er einige Wochen später starb.

Cécile Wajsbrot hat nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft zunächst einige Jahre als Französischlehrerin und als Rundfunkredakteurin gearbeitet, bevor sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin deutscher und englischer Autorinnen und Autoren und als Mitarbeiterin der Zeitschriften Autrement, Les Nouvelles littéraires und Le Magazine littéraire einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde.2 Das umfangreiche literarische Werk Cécile Wajsbrots umfasst neben den in dieser Studie vorgestellten und analysierten Romanen und Erzählungen Biographien, Essays, Dialoge und Hörspiele.

Nachdem Cécile Wajsbrot erstmals 1995 bei einer Reise nach Litauen einige Tage in Berlin verbracht hat, erlebt sie fünf Jahre später bei einem eineinhalb Monate dauernden Besuch der Stadt „[…] un véritable coup de foudre“3, der ihr Leben verändern sollte: „J’ai aimé la ville et eu du mal à la quitter au point que j’ai trouvé la solution d’avoir eine zweite Wohnung à Berlin et de pendeln zwischen Paris und Berlin […]“4. Als Stipendiatin des DAAD lebt sie von März 2007 bis März 2008 ein Jahr ununterbrochen in Berlin. Während dieser Zeit und im Jahr 2012 entsteht ein als Berliner Ensemble5 erschienenes, facettenreiches Kaleidoskop literarischer Impressionen, die „[la] réflexion [de C.W.] sur les ravages causés par l’histoire du XXe siècle et, en particulier, sur les lieux de mémoire de la Seconde Guerre mondiale“6 widerspiegeln.

In einem FAZ-Gespräch mit Katharina Narbutovic erklärt Cécile Wajsbrot im April 2008 eine eindeutige Vorliebe für Berlin:

Ich fühle mich in Berlin besser als in Paris. In Berlin lässt es sich freier atmen. In Paris ist der Kulturbetrieb sehr eng, geschlossen, auch narzisstisch. Da denke ich, wenn ich in Frankreich schon außen vor stehe, dann kann ich mich auch noch weiter aus der Stadt zurückziehen.7

Ihr Gefühl, in Frankreich nicht in die Gesellschaft voll integriert zu sein, sondern als Außenseiterin betrachtet zu werden, erklärt sie in dem Gespräch mit Elke Richter und Natascha Ueckmann mit einer Lebenserfahrung, die der ungarische Schriftsteller Imre Kertész in seinem in deutscher Sprache unter dem Titel Ich – ein anderer sinngemäß folgendermaßen zum Ausdruck gebracht habe: „Es ist etwas anderes sich zu Hause heimatlos zu fühlen als in der Fremde, wo man in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden kann.“8 Cécile Wajsbrot erklärt sodann ausführlich, warum diese aphoristische Beobachtung ihr eigenes Lebensgefühl so treffend wiedergibt:

Je me suis toujours sentie un peu étrangère en France, en tout cas pas comme les Français de souche, comme on dit. Donc toujours un peu différente, étrangère alors que je suis née en France, que ma langue maternelle est le français. Si je sens une différence à Berlin, c’est normal parce que je suis vraiment étrangère, je suis réellement une Française à Berlin, une Française en Allemagne. En France, ce n’est pas normal que je ne me sente pas tout à fait française comme les autres. Il est plus confortable que la réalité coïncide avec le sentiment intérieur.9

Unter dem Einfluss der migratorischen Geschichte ihrer Familie und ihrer eigenen Biographie hat sich Cécile Wajsbrot im Laufe ihrer schriftstellerischen Entwicklung in der Auseinandersetzung mit und auf der Suche nach ihren eigenen Wurzeln, ihrer „origine“, immer wieder „zwischen den Welten“ bewegt, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, die Perspektive ihres Schreibens auf Einzelschicksale, und sei es ihr eigenes Leben, zu fokussieren. Allerdings wurde für sie wie für viele andere Autorinnen und Autoren mit einem ähnlichen biographischen Hintergrund die eigene oder, wie in ihrem Fall, die durch den Abstand der Generationen nur noch mittelbar erlebte Erfahrung der Migration zu einem bestimmenden Movens ihrer „quête littéraire“ in sehr unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsräumen.10

1.2Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans

Cécile Wajsbrot hat sich mehrfach in literaturhistorisch und literaturtheoretisch argumentierender Form zur Bedeutung und Funktion der Literatur geäußert, wobei sie sich im Wesentlichen auf den Roman bezieht.1 Schon 1999 beklagt sie, dass der klassische Begriff der „littérature“ der Vergangenheit angehöre und einer weitgehend sinnentleerten Vorstellung von „écriture“ gewichen sei.2 Sie versäumt nicht, ihre eigenen Vorstellungen von „littérature“ zu entwickeln. Dabei fühlt sie sich einerseits dem literaturgeschichtlichen Erbe verpflichtet, andererseits will sie sich aber auch nicht mit der Beibehaltung alter Strukturen und Erzählungen begnügen, sondern unter Berücksichtigung aller Brüche und neuer Entwicklungen Kontinuität pflegen und Eigenständigkeit leben.3

Den Vorwurf des literarischen und geschichtlichen Kontinuitätsbruchs richtet Cécile Wajsbrot an Theoretiker des Nouveau Roman, namentlich an Nathalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet:

 […] Nathalie Sarraute dans l’Ère du soupçon et Alain Robbe-Grillet dans Pour un nouveau roman édifiaient la théorie des villes nouvelles du roman, réfutant toute narration, toute présence d’un récit, de personnages, pour accepter comme seul élément fiable de la littérature, comme base unique sur laquelle elle pourrait reposer, pour n’accepter que le langage.4

Nathalie Sarraute habe „bei vollem Bewusstsein“ (en pleine conscience) die Frage gestellt, wie man nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts noch an die „Menschheit“ bzw. an „Menschlichkeit“ (humanité) und an die den Roman bevölkernden literarischen Figuren glauben könne. Der vor der Katastrophe die Augen verschließende Robbe-Grillet habe im Namen des „Überdrusses und der Langeweile“ (ennui) die „Tyrannei der Sinnhaftigkeit“ (la tyrannie du sens) angeprangert, sich aber nicht im Gefolge Camus’ oder Becketts der Theorie des Absurden, sondern in gewisser Weise der „l’art pour l’art“- Bewegung des 19. Jahrhunderts verschrieben, mithin einer Literaturform „[…] dont l’élégance suprême serait de ne rien dire, de ne rien signifier“5.

Der Kontinuitätsbruch ist indes in einen größeren Rahmen einzuordnen. Die Schriftsteller – und die Intellektuellen – haben sich mit ihrer Haltung des „Wegsehens“, wie C. Wajsbrot 1999 feststellt, lange Zeit lediglich dem „mainstream“ der französischen Gesellschaft angeschlossen. So haben sie die Zeit von 1939 bis 1945, den Schrecken der Naziherrschaft mit der von allgemeinem Schweigen begleiteten systematischen Vernichtung der europäischen Juden, die Okkupation und Kollaboration und ihre Folgen, aber auch den Abwurf der ersten Atombombe von den 50er bis in die 70er Jahre und sogar „[…] jusqu’à aujourd’hui […]“6 ausgeblendet und stattdessen lieber gegen den Einsatz der USA in Vietnam protestiert. Die Autorin mag von der Idee des „péché originel“, der Erbsünde und ihrer Wirkungen, geleitet worden sein, wenn sie feststellt: „Notre scène originelle, c’est Vichy, et comme toute scène originelle, elle gît dans la pénombre d’un inconscient qui ne demande qu’à oublier.“7 Die Erinnerung an den Krieg sei zwar überall – „[…] sur les plaques des immeubles, dans les rues des villes et des grandes capitales, sur le calendrier et sur les monuments aux morts, partout […]“ – 8 gegenwärtig, nicht jedoch in der Literatur. Und wenn sich die zeitgenössische Literatur in Frankreich mit Vichy-hörigen faschistischen Autoren wie Céline oder Brasillach noch immer arrangiere, dann übersehe man geflissentlich die von ihnen vermittelten Inhalte, um sich an ihrem Stil zu delektieren: „[…] il faudrait écouter la musique et non les paroles.“9 Mit ihrer resignierenden Feststellung „Céline est à l’image de la France […]“10 schließlich bringt Cécile Wajsbrot zum Ausdruck, dass ihrer Meinung nach die zeitgenössische Literatur Frankreichs durch eben diese Negation des Inhalts auf die Stufe der reinen „écriture“ herabgesunken ist. Hingegen stehe die Erinnerung an den Krieg in den Literaturen Zentraleuropas, von Deutschland bis Russland

[…] au cœur des romans, au cœur de la réflexion de ceux qui l’ont vécue comme de ceux qui sont nés après, dans l’ombre portée du souvenir. Oui, il est des pays dont la littérature porte la trace de tout cela, le désarroi, l’interrogation, ou le silence, tandis que chez nous, alors que ce monde s’écroule à son tour, depuis la chute du mur, l’exploration vient à peine de commencer.11

Für Cécile Wajsbrot definiert sich der Roman – genauer: der literarische Roman (roman littéraire), den sie vom „Unterhaltungsroman“ (roman romanesque) unterscheidet – durch eine von ihr als „totalité“ bezeichnete Einheit aus Form und Inhalt: „Le roman est totalité – totalité de la forme, totalité du contenu, totalité de la forme et du contenu.[…] Le roman est totalité. C’est sa définition même.“12 Der Totalitätsanspruch des Romans beruht für Cécile Wajsbrot jedoch keineswegs nur auf der durchaus als klassisch-tradiert zu bezeichnenden Entsprechung zwischen Form und Inhalt, sondern ebenso auf der sich ins Unendliche öffnenden inhaltlich-thematischen Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven, die sie mit dem Hinweis auf eine Auswahl von Romanen – von La Princesse de Clèves bis zu Anna Karenina – überzeugend zu belegen vermag. Welche Anforderungen an Autorinnen und Autoren mit diesem Anspruch einhergehen, erläutert Cécile Wajsbrot in der für sie fundamental wichtigen Form einer Raummetapher, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt:

Notre installation sur les terres du roman littéraire, le parcours de ses forêts ne peut se faire que dans le temps où nous sommes ou plutôt, ne peut se faire sans s’inscrire dans le temps où nous sommes, ce qui signifie à la fois connaître ce qui nous a précédés dans l’histoire et savoir que nous écrivons maintenant. Ni avant ni apres mais précisément dans le lieu et le temps où nous vivons.13

Beim Prozess des Schreibens sieht Cécile Wajsbrot die Autorinnen und Autoren eines Romans folglich in eine Tradition hineingestellt, die sich einerseits auf die Vergangenheit im Ganzen, andererseits jedoch auch auf die von ihnen selbst ge- und erlebte Zeit bezieht, mithin auf die jeweils aktuellen räumlich-örtlichen und zeitlichen Bedingungen, den Chronotopos. In demselben Text präzisiert Wajsbrot etwas später, dass sich die Verpflichtung gegenüber dem Erbe der Geschichte auch auf „[…] une succession de livres“ beziehe, dass sich das Schreiben gleichermaßen „[…] dans le temps biographique et le temps littéraire“ einfüge. Wohl auch unter dem Einfluss ihrer eigenen Biographie und der Geschichte ihrer Familie betrachtet sie daher das Schreiben als eine dreifache Verpflichtung: „[…] c’est aussi prendre la parole, rompre le silence, et porter témoignage“.14 In der bewussten Annahme dieses Auftrags der Literatur zur Stellungnahme und einer das Verschweigen überwindenden Zeugenschaft liegt wohl der eigentliche Grund für die Befreiung, die, wie Cécile Wajsbrot überzeugt feststellt, von der Beschäftigung mit der Vergangenheit ausgeht: „La connaissance des autres, de l’histoire […] la connaissance de l’histoire pourrait nous libérer.“15

Mit der Robbe-Grillet zugeschriebenen Inhaltsleere des Nouveau Roman vermag Cécile Wajsbrot dieses Konzept nicht in Einklang zu bringen.16 Demgegenüber verteidigt sie vehement die Comédie humaine Balzacs.17 Starke Sympathien hegt sie insbesondere für Marcel Proust, dessen Innovationen leider folgenlos geblieben seien, und Virginia Woolf.18 Gerne beruft sie sich auf Proust, um den Totalitätsanspruch des Romans und die ihm daraus erwachsende Aufgabe, die Zeit als vielschichtige Einheit aus Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem zu behandeln,19 hervorzuheben, hat Proust doch in seiner Recherche „[…] la totalité de l’iceberg, sa partie émergée et sa part immergée […]“20 erforscht. Dass sich der Roman als literarisches Genre mit der Zeit nicht in einer verkürzten, distanzlosen, unreflektiert abbildhaften und als „écriture“ einzustufenden Art und Weise auseinandersetzen sollte, unterstreicht die Autorin mit der folgenden programmatischen Erklärung:

Le roman travaille sur le temps, travaille le temps, c’est pourquoi se déposent en lui les travers de l’époque, le risque de l’éphémère mais aussi la possibilité de les transcender en dessinant le temps […] la possibilité de le configurer c’est-à-dire de le relier aux chaînes d’événements des époques passées et de le décrire non platement comme le ferait le journalisme […] mais dans ses trois dimensions comme un objet holographique.21

Cécile Wajsbrot ist sich sehr wohl bewusst, dass die Möglichkeiten der unmittelbar-direkten Zeitzeugenschaft aufgrund der Begrenztheit der eigenen Erfahrungen stark eingeschränkt sind. So gilt im Hinblick auf die Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für sie, dass sie als Angehörige der „[…] génération venue après […]“ auf in unterschiedlichster Form vermittelte Erzählungen angewiesen ist, um sodann über eigene Fragestellungen – […] pas au sens d’un historicisme anachronique mais au sens d’un renouvellement […] – zu einer „[…] reconstitution de repères“ 22, d.h. zu einer Kontinuität sichernden, Orientierung ermöglichenden neuen Sicht auf Vergangenes zu gelangen.

Um dem an ihn gerichteten „Totalitätsanspruch“ gerecht zu werden, muss der Roman sowohl die „Innenwelt“ – le dedans –, also das die handelnden Figuren in ihrem Denken und Fühlen Bewegende, als auch die „Außenwelt“ – le dehors –, also die durch Raum und Zeit konstituierten Bedingungen darstellen. Zu diesen beiden elementaren Faktoren gesellt sich „[…] un troisième ingrédient qu’on peut appeler mystère ou secret, une chose qui crée la tension et qui repose autant sur l’art du récit – […] que sur la croyance en la littérature, un troisième ingrédient qui donne à l’œuvre sa troisième dimension.“23 Im Bilde des Eisbergs gesprochen, ist es der unter Wasser liegende Bereich, der die dritte Dimension des Romans ausmacht:

L’exploration est infinie, et le roman […] n’a encore découvert que la surface émergée de l’iceberg, n’a rien couvert encore de l’espace qui va du silence à la parole, de la vie à la mort, n’a rien franchi de cette distance infranchissable qui sépare Achille et la tortue.24

Gewiss mag man Cécile Wajsbrot vorwerfen, dass ihre Erklärungen bzgl. des „mystère de la littérature“ recht vage bleiben.25 Es ist für sie jedoch von entscheidender Bedeutung, dass es in einer durch und durch rationalisierten Zeit, in der man alle Fragen – bis in die „[…] zones obscures de la personnalité […]“26 – für erklärbar hält und den Tod nur noch als ursächlich genau zu bestimmende „Panne“ (accident de parcours) betrachtet, mit dem Roman einen poetischen Raum für das „Geheimnisvolle“ gibt. Das „Geheimnisvolle“, in welcher Form es sich auch äußern mag, bewirkt jedoch, wie Cécile Wajsbrot andeutet, etwas als angenehm Empfundenes: Das „grelle Licht“ einer umfassenden Erklärbarkeit aller Belange des Lebens wird von der das „Geheimnisvolle“ umgebenden Dunkelheit umhüllt und eben dadurch auch erträglicher:

Peu importe la forme ou le visage que prend le mystère, les agissements de quelqu’un, une venue, une disparition, une question d’identité, ce qui compte, c’est qu’il soit là, c’est qu’un peu de ses ténèbres vienne obscurcir enfin la lumière crue.27

Der Unterschied zwischen einer nur an Fakten orientierten, um Aktualität bemühten, abbildhaften „écriture“ und der aus einer zeitlichen und gedanklichen Distanz abwägenden, eine eigene Weltsicht vermittelnden und dabei um Antworten auf existentiell wichtige Fragen ringenden „littérature“ wird auch an dieser Stelle noch einmal besonders deutlich. Aufgrund der hier skizzierten Eigenschaften von „littérature“ kann Cécile Wajsbrot daher auch mit Fug und Recht von der „[…] universalité de la littérature […]“ sprechen, insofern, um eines ihrer Beispiele zu zitieren, Tolstois Krieg und Frieden nicht nur in nostalgischer Erinnerung an die napoleonische Zeit lebende Russen interessieren dürfte.28 Es macht den besonderen Charakter von Literatur aus, dass sich im Beispiel des Einzelfalles stets allgemein Menschliches spiegelt.

Für eine Studie über die Darstellung literarischer Suchbewegungen im Erzählwerk Cécile Wajsbrots liefern die hier zusammengefassten literaturtheoretischen und -historischen Überlegungen der Autorin verschiedene Anhaltspunkte. Dies gilt insbesondere für

ihre These, dass der Roman eine „[…] totalité de la forme et du contenu“ darstellt

ihre Überzeugung, dass das Schreiben eines Romans Vertrautheit einerseits mit der Geschichte und der literarischen Tradition, andererseits mit den örtlich-räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen der Gegenwart (im Sinne der Entstehungszeit des Romans) voraussetzt

ihre Forderung, dass ein „roman littéraire“ dem Anspruch eines Zeitzeugnisses gerecht zu werden habe.

1.3Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots

Einen überaus hilfreichen und gewinnbringenden Zugang zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots eröffnet der bereits in der Einleitung erwähnte, 2010 erschienene, von Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann herausgegebene Sammelband Du Silence à la voix – Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot.1 Einer der Vorzüge des Buches ist, dass die Herausgeberinnen in ihrem einleitenden Aufsatz2 im Sinne einer „grobe[n] Typologisierung“ (S. 9) die thematischen Schwerpunkte des Werks der Autorin vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte und ihres persönlichen Werdegangs herausarbeiten und es insgesamt treffend als „literarische Suchbewegung“ bezeichnen,

die zwar durchaus an historische Dokumente und überlebende Zeitzeugen anknüpft, deren Anliegen es aber ist, den Grenzbereich zwischen dem Sagbaren und dem Ungesagten, zwischen öffentlicher Geschichte und privater Erinnerung, zwischen Gedenken und Vergessen auszuloten.3

Dass neben der Beschäftigung mit historischen bzw. zeitkritischen Themen die Auseinandersetzung mit den Künsten ab Caspar-Friedrich-Strasse (2002) die Romane Cécile Wajsbrots beherrscht, stellen die Herausgeberinnen in einer kritischen Sichtung der bis zum damaligen Zeitpunkt erschienenen Werke dar, indem sie den Zusammenhang zwischen dem „Zyklus der Künste und ihrer Rezeption“ betonen.4 Verdienstvoll ist nicht zuletzt die beigefügte Bibliographie,5 die einen Überblick über die bis 2010 erschienenen Werke Wajsbrots (einschließlich der Hörspiele und einer Auswahl von Übersetzungen aus dem Englischen und Deutschen), Interviews, Rezensionen in der französisch- und deutschsprachigen Presse sowie über die Forschungs- und weiterführende Literatur bietet.

Ein weiterer Vorzug des Sammelbandes ist, dass im Kapitel I Cécile Wajsbrot nicht nur mit dem eigens für den Band verfassten kurzen Erzähltext La Ville de l’oiseau6, sondern auch mit dem literaturtheoretischen Text Traverser les grandes eaux7 und in einem Interview zu Wort kommt, das von Elke Richter und Natascha Ueckmann zum Thema „L’irréparable et la vie quotidienne“ geführt wird.8 Inhaltliche Schwerpunkte des an Pour la littérature (1999) anknüpfenden Essays Traverser les grandes eaux – der Titel wirkt wie ein Echo auf den Haute Mer-Zyklus – sind insbesondere die Auseinandersetzung der Autorin mit der Rolle der Sprache und Literaturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Nouveau Roman, Probleme des eigenen Schreibens und die Bedeutung literarischer Vorbilder. Ein besonderer Akzent des Interviews liegt auf der Frage der Herkunft der Autorin und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für ihr Werk und ihre Wohnsitze in Paris und Berlin.

Zwei Themenkreise, die für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots von besonderer Bedeutung sind, werden in den Aufsätzen der Kapitel II – (Gegen) Das Schweigen schreiben – und III – Dialog der Künste – multiperspektivisch beleuchtet.

In Kapitel II arbeitet zunächst Dominique Dussidour in einer subjektiv-essayistischen Form wichtige Merkmale der Romane Nation par Barbès, Caspar-Friedrich-Strasse, Le Tour du lac und Mémorial heraus und gelangt zu dem Schluss, dass „[…] c’est bien d’un temps et d’un espace à eux, et à eux seuls, non partageables, qu’ont besoin les écrivains […] ils ont autant besoin, et même nécessité, d’un temps et d’un espace communs avec vous, avec tous“9.

Aus einer literarhistorisch-kulturwissenschaftlichen Sicht setzen sich Katja Schubert10 und Margarete Zimmermann11 mit Beaune-la-Rolande (Schubert, Zimmermann) bzw. Le Tour du lac, Mémorial, Conversations avec le maître und L’Île aux musées (Zimmermann) auseinander.

K. Schubert „ [zeichnet] die interne Bewegung des Textes zwischen Beaune-la-Rolande/Auschwitz als Ursprungs- und Gründungsereignis mit mythischen Konnotationen auf der einen und als radikaler universaler Frage auf der anderen Seite [nach]“. Neben einer historischen Kontextualisierung des Textes vermittelt K. Schubert wertvolle Einblicke in die ihn prägenden „Kompositions- und Schreibverfahren“.12

Margarete Zimmermann analysiert die Opposition zwischen „[…] Erinnern und Vergessen, Reden und Schweigen“ im konkreten Rückgriff auf „[…] eine Beschreibung der zu ihnen gehörenden semantischen Felder innerhalb des Wajsbrotschen Œuvres“. Darüber hinaus „[…] ergibt sich über diese Begriffe, vor allem über den des Schweigens, eine Positionierung Cécile Wajsbrots in ihrem Verhältnis zur Tradition der Moderne (hier vor allem zu Virginia Woolf); ferner ist es auf diese Weise möglich, sie präziser im Kontext der Gegenwartsliteratur, des extrême contemporain, zu situieren.“13 In der Literatur der Gegenwart seien Robert Antelme, Charlotte Delbo, Maurice Blanchot, Marguerite Duras und Primo Levi für C. Wajsbrot Autoren, die aufgrund der „[…] Rückholung einer geschichtlichen Substanz in die erzählende Literatur der Gegenwart […] vorbildlich und traditionsstiftend […]“ waren.14 Wichtige literaturtheoretische Positionen der Autorin arbeitet M. Zimmermann unter Bezugnahme auf die Essays Pour la littérature und Le Son du silence heraus.15

In seinem Beitrag „Geschichten vom Erinnern und Vergessen. Überlegungen eines Historikers zu Cécile Wajsbrots La Trahison“16 geht der Historiker Otto Gerhard Oexle, ausgehend von La Trahison, aus historisch-philosophischer Sicht auf die „[…] Problemgeschichte von Gedenken und Vergessen in der Moderne“17 ein. Nach einer historisch-systematischen Auseinandersetzung mit dem „[…]Problem der Historizität der Welt […]“18 skizziert Oexle, u.a. unter Bezugnahme auf die Causa Hans-Robert Jauß, welche Konsequenzen sich aus dem Konflikt zwischen Erinnern und Vergessen bis in die Gegenwart ergeben haben.

In Kapitel III lenken die Aufsätze von Marguerite Gateau – „La place de la radio dans l’œuvre de Cécile Wajsbrot“ –19 und Hans T. Siepe – „Le dégel des paroles gelées oder Das Schweigen erzählen. Zum Thema des Schreibens bei Cécile Wajsbrot“ – 20 die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf die in Deutschland weniger beachteten fiktionalen Texte, die Cécile Wajsbrot für das Radio verfasst hat.

In „Mémorial oder die Verdichtung der Stimme(n)“21 beleuchtet Stephanie Bung einen wichtigen narratologischen Entwicklungsschritt innerhalb des Erzählwerks Cécile Wajsbrots.

In ihrem Beitrag „‚Rien ne retient mon regard‘ – Tex-Bild-Relationen in Fugue“22 erschließt Roswitha Böhm über eine Analyse der Text-Bild-Relationen die tieferen Bedeutungsschichten einer kryptischen Erzählung.

In seinem das Kapitel III beschließenden Aufsatz „’Caspar-David-Friedrich-Strasse’. Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit“23 reflektiert Ottmar Ette zunächst über die Bedeutung verschiedener Phänomene der Abwesenheit in dem Roman, so z.B. die Abwesenheit des Namensteils „David“ im Titel; die Abwesenheit des jüngeren Bruders des Malers, der beim Versuch, seinen Bruder Caspar David vor dem Ertrinken zu bewahren, selber ertrank; oder aber die

materielle Abwesenheit der Bilder […] die vielleicht wichtigste Voraussetzung dafür, dass die stets gegebene Versuchung illustrativer Rückbindung an die Gemälde der Romantik gekappt beziehungsweise weitgehend reduziert und gleichsam eine Allgegenwart der Bilder suggeriert wird.24

Die Abwesenheit der Bilder und ‚Illustrationen‘ erlaube, wie Ette weiter ausführt, „ein freies transmediales Flottieren, in dem sich die ikonischen wie die literarischen Bildersprachen wechselseitig potenzieren.“25 Für Ette ist dies ein Anlass, über die Beziehung zwischen „Geschichte“ und „Leben“ und von diesem Punkt aus über die Funktion von Literatur – und damit über die Bedeutung des Schreibens – nachzudenken:

Literatur […] ist jener Diskurs, der Geschichte aus der Perspektive des Lebens und konkreter Lebensprozesse wahrnimmt und re-präsentiert; vor allem aber ist Literatur ein diskursiver Kosmos, der Geschichte in Leben übersetzt und die einander oft widersprechenden Blickwinkel verschiedenartigster Lebensgeschichten inszeniert. In diesem Sinne ist Literatur ein sich ständig verändernder und zugleich interaktiver, veränderbarer Speicher von Lebenswissen.26

Über das Leben des Schriftstellers-Erzählers in Caspar-Friedrich-Strasse schließlich sagt Ette, dass er versuche, „[…] eine Kunst des Raumes nicht nur in eine Kunst der Zeit, sondern zugleich auch in eine Kunst des Lebens zu übersetzen“27.

Es überrascht nicht, dass auch die übrigen auf verschiedene Publikationen verteilten Beiträge zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots die im Themenfeld I dieser Arbeit vereinten Romane vernachlässigen und sich stattdessen schwerpunktmäßig auf die Thematik beziehen, die in den in den Themenfeldern II und III zusammengefassten Texte vorherrscht. In zwei weiteren Aufsätzen28 stellt Ottmar Ette die Hintergründe und Auswirkungen der „[…] inter- und transkulturellen Relationalität der Statuen […]“ in L’Île aux musées, „die unterschiedlichen Zeiten und Räumen, Gesellschaften und Kulturen entstammen“29, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.30 Überdies charakterisiert er die Welt der Kunst als eine von einer Ander-Logik beherrschte Parallelwelt, durch die „Zeit-Räume“ entstehen, die „[…] die Grenzen individuellen menschlichen Erlebens“31 sprengen. – In dem großen Kontext seines Buches ZwischenWeltenSchreiben32 betrachtet Ette Beaune-la-Rolande als eine „Vergegenwärtigung von Stimmen der Vergangenheit“33 und Mémorial als einen „Echoraum von Stimmen ohne festen Wohnsitz“34.

Cornelia Klettke erkennt in L’Île aux musées eine archipelartig-fraktale, heterotopische Parallelwelt der Kunst, in der die „Heterologie“ der Statuen „[…] une espèce de choralité qui rappelle le chœur des tragédies antiques“ ermöglicht.35 Die Bezüge zwischen dem gedanklichen Aufbau und der ästhetisch-formalen Struktur des Romans werden in einer tiefschürfenden Textanalyse beleuchtet, die den Austausch zwischen den „Inseln der Kunst“, den Protagonisten und den Leserinnen und Lesern folgendermaßen erklärt:

Dans le roman, c’est l’émotionalisation qui semble être la stratégie textuelle prépondérante pour la production du sens. Les œuvres d’art en tant que dépôts d’énergie sont chargées d’intensités émotionnelles qui se transmettent aux protagonistes pour ensuite refluer vers les œuvres d’art. Le roman se révèle empreint d’un mouvement circulaire de transmission d’énergie entre le texte, l’homme et l’œuvre d’art, un mouvement qui englobe également le lecteur.36

Von grundlegender Bedeutung für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema des Holocaust im Erzählwerk Cécile Wajsbrots sind weitere Arbeiten Katja Schuberts.37 Ausgangspunkt ihrer 2001 erschienenen Studie ist „[…] die Überzeugung, dass die Verfasserinnen als Opfer oder als Angehörige und Nachkommen von Opfern extremer Gewalt eine Deutungsautorität in Bezug auf das Geschehen der Shoah und deren Spätfolgen innehaben […]“38. Dabei gelangt Katja Schubert zu der Erkenntnis, dass, „da […] die konkreten Orte des Geschehens ‚Auschwitz‘ nicht mehr existieren, […] Topographien des Gedächtnisses und des Zeugnisses durch das Schreiben selbst geschaffen werden müssen.“39 Sie führt jedoch auch aus, dass „[d]ie nach 1945 geborenen Schreibenden […] dennoch auf verschiedene Weise [versuchen], mit den Orten verbundene Erfahrungen und die dazugehörigen Geschichten der Deportierten einzuholen“40. In ihren 2007, 2008 (und 2010) erschienenen Aufsätzen über Beaune-la-Rolande, La Trahison und Mémorial41 hat Katja Schubert detailliert entfaltet, dass und warum Cécile Wajsbrot als typische Repräsentantin dieser Gruppe von Schriftstellerinnen zu betrachten ist. Wenn Cécile Wajsbrot die Funktion von Literatur anhand der von Rabelais im Quart Livre erzählten Haute Mer-Episode Pantagruels erläutere,42 dann insistiere sie auf einer „[…] approche intertemporelle et intertextuelle malgré et avec Auschwitz“ und demonstriere damit, dass sie sich trotz „Auschwitz“, das den „[…] horizon culturel et politique en Europe […]“43 bis heute definiere, in die literarische Tradition einordne. Sie tue dies umso lieber, als sie hier, womöglich anders als im Bereich der Familie, eine „généalogie intacte“ vorfinde:

La lecture et le commentaire d’autres textes littéraires portent les siens, tissent aussi leurs trames à l’intérieur des siens et créent une polyphonie qui exprime appartenance, interaction et, qui sait, aussi une généalogie intacte, contrairement à la généalogie familiale avec ses multiples ruptures.44

Die Zahl der in Frankreich und in anderen europäischen Ländern erschienenen und für diese Dissertation relevanten Studien ist relativ gering. Zu erwähnen sind die Arbeiten von Matteo Majorano, Fabien Gris, Valeria Gramigna und Teresa Baquedano Morales.45

Sowohl Matteo Majorano als auch Fabien Gris setzen sich mit Caspar-Friedrich-Strasse auseinander. Matteo Majorano charakterisiert den Roman als „[…] un enchevêtrement d’histoire (l’écroulement du mur de Berlin), de réflexion sur l’art, à partir des tableaux de Caspar Friedrich (sic!), et d’un amour impossible, à cause du mur infranchissable qui existe en chacun de nous“46.

Am Ende seines gedanklich vielschichtigen Aufsatzes fasst Fabien Gris die Art und Weise, in der Cécile Wajsbrot die Reflexion über Kunst und Geschichte fiktionalisiert hat, folgendermaßen zusammen:

Avec la fiction élaborée dans Caspar Friedrich Strasse, Cécile Wajsbrot fait partie de ces auteurs qui ont contribué à redéployer les canons de l’histoire de l’art selon de nouvelles logiques – anachroniques, fantomales et figurales –, qui échappent a priori au seul décryptage des intentions du peintre. En cela, n’a-t-elle pas suivi Friedrich lui-même qui, fidèle à l’esprit du romantisme, donnait ce conseil: „L’un des plus grands mérites et peut-être le plus grand mérite d’un artiste [est] de stimuler intellectuellement et d’éveiller des pensées, des sentiments et des sensations chez le spectateur, quand bien même ce ne serait pas les siennes“?47

Valeria Gramigna arbeitet in ihrer Studie über Stadtromane die besondere Bedeutung heraus, die in Fugue der Beziehung zwischen dem Text und den Fotografien von Brigitte Bauer sowie der Funktion der „écriture“ für die Erzählerin-Protagonistin zukommt.48 In einem Aufsatz mit einer ähnlichen Thematik konzentriert sich Teresa Baquedano Morales in dem auf das Werk von Cécile Wajsbrot bezogenen Abschnitt in Anlehnung an Augés Theorie der „non-lieux“ auf die Art und Weise, in der in Nation par Barbès das Schicksal Anielas mit der Métro als einem klassischen „non-lieu“ verknüpft ist.49

Obwohl Cécile Wajsbrot die Bedeutung des Raumes für ihr Schreiben deutlich betont hat50 und R. Böhm und M. Zimmermann das Erzählwerk Wajsbrots bereits 2010 als „literarische Suchbewegung“ bezeichnet haben, hat die Forschung die Romane und Erzählungen der Autorin bislang nicht systematisch unter diesem Aspekt in den Blick genommen. Die vorliegende Studie erfüllt folglich ein Desiderat, das umso dringender erscheint, da die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Literatur insgesamt seit geraumer Zeit verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist.

1.4Anmerkungen zur Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots in Frankreich und Deutschland

Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann haben bereits ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich bzgl. der Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots deutliche Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland abzeichnen.1 Da eine gründliche und belastbare Antwort empirische Studien, die im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten sind, voraussetzte, seien hier nur zwei Beobachtungen zitiert, die erkennen lassen, dass die Erinnerung an den Holocaust in Frankreich und Deutschland bis in die jüngere Vergangenheit sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrief.

Bereits 2001 vermutete Katja Schubert, dass ein Roman wie La Trahison aufgrund der „[…] direkte[n] Auseinandersetzung im Frankreich der 90er Jahre zwischen einer Jüdin und einem Nichtjuden […] von einem französischen Publikum auch als eine Provokation und als eine neuartige, jedoch weitgehende Hinterfragung der eigenen Geschichte gelesen werden [konnte]“2. Das besondere deutsche Interesse für jene Romane Cécile Wajsbrots hingegen, die sich mit einer historischen Thematik auseinandersetzen, mag sich aus einem Phänomen erklären, das sie selber sehr bewusst wahrgenommen hat. Im ersten Kapitel ihrer Essaysammlung Berliner Ensemble zeigt sich die zwischen Paris und Berlin pendelnde Autorin angesichts des Berliner Stadtbildes dermaßen beeindruckt „[…] par la présence du passé, des plaques commémoratives rapportant les événements les plus sombres et par la croyance – concrétisée par le nombre de grues et de chantiers – en un avenir“, dass sie sich fragt: „Où est le présent?“3 Und in einem Gespräch mit Hélène Cixous stellt sie in einem Rückblick auf ihre inzwischen dreizehn Berliner Jahre fest, dass es in dieser Zeit wohl keinen einzigen Tag gegeben habe, an dem die Zeitungen oder das Radio nicht auf den Nationalsozialismus oder die Judenvernichtung – l’extermination – hingewiesen hätten. Zumindest zu Beginn habe sie für diese Einstellung eine stärkere Affinität empfunden als für „[…] l’amnésie et la bonne conscience – ou faut-il dire l’inconscience mauvaise – françaises“4. Unstrittig ist, dass in Deutschland aufgrund der historischen Schuld des Landes die Sensibilität für Themen, die auf den Holocaust bezogen sind, stärker ausgeprägt ist als in Frankreich, das seine durch die Kollaboration herbeigeführte Verstrickung in den Holocaust bekanntlich lange verdrängt hat.

Im Hinblick auf L’Île aux musées, den zweiten Haute Mer-Roman, stellen R. Böhm und M. Zimmermann die Frage, ob die schwache Resonanz in Frankreich der „[…] allzu radikalen ‚Verstimmlichung‘ und ‚Entkörperung‘ der Protagonisten, die für manchen Leser blass und konturenlos bleiben“,5 geschuldet sei. Im Übrigen dürfe man „gespannt sein“, ob das Interesse für die Romane Cécile Wajsbrots auf französischer Seite wachse, sobald der – mittlerweile immerhin in vier Bänden vorliegende – als Pentalogie geplante Haute Mer-Zyklus vollständig vorliege. Angesichts der Experimentierfreudigkeit der Autorin, die sich im Laufe ihrer Entwicklung immer stärker einer abstrakt-theoretischen Thematik zugewandt hat und deren sich von Roman zu Roman verändernde Erzählweise dem Leser eine beträchtliche Verstehensleistung abverlangt, ist (leider) weder für Frankreich noch für Deutschland zu erwarten, dass die Romane Cécile Wajsbrots Auflagenrekorde erzielen werden.

2Darstellung des literarischen Raums

Ansgar Nünning hat den Terminus „Raumdarstellung“ als „[…] Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaften, Naturerscheinungen und Gegenständen in verschiedenen Gattungen“1 bezeichnet. Unter Bezugnahme auf Jurij Lotman weist Nünning darauf hin, dass die Funktion der Raumdarstellung in literarischen Texten sich keineswegs in einer „[…] Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds“2 erschöpfe, sondern, wie Natascha Würzbach betone, vielmehr auch als „[…] fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung […]“3 fungiere. In ähnlicher Weise argumentiert Karin Wenz, wenn sie feststellt, dass der literarische Raum zwar „als Kulisse für Handlungen“ diene, aber darüber hinaus „[…] zum Resonanzboden für Emotionen und Stimmungen und somit zur Projektionsfläche geistig-seelischer Inhalte […] oder […] zum Medium für symbolische oder mythische Weltentwürfe [werde]“.4 Wenn man sodann berücksichtigt, dass der Begriff „Raum“ grundsätzlich zunächst auch philosophisch zu hinterfragen ist, tut sich ein überaus weiter Frage- und Problemhorizont auf, der eine Konzentration auf die für die Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit relevanten Aspekte erfordert. Dabei geht es darum, jene Aspekte der Raumkonstitution zu beleuchten, die als Matrix für die Formulierung von Leitfragen im Hauptteil der Arbeit dienen können.

2.1Von Ernst Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung

„Raum“ bzw. „Räumlichkeit“ haben nicht nur die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt,1 sie sind als eines der konstitutiven Elemente des Romans seit jeher auch Forschungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Allerdings wurde das Erkenntnisinteresse der „[…] historischen, archäologischen und philologischen Wissenschaften […]“ nach 1800 – nicht zuletzt unter dem Einfluss Hegels und des deutschen Idealismus – in stärkerem Maße „[…] durch temporalisierende Wissensformen […]“2 gelenkt und geprägt. Vor diesem Hintergrund hält Birgit Neumann das Urteil Böhmes, dass der „Raum wie ein unreiner Stiefbruder der Königin Zeit behandelt wurde“, für nachvollziehbar.3 So spielt sowohl in älteren als auch in neueren Texten zur Erzähltheorie „Raum“ als eine der Grundkategorien der Erzähltheorie kaum eine Rolle,4 obwohl Doris Bachmann-Medick zu Recht darauf hinweist, dass „[i]n der Literaturwissenschaft […] der „erzählte Raum“– von der Phänomenologie bis zur Semiotik des literarischen Raums – schon längst vor dem spatial turn behandelt worden [ist]“5. Als unumstößliche Tatsache hat jedoch auch zu gelten, dass im Zuge der Integration der Philologien in den Bereich der Kulturwissenschaften die Bedeutung des Räumlichen in der Literatur im Allgemeinen und im Roman im Besonderen verstärkt in den Blick gerückt und neu akzentuiert und bewertet worden ist. Den ersten Anstoß dazu gab bereits im Jahre 1967 Michel Foucault in einem vor Architekten in Paris gehaltenen Vortrag über Heterotopien, den er mit einer klaren Abgrenzung des 20. vom 19. Jahrhundert einleitete:

Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte: Themen wie Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergangenen, die gewaltige Zahl der Toten, die bedrohliche Abkühlung des Erdballs. […] Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.6

Ein Wandel hat auch im Hinblick auf das Verständnis der Kategorie „Raum“ an sich stattgefunden. Wenn Doris Bachmann-Medick allerdings unter Berufung auf „[…] postmoderne Geographen […]“ wie z.B. Edward W. Soja feststellt, dass „[…] in der neuen Konzeptualisierung […] Raum gerade nicht Territorialität, Behälter von Traditionen [meint]“, sondern vielmehr zu verstehen ist als „[…] soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten“,7 so mag man zwar die in der Definition durchscheinenden gesellschaftspolitischen Implikationen als Novität betrachten, der prozessual-dynamische Argumentationsansatz hingegen ist keineswegs neu. So hat Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen in einem großen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang,8 in nuce in einem 1930 gehaltenen Vortrag zum Thema Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum in Anlehnung an Leibniz „[…] die wahre Natur von Raum und Zeit […]“ mittels des Begriffs der „Ordnung“ bzw. der „Beziehung“ erklärt.9 Raum und Zeit sind für Cassirer, anders als noch für Kant, der in ihnen apriorisch Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis erkannte und sie zu „[…] existierenden Undingen […]“10 erklärte, durch den Begriff der „Ordnung“ der metaphysischen Kategorie der „Substanz“, also dem „Sein“, übergeordnet. „Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern vielmehr ‚reale Relationen‘; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der ‚Wahrheit von Beziehungen‘, nicht an irgendeiner absoluten Wirklichkeit.“11 Die sich daraus ableitenden Konsequenzen sind eindeutig: Wenn Raum und Zeit keinen Seinscharakter haben, fehlt ihnen „[…] die absolute Identität, die Einheit und Einerleiheit in sich selbst, [die] den logischen Grundcharakter des Seins [bildet]“.12 Die Ordnung hingegen zeichnet sich aus durch „[…] das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit […]“ und der „[…] Mannigfaltigkeit […]“.13 Für Cassirer hat dies epistemologisch den großen Vorteil, dass „[u]nter der Herrschaft des Ordnungsbegriffs […]“14 Raum nicht mehr in seiner Dinghaftigkeit gesehen, sondern dass die Welt insgesamt als ein „[…] System von Ereignissen […]“ betrachtet wird, in dessen „[…] gesetzliche Ordnung […] Raum und Zeit als Bedingungen, als wesentliche und notwendige Momente [eingehen]“. 15 Damit praktiziert Cassirer eine große Offenheit des Denkens, deren anfängliche Unbestimmtheit und Unbegrenztheit jedoch durch den Ordnungsbegriff bestimmt und eingegrenzt werden. Dies geschieht einerseits auf der begrifflichen Ebene durch „[…] die reine Denkfunktion“, andererseits durch „[…] die Funktion der künstlerischen Anschauung und Darstellung“.16 Letztere erfüllt die kritische Funktion der „Sonderung“ und „Verknüpfung“ nicht begrifflich-theoretisch, sondern indem „[…] sie individuelle Gebilde erstehen [lässt], denen die schaffende Phantasie, aus der sie entstammen, den Atem des Lebens einhaucht, und die sie mit der ganzen Frische und Unmittelbarkeit des Lebens begabt“.17 Der autonome Charakter jedes einzelnen Kunstwerks könnte kaum stärker betont werden als durch die Hervorhebung seiner Individualität und Vitalität. Und so gilt für die Wahrnehmung und Gestaltung des Raums folgerichtig nicht eine „[…] schlechthin feststehende Raum-Anschauung […]“, vielmehr „[erhält] der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung […], innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet“.18 Diese Sinnordnung ist nicht als eine „[…] schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur […]“19 zu denken, sondern sie resultiert aus der jeweiligen Anschauungsweise, in und aus der sich Raum konstituiert. Cassirer unterscheidet den mythischen vom ästhetischen und theoretischen Raum. Der mythische Raum korrespondiert mit einer „Denkform“ und einem „Lebensgefühl“, die sich, wenn es z.B. darum geht, ein Oben und Unten oder die Himmelrichtungen zu unterscheiden, nicht an mathematisch-physikalischen Kategorien, sondern an „magischen Zügen“ und an der jedem Ort innewohnenden „eigentümlichen Atmosphäre“ orientieren.20 Sowohl die Ganzheit des mythischen Raumes als auch seine „[…] Gestaltung und Gliederung im einzelnen […]“ sind nur im Lichte der „[…] universellen ‚Sinnfunktion‘ des Mythos […]“21 zu verstehen. Der ästhetische Raum hingegen führt uns in „[…] die Sphäre der reinen Darstellung“. Und wiederum ist zu beachten, wie sich Cassirer die „Konstitution“ des ästhetischen Raums „[…] in den bildenden Künsten, in der Malerei, der Plastik, der Architektur […]“ (und sicherlich auch im literarischen Text) vorstellt. Auf keinen Fall handelt es sich um eine photographisch exakte Wiedergabe, „[…] ein bloßes passives ‚Nachbilden‘ der Welt […]“. Vielmehr entsteht „[…] ein neues ‚Verhältnis‘, in das sich der Mensch zur Welt setzt“.22 Cassirers Vorstellung vom (ästhetischen) Raum wird somit nicht von einem statischen Bild, von einer vorzufindenden Gegebenheit geprägt, vielmehr erwächst sie aus einer subjektbezogenen, das Verhältnis von Raum und Zeit systematisch aufeinander beziehenden Sichtweise.23 Verständlicherweise betont Cassirer daher auch, dass der ästhetische Raum im Unterschied zum theoretischen Raum, der nur „gedacht“ wird, echter „Lebensraum“ ist, der jedoch nicht „[…] aus der Kraft des reinen Denkens, sondern aus den Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist“.24 Mit dem mythischen ist der ästhetische Raum insofern verwandt, als beide „[…] konkrete’ Weisen der Räumlichkeit sind“.25 Auch den künstlerischen Raum sieht Cassirer „[…] durchsetzt mit den intensivsten Ausdruckswerten“.26 Zugleich jedoch erkennt er eine gewachsene Distanz zwischen dem Subjekt und dem dargestellten Objekt, die darauf zurückzuführen ist, dass sich der Mensch durch „[…] zeitlich bestimmte, chronologische Reflexionsformen […]“ aus der „[…] Topologik des mythischen Lebensraums […]“27, d.h. aus dem „[…] Wechselspiel von Kräften, die [ihn] von außen her ergreifen und […] kraft ihrer affektiven Gewalt überwältigen“ 28, befreit. Dabei ist, wie Lüdeke betont,29 ästhetische Raumerfahrung nicht mit rational-analytischer Welterklärung zu verwechseln. Vielmehr liege der Vorzug des Ästhetischen darin, nicht der Zweckhaftigkeit und den Handlungszwängen alltäglicher Lebensbewältigung zu unterliegen, sondern „als Vermittlungs- und Reflexionsmedium“ zu dienen. Der Akt der ästhetischen Raumkonstitution ist ohne die Freiheit des Subjekts nicht vorstellbar. Cassirer hat jedoch auch die Konsequenzen im Blick, die sich aus dieser Freiheit ergeben:

Die echte ‚Vorstellung‘ ist immer zugleich Gegenüber-Stellung; sie geht aus vom Ich und entfaltet sich aus dessen bildenden Kräften; aber sie erkennt zugleich in dem Gebildeten ein eigenes Sein, ein eigenes Wesen und ein eigenes Gesetz – sie lässt es aus dem Ich erstehen, um es zugleich gemäß diesem Gesetz bestehen zu lassen und es in diesem objektiven Bestand anzuschauen. So ist der ästhetische Raum […] ein Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt.30

Mit dieser Definition der ästhetischen Raumkonstitution stellt Cassirer bereits eindeutig ein semiotisches Verständnis von Raum unter Beweis: Er formuliert die Vorstellung, dass ein schöpferisches Subjekt Raumsignifikation schafft oder, anders ausgedrückt, dass der Raum seine Struktur der sinnstiftenden, kreativen Tätigkeit eines „Ich“, also eines Künstlers verdankt, dann aber seins-, wesens- und gesetzmäßige Eigenständigkeit gewinnt.

Somit verdienen die folgenden Aspekte besondere Beachtung:31

Jeder Akt der Raumkonstitution ist ein subjektbezogener Prozess. Die Raumwahrnehmung und -darstellung wird subjektiv und intersubjektiv durch mannigfaltige Prozesse beeinflusst, die ihrerseits durch zeitbedingte Faktoren, aber auch durch arbiträre Entscheidungen und unterschiedliche Gefühlslagen gesteuert werden können.

Der im literarischen Text repräsentierte Raum wird bei jedem Leseakt neu konstituiert. Die daraus resultierende Vielfalt unterschiedlicher Raumdeutungen birgt insbesondere im Kontext der kolonialen und postkolonialen Literatur ein nicht unerhebliches Konfliktpotential.32 Dies gilt sicherlich mehr oder weniger für alle Texte, denen eine kontroverse historische Thematik zugrunde liegt.

Die Subjektivität, Aspektgebundenheit und Zeitbedingtheit der Raumdarstellung können zur Folge haben, dass jeder an der Raumsemiosis Beteiligte „Aktant im wahrgenommenen Wirklichkeitsraum“33 ist bzw. werden kann, d.h. konkrete Handlungsfunktionen bzw. -interessen vertritt.

Der Prozess der Raumwahrnehmung und -darstellung ist ein komplexer Vorgang, bei dem die einen (künstlerischen) Raum konstituierende Person eine Vielzahl von auditiven, visuellen, olfaktorischen und haptisch-taktilen Sinneseindrücken aufzunehmen, zu verarbeiten, zu ordnen und nicht zuletzt mit früheren Erfahrungen zu korrelieren hat.34 Zu unterscheiden ist dabei u.a. zwischen der Wahrnehmung von

Räumen, deren Erschließung Bewegung voraussetzt

Geräuschen und Klängen, Formen und Farben, Düften und Gerüchen, Gewichten und Oberflächen

Menschen und anderen Lebewesen, ihrem individuellen Aussehen und Verhalten

einer Vielfalt von – symbolisch oder sprachlich-diskursiv – vermittelten Anordnungen der Raumdeutung bzw. -nutzung

Angesichts der Fülle von Eindrücken, die in den Prozess der Raumsemiosis eingehen, muss man sich den Akt der Raumkonstitution „[…] als eine komplexe kognitiv-semiotische Tätigkeit und [einen] holistischen, synästhetischen und bedeutungssynthetisierenden Akt, der zudem […] sehr selektiv ist“35, vorstellen. Das Merkmal der Selektivität gilt gerade auch für die literarische Darstellung von Räumen, da die komplexe Wahrnehmung eines Raumes, die stets auf einer Vielzahl von Sinneseindrücken sowie kognitiv vermittelter Daten und Informationen beruht, nur so sprachlich angemessen „übersetzbar“ ist. Auch wird man ein inhaltlich-darstellerisches Interesse an der Selektion bzw. an der Hervorhebung von Besonderheiten und Details voraussetzen dürfen.

Die Erinnerung an jegliche sich aus vielfältigen Sinneseindrücken ableitende Raumwahrnehmung ist eindeutig dominant visuell gesteuert. Dies berichten bereits Cicero und Quintilian in einer Geschichte über den Dichter Simonides, der an einem Festbankett teilnahm, dann aber aus dem Saal gerufen wurde. Kurze Zeit später stürzte die Saaldecke ein, Gastgeber und Gäste waren unter den Trümmern begraben und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Simonides vermochte jedoch mühelos alle Toten zu identifizieren, da er sich den Sitzplatz jedes Einzelnen eingeprägt hatte.36 Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung beschränkt sich jedoch nicht auf die detektivische Aufklärung spezieller räumlicher Gegebenheiten, sie dient vielmehr der Erschließung von Welt schlechthin. In welchem Maße dies für die Literaturwissenschaften relevant ist, hat insbesondere Jurij M. Lotman in seinen Überlegungen zur Semiotik des Raums aufgezeigt. Die Entwicklung seiner Gedanken soll daher in einem größeren Kontext nachgezeichnet werden.

2.2Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums

Der 1922 geborene russische Literaturwissenschaftler Jurij M. Lotman, der ab 1954 bis zu seinem Tod 1993