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In José Saramagos Version der Geschichte Jesu trifft man auf eine Christusfigur, die durch und durch menschliche Züge aufweist: Lebenshungrig und sinnenfroh, aber auch ängstlich und zweifelnd geht sie durch die Welt. Der bedeutende portugiesische Schriftsteller rüttelt in seiner gewagten Interpretation der "Heilandsgeschichte" an den Fundamenten unserer Kultur und stellt mit beeindruckender Radikalität Geschichte, Religion und Legende in Frage.
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Seitenzahl: 679
Veröffentlichungsjahr: 2014
José Saramago
Das Evangelium nach Jesus Christus
Roman
Aus dem Portugiesischen von Andreas Klotsch
Atlantik
Für Pilar
Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.
Lukas 1,1-4
Quod scripsi, scripsi.
Pilatus
Die Sonne zeigt sich in einem der oberen Winkel des Rechtecks, auf der linken Seite, vom Betrachter aus gesehen, das Königsgestirn hat das Aussehen eines Menschenkopfs, von dem im Schwall Strahlen grellen Lichts und gewundene Flammen ausgehen, als wäre sich da eine Windrose unschlüssig über die von ihr anzupeilenden Himmelsrichtungen, und dieser Kopf hat ein Antlitz, das weint, verkrampft in einem Schmerz, der nicht nachlässt, und der offene Mund presst einen Schrei heraus, den wir nicht hören können, denn nichts von all diesen Dingen ist wirklich, was wir vor uns haben, ist Papier und Tinte, mehr nicht. Unterhalb der Sonne sehen wir einen an den Schaft eines Baumes gefesselten nackten Mann, dessen Lenden ein Tuch umschlingt und jenen Körperteil bedeckt, den wir Geschlecht oder Scham nennen, und die Füße hat er abgesetzt auf das, was von einem gekappten seitlichen Ast übrig ist, allerdings, zu besserem Halt, damit sie von dieser natürlichen Stütze nicht abgleiten, halten zwei Nägel sie fest, tief eingeschlagene. Der Miene zufolge, die verinnerlichtes Erleiden ausdrückt, und der Richtung des Blicks nach, hoch hinan, ist es gewiss der Gute Schächer. Das Haar, ganz in Kringellocken, dürfte ein weiteres untrügliches Zeichen sein, weiß man doch, dass Engel und Erzengel es so tragen, und der reuige Verbrecher ist augenscheinlich schon aufwärts unterwegs, in die Welt der Himmelsgeschöpfe. Nicht feststellen lässt sich, ob dieser Stamm noch Baum ist, nur eben durch gezielte Verstümmelung Hinrichtungsinstrument wurde, sich jedoch durch die Wurzeln weiter nährt aus der Erde, denn seinen unteren Teil verdeckt in Gänze ein Mann von langem Bart, der kostbare, weite, reich wallende Gewandung trägt und ebenfalls in die Höhe schaut, aber nicht zum Himmel auf. Die feierliche Haltung, dieses betrübte Antlitz, das kann nur Josef von Arimathäa sein, denn Simon von Zyrene, zweifellos eine andere mögliche Erwägung, hat sich nach ihm auferzwungener Müh, nachdem er dem Verurteilten beim Tragen des Kreuzes geholfen, zu seinem Tagwerk begeben, weitaus besorgter um die Folgen der Verspätung in einem verabredeten Geschäft denn um die tödlichen Bekümmernisse des zur Kreuzigung bestimmten Unglücklichen. Nun, besagter Josef von Arimathäa ist jener gütige und wohlhabende Mann, der eine ihm gehörende Grabstätte zur Verfügung stellte, damit in sie der erlesene Leib gelagert würde, doch so edle Freigebigkeit wird ihm nicht viel nutzen in der Stunde der Heiligungen, noch nicht einmal der Seligsprechungen, denn sein Haupt umhüllt nur eben ein Turban, mit dem er alle Tage ausgeht, im Gegensatz zu dieser Frau hier im Bildvordergrund, sie mit gelösten Haaren über den krumm gebeugten Schultern, aber geschmückt von der höchsten Gloriole eines Heiligenscheins, der sich bei ihr wie hausgemachte Stickerei abhebt. Mit Sicherheit heißt die da kniende Frau Maria, wussten wir doch von vornherein, dass alle hier versammelten Frauen diesen Namen tragen, nur eine, weil außerdem Magdalena geheißen, unterscheidet sich onomastisch von den anderen, allerdings wird jedweder Beobachter, sofern hinlänglich vertraut mit den elementaren Tatsachen des Lebens, schon beim ersten Hinschauen fest versichern, eben sie sei die erwähnte Magdalena, denn nur eine Person wie sie, von ausschweifender Vergangenheit, könne es gewagt haben, in der Stunde des Verhängnisses mit so offenem Dekolleté aufzutreten, und einem so straff sitzenden Mieder, dass es ihr die Rundungen der Brüste hebt und hervorkehrt, weshalb sie, unvermeidbar, den lüsternen Blick der vorbeigehenden Männer auf sich lenkt und festhält, sehr zum Schaden der Seelen, die der schändliche Leib solcherweise ins Verderben zieht. Allerdings ist ihre Miene Zerknirschung und Trauer, und des Körpers Hingabe drückt nur den Schmerz einer Seele aus, einer freilich von verführerischen Fleischmassen umhüllten, die wir zu beachten haben, wir meinen die Seele, freilich, denn diese Frau könnte gar auch splitternackt sein, gesetzt, man hätte sie lieber in solchem Zustand dargestellt, und wir müssten ihr dennoch Achtung und Ehre erweisen. Maria Magdalena, sofern sie es ist, hält schirmend und offenbar zu küssen bereit, mit einer in Worten nicht ausdrückbaren Geste des Erbarmens, die Hand einer anderen Frau, die nun in der Tat zur Erde gesunken ist, wie aller Kräfte bar oder auf den Tod verwundet. Auch ihr Name ist Maria, sie die zweite im Ablauf der Vorstellung, aber, ohne Zweifel, dem Range nach die allererste, sofern die zentrale Stelle, die sie in der unteren Region der Komposition einnimmt, irgend von Belang ist. Ausgenommen das tränenüberströmte Gesicht und die schlaffen Hände, ist von ihrem Körper nichts zu sehen, da ihn die vielen Falten des Umhangs verhüllen als auch der Tunika, die ein derber Strick gürtet, wie man errät. Sie wirkt älter als die andere Maria, und das ist doch wohl ein guter, indes nicht der einzige Grund, weshalb ihre Aureole komplexere Zeichnung hat, das zumindest dürfte mutmaßen, wer, auch wenn nicht genau in Kenntnis der diese Welt regierenden Vorränge, Patente und Hierarchien, zu einem Urteil genötigt wäre. Nun aber, bedenkt man den Grad der Verbreitung, dank höherer und niederer Künste, von solchen Ikonographien, würde nur ein Bewohner von anderem Stern, sofern sich auf jenem dieses Drama nicht irgendwann wiederholte oder dem unseren voraus abspielte, würde nur dieses in Wahrheit unvorstellbare Wesen nicht wissen, dass jene schmerzvoll bekümmerte Frau die Witwe eines Josef genannten Zimmermanns ist und Mutter vieler Knaben und Mädchen, aus deren Schar sich, vom Schicksal erkoren, oder jenem, der es regiert, indes nur ein einziges ihrer Kinder fruchtbar hervortat, mittelmäßig zu Lebzeiten, mehr aber nach dem Tode. Maria, die Mutter Jesu, denn hier war soeben er gemeint, beugt sich über ihre linke Seite vor und stützt den Unterarm auf die Hüfte einer weiteren knienden Frau, die ebenfalls Maria heißt und letztlich, obwohl wir ihr Dekolleté nicht sehen noch es erahnen, vielleicht die wahre Magdalena ist. Wie die erste in der Dreiheit von Frauen hat auch sie auf die Schultern fallendes loses langes Haar, dieses nun aber wirkt sehr blond, sofern der abweichende Pinselstrich nicht reiner Zufall, leichter hier und Freiräume lassend zwischen den Strähnen, was dem Graveur, verständlicherweise, Gelegenheit gab, die Frisur im Farbton aufzuhellen. Solche Überlegungen mögen nicht zur Behauptung herhalten, Maria Magdalena sei in der Tat Blondine gewesen, wir fügen uns lediglich dem Drall der Meinungsmehrheit, die sich darauf versteift, in jenen, die blond sind, ob von Natur oder gefärbt, die wirkungsvollsten Instrumente der Sünde und der Verderbnis zu erblicken. Da Maria Magdalena, weiß man allgemein, ein so sündiges Weib war, so verderbt wie selten eine, müsste sie, den von der halben Menschheit im Guten als auch im Schlechten erworbenen Überzeugungen gerecht, blond gewesen sein. Allein, nicht weil diese dritte Maria im Vergleich mit der anderen von Antlitz und in Haarfarbe heller dünkt, wollen wir, gegen die umwerfenden Augenscheinlichkeiten eines tiefen Ausschnitts und einer anbieterisch gezeigten Brust, erwägen und vorschlagen, sie sei die Magdalena. Ein anderer, höchst überzeugender Beweis stützt und bestätigt unsere Mutmaßung, und zwar hebt besagte Frau, obschon sie mit zerstreuter Hand die hinfällig erschöpfte Mutter Jesu schirmt, hebt sie, jawohl, den Blick in die Höhe, und dieser Blick, von wahrer und inbrünstiger Liebe, schwingt sich so kraftvoll auf, dass er, meint man, den Körper in Gänze mit fortträgt, all sein fleischliches Sein, gleichsam strahlende Aureole und imstande, den Lichthof zu überstrahlen, der ihr Haupt bereits umgibt und Gedanken und Gefühle mindert. Nur eine Frau, die so heftig liebte wie unserer Vorstellung nach Maria Magdalena, wäre eines solchen Blickes fähig, womit letztendlich bewiesen ist, dass sie es ist, keine andere, und also ausgeschlossen auch jene neben ihr befindliche, vierte Maria, die in frommer Gebärde dasteht, die Hände halb erhoben, jedoch mit vagem Blick, auf dieser Seite der Gravüre einem jungen Mann Gesellschaft leistend, der kaum mehr als ein Jüngling ist und geziert das linke Bein winkelt, so, am Knie, während die geöffnete rechte Hand affektiert theatralisch auf die gegen den Boden geduckte Frauengruppe weist, der es oblag, das Dramatische des Vorgangs ins Bild zu setzen. Besagte noch so junge Person mit lockigem Haar und bebender Lippe ist Johannes. Wie Josef von Arimathäa verdeckt er mit dem Körper den unteren Teil eines weiteren Baumstammes, der in der Höhe, da, wo sonst die Nester, ebenfalls einen nackten Mann trägt, auch er mit Nägeln angeheftet, jedoch von glattem Haar, und sein Kopf hängt herab, er schaut zur Erde, sofern er das noch vermag, und sein mageres und schmutziges Gesicht dauert einen, im Gegensatz zu dem des Räubers der anderen Seite, der uns selbst noch in den letzten Zügen, im leidensvollen Hinsterben, ein Gesicht vorzeigt, das wir uns, auch wenn hier der Farbe bar, ohne Mühe als rosig vorstellen können, denn er führte einst genüssliches Diebesleben. Dieses jämmerliche Überbleibsel aber, ausgemergelt, strähnig, sein Kopf herabgesackt, zur Erde hin, die ihn verschlingen wird, zweimal verdammt, zum Tode und zur Hölle, er kann nur der Böse Schächer sein, ein höchst aufrechter Mann gleichwohl, von genügend Bewusstheit und Schneid, um, unter dem Druck der göttlichen und der menschlichen Gesetze, nicht so zu tun, als glaubte er, eine Minute der Reue reichte aus, mit ihr ein ganzes Leben voller Schurkereien oder eine Stunde der Schwachheit wettzumachen. Über ihm, ebenfalls weinend und klagend wie die Sonne vornan, sehen wir den Mond, vom Antlitz einer Frau, der, unpassend, ein Ring das Ohr ziert, eine Kühnheit, die sich ehedem kein Künstler oder Dichter erlaubt haben mag, und wohl auch nicht danach, trotz dieses Vorbilds. Die Sonne und dieser Mond erhellen die Erde gleichermaßen, und das Licht ist raumfüllend, wirft keine Schatten, darum lässt sich so klar erkennen, was am Horizont ist, im Hintergrund, nämlich Türme und Mauern, eine Zugbrücke über einem Graben, in dem Wasser schillert, gotische Giebel auch, und dort, fern, auf der Kuppe eines letzten Hügels, die reglosen Flügel einer Windmühle. Etwas näher, dank trügerischer Perspektive, lassen vier mit Helm, Lanze und Rüstung bewehrte Ritter ihre Pferde prahlerische Kunststückchen der hohen Schule machen, doch die Gesten erwecken den Eindruck, dass sie am Ende ihrer Vorstellung sind, gewissermaßen eine unsichtbare Zuschauerschar grüßen. Ebensolchen Eindruck von Festende vermittelt jener Infanteriesoldat, der mit erstem Schritt den Rückzug antritt, in der rechten Hand einen hängenden Gegenstand, der aus der Ferne betrachtet ein Tuch sein könnte, indes auch ein Umhang oder eine Tunika, während andere zwei, sofern auf solche Distanz aus den winzigen Gesichtern Gemütsregungen ablesbar, irgendwie Verwirrung und Verdruss bekunden, mit der Miene dessen, der spielte und verlor. Hoch über solcherlei Plattheiten von Armeeleuten und ummauerter Stadt schweben vier Engel, deren zwei, in Gänze dargestellt, weinen, aufbegehren und klagen, hingegen ein dritter, ernst und in sein Tun vertieft, einen aus des Gekreuzigten rechter Weiche spritzenden Blutstrahl bis auf den letzten Tropfen in einer Schale auffängt. An diesem Ort, Golgotha geheißen, haben viele das eine Unabwendbare erlitten, viele andere werden es noch erleiden, doch einzig diesem Manne hier, nackt, Füße und Hände an ein Kreuz genagelt, Sohn Josefs und der Maria, mit Namen Jesus, ihm allein wird die Zukunft die Ehre der Initialmajuskel einräumen, alle anderen gelangen über den Rang minderer Gekreuzigter nie hinaus. Er ist es, zu dem Josef von Arimathäa und Maria Magdalena aufschauen, seinethalben weinen Sonne und Mond, und ihn pries gerade eben noch der Gute Schächer, während der Böse ihn höhnte, weil er nicht begriff, dass es einen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen nicht gibt, oder falls doch, so ist es nicht dieser, denn Gut und Böse bestehen nicht an und für sich, das eine ist stets nur die Abwesenheit des anderen. Über seinem Haupte prangt, gleißend vor tausend Strahlen, heller als Sonne und Mond, eine Tafel mit lateinischen Lettern, die ihn als König der Juden auspreisen, und umflochten ist sein Haupt von einer peinigenden Dornenkrone, wie sie, und zumal nicht nach außen blutend, unbewusst all jene Menschen tragen, denen es außerdem verwehrt ist, König in eigener Person zu sein. Anders als die zwei Räuber steht Jesus nicht im Genuss einer Fußstütze, und die ganze Last seines Körpers hinge an den am Balken festgenagelten Händen, wäre in ihm nicht noch ein Funken Leben, hinlänglich viel, um sich bei durchgedrückten Knien noch aufrecht zu halten, doch bald wird es ihm zu Ende gehen, das Leben, unterdessen das Blut, wie gesagt, weiter aus der klaffenden Leibwunde schießt. Zwischen den zwei Keilen, die das Kreuz senkrecht halten, und wie dieses eingeführt in den dunklen Erdspalt, der eine so schlecht heilbare Wunde ist wie jedwedes Menschengrab, liegt ein Totenkopf, ein Beinknochen und ein Schulterblatt, doch das Wichtige für uns ist der Schädel, nämlich Golgotha heißt Schädel, es scheint ein Wort aber nicht genau dem anderen und sich selbst zu entsprechen, einen Unterschied würden wir schon feststellen, wenn wir anstatt Golgotha heißt Schädel Schädel heißt Golgotha schrieben. Nicht bekannt ist, wer diese Knochenreste hergelegt hat und warum, ob es etwa nur ein den unglücklichen Gerichteten geltender spöttisch-makabrer Hinweis auf ihren künftigen Zustand war, ehe sie ganz zu Erde, Staub und nichts würden. Doch da behaupten auch welche, dies sei nichts Geringeres als Adams Totenschädel, der heraufgestiegen aus der tiefsten Schwärze der vorzeitlichen Erdschichten, und nun, da er nicht mehr zurückkann, auf ewig verdammt ist, vor Augen die Erde zu haben, sein ihm einzig mögliches Paradies, weil er das andere für immer verlor. Dort hinten, auf jenem Gelände, wo die Reiter eine letzte Volte vollführen, entfernt sich ein Mann, herwärts spähend. In der linken Hand trägt er einen Eimer und einen Stab in der rechten. An der Spitze des Stabs ist wohl ein Schwamm angebracht, schwer zu erkennen von hier, und der Eimer, möchten wir fast wetten, enthält mit Essig versetztes Wasser. Dieser Mann wird eines Tages, und dann für immer, das Opfer einer Verleumdung, dass er nämlich, aus Böswilligkeit oder aus Hohn und Spott, dem ihn um Wasser anflehenden Jesus Essig zu trinken gegeben habe, sicher aber ist, er reichte ihm von der mitgeführten Mischung, Essig in Wasser gelöst, zum Durstlöschen ein höchst erfrischendes Getränk, dazumal sehr in Gebrauch. Nun eilt er fort, er bleibt nicht bis zum Ende, er tat das Mögliche, jenen drei Gerichteten den verzehrenden Durst zu lindern, und machte keinen Unterschied zwischen Jesus und den Räubern, schlicht weil dies irdische Dinge sind, die auf der Erde bleiben, und aus ihnen entsteht die einzig mögliche Geschichte.
Die Nacht wird noch lange anhalten. Die Öllampe, an einem Nagel neben der Tür hängend, brennt, doch die Flamme, einem zögerlich leuchtenden kleinen Mandelkern gleich, bebend, unstet, kommt schwer an gegen die Masse aus Schwarz, die das Haus von oben bis unten füllt, und bis in die fernsten Winkel, wo das Dunkel so dicht ist, dass es körperhaft wirkt. Josef ist aus dem Schlaf geschreckt, als habe ihn jemand jäh an der Schulter geschüttelt, doch es mochte ein flugs zerronnener Traum sein, denn in diesem Haus wohnen nur er und die Frau, die sich nicht bewegte, die schläft. Es ist nicht seine Art, mitten in der Nacht aufzuwachen, üblicherweise geschieht es erst, wenn die breite Ritze im Türblatt sich aus der Finsternis, der aschigen und kalten, abzuheben beginnt. Ungezählte Male kam ihm der Gedanke, er müsste den Spalt schließen, nichts einfacher als das für einen Zimmermann, eine schlichte Leiste, die bei der Arbeit abfällt, zurechtschneiden und annageln, doch so sehr hatte er sich daran gewöhnt, schon beim ersten Augenaufschlag jenen den neuen Tag verkündenden senkrechten Riss aus Licht zu sehen, dass er letztlich die Vorstellung hatte, ohne sich deren Unsinnigkeit bewusst zu werden, er fände, falls der fehlte, vielleicht nicht aus dem Dämmer des Schlafs, dem seines Körpers und der Welt. Der Spalt in der Tür war Bestandteil des Hauses, wie die Wände oder die Stubendecke, wie der Herd oder der Fußboden aus gestampftem Lehm. Mit leiser Stimme, damit er die schlafende Frau nicht weckte, verrichtete er das erste Gebet des Tages, das es aufzusagen gilt, wenn man aus dem geheimnisvollen Land des Schlafs zurückkehrt, Ich danke dir, Herr, unser Gott, König des Universums, dass du mir kraft deiner Gnade meine Seele lebendig und beständig wiedergibst. Vielleicht weil er noch nicht mit jedem seiner Sinne gleichermaßen wach war, sofern die Menschen in jenen fraglichen Zeiten deren nicht erst einige noch erlernen mussten oder, im Gegenteil, andere verloren hatten, die uns heute dienlich sein könnten, betrachtete Josef sich selbst in einer Weise, als verfolgte er aus gewissem Abstand, wie sein Körper langsam in Besitz genommen wurde von einer Seele, die sacht zurückkehrte, ähnlich Wasserrinnsalen, die gewunden in Bewässerungskanälen fließen, das Erdreich dann bis zu den tiefsten Wurzeln durchdringen und hernach die Nährsäfte durch die Schäfte und die Blätter befördern. Und weil er, zumal mit einem Blick auf die Frau neben ihm, spürte, wie mühevoll diese Rückkehr war, kam ihm der verwirrende Gedanke, dass sie, da schlummernd, wahrhaftig ein Körper ohne Seele war, dass die Seele dem schlafenden Leib fern ist, anderenfalls es Unsinn wäre, Gott tagtäglich dafür zu danken, dass er uns die Seele bei unserem Erwachen täglich wiedergibt, und an diesem Punkt der Überlegung fragte in seinem Innern eine Stimme, Was in uns träumt das, was wir träumen, Vielleicht sind die Träume die Erinnerungen, die unsere Seele vom Körper hat, sann er hierauf, und dies war eine Antwort. Maria bewegte sich im Schlaf, vielleicht war ihre Seele hier nahebei, schon im Hause, doch noch erwachte sie nicht, mochte nur eben in Träumen gefangen sein, und nach tiefem Seufzen, abgehackt wie Schluchzer, drängte sie an den Ehemann heran, schmiegsam, aber unbewusst, denn im wachen Zustand würde sie es nicht wagen. Josef zog das dicke, raue Laken zu den Schultern hoch und legte sich besser zurecht auf der Matte, ohne abzurücken. Er spürte, wie die Wärme des Frauenkörpers, von Gerüchen befrachtet nach Art einer getrocknete Kräuter bergenden Truhe, ihm ganz sacht durch das Gewebe der Tunika drang, sich zur Wärme seines Körpers einte. Dann, die Lider langsam senkend, schon ohne Gedanken, losgelöst von der Seele, fügte er sich in den wiederkehrenden Schlaf.
Erst als der Hahn krähte, erwachte er abermals. Der Spalt in der Tür gab einem ungefähren grauen Lichtstreif von der Farbe des Schmutzwassers Durchlass. Die Zeit hatte geduldvoll gewartet, dass sich die Kräfte der Nacht erschöpften, nun rüstete sie die Fluren dem in die Welt kommenden Morgen, wie schon am Tag zuvor und stets, wahrhaftig befinden wir uns ja nicht in jenen fabelhaften Tagen, als die Sonne, der wir gar viel schon verdankten, in ihrem Tageslauf über Gibeon gütigst anhielt und Josua Gelegenheit gab, in Muße jene fünf Könige zu besiegen, die seine Stadt belagerten. Josef auf seiner Matte richtete sich empor, schob das Laken zurück, jetzt krähte der Hahn zum zweiten Mal, erinnerte ihn, dass er einen Gebetsdank schuldete, die Verdienste des Hahns betreffend, die der Herrgott, als er seine Kreaturen schuf und begabte, jenem zugeeignet hatte, Gepriesen seist du, Herr, unser Gott, König des Universums, dass du dem Hahn Klugheit gabst, den Tag von der Nacht zu unterscheiden, dies sprach Josef, und der Hahn krähte ein drittes Mal. Üblich war es, dass nach dem ersten Weckruf die Hähne der Nachbarschaft einander dann wechselseitig antworteten, aber an diesem Morgen blieben sie stumm, als wäre für sie die Nacht nicht zu Ende, oder sie hätte kaum erst begonnen. Josef, überrascht, betrachtete die Frau neben ihm, ihn wunderte ihr bleierner Schlaf, erwachte sie doch sonst wie ein Vogel beim geringsten der Geräusche. Als schwebte da über Maria, oder senkte sich auf sie, eine Kraft von außen, presste ihren Leib gegen den Boden, indes nicht so gewaltsam, dass es sie reglos starr machte, trotz des Halbdunkels war zu erkennen, wie jähe Schauer sie fluteten, als striche eine Brise über den Spiegel einer Zisterne. Sie mag sich unpässlich fühlen, sann er, doch da meldete sich, ihn von der keimenden Sorge ablenkend, jäher Drang zum Wasserlassen, auch er ganz außer der Gewohnheit, denn diese Bedürfnisse stellten sich bei ihm, üblicherweise, erst später ein, und nie so lebhaft. Behutsam erhob er sich, die Frau sollte von seinem Ansinnen nichts merken, steht doch geschrieben, dass der Mann sich die Achtung, wie auch immer, bewahren muss, fast bis zum Äußersten, und nachdem er die knarrende Tür aufgetan hatte, trat er in den Hof. Es war die frühe Morgenstunde, da das Grau die Farben der Welt überdeckt. Er lenkte seine Schritte zu einem niederen offenen Schuppen, dem Unterstand des Esels, und dort erleichterte er sich, wobei er mit halb bewusster Befriedigung den Urinstrahl auf den strohbedeckten Boden plätschern hörte. Der Esel wandte den Kopf, im Dunkel leuchteten seine vorstehenden Augen, dann schüttelte er lebhaft die pelzigen Ohren, tauchte die Schnauze wieder in die Krippe und schnupperte mit den dicken, gefühlvollen Lefzen nach Resten von Futter. Josef trat an den Waschkrug, beugte sich vor, ließ das Wasser über die Hände rinnen, und dann, während er die Hände an der Tunika abtrocknete, pries er Gott, dass er, unendlich weise, im Menschen die ihm zum Leben nötigen Öffnungen und Gefäße gebildet und erschaffen hatte, denn wenn eines von ihnen sich, nur ja nicht, zur Unzeit schlösse oder auftäte, wäre das des Menschen Tod. Josef schaute zum Himmel auf und erstarrte bis ins Mark. Die Sonne nimmt sich Zeit mit dem Aufgehen, nirgends, am ganzen Himmelszelt nicht, das mindeste Anzeichen von Röte eines nahenden Morgens, selbst nicht der leichte Stich ins Rosa oder ins Blass einer erst reifenden Kirsche, nichts außer, von Horizont zu Horizont, soweit die Hofmauern ihm Sicht ermöglichten, in der ganzen Ausdehnung eines riesenhaften Dachs, tiefhängende Wolken, die plattgedrückten kleinen Knäueln glichen, als einzige Farbe Violett, das nun aber doch zu beben und zu leuchten beginnt, an jener einen Seite, wo die Sonne aufgehen wird, hingegen die andere Seite dunkelt und dunkelt, sich zuletzt mit dem mengt, was von der Nacht noch übrig ist. Nie in seinem Leben hat Josef einen solchen Himmel gesehen, doch war in den langen Plaudergesprächen der alten Männer nicht selten die Rede von wundersamen atmosphärischen Phänomenen, die allesamt Zeugnisse für Gottes Allmacht sind, das blaue Himmelsgewölbe zur Hälfte füllende Regenbogen, schwindelerregende Treppen, die eines Tages Firmament und Erde verbanden, vorsorgliche Regen von Manna, indes noch nie diese rätselhafte Farbe, die so sehr den Beginn wie das Ende von etwas künden konnte, schwebend und verharrend über der Welt, ein Dach aus Tausenden von Wölkchen, die einander fast berührten, verstreut in alle Richtungen, wie die Steine der Wüste. Angst befiel sein Herz, er malte sich aus, die Welt ginge zu Ende, und er, hier stehend, war der einzige Zeuge von Gottes letztem Richtspruch, jawohl, der einzige, gänzlich in Schweigen die Erde und der Himmel, kein Laut dringt aus den Nachbarhäusern, nicht die feinste Stimme, kein Kindergreinen, kein Gebet oder Fluch, nicht das Geräusch von Wind, nicht das Meckern einer Ziege, kein Bellen, Warum krähen die Hähne nicht, murmelte er, und bang wiederholte er die Frage, als berge das Krähen der Hähne letztes Hoffen auf Rettung. Dann endlich erfuhr der Himmel Verwandlung. Ganz allmählich, kaum wahrnehmbar, verfärbte sich das Violett, ließ sich, an der Unterseite der Wolkendecke, von einem bleichen Rosa durchdringen, wurde ein Rot, verschwand, war da und dann nicht mehr, und unvermittelt barst der Äther in einen Sturm aus Licht, vervielfachte sich in Lanzen aus Gold, die das Gewölk stachen, es durchbohrten, und nun waren die Wolken, ohne dass man wusste, warum und wann geschehen, aufgequollen, waren riesenhafte, prächtige Schiffe, die unter glühenden Segeln an einem endlich entfesselten Himmel hintrieben. Josef, nun wieder frei von Furcht, atmete sehr erleichtert auf, seine Augen weiteten sich vor Staunen und Achtung, fürwahr ein gewaltiges Schauspiel und er der einzige Zeuge, und hervor brachte sein Mund mit lauter Stimme die geschuldeten Preisungen, lobte den Schöpfer der Dinge dieser Natur, hingegen die immerwährende Majestät der Himmel, reine Unaussprechlichkeit geworden, vom Menschen doch weiter nichts erwarten kann als schlichteste Worte, Gepriesen seist du, Herr, für dies, für das, für jenes andere. So sprach er, und in diesem Augenblick, wie von seinen Worten beschworen, oder schlicht jählings eingetreten durch eine Tür, die irgendjemand, wenig eingedenk der Folgen, ganz weit aufgetan hatte, füllte der Lärm des Lebens den bisher der Stille anheim gewesenen Raum, ließ ihr nur noch ungefähre kleine Stellen, Fleckchen, so winzige wie jene Tümpel, die das raunende Buschwerk umschließt und verbirgt. Der Morgen stieg herauf, gewann Weite, eigentlich war es ein Anblick von fast unerträglicher Schönheit, zwei riesige Hände entließen einen schillernden riesigen Paradiesvogel zum Flug in die Lüfte frei, breiteten in strahlendem Fächer das von tausend Augen übersäte Pfauenrad aus, veranlassten nahebei einen namenlosen Vogel, sein Lied anzustimmen. Eine aufgefachte Brise blies Josef ins Gesicht, bewegte ihm die Barthaare, schüttelte seine Tunika, dann quirlte sie um ihn herum wie eine durch die Wüste drehende Windhose, oder dies, was er hier spürte, war nur ein vom jähen Blutwallen erzeugter Schwindel, ein schlängelnder Schauer, der, gleichsam Feuerfinger, den Rücken ihm hinabfuhr, Anzeichen eines anderen, drängenderen Begehrs.
Als bewegte er sich inmitten der kreisenden Luftsäule, trat Josef ins Haus, schloss die Tür hinter sich, und da stand er angelehnt eine Minute lang, wartete, dass sich seine Augen ans Halbdunkel gewöhnten. Neben ihm blakte das Öllämpchen, fast ohne Licht zu verstrahlen, unnütz. Maria, auf dem Rücken liegend, wach, schaute aufmerksam und gebarmt auf einen Punkt vor sich, sie schien zu harren. Josef trat wortlos heran und zog das sie verhüllende Laken bedächtig fort. Sie wandte den Blick ab, zerrte den Saum ihrer Tunika ein bisschen aufwärts, und dann bis in Bauchhöhe, aber erst als er niederkauerte und in gleicher Weise verfuhr mit seiner Tunika, unterdessen sie die Beine spreizte, oder sie hatte es schon während des Traums getan und sie in dieser Stellung behalten, sei es aus unüblicher morgendlicher Trägheit oder weil ahnungsvolles Eheweib, das seine Pflichten kennt. Gott, der allenorts ist, war auch hier zugegen, doch da er ist, was er ist, rein ein Geist, konnte er nicht sehen, wie die Haut des einen die Haut des anderen berührte, wie sein Fleisch in ihr Fleisch drang, das eine wie das andere für eben dies erschaffen, und sicherlich war er schon nicht mehr zugegen, als Josefs geheiligter Same sich in das geheiligte Innen Marias ergoss, heilig beide, weil sie der Quell und der Becher des Lebens, in Wahrheit gibt es Dinge, die selbst Gott nicht versteht, auch wenn er sie erschuf. Da Gott also in den Hof hinausgetreten war, hörte er nicht den agonischen Laut, einem Röcheln gleich, der sich dem Munde des Mannes im Augenblick der Krisis entrang, noch weniger hörte er das ganz leichte Stöhnen der Frau, das diese nicht unterdrücken konnte. Eine Minute oder weniger ruhte Josef auf Marias Leib. Während sie die Tunika nach unten zog, sich mit dem Laken zudeckte und dann das Gesicht unter dem Arm verbarg, sprach er, aufrecht mitten im Hause stehend, die Hände erhoben und zum Dach emporblickend, jenen über alles schrecklichen Lobpreis, der den Männern vorbehalten ist, Gepriesen seist du, Herr, unser Gott, König des Universums, dass du mich nicht Weib werden ließest. Nun aber, zu diesem Zeitpunkt, mochte Gott auch schon nicht mehr im Hof sein, denn es bebten nicht die Mauern des Hauses, stürzten nicht ein, es riss die Erde nicht auf. Zu hören war lediglich, erstmals, Marias Stimme, demutvoll sprach sie, wie man es von Weiberstimme wünscht und erwartet, Gepriesen seist du, Herr, dass du mich nach deinem Willen erschufst, nun, zwischen diesen Worten und jenen anderen, den bekannten und für sehr gut befundenen, ist kein Unterschied, will heißen, Hier ist die Magd des Herrn, geschehe an mir deinen Worten gemäß, und offenkundig ist, wer dies sagte, konnte auch jenes gesagt haben. Dann erhob sich das Weib des Zimmermanns Josef von der Matte, rollte diese mit dem Ehemann ein und faltete das gemeinschaftliche Bettlaken zusammen.
Es lebten Josef und Maria in einem kleinen Ort mit Namen Nazareth, an einem Fleck von wenig und wenigen, im Lande Galiläa. Sie bewohnten ein Haus, das, fast allen anderen gleich, eher ein ungefüger Würfel aus Lehmziegeln war, armselig unter Armseligen. Baukünstlerische Erfindungen und Ausschmückungen keine, lediglich die uniforme Plattheit eines nimmermüd wiederholten Modells. In der Absicht, einiges an Material zu sparen, hatten sie das Haus gegen den Hang des Hügels gebaut, gegen die Schräge, einwärtsgrabend, solcherweise sie eine ganze Wand bekamen, die rückwärtige, noch mit dem Vorteil, dass man ohne Mühe auf den als Dach dienenden Söller gelangte. Schon wissen wir, dass Josef von Beruf Zimmermann war, üblich bewandert in seinem Handwerk, aber ohne Geschick zu Vollkommenerem, sofern ihm feineres Werk abverlangt wurde. Dieser Mangel möge niemanden unduldsam machen, denn Zeit und Erfahrung, und ein jegliches will Weile haben, langen noch nicht in dem Maße, dass sie, gar in der Alltagsarbeit Niederschlag findend, sichtbar Bereicherung gäben dem beruflichen Wissen und dem Kunstgespür eines Mannes, der kaum erst zwanzig Jahre alt ist und in einem Landstrich von so spärlichen Mitteln und noch geringeren Erfordernissen lebt. Allerdings sollte man eines Menschen Verdienste nicht allein mit der Elle seines beruflichen Könnens messen, es schickt sich zu sagen, dass dieser Josef, trotz seines jugendlichen Alters, in Nazareth als einer der Frömmsten und Gerechtesten gilt, pünktlich beim Besuch der Synagoge, akkurat in seinen Pflichten, und mag sein Glück auch nicht so groß sein, dass Gott ihn mit einer den gemeinen Sterblichen überragenden Beredsamkeit auszeichnete, weiß er sich dennoch auszudrücken und treffend zu äußern, vor allem wenn es dienlich ist, der Rede ein Bild oder eine Metapher aus der eigenen Berufswelt beizusteuern, etwa dass er von der Zimmerarbeit am Universum spricht. Weil ihm aber der Flügelschlag ursprünglicher Phantasie fehlte, wird er in seinem kurzen Leben nie eine des Merkens würdige Redensart hervorbringen, ein geflügeltes Wort schöpfen, das Aufhebung im Erinnern der Leute von Nazareth verdiente, zur Weitergabe an künftige Generationen, und noch weniger wartete er mit einer jener treffsicheren Entgegnungen von beispielhafter Belehrung auf, deren Worte so transparent sind und so strahlend, dass sie künftig jedweden nur möglichen Einwand abschmettern oder, im Gegenteil, so hinreichend dunkel oder zweideutig sind, dass sie morgen zum Lieblingsgericht der Gelehrten und sonstigen Spezialisten werden.
Über die Gaben der Maria indes, außer wir suchten lange, und selbst so, fänden wir lediglich, was man gerechterweise erwarten kann von einem jungen Ding, das noch nicht einmal sechzehn Jahre alt und, auch wenn bereits verheiratete Frau, nur eben ein zerbrechliches zartes Mädchen ist, sozusagen ein Hellermünzchen, die es damals nicht gab, aber andere von ähnlich geringem Wert. Zwar schwächlich von Statur, arbeitet Maria indes so tüchtig wie die anderen Frauen, sie hechelt Wolle, sie spinnt, sie webt die Hausgewänder, sie bäckt zu allen heiligen Tagen das Brot der Familie im häuslichen Ofen, geht hinab zur Quelle, schleppt das Wasser herbei, über die steilen Pfade, einen dickbäuchigen Krug auf dem Kopf, einen weiteren Krug gegen die Lende gepresst, und später, wenn es Abend wird, schweift sie über die Wege und des Herrgotts freies Feld, liest Reisigholz auf, schneidet Stoppeln, führt auch noch einen Korb mit, in den sie den getrockneten Dung der Rinder sammelt und auch jene Disteln und Dornengewächse, die an Nazareths Steilhängen wuchern, vom Besten, was Gott erfinden konnte, um ein Feuer anzuzünden und eine Krone zu flechten. Dieses ganze Arsenal ergäbe eine Ladung, die sich besser auf eines Esels Rücken heimschaffen ließe, spräche nicht ein sehr gewichtiger Grund dagegen, Josefs Tier nämlich obliegt der Transport der Hölzer. Barfuß eilt Maria zur Quelle, barfuß hinaus aufs Feld, in ihren ärmlichen Kleidern, die über der Arbeit noch fleckiger werden, noch mehr verschleißen, und immerfort gewaschen und ausgebessert werden müssen, an den Ehemann gehen die neuen Gewebe und das Mehr an Fürsorge, Frauen wie sie begnügen sich mit sonst was. Besucht Maria die Synagoge, dann nimmt sie den Seiteneingang, wie das Gesetz es den Frauen auferlegt, und wenn sie sich da, es ist nur eine Annahme, mit dreißig Gefährtinnen einfindet, oder allen Frauen Nazareths, oder gar mit der gesamten weiblichen Bevölkerung Galiläas, so müssen sie trotzdem warten, bis mindestens zehn Männer zugegen sind, damit der Gottesdienst, dem sie selbst nur passiv beiwohnen, stattfinden kann. Im Gegensatz zu Josef, ihrem Ehemann, ist Maria nicht fromm und nicht gerecht, doch nicht sie hat Schuld an diesen moralischen Makeln, Schuld trägt die redende Sprache, will heißen die Männer, die diese erfunden haben, denn in ihr haben die Begriffe gerecht und fromm schlichtweg keine weibliche Entsprechung.
Nun aber, etwa vier Wochen nach jenem unvergesslichen Frühmorgen, als sich die Himmelswolken, ganz außergewöhnlich, in violetter Tönung dargeboten hatten, geschah es eines schönen Tages, dass Josef zur Stunde des Sonnenuntergangs im Hause saß, über dem Abendessen, auf dem Fußboden sitzend und mit der Hand in den Teller langend, wie es damals Sitte war, und Maria stand aufrecht da, wartete, dass er sein Mahl beendete, damit dann sie essen könnte, und beide harrten stumm, er, weil er nichts zu vermelden hatte, sie, weil sie nicht wusste, wie sie sagen sollte, was sie innen bewegte, und da geschah es, dass ans Hoftor ein bedauernswerter Almosenbitter klopfte, was allgemein ja öfter geschieht, hierorts indes seltener in Anbetracht der Ärmlichkeit des Dorfes und der Mehrzahl seiner Bewohner, zumal die Bettler, aus Erfahrung, ja Meister im Veranschlagen von Erfolgsaussichten, die sich in diesem Falle als sehr gering darstellten. Dennoch, von den mit Zwiebeln versetzten Linsen und dem Brei aus Kichererbsen, die ihre Abendspeisung sein würden, tat Maria einen ordentlichen Schlag in einen Napf, und diesen trug sie dem Bettler hinaus, der sich dort auf den Erdboden setzte, zum Essen, jenseits der Torschwelle, die er nicht überschritten hatte. Maria hatte den Ehemann nicht erst laut um Erlaubnis bitten müssen, er selbst hatte es ihr gestattet oder sie mit einem Kopfnicken angewiesen, wissen wir ja bereits, wie überflüssig Worte waren in jenen Zeiten, als eine einfache Geste genügte, einen Menschen zu töten oder ihn vor dem Tode zu bewahren, je nachdem, welche Richtung bei den Zirkusspielen des Cäsars Daumen wies, ob nach unten oder nach oben. Ansonsten aber war dieser Sonnenuntergang ein Verzücken, dieses tausendfältige Wolkengefranse über die Weite des Himmels hin, rosig, perlmutt-, lachs- und kirschfarben, in solchen Begriffen redet man, zur allgemeinen Verständigung, auf der Erde, diese Farben, und alle übrigen, rühren, soweit bekannt, nicht vom Himmel her. Der Bettler mochte seit drei Tagen nicht gegessen haben, seiner war echter Hunger, binnen Minuten war das Geschirr geleert und blank geleckt, und da klopfte er auch schon ans Tor, um den Napf zurückzugeben und für die milde Gabe zu danken. Maria kam und öffnete, da stand der Bettler, aber von überraschend hohem Wuchs, weitaus stattlicher jetzt, als es ihr zuvor geschienen, letztlich stimmt die Rede, gewaltig ist der Unterschied zwischen essen und nicht gegessen haben, bei diesem Mann, hätte man meinen können, strahlte das Gesicht und sprühten die Augen Funken, zugleich bewegte ein Wind von wer weiß woher seine alte, verschlissene Gewandung, und deren Flattern verwirrte unseren Blick in einem Maße, dass die Lumpen plötzlich kostbares, prachtvolles Gewebe dünkten, was nur glauben kann, wer es selbst erlebte. Maria streckte den Arm vor, um den irdenen Napf entgegenzunehmen, der, als Folge einer in Wahrheit verblüffenden optischen Täuschung, vielleicht bewirkt von den wechselnden Himmelsspiegelungen, mit einem Mal ein Gefäß aus reinstem Gold anmutete, und eben als das Gefäß aus seinen Händen in die ihren wechselte, sprach der Bettler mit markiger Stimme, denn sogar hierin war der Ärmste nun ein anderer, Der Herr segne dich, Frau, er schenke dir all die Söhne, die deinem Manne genehm sind, doch verhüte es derselbe Herr, dass du sie je so siehst wie mich jetzt vor dir, denn ich, o tausendfach schmerzliches Leben, ich habe nicht, worauf ich mein Haupt betten kann. Maria hielt den Napf im Hohl ihrer Hände, Schale über Schale, so als erwartete sie, dass der Bettler etwas hineinlegte, und er, ohne eine Erklärung, tat es, er beugte sich tief hinab, griff eine Hand voll Erde vom Boden, hob den Arm dann in die Höhe, ließ die Erde langsam durch die Finger rinnen und sprach mit dumpfer, hallender Stimme, Lehm zu Lehm, Staub zu Staub, Erde zu Erde, nichts beginnt, das nicht auch enden müsste, alles Beginnende entsprießt dem Endenden. Maria, verwirrt, fragte, Was will das heißen, und der Bettler antwortete lediglich, Frau, du trägst ein Kind im Bauch, und das ist der Menschen einzige Bestimmung, zu beginnen und zu enden, zu enden und zu beginnen, Woher weißt du, dass ich schwanger bin, Noch schwillt der Bauch nicht, und schon glänzen die Kinder in den Augen der Mütter, Wenn das so ist, müsste mein Mann in meinen Augen das Kind gesehen haben, da er in mir gezeugt hat, Schaut er dich etwa nicht an, wenn du ihn anschaust, Und du, wer bist du, dass du es nicht erst aus meinem Munde hören musstest, Ein Engel bin ich, aber sage es niemand.
Im selben Augenblick wurden die glanzvollen Kleider wieder Lumpen, was titanenhafter Riese gewesen, schrumpfte, schwand, gleichsam aufgeleckt von einer jähen Titanenzunge, und zur rechten Zeit, Gott sei Dank, hatte Verwandlung stattgefunden, und alsdann der kluge Rückzug, denn aus dem Hause kam nun schon Josef, herbeigelockt von den Stimmen, die leiser gewesen waren als bei einem erlaubten Gespräch üblich, vor allem war die Frau übertrieben lange fortgeblieben, Was wollte der Ärmste denn noch, fragte er, und Maria, die nicht wusste, mit welchen eigenen Worten sie es ausdrücken sollte, vermochte nur zu antworten, Lehm zu Lehm, Staub zu Staub, Erde zu Erde, nichts beginnt, was nicht auch endet, nichts endet, was nicht auch beginnt, Hat er das gesagt, Ja, und auch, dass die Söhne der Männer in den Augen der Frauen glänzen, Schau mich an, Das tue ich, Mir scheint, ich sehe Glanz in deinen Augen, sprach Josef, und Maria erwiderte, Es wird dein Sohn sein. Der Abenddämmer hatte Bläue gewonnen, nahm schon die erste Farbe der Nacht an, und nun war zu erkennen, dass aus dem Napf ein gleichsam schwarzes Licht strahlte, welches Marias Gesicht bisher an ihr nie wahrgenommene Züge aufprägte, ihre Augen schienen einer weitaus älteren Person zu gehören, Bist du schwanger, fragte Josef endlich, Ja, antwortete Maria, Warum sagst du es erst jetzt, Heute solltest du es erfahren, ich wartete, dass du deine Abendmahlzeit beendetest, Und dann kam dieser Bettler, Ja, Was sagte er denn noch, es war ja wohl Zeit für mehr als nur dies, Dass der Herrgott mir alle Kinder schenken möge, die du dir wünschst, Was hast du da im Napf, es glänzt so, Erde, weiter nichts, Humus ist schwarz, Tonerde grünlich, der Sand weiß, von den dreien glänzt nur der Sand, wenn Sonne drauf fällt, jetzt aber ist dunkler Abend, Ich bin eine Frau, ich kann es nicht erklären, er griff Erde vom Boden, streute sie in den Napf und sprach seine Worte.
Josef zog das Tor auf, trat hinaus auf die Straße, schaute nach der einen Seite und nach der anderen, sagte, Ich sehe ihn nicht mehr, verschwunden ist er, Maria aber schritt gefasst ins Haus zurück, sie wusste, der Bettler, falls er wirklich war, was er verkündet hatte, würde sich nur nach seinem Belieben blickenlassen. Sie setzte den Napf auf die Steinbank am Herd, entnahm der Glut ein Kohlenstück, zündete die Lampe an, blies, bis eine kleine Flamme aufzüngelte. Josef trat herein, mit fragender Miene, einem verwirrten, argwöhnischen Blick, den er zu verhehlen trachtete, indem er sich erhaben und feierlich wie ein Erzvater bewegte, was ihm, da er noch so jung, gar nicht stand. Möglichst unauffällig näherte er sich dem Napf, beäugte die Glanz verstrahlende Erde drin, setzte eine zweiflerisch spöttische Miene auf, die, sofern sie Mannhaftigkeit hervorkehren wollte, sehr vergeblich war, denn Maria hielt den Blick gesenkt, wirkte wie abwesend. Josef rührte mit einem Stöckchen in der Erde, beunruhigt, denn er sah sie dunkel werden, wenn er quirlte, dann wieder Glanz gewinnen, mit Blitzegeschlängel über dem beständigen Leuchten, Begreife ich nicht, dies birgt wohl ein Geheimnis, oder er brachte die Erde mit und du meintest, er hätte sie vom Boden genommen, das sind Tricks eines Magiers, niemand hat Nazareths Erde jemals glitzern und gleißen sehen. Maria erwiderte nichts, sie aß den verbliebenen kleinen Rest an mit Zwiebeln versetzten Linsen und an Kichererbsbrei und dazu einen in Öl getauchten Kanten Brot. Als sie diesen brach, sprach sie, wie es in den Gesetzen steht, jedoch in dem einem Weibe geziemend bescheidenen Ton, Gepriesen seist du, Adonai, unser Gott, König des Universums, dass du Brot aus der Erde hervorbringst. Stumm aß sie, indessen Josef seinen Gedanken laut freien Lauf ließ, so als deutete er in der Synagoge einen Vers der Thora oder das Wort des Propheten, der Betrachtung unterzog er den aus dem Munde der Frau soeben vernommenen Satz, den er beim Brechen des Brotes selbst gesprochen hatte, und er versuchte sich vorzustellen, von welcher Art die aus so glänzender Erde aufkeimende und Frucht treibende Gerste sein würde, was für Brot es gäbe, was an Licht wir in uns trügen, wenn wir dieses speisten, Bist du sicher, dass der Bettler die Erde vom Boden genommen hat, fragte er ein weiteres Mal, und Maria antwortete, Ja, ich bin sicher. Und vorher glänzte sie nicht, Auf dem Boden glänzte sie nicht. So viel Festigkeit müsste die eingefleischten Zweifel jedweden Mannes gegenüber den Reden und dem Tun der Weiber allgemein und des eigenen Weibes im Besonderen ins Wanken bringen, Josef aber, wie damals und dort jedes beliebige Mannsbild, hing störrisch der Überzeugung an, dass ein Mann desto klüger, je besser es ihm gelänge, sich vor den Künsten und Listen des Weibes zu schützen. Wenig mit ihnen reden und noch weniger ihnen zuhören, ist der Wahlspruch all jener bedachten Männer, die des Rabbi Joschafat ben Johanans Worte beherzigen, welche zum Weisesten des Weisen zählen, Dem Manne sei in der Todesstunde Rechenschaft abverlangt für jedes unnütze Wort, das er mit einem Weibe führte. Josef, hier, fragte sich, ob dieses Gespräch mit Maria ein notwendiges sei, und nachdem er in Anbetracht der Einzigartigkeit des Vorfalls zum bejahenden Schluss gelangt war, schwor er sich, die heiligen Reden des Rabbi stets zu beherzigen, also seines Namensvetters, ist doch Joschafat das Gleiche wie Josef, auf dass ihm späte Gewissensbisse erspart blieben in der Stunde des Todes, der, gebe es Gott, ein friedvoller sein möge. Und zuletzt, nach der Überlegung, ob er die verdächtige Sache mit dem unbekannten Bettler und der gleißenden Erde den Ältesten der Synagoge zur Kenntnis geben solle, entschied er, dass er dies tun müsse, damit sein Gewissen rein wäre und der Friede des Heims gewahrt blieb.
Maria hat ihre Mahlzeit beendet. Sie trug die Näpfe zum Abwaschen hinaus, jedoch nicht, na klar, jenen einen, den sie selbst dem Bettler vorgesetzt hatte. Im Hause waren da nun zwei Lichter, das der gegen die plötzlich hereingebrochene Nacht mühsam ankämpfenden Öllampe, und andererseits jene strahlende Aura, bebend, aber beständig, gleichsam eine Sonne, die noch hinter dem Horizont harrt. Maria, auf dem Boden sitzend, war gewärtig, dass der Ehemann weitere Worte an sie richten würde, der aber hat nichts mehr zu sagen, fügt im Geiste bereits die Sätze der Rede, mit der er sich morgen an den Ältestenrat wenden wird. Ihn verdrießt, dass er nicht genau im Bilde, was zwischen der Frau und dem Bettler vorgegangen ist, was der eine zum anderen sonst noch gesagt haben mag, doch er will sie nicht wieder fragen, weshalb er, da zusätzlich Neues von ihr gewiss nicht zu erwarten ist, die zweimal vernommene Geschichte als wahr hinnehmen muss, falls sie aber gelogen hat, wird er nicht dahinterkommen, nur sie dann weiß, dass sie lügt und gelogen hat, sie wird sich unter dem Mantel eins feixen, wird sich über ihn lustig machen, wie man denn auch gute Gründe hat zu glauben, dass Eva über Adam lachte, ganz im Stillen versteht sich, denn jene damals besaß noch keinen Umhang, der ihre Blöße bedeckt hätte. An diesen Punkt der Überlegung gelangt, tat Josef den nächstfolgenden und unvermeidbaren Schritt, und siehe, nun dünkt ihm der rätselhafte Bettler ein Abgesandter des Versuchers, der, weil sich die Zeiten ja gewandelt haben und die Menschen heute klüger und erfahrener sind, nicht mehr so einfältig vorgeht, dass er etwa auch hier eine schlichte Frucht der Natur anbietet, eher stellt er verwandelte Erde in Aussicht, eine strahlende, und zu diesem Zweck bedient er sich, wie üblich, der Leichtgläubigkeit und Arglist des Weibes. Josefs Kopf lodert, doch zufrieden ist er mit sich und mit seinen Schlüssen. Maria ihrerseits, die nichts ahnt von den auf den Teufel ausgerichteten verschlungenen Überlegungen des Mannes und ebenso wenig von den ihr unterschobenen Verantwortlichkeiten, versucht dieses seltsame Gefühl von Abwesenheit zu begreifen, das sie in sich spürt, seit sie dem Ehemann ihre Schwangerschaft gestand. Es ist freilich kein inneres Abhanden, denn nur zu gut weiß sie, dass sie ab jetzt, im wortwörtlichen Sinne, besetzt ist, es ist ein äußeres Fortsein, so als wäre die Welt erloschen oder hätte sich auf Abstand begeben. Ihr fällt ein, doch so, als handelte es sich um anderes Leben, dass sie nach der letzten Mahlzeit und bevor man die Matten für die Nachtruhe auslegt, stets noch irgendeine Arbeit voranzubringen trachtete, auf diese Weise die Zeit nutzend, nun aber geht ihr Gedanke dahin, dass sie sich, da auf dem Boden sitzend, nicht vom Fleck rühren sollte, solange sie das sie über den Rand des Napfs hinweg betrachtende Licht betrachtet, der Geburt des Kindes harrend. Gestehen wir, um der Wahrheit willen, dass ihre Gedanken so klar nicht waren, das Denken, letztendlich, dies wurde schon von anderen, oder von ihm selbst, zum Ausdruck gebracht, ist wie ein um sich selbst gewickeltes Fadenknäuel, schlaff an gewissen Stellen, und bis zum Ersticken oder zum Abwürgen straff an anderen, es befindet sich hier drin, im Kopf, unmöglich aber, es in seiner ganzen Ausdehnung zu erfahren, da müsste man es schon ausrollen, ausspannen und schließlich messen, doch das, sosehr einer es versucht oder zu versuchen vorgibt, dies allein vermag man nicht, da muss irgendwer eines Tages kommen und bestimmen, an welcher Stelle es die Schnur, die den Menschen mit seinem Nabel verbindet, zu kappen gilt, um das Denken an seinen Ursprung zu binden.
Am nächsten Morgen, nach schlechtem Schlaf, und nachdem er wiederholt aus einem Albtraum aufgeschreckt war, in dem er sich noch und noch in die Tiefe eines riesigen Napfs hatte fallen sehen, der einem umgestülpten Sternhimmel glich, eilte Josef zur Synagoge, um sich von den Ältesten Rat und Beistand zu holen. Obschon von ihm nicht vorstellbar, bis zu welchem Punkt, da er, wissen wir ja, das Beste der Geschichte, nämlich das Wesentliche, nicht kannte, war sein Fall so unüblich, so außergewöhnlich, dass er, wären Nazareths alte Männer nicht so vorzüglicher Meinung über ihn gewesen, höchst beschämt den Rückweg hätte antreten müssen, mit lodernden Ohren, denn wie dröhnendes Erz hätte des Predigers Sirach Spruch geklungen, mit dem sie ihn niedergeschmettert hätten, Wer schnell vertraut, ist leichtfertig, und er, der Ärmste, nicht geistesgegenwärtig genug, um nämlichem Sirach bezüglich des Traums, der ihn die ganze Nacht gepeinigt hatte, schlagfertig zu entgegnen, Das Traumbild ist ein Spiegel, das Abbild eines Gesichts gegenüber dem Gesicht selbst. Nachdem er also seinen Bericht geendet, wechselten die Alten Blicke, fassten alle dann Josef ins Auge, und der Älteste, die gezielte Frage in den verhaltenen Argwohn eines Rates kleidend, sprach, Ist es Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, was du uns da soeben erzähltest, und der Zimmermann antwortete, Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, Gott sei mein Zeuge. Die Alten beratschlagten lange unter sich, während Josef abseits harrte, endlich riefen sie ihn und verkündeten, sie hätten, da uneins über das zuträglichste Vorgehen, entschieden, drei Abgesandte auszuschicken, diese sollten Maria über die seltsamen Vorkommnisse von Angesicht zu Angesicht befragen und herauszufinden versuchen, wer letztlich dieser Bettler sei, den niemand sonst gesehen hatte, von welchem Äußeren, was genau er gesagt, ob er regelmäßig in Nazareth erscheine, um Almosen zu erbitten, wobei sich nebenher ergebe, was man an Erkundigung über die geheimnisvolle Person auch noch in der Nachbarschaft einholen könne. Josef freute dies von Herzen, denn auch wenn er es sich nicht eingestehen mochte, ihn ängstigte der Gedanke, er müsse seiner Frau allein gegenübertreten, zumal sie den Blick jetzt auf ganz eigene Weise gesenkt hielt, wie es, ei freilich, die Schicklichkeit gebietet, doch auch unverhohlen herausfordernd, mit der Miene dessen, der mehr weiß, als er zu sagen gedenkt, jedoch will, dass man es merke. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, grenzenlos ist der Weiber Bosheit, besonders der unschuldigsten.
Die Abgesandten also machten sich auf, vornan Josef, ihnen den Weg weisend, und es waren Abiatar, Dotaim und Zachäus, sie hier namentlich genannt, um jeden Verdacht von beabsichtigter Geschichtsverfälschung auszuräumen, der im Geiste jener Leute fortschwingen könnte, die von diesen Dingen und ihren Auslegungen aus anderen Quellen Kenntnis haben, vielleicht fester auf die Überlieferung gegründete, darum aber nicht glaubwürdigere. Sind die Namen vorgebracht und die tatsächliche Existenz ihrer Träger bewiesen, verlieren die verbleibenden Zweifel viel von ihrer Kraft, indes nichts von ihrer Berechtigung. Da hier drei greise Abgesandte in nicht alltäglicher Angelegenheit auf die Straße traten, erkennbar an ihrem sehr würdevollen Schreiten, mit den Tuniken und den Bärten im Wind, waren sie bald von Gassenjungen umringt, die mit der ihrem Alter gemäßen Ausgelassenheit, unter Lachen, Gejohle, Gerenne, die Abgesandten bis zu Josefs Haus begleiteten, den der laute, Aufmerksamkeit erregende Begleitzug recht verdross. Vom Lärm angelockt, spähten die Frauen der nächstgelegenen Häuser aus den Türen, und Neuigkeit ahnend, schickten sie ihre Kinder, sie sollten feststellen, was dieser Auflauf vor dem Tor der Nachbarin Maria bedeutete. Vergebliche Mühe, denn nur die Männer bekamen Zutritt. Das Tor wurde herrisch geschlossen, kein neugieriges Weib Nazareths erfuhr und hat bis auf den heutigen Tag erfahren, was im Hause des Zimmermanns Josef geschah. Damit ihre unbefriedigte Neugierde Nahrung hätte, mussten sie sich einiges ausdenken, und so machten sie aus dem Bettler, den sie nie gesehen, einen Dieb und Einbrecher, was sehr ungerecht, hatte doch der Engel, aber verratet niemandem, dass er ein solcher gewesen, das Verspeiste nicht gestohlen, stattdessen aber ein übernatürliches Pfand zurückgelassen. Es begab sich nämlich, dass, während die beiden älteren Greise mit Fragen in Maria drangen, der Jüngste, Zachäus, in der Nachbarschaft Erkundigungen einzog über den Bettler, der, den Angaben der Zimmermannsfrau folgend, so und so ausgesehen haben mochte, doch keine der Nachbarinnen konnte mit Einzelheiten dienen, aber nein, gestern ist hier kein Bettler vorbeigekommen, und falls doch, bei mir hat er nicht angeklopft, muss wohl ein durchziehender Dieb gewesen sein, und weil er Leute im Hause vorfand, hat er den um Almosen bittenden Bedürftigen gespielt und dann das Weite gesucht, ein alter Trick, den kennt man, seit die Welt besteht.
Zachäus fand sich ohne Neuigkeit wieder in Josefs Haus ein, gerade als Maria zum dritten oder vierten Mal wiederholte, was wir bereits wissen. Alle hockten drin im Haus, sie aber stand da, wie eines Verbrechens angeklagt, der Napf auf dem Fußboden, und drin, pulsierend wie ein Herz, bedrängend, die geheimnisvolle Erde, auf der einen Seite Josef, und ihm gegenüber die Greise, Richtern gleich, indessen Dotaim, der im Alter mittlere, Rede führte, Nicht, dass wir deine Geschichte bezweifeln möchten, aber schau, du als Einzige hast den Mann gesehen, falls es einer war, dein Ehemann weiß von ihm weiter nichts, hat nur dessen Stimme gehört, und nun kommt Zachäus und sagt, keine deiner Nachbarinnen hat ihn gesehen, Ich kann es vor Gott beschwören, er weiß, dass mein Mund die Wahrheit spricht, Die Wahrheit zwar, aber wer weiß, ob die ganze Wahrheit, Ich will des Herrgotts Prüfwasser trinken, und er möge kundtun, ob ich Schuld habe, Die Bitterwasserprobe gilt für die der Untreue verdächtigten Frauen, du konntest deinem Mann nicht untreu sein, dazu reichte die Zeit nicht, Die Lüge, sagt man, ist gleichbedeutend mit Untreue, Eine andere, nicht diese, Mein Mund ist so treu wie ich selbst. Hier nun ergriff Abiatar das Wort, der älteste der drei Greise, Wir werden dich nicht weiter fragen, der Herrgott lohne dir siebenfach die Wahrheit, die du gesagt haben magst, oder strafe dich siebenfach für die Lüge, falls du mich hintergangen hast. Er unterbrach sich und fuhr nach kurzer Pause, an Zachäus und Dotaim gewandt, fort, Was tun wir mit dieser gleißenden Erde, hier darf sie nicht bleiben, rät uns die Vorsicht, es könnte ja sehr wohl Teufelswerk sein, Möge sie, sprach Dotaim, an ihren Ursprung zurückkehren, möge sie wieder dunkle Erde werden. Zachäus sagte, Wir wissen nicht, wer der Bettler war, und weder, warum er nur von Maria gesehen werden wollte, noch, was das Geglitzer einer Hand voll Erde auf dem Grund eines Napfs bedeutet. Fort mit ihr in die Wüste, sprach Dotaim, streuen wir sie dort aus, fern den Menschenblicken, damit der Wind sie in die Weite bläst und der Regen den Glanz löscht. Zachäus sagte, Wenn diese Erde ein Gutes ist, soll sie nicht sonst wohin geraten, und ist sie ein Böses, mögen nur jene ihr ausgesetzt sein, die zu ihrer Entgegennahme erwählt wurden. Abiatar fragte, Was also schlägst du vor, und Zachäus antwortete, Dass hier ein Loch gegraben und der Napf da hinein versenkt wird, denn so vermischt sich dies nicht mit der natürlichen Erde, ein Gut, auch wenn vergraben, geht nicht verloren, ein Böses aber, wenn den Blicken entzogen, übt weniger Gewalt, Was ist denn deine Meinung, Dotaim, fragte Abiatar, und dieser fand, Der Vorschlag von Zachäus ist trefflich, befolgen wir ihn. Hierauf Abiatar zu Maria, Entferne dich, lass uns tun, Wohin soll ich gehen, fragte Maria, und Josef, aufgeregt, Falls wir den Napf vergraben, dann aber nicht im Haus, ich mag nicht über einem verscharrten Licht schlafen. Abiatar sprach, Es geschehe, wie du sagst, und an Maria gewandt, Du bleib hier. Die Männer traten in den Hof hinaus, Zachäus trug den Napf. Bald waren Geräusche der Grabhacke zu hören, wiederholte, harte. Josef war es, der grub, nach einigen Minuten dann Abiatars Stimme, Das langt, es ist tief genug. Maria spähte durch den Spalt in der Tür, sie sah Josef den Napf, mit darübergestülpten Krugscherben, ins Loch versenken, so tief, dass sein ganzer Arm drin verschwand, dann stand er auf, griff wieder zur Hacke, zog das Erdreich ins Loch, trat es sodann fest.
Die Männer verharrten noch eine Weile im Hof, sprachen miteinander, schauten auf den Fleck aus frischer Erde, als hätten sie soeben einen Schatz vergraben, und wollten sich die Stelle genau merken. Doch gewiss nicht hierüber redeten sie, denn plötzlich war die Stimme des Zachäus lauter zu hören, im Ton einer spaßigen Zurechtweisung, Sag mal, Josef, was bist du mir für ein Zimmermann, kannst nicht mal ein Bett schreinern, jetzt, da deine Frau schwanger ist. Die anderen lachten, und Josef mit ihnen, recht beifällig, wie ein uneingeständig Ertappter. Maria sah jene zum Tor schreiten und hinaustreten, sie aber, nun auf der Steinbank am Herd sitzend, ließ den Blick durch den Raum schweifen, suchte nach dem geeigneten Stellplatz für das Bett, falls der Mann sich entschlösse, eines zu zimmern. An den irdenen Napf und den gleißenden Inhalt mochte sie nicht denken, auch nicht daran, ob der Bettler wahrhaftig ein Engel gewesen war oder ein Schalk, der sie nur zum Narren gehalten hatte. Eine Frau, der man ein Bett in Aussicht stellt, hat zu überlegen, wo es dann am besten steht.
Im Übergang vom Monat Tammus zu den Tagen des Monats Ab, während in den Weinbergen Lese gehalten wurde und die ersten reifen Feigen sich aus dem dunklen Grün der rauen Blätter abhoben, waren all jene Dinge vorgefallen, geläufig und üblich die einen, etwa dass ein Mann sich fleischlich zu seinem Weib einte und sie entsprechend später dann zu ihm sprach, Ich bin schwanger von dir, wahrlich außergewöhnlich hingegen anderes, beispielsweise dass es einem vorbeikommenden Bettler zufiel, die Verkündigung zu tun, er aber, nach aller Vernunft, ursächlich ohne Beziehung zu dem Fall, lediglich der Vollbringer des bislang ungeklärten Wunders in Gestalt der Licht verstrahlenden Erde, die Josefs Misstrauen und die kluge Vorsicht der Greise dem Zugriff und der Erforschbarkeit entzogen haben. Folgen wird die sengende Hitze, die Felder dann kahl, nur Stoppeln und Trockenheit, Nazareth ist ein von Schweigen und Einsamkeit umgebenes graues Dorf in den erstickend heißen Stunden des Tages, harrend der gestirnten Nacht, wenn dann endlich das Atmen der im Dunkel verharrenden Landschaft spürbar und vernehmlich die Musik der sich aneinanderreibenden Himmelssphären. Nach dem Abendessen pflegte Josef sich in den Hof zu setzen, rechts von der Haustür, um die Frische der Luft zu genießen, gern ließ er sich über Gesicht und Bart den ersten kühlenden Hauch des Abends streichen. Wenn es schon ganz dunkel war, kam auch Maria, und sie setzte sich, ihrem Manne gleich, auf den Erdboden, wählte jedoch die andere Seite der Tür, und da saßen die zwei, stumm, lauschten den häuslichen Geräuschen von nebenan, des Lebens in Familie, die sie noch nicht waren, da noch ohne Kinder, Wolle Gott, dass es ein Junge wird, sann Josef tagsüber hin und wieder, und Marias Gedanke war, Wolle Gott, dass es ein Junge wird, ihr Grund indes ein anderer. Marias Bauch schwoll ohne Eile, Wochen und Monate verstrichen, bevor ihr Zustand augenscheinlich wurde, und da sie, weil so bescheiden und zurückhaltend, wenig Umgang mit den Nachbarinnen pflegte, überraschte ihre Fülle dann desto mehr, als wäre sie über Nacht zum Ballon geworden. Vielleicht hatte Marias Schweigen einen anderen, viel geheimeren Grund, dass nämlich ja kein Zusammenhang erkennbar würde zwischen ihrer Schwangerschaft und dem Auftauchen des geheimnisvollen Bettlers, eine Vorkehrung, die wir, da in die Dinge eingeweiht, nur eben für absurd halten würden, käme es nicht vor, dass Maria sich, in Stunden der körperlichen Ermattung und des ungebundenen geistigen Abschweifens, fragt, Aber wieso, heiliger Gott, zugleich erschrocken über die Unvernunft des Zweifels und erfasst von einem inneren Beben, bei der Frage, wer denn nun, wirklich und wahrhaftig, der Vater des Kindes ist, das in ihr heranwächst. Bekannt ist, dass Frauen in diesem ihrem interessanten Zustand zu Gelüsten und Hirngespinsten neigen, und mitunter weitaus Schlimmerem als der Sache hier, die wir geheim halten werden, damit der gute Ruf der künftigen Mutter nicht Befleckung erfahre.
Die Tage verstrichen, ein träger Monat folgte dem anderen, es verging der wie Backofen glühende Elul mit seinem Wind aus den Sandwüsten, der verbrennend die Lüfte blies, zu der Zeit, da die Datteln und Feigen Honigsüße gewinnen, es verging der Monat Tischri, wenn dann die ersten Herbstregen die Erde aufweichen und den Pflug zur Bereitung des Saatbeetes rufen, und im folgenden Monat, dem Marcheschwan, der Zeit der Olivenernte, und bei schon kühlen Tagen, entschloss sich Josef, ein Bett zu zimmern, ein ländlich derbes, denn zu einer ihres Namens würdigen Bettstatt, wissen wir bereits, reicht sein handwerkliches Können nicht, ein Lager sollte es werden, auf dem Maria, nach so langem Warten, ihrem lastend schweren und unbequemen Bauch Ruhe gewähren könnte. In den letzten Tagen des Kislew und fast den ganzen Monat Tebet fielen die heftigen Regen, da war das Werken im Hof nicht möglich, Josef nutzte allenfalls die kurzen Aufheiterungen, um sperrige Stücke zu bearbeiten, ansonsten hantierte er meist im Hause, angewiesen auf das durch die geöffnete Tür hereinfallende Licht, und da hobelte und raspelte er die grob vorgefertigten Joche, bedeckte den Fußboden ringsum mit Sägemehl und Spänen, die Maria hernach zusammenkehrte und auf den Hof warf.
Im Monat Schebat hatten die Mandelbäume geblüht, und schon war man, nach dem Purimfest, in den Monat Adar getreten, da erschienen in Nazareth römische Soldaten, deren etliche, die durch Galiläa zogen, von Dorf zu Stadt, von Stadt zu Dorf, und andere durch die übrigen Landstriche in des Herodes’ Königreich, den Einwohnern kundtuend, dass laut Edikt des Cäsar Augustus all jene Familien, deren Heimatort in den von Landpfleger Publius Sulpicius Quirinius regierten Provinzen liege, sich zur Eintragung in die Steuerlisten schätzen lassen müssten und dass diese Schätzung, wie andere auch, dem Zwecke diene, Roms Abgabenkataster auf den neuen Stand