Das Evangelium nach Lukas - Ambrosius von Mailand - E-Book

Das Evangelium nach Lukas E-Book

Ambrosius von Mailand

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Beschreibung

Ambrosius von Mailand war römischer Politiker, als er zum Bischof von Mailand gewählt wurde. Er ist nicht nur einer der vier lateinischen Kirchenlehrer der Spätantike der Westkirche, sondern seit 1295 auch den Ehrentitel Kirchenvater. In diesem Band findet sich sein Kommentar zum Evangelium nach Lukas (mit Ausschluß der Leidensgeschichte).

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Das Evangelium nach Lukas – Kommentar (mit Ausschluss der Leidensgeschichte)

 

AMBROSIUS VON MAILAND

 

DIE SCHRIFTEN DER KIRCHENVÄTER

 

 

 

 

 

 

Das Evangelium nach Lukas (Kommentar), Ambrosius von Mailand

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849659677

 

Druck: Bookwire GmbH, Kaiserstr. 56, 60329 Frankfurt/M.

 

Cover Design: Basierend auf einem Werk von Andreas F. Borchert, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35892522

 

Der Text dieses Werkes wurde der "Bibliothek der Kirchenväter" entnommen, einem Projekt der Universität Fribourg/CH, die diese gemeinfreien Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Die Bibliothek ist zu finden unter http://www.unifr.ch/bkv/index.htm.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

 

INHALT:

Proömium...

Erstes Buch, Luk. 1, 1―25.

Zweites Buch, Luk. 1,26-3,22.

Drittes Buch, Luk. 3,23-38.

Viertes Buch, Luk. 4,1-5,11.

Fünftes Buch, Luk. 5,12-7,28.

Sechstes Buch, Luk. 7,29-9,22.

Siebtes Buch, Luk. 9,27-16,13.

Achtes Buch, Luk. 16,14-19,27.

Fußnoten.

 

 

 

Bibliographische Angaben:

 

Titel Version: Lukaskommentar (mit Ausschluß der Leidensgeschichte) (BKV) Sprache: deutsch Bibliographie: Lukaskommentar (mit Ausschluß der Leidensgeschichte) In: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Lukaskommentar mit Ausschluss der Leidensgeschichte. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Joh. Ev. Niederhuber. (Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand ausgewählte Schriften Bd. 2; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 21) München 1915. Unter der Mitarbeit von: Rudolf Heumann

 

 

 

Proömium

 

Der Stil des Lukasevangeliums (1). Die drei Arten der Philosophie: Natur-, Moral-, Vernunftphilosophie kennt und lehrt schon das Alte Testament (2), ferner das Neue Testament (3), im besonderen das Lukasevangelium (4—6). Chronologische Anordnung des letzteren. Dessen Symbol das Opferkalb (7). Beziehung der vier Evangeliensymbole auf Christus (8).

 

1.

[Forts.] Im Begriff, (eine Erklärung) zur Evangeliumschrift zu schreiben, worin der heilige Lukas eine im volleren Sinn des Wortes geordnete Darstellung der Lebensgeschichte des Herrn gegeben hat1, glauben wir zunächst eben über die Darstellungsweise Aufschluß geben zu sollen: sie ist die geschichtliche. Denn wenn auch die Göttliche Schrift die Lehre der Weltweisheit als nichtig erscheinen läßt2, insofern sie mehr mit vielen Worten prunkt als auf sachliche Gründe sich stützt, so wird doch einer, der auch in den Göttlichen Schriften die Vorzüge sucht, die in den Augen jener Bewunderung verdienen, sie finden.

  

2.

Drei Dinge nämlich sind es, die nach der Ansicht der Weisen dieser Welt weitaus den Vorzug verdienen. Drei Arten der Philosophie seien zu unterscheiden: die Natur-, die Moral- und die Vernunftphilosophie3. Wir konnten diese drei Arten bereits im Alten Testamente wahrnehmen4. Denn was anders versinnbilden jene drei Brunnen des Gesichtes5, des Überflusses6 und des Schwures7 als diesen dreifachen Vorzug, den die Patriarchen besaßen. Der Brunnen des Gesichtes bezieht sich auf das Vernünftige8, insofern die Vernunft das Auge des Geistes schärft und den Blick der Seele klärt; der Brunnen des Überflusses auf das Sittliche, insofern Isaak erst nach der Trennung von den fremden Stammesangehörigen9, der typischen Repräsentanten der Fleischeslaster, den Born des lebendigen Geistes gefunden hat, ― reines Wasser nämlich sprudeln die guten Sitten, und das Gutsein selbst, eine soziale Tugend, strömt reichlich anderen, karger sich selbst ―. Der dritte Brunnen ist der des Schwures. Er bedeutet die Naturphilosophie10, die sich mit den Dingen der übernatürlichen oder der natürlichen Ordnung befaßt. Denn was von Gott als Zeugen ausgesagt oder beschworen wird, nimmt wegen der Beiziehung des Herrn der Natur als Beglaubigungszeugen auch göttlichen Charakter an. Was anders zeigen uns desgleichen die drei Bücher Salomos: das eine von den Sprüchen, das andere der Prediger, das dritte vom Hohen Lied, als daß der heilige Salomo mit dieser dreifachen Weisheit wohlvertraut war?11 Über die Vernunft- und Sittenwahrheiten schrieb er in den Sprüchen; über Naturwahrheiten im Prediger: „O Eitelkeit der Eitelkeiten und alles ist Eitelkeit"12, was in dieser Welt besteht, S. 7 „denn der Nichtigkeit ist die Schöpfung unterworfen"13; über die wunderbaren14 Vernunftwahrheiten (Mysterien) aber im Hohen Lied, insofern dann, wenn sich unserer Seele die Liebe des himmlischen Wortes einsenkt und mit der (übernatürlichen) Vernunfterkenntnis heilige Gesinnung wie im Bunde sich vereinigt, wunderbare Geheimnisse sich enthüllen.

  

3.

[Forts.] Welche (Art von) Weisheit hätte nach deiner Ansicht desgleichen den Evangelisten gefehlt? Sie weisen wohl von den verschiedenen Arten derselben reichen Ertrag auf, doch tut jeder wiederum in einer anderen Art sich besonders hervor. So enthält sicherlich die nach Johannes betitelte Evangeliumschrift Naturphilosophie15. Denn niemand sonst, wage ich zu behaupten, hat mit so erhabener Weisheit die Majestät Gottes geschaut und in eigenartiger Sprache uns erschlossen. Er schwang sich auf über die Wolken, schwang sich auf über die Kräfte des Himmels, schwang sich auf über die Engel und fand „im Anfang das Wort" und schaute „das Wort bei Gott"16. Wer aber hätte in höherem Grade die dem Menschen entsprechenden Lebensvorschriften bis ins einzelne unter dem Gesichtspunkt des Sittlichen erforscht und uns (schriftlich) vorgelegt als der hl. Matthäus? Was wäre wegen ihrer wunderbaren Verbindung vernunftgemäßer als die Verse, die der hl. Markus sogleich an den Anfang stellen zu müssen glaubte: „Sieh, ich sende meinen Engel" und: „die Stimme des Rufenden in der Wüste"?17 Er wollte so einerseits Bewunderung hervorrufen, andererseits zeigen, wie der Mensch durch Demut und Enthaltsamkeit und Glauben gefallen müsse gleich jenem heiligen Johannes dem Täufer, der über die drei Stufen zur Seligkeit emporstieg: Kleidung, Nahrung, Predigt.

  

4.

Der heilige Lukas hat dagegen eine Art geschichtliche Anordnung eingehalten und uns eine größere Anzahl wunderbarer Begebenheiten aus der Lebensgeschichte des Herrn bekannt gegeben, doch so, daß die Geschichte dieses seines Evangeliums die Vorzüge der ganzen Weisheitslehre in sich schließt. Denn welche erhabenere Wahrheit kännte die Naturphilosophie als die von ihm mitgeteilte Tatsache, es sei der Heilige Geist auch Schöpfer der Menschwerdung des Herrn gewesen?18. In die Naturwahrheiten schlägt sonach seine Lehre von der schöpferischen Wirksamkeit des (Heiligen) Geistes ein. Darum trägt auch David Naturphilosophie vor, wenn er sagt: „Sende aus Deinen Geist und sie werden erschaffen werden"19. Die Lehre vom Sittlichen vertritt (Lukas) in der gleichen Schrift, indem er mir in jenen Seligpreisungen20 sittliche Unterweisungen erteilt, wie ich den Feind lieben müsse21, wie ich dem tätlichen Angreifer nicht Hieb und Schlag zurückgeben dürfe22, wie ich Gutes tun, Darlehen geben müsse ohne Aussicht auf Rückerstattung und mit Aussicht auf die (göttliche) Lohnvergeltung23; denn leichter fällt einem der Lohn zu, wenn man ihn nicht (von Menschen) erwartet. Auch in Vernunftwahrheiten unterwies er mich, wenn ich lese, daß der, „welcher treu ist im Kleinsten, auch in bezug auf Größeres treu ist"24. Was soll ich noch hinsichtlich der Naturwahrheiten an seine Lehre erinnern, die Kräfte der Himmel würden erschüttert25, der Herr der Sonnen26 sei Gottes eingeborener Sohn, bei dessen Leiden bei Tag Finsternis entstanden sei, die Erde in Dunkel sich gehüllt, die Sonne sich verborgen habe?27

  

5.

Der ganze Vorrang also, den sich die weltliche Weisheit fälschlich anmaßt, gebührt in Wahrheit der geistlichen Weisheit. Kann doch, um eine etwas kühne Wendung zu gebrauchen, selbst unser Glaube, selbst das Trinitätsgeheimnis nicht ohne die dreifache Weisheitslehre gedacht werden: ohne den Glauben an jenen, der von Natur der Vater ist, der uns den Erlöser erzeugt hat, und an jenes sittliche Ideal, (den Sohn,) der als Mensch dem Vater bis zum Tode gehorsam28 uns erlöst hat, und an jenen vernünftigen Geist, welcher der Menschenbrust die vernünftige Gottesverehrung und Lebensführung eingesenkt hat. Niemand glaube, wir hätten damit einen Unterschied zwischen ihrer Macht und Kraft gemacht, eine Verdächtigung, mit der er doch ebensogut einen Paulus begeifern könnte! Denn auch dieser machte keinen Unterschied, da er sprach: „Es gibt Unterschiede der Gnadengaben, aber es ist derselbe Geist; und es gibt Unterschiede der Ämter, aber es ist derselbe Herr; und es gibt Unterschiede in den Wirkungen, aber es ist derselbe Gott, der alles in allen wirkt"29. Alles und in allen wirkt nämlich der Sohn, wie man auch an einer anderen Stelle liest: „Alles und in allen ist Christus"30. Es wirkt aber auch der Heilige Geist; denn „alles wirkt ein und derselbe Geist, einem jeden zuteilend, wie er will"31. Also keine Verschiedenheit des Wirkens, keinen Unterschied kann es geben, wo keiner Person weder im Vater, noch im Sohne, noch im Heiligen Geiste eine untergeordnete Kraftvollkommenheit zukommt.

  

6.

Dies also laßt uns beim Lesen ernstlich bedenken, damit es uns an den (einschlägigen) Stellen selbst besser einzuleuchten vermag! „Denn wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan werden"32. Nur reges Streben öffnet sich die Pforte zur Wahrheit: darum laßt uns den himmlischen Lehren folgen! Nicht umsonst ward zum Menschen gesprochen, was zu keinem anderen lebenden Wesen gesprochen wurde: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen"33. Den von Natur unvernünftigen Wesen muß auf Gottes Geheiß die Erde die Nahrung bieten, dem  Menschen allein hingegen wird, damit er die Vernunft, die er empfangen, betätige, ein in Arbeit verlaufendes Leben zur Vorschrift gemacht. Er, der sich ja mit der Nahrung der übrigen lebenden Wesen nicht zufrieden gibt, dem die Gabe der Obstbäume, die allen gemeinsam ihre Speise reichen sollten, nicht genügt, der vielmehr nach Genüssen bunt besetzter Tafeln verlangt, Genüsse aus überseeischen Ländern sich herbeiholt, Genüsse aus den Fluten rafft; er, der es sich schon für den (irdischen) Lebensunterhalt Mühe kosten läßt, darf es nicht verschmähen, wenn er für das ewige Leben kurzer Mühe sich unterziehen muß. Wer nun in diese Kämpfe heiliger Wissenschaft eintritt, die Sorge um dieses der Verirrung ausgesetzte Leben abstreift, der Bande der Sündhaftigkeit ledig, als Streiter der Frömmigkeit gleichsam der Seele Glieder mit des Geistes Öl salbt und den Kämpfen der Wahrheit sich unterzieht, der wird zweifellos den ewigen Lohn heiliger Siegeskronen verdienen. „Denn guter Arbeit harrt edle Frucht"34. Und je mehr Kämpfe, um so herrlicher der Tugenden Krone.

  

7.

Doch kehren wir zum Thema zurück! In geschichtlicher Darstellungsweise, bemerkten wir, wurde unser Evangeliumbuch abgefaßt. So sehen wir denn auch, daß im Vergleich zu den anderen das reichlichere Maß der Sorgfalt mehr auf den Bericht der Tatsachen denn auf die Wiedergabe der Lehren verwendet ist. Der Evangelist selbst begann nach dem Brauch eines Historikers mit einer Erzählung: „Es lebte", beginnt er, „in den Tagen des Herodes, des Königs von Judäa, ein Priester namens Zacharias"35. Und nun erzählt er diese geschichtliche Begebenheit in ausführlicher Darstellung zu Ende. Darum wollten auch jene Autoren, welche die vier apokalyptischen Tiergestalten36 auf die vier Evangelienschriften beziehen zu sollen glaubten, unsere Schrift durch das Symbol des Kalbes versinnbildet finden; denn das Kalb ist priesterliches Opfertier. Dazu  nun stimmt trefflich unsere Evangeliumschrift. Es beginnt mit einer Priesterfamilie und schließt mit jenem Opferkalb, das die Sünde aller auf sich nehmend für das Leben der ganzen Welt dargebracht ward; denn priesterlichen Charakter trägt jenes Opferkalb an sich; der nämliche ist ja Opfer und Priester zugleich: Priester, weil er unser Versöhner ist ― denn zum Fürsprecher haben wir ihn beim Vater37 ― Opfer, weil er uns mit seinem eigenen Blute erlöst hat38. Es war wohl am Platze, die derartige Auffassung (vom Lukasevangelium) nicht mit Stillschweigen zu übergehen, nachdem wir beim Matthäusevangelium die* sittliche* Grundtendenz konstatiert haben; von Sitten im eigentlichen Sinn ist nämlich nur beim Menschen die Rede.

  

8.

Gar manche meinen indes, unser Herr selbst werde in den vier Evangelienschriften unter den vier Tiergestalten symbolisch dargestellt, indem er zugleich Mensch, zugleich Löwe, zugleich Kalb, zugleich Adler sei: Mensch, weil er aus Maria geboren ward; Löwe, weil er „der Starke"39 ist; Kalb, weil er Opfer ist; Adler, weil er die Auferstehung ist40. Und zwar gelangen in den einzelnen Schriften die Tiergestalten in der Weise zur typischen Verwendung, daß der Inhalt einer jeden entweder der Natur oder der Kraft der vorstehenden Wesen oder ihrer (typischen) Beziehung zur Gnade oder zum Wunder entspricht. Denn wenn auch dies alles in allen (Evangelien) sich findet, so gelangen die Einzelvorzüge doch nur in je einem derselben zur erschöpfenden Darstellung: Der eine (Evangelist) schrieb ausführlicher über die menschliche Abstammung (Christi) und gab zugleich in ausführlicheren Vorschriften eine sittliche Anleitung des Menschen; der andere begann mit der ausdrücklichen Hervorhebung seiner göttlichen Macht, wie er, ein König von einem Könige, ein Starker von einem Starken, ein Wahrhafter von einem  Wahrhaftigen, ob seiner lebendigen Kraft den Tod verachtete; der dritte stellte an den Anfang das Opfer eines Priesters und verbreitete sich in erschöpfenderer Darstellung über die Hinopferung des Opferkalbes (Christus) selbst; der vierte brachte eingehender als die übrigen die Wunder der göttlichen Auferstehung zum Vortrag. So ist also „einer alles und* einer* in allen"41, wie es in der Schriftlesung geheißen hat; nicht in jeder Schrift anders, sondern in sämtlichen wahr dargestellt. ― Doch nun laßt uns an den Wortlaut des Evangeliums selbst herantreten!

 

 

 

Erstes Buch, Luk. 1, 1―25

 

1. Der Prolog zum Evangelium, Luk. 1,1-4

 

Verwandte Erscheinungen in der alt- und neutestamentlichen Heilsgeschichte: wahre und falsche Propheten (1). Apokryphe Evangelien (2). Die Wirksamkeit der Inspirationsgnade im Hagiographen (3). Das Wort, nicht das Wunder das Mittel der Glaubensverbreitung (4). Vom Schauen des Wortes Gottes (5—7). Intention und Handlung, die beiden Tugendfunktionen im Vollkommenen (8—9). Der menschliche Wille und die Inspiration (10). Nicht Vollständigkeit, sondern Sorgfältigkeit ein formaler Vorzug der Lukasschrift (11). Das Evangelium ein den Gläubigen anvertrautes Pfand (12). Vom Mottenfraß der Häresie (13). Vom Rost der Sünde an der Seele (14).

 

1.

[  ] * „Weil denn viele versucht haben, eine geordnete Darstellung von den Tatsachen zu geben"42. Die Geschichte unserer Zeit weist in ihrer Entwicklung vielfach die gleichen Erscheinungen und Ursachen auf wie die altjüdische, teilt mit ihr analoge Vorgänge, die den gleichen Lauf und Verlauf nehmen, hat Geschehnisse mit ihr gemeinsam, die sich vom Anfang bis zum Ende ähneln. Wie43 nämlich viele in jenem Volk auf Eingebung des göttlichen Geistes geweissagt haben, andere hingegen nur sich anheischig machten zu weissagen und ihren Beruf durch Lügenhaftigkeit herabwürdigten ― sie waren mehr Pseudopropheten als Propheten, wie Ananias, der Sohn  Azots44; das Volk aber besaß die Gabe der Unterscheidung der Geister45, um zu erkennen, welche es zur Zahl der Propheten rechnen, welche es dagegen gleich einem tüchtigen Münzkontrolleur für unecht erklären solle, nachdem an ihnen mehr die trübe Farbe eines falschen Münzstückes denn das Blinken echten Metallglanzes hervorträte ― so haben wir dieselbe Erscheinung auch jetzt noch im Neuen Testament: Viele haben versucht, Evangelien zu schreiben, welche die guten Münzkenner als unecht befunden haben. Nur eines* aber, in vier Büchern dargestellt, glaubten sie aus allen (als echt) auswählen zu müssen.

  

2.

Noch ein anderes Evangelium zwar ist im Umlauf, angeblich von den Zwölfen verfaßt46. Auch Basilides47 unterfing sich, ein Evangelium zu schreiben, das sogenannte ‚Evangelium nach Basilides'. Wiederum ein anderes Evangelium zirkuliert unter dem Titel ‚Nach Thomas'48. Eine weitere Schrift kenne ich ‚Nach Matthias'49. Wir haben einige (Apokryphen) gelesen, um ihrer Lektüre zu steuern; gelesen, um nicht im Unwissenden darüber zu sein; gelesen, nicht um sie zu behalten, sondern zurückzuweisen; um zu wissen, welcher Art die Schriften sind, worin jene (Gnostiker) mit großem Getue „ihr Herz erheben"50. Doch die Kirche hat, obschon im Besitze von nur vier Evangelienschriften, die ganze Welt voll Evangelisten, die Häresien trotz deren Menge nicht einen; denn viele haben wohl „den Versuch gemacht", doch durch Gottes Gnade ohne Erfolg. So manche auch haben diejenigen Abschnitte aus  den vier Evangelienschriften, die ihrer Meinung nach mit dem Gift ihrer Lehren übereinstimmten, zu* einem* Ganzen vermengt. ― So lehrt nun die Kirche in dem* einen* Evangelium, das sie besitzt, nur* einen* Gott, jene hingegen, nach welchen der Gott des Alten Testamentes von dem des Neuen verschieden ist, haben den vielen Evangelien zufolge nicht einen, sondern mehrere Götter geschaffen.

  

3.

[Forts.   ] „Weil denn viele versucht haben". Ja nur „versucht" haben sie’s, die nichts zu Ende führen konnten. Daß viele daran gegangen, aber nicht zu Ende gekommen sind, bezeugt nun mehr denn hinlänglich auch der heilige Lukas, indem er hervorhebt, gar viele hätten den Versuch gemacht. Wer es nämlich bloß zum Versuch einer geordneten Darstellung brachte, setzte nur sein eigenes Mühen ein und brachte nichts zu Ende; denn die Charismen und die Gnade Gottes belassen es nicht beim bloßen Versuch. Diese pflegt vielmehr den Geist des Schriftstellers im Augenblick, da sie sich in ihn ergießt, zu befruchten, so daß er nicht darbt, sondern reichlich überquillt. Nicht beim Versuche blieb ein Matthäus stehen, nicht beim Versuch ein Markus, nicht beim Versuch ein Johannes, nicht beim Versuch ein Lukas, sondern kraft des göttlichen Geistes, der ihnen die Fülle aller Aussprüche und Taten (des Herrn) darbot, führten sie das Begonnene ohne alle Anstrengung zu Ende. Darum fügt nun (Lukas) passend hinzu: „Weil denn viele versucht haben, eine geordnete Darstellung von den Tatsachen zu geben,* die in uns erfüllt worden sind", bezw.: „die in uns in Fülle vorhanden sind"*.

  

4.

Was nämlich in Fülle da ist, dessen mangelt niemand, und was in Erfüllung gegangen, das bezweifelt keiner, weil die Verwirklichung Glaubwürdigkeit begründet, der schließliche Ausgang sie offen dartut. So ist nun das Evangelium eine erfüllte Tatsache und strömt (in seiner Überfülle) über auf alle Gläubigen auf dem ganzen Erdkreise und befruchtet den Geist und bestärkt den Sinn aller. Mit Recht hebt darum (der Evangelist),  der „im Felsen (Christus) gründend"51 die ganze „Fülle des Glaubens"52 und die Kraft der Standhaftigkeit in sich aufgenommen, hervor: „die* in uns* erfüllt worden sind". Denn nicht mit Zeichen und Wundern, sondern durch das Wort scheiden diejenigen das Wahre und Falsche auseinander, welche die Heilsgeschichte des Herrn darstellen, oder welche ihren Sinn auf das Wunderbare an ihm hinlenken. Denn was wäre so vernünftig als der Glaube, daß die Werke übermenschlicher Art, von denen man liest, Wirkungen einer höheren Natur sind, oder aber der Glaube, daß das Sittliche53, von dem man liest, das Erlebnis einer wirklich angenommenen Menschheit54 ist? So gründet denn unser Glaube in Wort und Vernunft, nicht in Wunderzeichen.

  

5.

„Wie es uns diejenigen überliefert haben, die von Anfang an selbst Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind"55. Dieser Satz will nicht sagen, daß wir mehr Wert auf den Dienst als auf das Anhören des Wortes legen sollen. Es wird vielmehr damit überhaupt nicht das gesprochene Wort, sondern jenes wesenhafte Wort bezeichnet, das „Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat"56. Darum wollen wir darunter auch nicht das Wort im gewöhnlichen Sinn, sondern jenes himmlische verstehen, in dessen Dienst die Apostel standen. Es steht indes im Buche Exodus zu lesen: „Das Volk sah die Stimme des Herrn"57. Die Stimme sieht man doch nicht, sondern man hört sie. Denn was ist die Stimme anders als ein Laut, den man nicht mit Augen sieht, sondern nur hört. Demgegenüber war es Moses zu tun, gar tiefsinnig zu erklären, wie Gottes Stimme sich schauen lasse; mit des Geistes Auge im Innern nämlich lasse sie sich schauen. Im Evangelium hingegen schaut man nicht die  Stimme, sondern jenes Wort, das vorzüglicher ist denn die Stimme. Darum versichert auch der heilige Evangelist Johannes: „Was von Anfang war, was wir gehört und was wir gesehen, mit eigenen Augen geschaut und unsere Hände geprüft haben vom Worte des Lebens: und das Leben ist offenbar geworden, und wir haben es geschaut und bezeugen und verkündigen euch vom Leben, welches beim Vater war und uns erschienen ist"58. Du siehst also, wie die Apostel das Wort Gottes sowohl schauten wie hörten. Sie schauten nämlich den Herrn nicht bloß als Menschen, sondern auch als das Wort: sie, die mit Moses und Elias die Herrlichkeit des Wortes schauten59, schauten das Wort; denn nur die, welche im Lichte der eigenen Verklärung schauten, vermochten Jesus zu schauen, andere schauten ihn nicht: sie vermochten nur seinen Leib zu sehen; denn nicht mit leiblichem, sondern mit geistigem Auge wird Jesus geschaut.

  

6.

So schauten denn die Juden Jesus nicht, obschon sie ihn sahen. Es schaute ihn aber Abraham; denn es steht geschrieben: „Abraham hat meinen Tag geschaut und frohlockt"60. Es schaute ihn Abraham, obschon er doch den Herrn nicht im Leibe gesehen. Doch da er ihn im Geiste schaute, schaute er ihn auch im Leibe; wer ihn aber nur leiblich sah und nicht geistig schaute, der schaute im Leibe nicht, was er sah. Es schaute ihn Isaias und schaute ihn, weil er ihn im Geiste schaute, auch im Leibe: „Nicht hatte er, so sprach er denn, seine Gestalt noch Schönheit"61. Nicht schauten ihn die Juden; denn „verblendet war ihr törichtes Herz"62. Er selbst auch bezeugt die Unfähigkeit der Juden, ihn zu schauen, mit den Worten: „Blinde Führer, die ihr die Mücke seiht, das Kamel aber verschluckt!"63 die schrieen: „Kreuzige, kreuzige ihn!"64 „Denn hätten sie ihn geschaut, würden sie nimmermehr den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt haben"65. Wer also Gott  schaute, schaute auch den Emanuel, d. i. er schaute den Gott-mit-uns66; wer aber den Gott-mit-uns nicht schaute, konnte den nicht schauen, den die Jungfrau geboren. Es glaubten denn auch jene, welche an den Sohn Gottes nicht glaubten, auch nicht an den Sohn der Jungfrau.

  

7.

Was heißt nun ‚Gott schauen'? Frag nicht mich! Frag das Evangelium, frag den Herrn selbst! Vielmehr vernimm gleich seine Antwort: „Philippus, wer mich geschaut, hat auch den Vater geschaut, der mich gesendet hat. Wie kannst du sprechen: zeige uns den Vater? Glaubst du nicht, daß ich im Vater bin und der Vater in mir ist?"67 Kein Körper kann doch in einem anderen, kein Geist in einem anderen geschaut werden: indes jener Vater allein wird im Sohn geschaut, bezw. dieser Sohn im Vater geschaut; denn Unähnliches läßt sich nicht in Unähnlichem schauen, vielmehr kann nur unter der Voraussetzung der Einheit des Wirkens und der Kraft der Sohn im Vater und der Vater im Sohne geschaut werden. „Die Werke, die ich vollbringe, versichert er, vollbringt auch jener"68. In den Werken wird Jesus geschaut, in den Werken des Sohnes auch der Vater wahrnehmbar. Der schaute Jesus, der jenes Geheimnis in Galiläa schaute, weil ja niemand außer dem Herrn der Welt Elemente verwandeln konnte69. Ich schaue Jesus, wenn ich lese, wie er einen Blinden die Augen mit Erde bestrich und das Augenlicht zurückgab70; denn ich erkenne den wieder, der den Menschen aus Erde bildete und ihm den Geist des Lebens, das Licht der Augen eingoß71. Ich schaue Jesus, da er Sünden vergibt; denn niemand kann Sünden nachlassen als Gott allein72. Ich schaue Jesus, da er den Lazarus auferweckt73, während ihn die Augenzeugen (des Vorganges) nicht schauten. Ich schaue Jesus, schaue desgleichen den Vater, da ich die Augen zum Himmel erhebe, nach den Meeren wende, zur Erde zurücklenke;  „denn was an ihm unsichtbar ist, wird in den geschaffenen Dingen geistig wahrgenommen"74.

  

8.

„Wie es uns diejenigen überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind." Ein Zweifaches erheischt die Tugend im Vollkommenen: Intention und Handlung. Beide Funktionen nun legt der heilige Evangelist den Aposteln bei; denn sie waren, wie er hervorhebt, nicht bloß Schauer, sondern auch Diener des Wortes. Das Schauen intendierte den im Handeln bestehenden Dienst. Zweck der Intention aber ist die Handlung, das Erste in der Handlung die Intention. Und um uns speziell des Beispieles der Apostel zu bedienen: Die Intention besteht darin, daß Petrus und Andreas, sobald sie die Stimme des Herrn: „Ich will euch zu Menschenfischern machen" hatten rufen hören, ohne Verzug den Ruderpflock verließen, dem Worte folgten75. Doch in der Intention ist nicht ohne weiteres auch die Handlung eingeschlossen. Nicht einmal dort ist noch von einer Handlung, sondern erst von der Intention die Rede, wo Petrus klagt: „Herr, warum sollte ich Dir jetzt nicht folgen können? Mein Leben will ich für Dich einsetzen"76. Das war nämlich erst die Intention, war aber noch nicht die Leidenstat, mochte auch im Fasten, mochte im Wachen, mochte im Verzicht auf sinnliche Genüsse immerhin bereits ein Handeln liegen; es ist dies ja das Handeln eines Christen. Nicht in allem Tun liegt nämlich Intention und Handlung zugleich, sondern während bei dem einen ein Handeln vorliegt, ist bei einem anderen erst die Intention gegeben. So hat gerade auch Petrus, obschon er bereits vieles mit unermüdlichem, apostolischem Tugendeifer vollführt hatte, dennoch erst später auf des Herrn Ruf „du folge mir"77 sein Kreuz getragen, ist dem Worte nachgefolgt und hat der Tat des Leidens sich unterzogen. Doch mochte immerhin bei Petrus,  Andreas, Johannes und den übrigen Aposteln Intention und Handlung gleicherweise vorhanden sein:

  

9.

Manchmal liegt indes der Schwerpunkt mehr in der Intention als im Handeln, oder aber mehr im Handeln als in der Intention. Einen solchen Unterschied gewahren wir im Evangelium zwischen Maria und Martha. Die eine lauschte dem Worte, die andere hatte es eilig mit der Bedienung. Da hielt letztere inne und sprach: „Herr, kümmert es Dich nicht, daß sie mich allein bei der Bedienung ließ? Sage ihr also, daß sie mir helfe!" Und er antwortete ihr: „Martha, Martha, Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nicht genommen werden wird"78. Die eine also gab sich eifrig intensivem Lauschen, die andere übereifrig dienstgefälligem Handeln hin. Gleichwohl waren beide auf beide Tugendfunktionen hinlänglich bedacht. So hätte doch gewiß einerseits Martha, wenn sie dem Worte nicht gelauscht hätte, nimmer sich seinem Dienste unterzogen, einem Handeln, das die Intention verrät. Andererseits lernte Maria aus der vollkommenen Übung beider Tugendfunktionen soviel Gefälligkeit, daß sie die Füße Jesu salbte, mit ihren Haaren trocknete und das ganze Haus mit dem Wohlgeruche ihres Glaubens erfüllte79. Manchmal auch ist die Strebsamkeit (intentio) sehr groß, das Handeln unfruchtbar: so wenn jemand sein Interesse der Arzneikunde zuwendet, dieselbe aber nicht beruflich ausübt, wiewohl er alle ärztlichen Kenntnisse besitzt. So kommt es dann, daß, weil unfruchtbar sein Handeln, auch unfruchtbar sein Streben bleibt. Manche auch entfalten dann und wann ein rühriges Handeln, aber zu geringe Strebsamkeit: so wenn jemand das Geheimnis der heilbringenden Taufe empfängt und der notwendigen Kenntnis der verschiedenen Tugendvorschriften kein Interesse zuwenden wollte. So kommt es vielfach, daß er wegen lässiger Strebsamkeit der Frucht des Handelns verlustig geht. Daher die Notwendigkeit, die Vollkommenheit beider Tugendfunktionen  anzustreben, wie sie die Apostel zu erlangen vermochten, von denen es heißt: „welche von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind". Daß sie Augenzeugen waren, offenbart ihr Streben nach der göttlichen Erkenntnis; daß sie Diener waren, ihr Handeln.

  

10.

[Forts.   ] * „So hat es gefallen"*80. Es kann nicht ihm allein nur gefallen haben, wenn er erklärt „es habe ihm gefallen". Denn nicht kraft menschlichen Willens allein81 hat es ihm gefallen, sondern wie es dem gefiel, „der in mir redet, Christus"82, der bewirkt, daß das, was gut ist, auch uns als gut erscheinen kann. Denn wessen er sich erbarmt, den ruft er auch83. Darum kann, wer Christus folgt, auf die Frage, warum er Christ werden wollte, antworten: „Es hat mir gefallen". Wenn er so spricht, leugnet er nicht, daß es Gott gefallen hat; denn „von Gott wird der Wille der Menschen bereitet"84. Gottes Gnade ist es, wenn Gott von einem Heiligen verherrlicht wird. So wollten denn gar viele ein Evangelium schreiben, aber nur vier, die des göttlichen Gnadenbeistandes gewürdigt wurden, fanden Aufnahme.

  

11.

„So hat es auch mir gefallen, nachdem ich über alles von Anfang an genaue Kunde eingeholt habe der Reihenfolge nach"85. Daß unser Evangelium sorgfältiger berichtet als die übrigen, dürfte niemand bezweifeln. Darum sind es nicht falsche, sondern wahre Dinge, die es zum Gegenstand seiner Darstellung hat. Auch vom heiligen Paulus wurde ihm denn auch das verdiente Zeugnis der Sorgfältigkeit ausgestellt: „Der wegen seines Evangeliums bei allen Gemeinden Lob findet"86, versichert er. Fürwahr der muß Lob verdienen, der von dem großen Völkerlehrer des Lobes gewürdigt ward87. ― Nicht über weniges, sondern über alles, wie er versichert, holte er Kunde ein. Und nachdem er Kunde eingeholt, hat  es ihm gefallen ― nicht alles, sondern aus allem niederzuschreiben; denn nicht ‚geschrieben' hat er alles, sondern „Kunde hat er eingezogen" über alles. „Wollte man nämlich, so heißt es, alles aufschreiben, was Jesus getan, würde, wie ich glaube, die ganze Welt es nicht fassen"88. Man merkt auch, wie er selbst solches, was von anderen aufgezeichnet wurde, absichtlich übergangen hat. So bricht sich denn die Gnade im Evangelium in mannigfachem Lichte, und zeichnet jedes Buch durch Sondergut an wunderbaren Geheimnissen und Geschehnissen sich aus; denn es teilten sich die Streiter Christi in seine Kleider89. Eine erschöpfendere Erklärung über letztere Stelle wird an seinem Platz gegeben werden90.

  

12.

[Forts.   ] Adressiert aber ist das Evangelium an Theophilus, d. i. den Gottgeliebten. Wenn du Gott liebst, ist es an dich geschrieben; wenn es an dich geschrieben ist, nimm das Geschenk des Evangelisten hin! Bewahre des Freundes Pfand im Inneren des Herzens! „Bewahre die schöne Hinterlage durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist"91, betrachte sie häufig, erwäge sie oftmals! Treue gebührt vor allem dem Pfande; der Treue folgt Sorgfalt, daß nicht Motte oder Rost die dir anvertrauten Pfänder verzehre92; denn verzehrbar ist, was dir anvertraut ist. Das Evangelium ist ein schönes Pfand, doch sieh zu, daß nicht in deinem Herzen Motte oder Rost es verzehren! Mottenfraß ist’s, wenn du der guten Lektüre schlechten Glauben schenkst.

 

13.

Eine Motte ist der Häretiker, eine Motte Photinus, eine Motte für dich Arius. Es zernagt das Kleid (der Gottheit), wer das Wort von Gott trennt. Es zernagt das Kleid Photinus, da er liest: „Im Anfange war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war"; denn unversehrt bleibt das Kleid, wenn du liest: „Und Gott war das Wort"93. Es zernagt das Kleid, wer Christus von Gott trennt. Es zernagt das Kleid, wer liest:  „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich erkennen, den alleinigen wahren Gott"94, wenn er nicht auch Christus erkennt. Denn nicht allein den Vater wahrhaft als Gott erkennen, ist ewiges Leben, sondern auch Christus als wahren Gott erkennen, als den Wahren vom Wahren, als Gott von Gott, ist unsterbliches Leben. Mottenfraß ist’s, Christus erkennen zu wollen ohne den Glauben an seine Gottheit oder ohne das Geheimnis seiner Menschheit. Eine Motte ist Arius, eine Motte ist Sabellius. Diese Motten duldet nur der Geist der Glaubensschwachen. Diese Motten duldet nur der Geist, der nicht glaubt, daß der Vater und der Sohn eins sind in der Gottheit. Das Schriftwort: „Ich und der Vater sind eins"95 zernagt, wer das „eins" durch die Annahme verschiedener Wesenheiten teilt. Diese Motte duldet nur der Geist, der nicht glaubt,„daß Christus im Fleische gekommen ist"96: und er selbst ist eine Motte; denn er ist ein Antichrist97. Die aber aus Gott sind, halten am Glauben fest und können darum die Motte nicht dulden, die das Kleid zerteilt. Denn alles, was unter sich geteilt ist, wie des Satans Reich, kann nicht ewig sein98.

  

14.

Es gibt auch einen Rost der Seele, wenn der scharfe Stahl des religiösen Eifers von der Kruste weltlicher Begierden belegt oder des Glaubens Reinheit von der Dunstschicht des Unglaubens getrübt wird. Ein Rost des Geistes ist die Begierde nach Hab und Gut; ein Rost des Geistes ist die Lauheit; ein Rost des Geistes ist ein Streben nach Würden, wenn man hierin das höchste Hoffnungsideal des gegenwärtigen Lebens setzt. Darum laßt uns, dem Göttlichen zugewendet, den Geist schärfen, die Begeisterung entflammen, daß wir jenes Schwert, das der Herr um den Erlös des Rockes zu kaufen heißt99, stets bereit und blank gleichsam in der Scheide des Geistes verwahrt zu halten vermögen! Denn die geistigen, tapfer „für Gott (kämpfenden) Waffen zur Zerstörung von Bollwerken“ 100 müssen den Streitern  Christi stets zur Hand sein, damit nicht der Führer der himmlischen Heerschar101 bei seiner Ankunft über den Zustand unserer Waffen aufgebracht wird und uns vom Verband seiner Legionen ausschließt.

 

 

2. Zacharias und Elisabeth; des Zacharias Opfer und Engelserscheinung, Luk. 1, 5―12

 

Eltern und Ahnen der Stolz der Kinder. Die Ruhmestitel und der religiöse Erbadel des Täufers (15 f.). Die Möglichkeit eines sündelosen Lebenswandels nach Taufe und Bekehrung (17). Das „Gerechtsein vor Gott“: Gott urteilt nach der inneren Absicht, nicht nach dem äußeren Erfolg (18—20). Des Täufers Lob bei Lukas ein ,volles Lob' (21). Zacharias anscheinend ein Hoherpriester. Der durch das Los erkorene, wechselnde Hohepriester im Alten Bunde Typus des ewigen Hohenpriesters Christus im Neuen Bunde (22—23). Der biblische Begriff ‚erscheinen'. Theophanien, Engelserscheinungen. Vorbedingungen des Schauens Gottes und der Engel (24―27). Die ,Rechte' Metapher für Huld und Hilfe Gottes (28).

 

15.

[Forts.   ] * „Es war in den Tagen des Herodes, des Königs von Judäa, ein Priester mit Namen Zacharias aus der Reihe Abias; und sein Weib war von den Töchtern Aarons und hieß Elisabeth. Beide waren gerecht und wandelten in allen Geboten und Urteilen des Herrn untadelig"102.*

Es lehrt uns die Göttliche Schrift, daß bei Männern, die des Ruhmes würdig sind, nicht bloß dem sittlichen Wandel, sondern auch den Eltern Lob gebührt: wie ein überkommenes Erbe leuchtet an denen, welchen unser Lob gilt, der Vorzug makelloser Lauterkeit hervor. Was anders auch bezweckt der heilige Evangelist an unserer Stelle als den Ruhm aufzuzeigen, in welchem Eltern, Wunder, Wandel, Beruf und  Leidenstod den heiligen Johannes erstrahlen lassen? So erfährt auch des heiligen Samuel Mutter Anna Lob103; so erbte Isaak von den Eltern den Adel der Frömmigkeit, den er auf die Nachkommen fortpflanzte. So war denn Zacharias „Priester", nicht bloß Priester, sondern auch „aus der Reihe Abias", d. i. eines Edlen von Geburt unter den Altvordern104.

  

16.

[Forts.   ] „Und sein Weib war von den Töchtern Aarons." Also nicht bloß von den Eltern, sondern auch von den Altvordern leitet sich der Adel des heiligen Johannes her: nicht von weltlicher Machthoheit strahlend, sondern ehrwürdig als religiöser Erbadel. Solche Vorfahren nämlich waren dem Vorboten Christi vonnöten, damit es offenbar würde, daß er den Glauben an die Ankunft des Herrn, den er verkündete, nicht von ungefähr angenommen, sondern von den Vorfahren überkommen und gleichsam von Natur eingepflanzt erhielt.

  

17.

„Es waren beide gerecht und wandelten in allen Geboten und Urteilen des Herrn untadelig." Was sagen hierzu jene, die als Schild über ihre Sünden den Trostgedanken halten105, es könne der Mensch nicht ohne häufiges Sündigen leben, und hierfür auf den Schriftvers im Buche Job sich beziehen: „Niemand ist rein von Makel, und selbst wenn sein Leben nur einen Tag dauerte; eine große Zahl von Monden auf Erden hängt von ihm (Gott) ab"106. Diesen nun ist zunächst entgegenzuhalten, sie mögen genau den Sinn der Worte angeben: „der Mensch sei ohne Sünde"; heißt das: er habe überhaupt  niemals gesündigt, oder: er habe zu sündigen aufgehört? Halten sie nämlich das „ohne Sünde sein" gleichbedeutend mit ‚aufgehört haben zu sündigen', bin auch ich einverstanden ― „denn alle haben gesündigt und ermangeln der Herrlichkeit Gottes"107 ― leugnen sie aber, daß derjenige von Verfehlungen sich freihalten könne, welcher die frühere Verirrung gut gemacht und zu einer Lebensweise sich durchgerungen hat, die ihm die Meidung der Sünde ermöglicht, kann ich ihrer Ansicht nicht beipflichten, weil wir lesen: „So hat der Herr die Kirche geliebt, daß er selbst sich dieselbe herrlich darstellte, ohne Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen, daß sie vielmehr heilig und fleckenlos sei"108. Da nämlich die Kirche aus Heiden, d. i. aus Sündern gesammelt ward, wie könnte sie aus Sündebefleckten fleckenlos sein, wenn nicht in erster Linie auf Grund der Gnade Gottes, weil von Schuld rein gewaschen; sodann auf Grund der Enthaltsamkeit von weiterer Schuld kraft der Fähigkeit zum Nichtsündigen? Also nicht von Anfang war sie makellos ― das ist der menschlichen Natur unmöglich ― ihre Makellosigkeit erklärt sich vielmehr aus der Gnade Gottes und der eigenen Fähigkeit, nicht mehr zu sündigen.

  

18.

Nicht umsonst nannte sie (der Evangelist) „gerecht vor Gott109, wandelnd in den Geboten und Urteilen des Herrn". Er redet also hier vom allmächtigen Vater und dem Sohne. Daß der Sohn es ist, der das Gesetz gegeben, die Gebote vorgeschrieben, erklärt hiermit auch der heilige Evangelist. Und zutreffend heißt es: „gerecht vor Gott". Denn nicht jeder, der vor dem Menschen gerecht ist, ist auch vor Gott gerecht. Anders sehen die Menschen, anders Gott: die Menschen ins Gesicht, Gott ins Herz. Und so kann es geschehen, daß mir einer, der sich vor den Leuten als gut ausgibt, als gerecht erscheint, aber nicht gerecht vor Gott ist, wenn seine Gerechtigkeit nicht der Ausdruck der  unverfälschten Gesinnung wäre, sondern auf heuchlerischer Verstellung beruhte; denn das Verborgene in ihr vermag der Mensch nicht zu schauen. Das vollkommene Lob liegt darum im „Gerechtsein vor Gott". Daher auch des Apostels Beteuerung: „(Das ist ein Jude,) dessen Lob nicht aus Menschen, sondern aus Gottes Mund kommt"110. Selig fürwahr, wer in den Augen Gottes gerecht ist! Selig, wen der Herr des Wortes würdigt: „Sieh, ein wahrer Israelite, in welchem kein Falsch ist!"111 Ein wahrer Israelite nämlich ist, wer Gott schaut und weiß, daß er von Gott geschaut wird, und ihm das Verborgene des Herzens aufdeckt112. Denn nur der ist ein vollkommener Mensch, der von jenem erprobt erscheint, der nicht getäuscht werden kann. Denn „die Urteile des Herrn sind wahr"113, die Urteile der Menschen aber beruhen oft auf Täuschung, so daß sie häufig ebenso Ungerechten den Vorzug der Gerechtigkeit zuschreiben, wie sie den Gerechten mit Haß verfolgen oder mit Lüge anschwärzen. „Der Herr aber kennt die Wege der Makellosen"114 und hält den, der Lob verdient, nicht für einen Sünder und den Sünder nicht für des Lobes würdig, sondern (beurteilt) jeden nach Maßgabe der in Frage kommenden Verdienste; denn er ist Zeuge des Denkens und Handelns zugleich. Gottes Urteile bemessen das Verdienst des Gerechten nach der Beschaffenheit seiner Absicht, keinesfalls nach dem Ausgang seines Handelns. Vielfach wird ja eine gute Absicht durch den Ausgang einer anfechtbaren Handlung verkannt oder aber ein ruchloser Gedankenanschlag durch eine glänzende äußere Tat verschleiert. Doch selbst dein gutes Tun kann, wenn dein Denken böse ist, durch Gottes Urteil nicht gebilligt werden; denn es steht geschrieben: „Was recht ist, dem sollst du auf rechte Weise nachtrachten"115. Bestände nicht die Möglichkeit, Rechtes auf unrechte Weise zu tun, würde niemals gesprochen worden sein: „Was recht ist, dem sollst du auf rechte Weise nachtrachten". Daß sicher Rechtes  auch auf unrechte Weise geschehen kann, hat uns der Erlöser selbst mit der Mahnung gelehrt: „Wenn du Almosen gibst, so posaune nicht vor dir her, und wenn ihr betet, so seid nicht wie die Heuchler!"116. Etwas Gutes ist die Mildtätigkeit, etwas Gutes das Gebet, aber es kann auf unrechte Weise geschehen, wenn man etwa einem Armen aus Prahlerei geben wollte, um von den Leuten gesehen zu werden.

  

19.

[Forts.   ] Der heilige Evangelist sagt darum nicht bloß: „gerecht vor Gott und wandelnd in allen Geboten und Urteilen des Herrn", sondern auch: „untadelig" wandelnd. Das stimmt wunderbar zum prophetischen Wort, das der heilige Salomo in den Sprüchen gebrauchte, indem er mahnte: „Faß ins Auge stets das Gute vor Gott und den Menschen!"117 Keinen Tadel also gibt es, wo gutes Denken gutem Tun entspricht, und gar oft fordert nur die Härte der Gerechtigkeit der Leute Tadel heraus.

  

20.

[Forts.   ] Beachte aber auch genau, wie zutreffend die Wahl und wie folgerichtig die Anordnung der Ausdrücke ist! „Wandelnd in den Geboten und Urteilen des Herrn": Das erste ist das Gebot, das zweite das Urteil. Folgen wir sonach den himmlischen Geboten, wandeln wir in den Geboten des Herrn; urteilen wir und urteilen wir sachgemäß, so halten wir uns offenbar an die Urteile des Herrn.

  

21.

[Forts.   ] Es liegt sonach ein erschöpfendes Lob ausgesprochen, das Geschlecht, Wandel, Amt, Handeln und Urteilen umfaßt: das Geschlecht der Ahnen, den Wandel in Gerechtigkeit, das Amt im Priestertum, das Handeln nach dem Gebote, ein Urteilen nach gerechtem Maßstab.

  

22.

„Es geschah aber, da Zacharias nach der Ordnung seiner Reihe vor Gott dem Herrn den Priesterdienst nach der Sitte  des Priestertums versah, kam er durch das Los daran, in den Tempel des Herrn zu treten und die Räucherung vorzunehmen. Und das ganze Volk betete draußen zur Stunde des Rauchwerkes"118.

Es scheint, daß Zacharias hier als Hoherpriester bezeichnet wird, weil er nur einmal im Jahre den Tempel betrat. Vom vorderen Gezelte nämlich steht zu lesen, daß die Priester, welche die Dienste verrichteten, es jederzeit betreten durften, in das hintere Gezelt aber ging nur einmal im Jahre der Hohepriester allein, nicht ohne das Blut, „das er für sich und des Volkes Sünden darbringt"119. Jener Hohepriester ist hier gemeint, der noch durch das Los erkoren wird, weil man den wahren noch nicht kennt; denn wen das Los kürt, das entzieht sich menschlicher Einsicht. Jener (wahre) nun ward gesucht, jener andere vorgebildet: jener wahre Priester in Ewigkeit ward gesucht, dem das Wort gegolten: „Du bist Priester in Ewigkeit"120; der nicht mit dem Blute der Opfertiere, sondern mit seinem eigenen Blute Gott den Vater versöhnte. Damals hingegen war es nur ein vorbildliches Blutvergießen, eine vorbildliche Priesterweihe; jetzt, da die Wahrheit erschienen, laßt uns das Vorbildliche verlassen, der Wahrheit folgen! Und zwar gab es damals steten Wechsel, jetzt aber stetige Fortdauer. So war denn und war sicher bereits derjenige (typisch) da, dessen Dienst auch abwechselnd versehen wurde121.

  

23.

„Durch das Los" wurde (Zacharias) erlesen, in den Tempel einzutreten. Wenn nun im vorbildlichen Ritus niemand als Zeuge beigezogen werden konnte, was anders wurde hierdurch versinnbildet als die Ankunft jenes Priesters, dessen Opfer nichts gemein hätte mit den übrigen; der sein Opfer nicht in den von Menschenhand erbauten Tempeln122 für uns darbrächte, sondern  im Tempel des eigenen Leibes unsere Sünden zunichte machen würde. ― „Durch das Los" wurde der Priester ausgesucht. Vielleicht warfen auch die Soldaten nur deshalb das Los um die Kleider des Herrn123, damit das Loswerfen auch am Herrn, da er sich anschickte, in seinem Tempel für uns das Opfer darzubringen, die Gesetzesvorschrift zur Erfüllung brächte. Daher seine Versicherung: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen"124. Er gerade sollte hierdurch als der im Alten Testamente Erwartete und durch Gottes Willen Erkorene erscheinen. So fiel auch über den Apostel Matthias das Los125, daß nicht die Apostelwahl von der alttestamentlichen Gesetzesvorschrift abzuweichen schiene.

  

24.

„Da erschien ihm ein Engel zur Rechten des Rauchaltares stehend"126. Nicht umsonst tritt ein sichtbarer Engel im Tempel auf; denn schon wurde die Ankunft des wahren Priesters verkündet und das himmlische Opfer zubereitet, bei dem die Engel dienen sollten. Und zutreffend heißt es, er sei dem, der seiner plötzlich gewahr wurde, „erschienen". Diesen Ausdruck pflegt die Göttliche Schrift speziell sei es von den Engeln sei es von Gott zu gebrauchen, so daß mit ‚erscheinen' ein unvorhergesehenes Eintreten derselben bezeichnet wird. Denn so liest man: „Es erschien Gott dem Abraham bei der Steineiche Mambre"127. Man sagt eben von einem, den man vorher nicht merkt, sondern plötzlich vor Augen sieht, er erscheine. Nicht gleicherweise nämlich treten sinnenfällige Gegenstände und tritt derjenige in die Sichtbarkeit, in dessen Willen das Sichtbarwerden gelegen ist. Zu seiner Natur gehört das Unsichtbarsein, das Sichtbarwerden hängt von seinem Willen ab: will er nicht, bleibt er unsichtbar, will er, wird er sichtbar. So erschien Gott dem Abraham, weil er wollte. Einem  anderen erschien er nicht, weil er nicht wollte. Auch dem Stephanus, da er vom Volk gesteinigt wurde, erschien der Himmel offen; auch erschien (ihm) Jesus zur Rechten Gottes stehend128, während er dem Volke nicht erschien. Es schaute Isaias den Herrn der Heerscharen129, ein anderer indes vermochte ihn nicht zu schauen, weil er eben dem erschien, welchem er wollte.

  

25.

[Forts.   ] Doch was sprechen wir von den Menschen, nachdem wir selbst von den himmlischen Kräften und Gewalten lesen, „daß niemand Gott je gesehen hat"?130 Und der Evangelist fügte bei, was über die himmlischen Gewalten hinausweist: „Der eingeborene Sohn, der im Schoße des Vaters ist, er hat es uns kund getan"131. Wenn also „niemand Gott den Vater je gesehen hat", so hat man sich entweder mit der Annahme zu bescheiden, daß im Alten Bunde nur der Sohn erschienen sei, und es mögen dann die Irrlehrer abstehen, ihm, der bereits sichtbar war, bevor er aus der Jungfrau geboren wurde, den Ursprung aus der Jungfrau zu geben; oder es kann sicherlich auch die Annahme nicht als irrig zurückgewiesen werden, der Vater oder der Sohn oder gewiß auch der Heilige Geist ― wenn es sonst eine Erscheinung des Heiligen Geistes gibt: nämlich auch vom Geiste hören wir, er sei in Form einer Taube erschienen132 ― werde nur in einer Gestalt sichtbar, wie sie der Wille wählt, nicht die Natur ausformt. Darum nun „hat niemand Gott je gesehen", weil niemand jene Fülle der Gottheit, die in Gott wohnt133, schaute, niemand mit dem geistigen oder leiblichen Auge sie ergründete134. „Hat gesehen" ist nämlich auf beides zu beziehen; erst mit dem Zusatz: „der eingeborene Sohn. . ., er hat es kund getan" wird es mehr als ein geistiges denn leibliches Schauen erklärt. Eine Gestalt wird sichtbar, eine Kraft kund; ersterer wird man mit den Augen, letzterer mit dem Geiste gewahr.

  

26.

 Doch was brauche ich von der Trinität sprechen? Auch der Seraph erschien, wann er wollte, und Isaias allein vernahm seine Stimme135. Eben erscheint ein Engel und ist jetzt da, doch man sieht ihn nicht; denn das Sehen liegt nicht in unserer Gewalt, wohl aber in seiner Gewalt das Erscheinen. Doch mag es an der Fähigkeit des Schauens fehlen, die Gnade, sich die Fähigkeit hierzu zu verdienen, ist da. Wer also die Gnade besitzt, verdient sich die Möglichkeit hierzu. Wir verdienen uns die Möglichkeit nicht, weil wir die Gnade des Gottschauens nicht besitzen.

  

27.

Was Wunder auch, wenn der Herr in dieser Welt nur dann erscheint, wenn er will? Selbst bei der Auferstehung ist ein Gottschauen nur denen möglich, die reinen Herzens sind: darum „selig, die reinen Herzens sind; denn sie nur werden Gott schauen"136. Wie viele hatte der Herr bereits selig gepriesen, ohne ihnen jedoch die Fähigkeit des Gottschauens zu verheißen! Wenn demnach nur die, welche reinen Herzens sind, Gott schauen werden, dann werden eben andere (ihn) nicht schauen. Denn nicht Unwürdige werden Gott schauen, noch vermag derjenige Gott zu schauen, der ihn nicht schauen wollte. Auch nicht örtlich, sondern mit reinem Herzen läßt Gott sich schauen, nicht mit leiblichen Augen läßt Gott sich suchen, nicht mit dem Blick sich messen, nicht mit tastender Hand sich greifen, nicht in Tönen sich vernehmlich, nicht mit Schritten sich merklich machen. Glaubt man ihn fern, schaut man ihn; ist er zugegen, schaut man ihn nicht. Schauten doch selbst die Apostel nicht alle Christus. Daher seine Klage: „Solange bin ich bei euch, und ihr habt mich noch nicht erkannt"137. Nur wer erkannt hat, „welches die Breite und Länge und Höhe und Tiefe sei" und „die alles übersteigende Liebe Christi"138, „schaut Christus, schaut auch den Vater"139. Wir kennen ja  Christus nicht mehr dem Fleische140, sondern nur dem Geiste nach; „denn Geist ist vor unserem Angesichte Christus der Herr"141, der uns in seiner Barmherzigkeit „bis zur ganzen Fülle der Gottheit zu erfüllen"142 sich würdigt, auf daß er von uns geschaut werden könne. ― Es ‚erschien' also dem Zacharias ein Engel zur Rechten des Rauchaltares, weil er erschien, wann er wollte, und nicht erschien, wann er nicht wollte.

  

28.

[Forts.   ] Er erschien aber „zur Rechten" des Rauchaltares, weil er einen einzigartigen Erweis des göttlichen Erbarmens zu überbringen hatte; „denn der Herr steht mir zur Rechten, daß ich nicht wanke"143; und an einer anderen Stelle: „Der Herr ist dein Schirm über der Hand deiner Rechten"144. O daß auch uns bei der Beräucherung des Altares, bei der Darbringung des Opfers der Engel zur Seite stünde, ja sichtbar erschiene! Denn zweifle nicht an der Gegenwart des Engels, wenn Christus zugegen ist, Christus geopfert wird! „Denn unser Osterlamm ist geopfert, Christus"145. Auch fürchte nicht, es möchte dein Herz durch die Erscheinung des Engels verwirrt werden ― wir geraten nämlich in Verwirrung und von Sinnen, wenn wir von der Erscheinung einer höheren Gewalt überrascht werden ―; denn der nämliche Engel, der uns erschiene, würde uns auch stärken können, wie er den anfänglich verwirrten Zacharias ermutigte und stärkte, indem er ihn beschwichtigte:

 

3. Ankündigung des Täufers, Luk. 1, 13―17

 

Die Überfülle des göttlichen Wohltuns. Ein Heiliger bedeutet „nicht bloß Gnade für die Eltern, sondern auch Heil für tausend andere“ (29). Kinder „keine geringe Gottesgabe"; die Ehe eine göttliche Institution (30). Die Seelen-, bezw. Tugendgröße die wahre Größe des Menschen (31 f.). Der Geist des Lebens und der Geist der Gnade (33 f.). Das erfolgreiche Bekehrungswerk des Täufers (35). Johannes „im Geist und in der Kraft des Elias“ (36 f.). Johannes der Herold Christi. Die Wegbereitung unserer Seele (38).

 

29.

[Forts.   ] * „Fürchte nicht, Zacharias! Denn sieh, dein Gebet ist erhört worden, und dein Weib Elisabeth wird einen Sohn gebären, den sollst du Johannes heißen; und Freude wird dir sein, und viele werden über seine Geburt sich freuen."*

Voll stets und übervoll strömt das göttliche Wohltun; nicht auf eine geringe Zahl beschränkt es sich, sondern häuft und erschöpft sich in einer Fülle des Guten: so (haben wir) hier zunächst die Frucht des Gebetes, ferner der unfruchtbaren Gattin Kindersegen, sodann die Freudeheimsuchung für weiteste Kreise und die Tugendgröße (des Täufers). Desgleichen wird ein Prophet des Höchsten verheißen und, um allen Zweifel auszuschließen, sogar des Künftigen Namen bestimmt. Einem so gewaltigen, jeden Wunsch übersteigenden Strome (des Wohltuns) gegenüber lautet die Strafe des Mißtrauens nicht mit Unrecht auf Verstummen. Wir werden später des näheren darauf zurückkommen. Allgemeine Freude aber birgt die Empfängnis und Geburt von Heiligen; denn ein Heiliger bedeutet nicht bloß Gnade für die Eltern, sondern auch Heil für tausend andere. So enthält also unsere Stelle eine Aufforderung an uns, der Geburt von Heiligen uns zu freuen.

  

30.

Aber auch für die Eltern liegt hierin eine Aufforderung zur Danksagung nicht weniger für die Geburt als für die Wohltat, deren sie mit den Kindern als ihren künftigen Geschlechtsträger und Erbfolgern gewürdigt wurden. Lies146, wie Jakob sich freute über die Geburt seiner zwölf Söhne! Dem Abraham wird ein Sohn geschenkt147, dem Zacharias Erhörung gewährt. Ein Gottesgeschenk ist sonach der Eltern Kind. Danken sollen also die Väter als Erzeuger, die Kinder für die  Erzeugung, die Mütter für den lohnenden Ehrenpreis der Ehe; denn ihres Mühens und Ringens Sold sind Kinder. Es verjünge sich die Erde zu Gottes Lob, da sie bebaut wird, die Welt, da sie erkannt wird, die Kirche um des zahlreichen Wachstums des frommgläubigen Volkes willen! Nicht umsonst geht gleich zu Beginn der Genesis148 auf Gottes Geheiß eine Eheschließung vor sich: nur um der Häresie den Boden zu entziehen. Denn also billigte Gott die Ehe, daß er ihr Band knüpfte; also lohnte er sie, daß seine göttliche Vatergüte sogar denen Kinder schenkte, denen Unfruchtbarkeit sie vorenthielt.

  

31.

„Und er wird groß sein vor dem Herrn"149. Nicht von der Leibes-, sondern von der Seelengröße erklärte (der Engel) das. Es gibt vor dem Herrn eine Seelengröße, eine Tugendgröße, es gibt aber auch eine Seelenkleinheit, ein Kindheitsalter der Tugend. Ebenso bemessen auch wir die seelische und körperliche Altersreife nicht nach dem Zeitmaße, sondern nach der Tugendbeschaffenheit. So gilt als vollkommener Mann, wer von Jugendverirrung sich fern-, von den Schwankungen der Jugendzeit durch geistige Reife sich freihält; als Kind hingegen, wer sichtlich noch keinerlei Tugendfortschritt gemacht hat. Daraus erklärt sich jene Stelle bei Jeremias, da der Herr des bußflehenden und seinen Sünden fluchenden Ephraem sich erbarmte: „Von Jugend auf ist mein Liebling Ephraem ein Knabe in Genüssen"150. Wäre er nämlich nicht ein Knabe in Genüssen gewesen, würde er nie gesündigt haben. Und zwei zutreffende Ausdrücke:„in Genüssen" und „ein Knabe"; denn es gibt auch Knaben, die nicht sündigen: „Sieh, mein Knabe, den ich erkoren habe"151. Weil er den Genüssen nachhing, sündigte sonach jener, obschon er vom Herrn eine solche Unterweisung empfangen hatte, daß ihm Verirrung fremd hätte  bleiben sollen. Wäre er also einerseits kein „Knabe in Genüssen" gewesen, wäre er andererseits an Altersreife der Tugend zum „vollkommenen Manne"152 fortgeschritten, würde er niemals gefallen sein: er hätte es nicht nötig gehabt, Verzeihung seiner Sünden zu erflehen statt lieber, wie er es sollte, der Verdienste Lohn zu erhoffen. Diesen Gedanken scheint auch unser Herr im Evangelium auszudrücken, wenn er mahnt: „Wollet keines von diesen Kindern gering achten!"153 Doch Ausführlicheres hierüber an seinem Platze154. ‚Kind' also ist der Gegensatz zu ‚groß'. Und wenn nach dem Apostel das Kind den Elementen der Welt unterworfen ist ― denn „da wir Kinder gewesen, waren wir den Elementen der Welt unterworfen"155 ―, ist der Große folglich über die Elemente der Welt erhaben.

  

32.

[Forts.   ] „Groß also wird Johannes sein" nicht an Kraft des Leibes, sondern an Größe der Seele. So hat er denn auch nicht die Grenzen eines Reiches erweitert, nicht irgendwelche Triumphzüge nach sieggekrönter Entscheidungsschlacht vor allem anderen sich verlangt, sondern, was mehr besagt, als Prediger in der Wüste Menschengenüsse und Fleischesgelüste mit großer Geisteskraft niedergerungen. Das Element des Kindes ist die Welt, das des Großen der Geist. So hat denn (Johannes) als Großer, nicht als Sklave den Lockungen des Lebens im Verlangen nach dem (wahren) Leben mit der bestehenden Auffassung gebrochen.

  

33.

„Und er wird mit dem Heiligen Geiste erfüllt werden schon vom Mutterleibe an"156. Ohne Zweifel beruht diese Verheißung des Engels auf Wahrheit; gab doch der heilige Johannes noch im Mutterschoße, bevor er geboren wurde, die Gnade zu erkennen, daß er den Geist empfangen hatte. Während nämlich weder sein Vater noch seine Mutter im Vorausgehenden wunderbare Dinge  vollführten, verkündigte er durch sein Aufhüpfen im Mutterschoße die Frohbotschaft von der Ankunft des Herrn. Denn so liest man: Da die Mutter des Herrn zu Elisabeth gekommen war, rief diese aus: „Sieh, sobald dein Gruß an mein Ohr gelangte, hüpfte das Kind auf in meinem Schoße"157. Noch besaß es nicht den Geist (Odem) des Lebens, doch den Geist der Gnade. So konnten wir auch an einer anderen Stelle beobachten, wie die Heiligungsgnade der natürlichen Lebensbedingung zuvorkam; es sprach nämlich dort der Herr: „Ehe ich dich bildete im Mutterleibe, habe ich dich gekannt, und ehe du hervortratest aus dem Mutterschoße, habe ich dich geheiligt und dich zum Propheten für die Völker bestellt"158. Zwei verschiedene Dinge sind der Geist dieses Lebens und der Geist der Gnade. Ersterer nimmt seinen Anfang mit der Geburt, sein Ende mit dem Tode; letzterer ist nicht an Zeit, nicht an Alter gebunden, erlischt nicht mit dem Tode, ist nicht ausgeschlossen vom Mutterleibe. So hat auch Maria voll des Heiligen Geistes geweissagt159, der tote Elisäus einen menschlichen Leichnam durch die Berührung mit seinem eigenen Leibe erweckt160, Samuel nach seinem Tode, wie die Schrift bezeugt, nicht geschwiegen über das Zukünftige161.

  

34.

[Forts.   ] „Und er wird vom Heiligen Geiste* erfüllt* werden". Wem nämlich des Geistes Gnade einwohnt, dem mangelt nichts; und wem der Heilige Geist eingegossen wird, dem erwächst die Fülle großer Tugenden.

  

35.

„Sodann endlich wird er viele von den Kindern Israels zum Herrn ihrem Gott bekehren"162. Wir bedürfen keines Beweises, daß der heilige Johannes die Herzen gar vieler bekehrt hat. Unsere Behauptung stützen ja der Propheten wie der Evangelisten Schriften ― „Stimme des Rufenden in der Wüste: bereitet dem Herrn den Weg, macht eben seine Pfade!"163 ― Und die Taufen, zu welchen die  Volksscharen sich drängten, geben deutliche Kunde von den nicht geringen Fortschritten, welche die Bekehrung des Volkes nahm. Wer Johannes glaubte, glaubte ja Christus; denn nicht der eigenen Person, sondern dem Herrn galt die Predigt des Vorboten Christi. Und darum:

  

36.

„Er wird hergehen vor dem Angesicht des Herrn im Geiste und in der Kraft des Elias"164. Passend werden diese beiden Begriffe verbunden; denn niemals ist der Geist ohne Kraft, noch die Kraft ohne den Geist. Und darum vielleicht „im Geiste und in der Kraft* des Elias*", weil gerade der heilige Elias beides besaß, große Kraft und Gnade: die Kraft, das Herz der Volksscharen vom Unglauben zum Glauben zurückzuführen, die Kraft des Entsagens und Ertragens und den Geist der Weissagung. In der Wüste weilt Elias, in der Wüste Johannes. Jener bezog von Raben165, dieser von Hecken166 die Nahrung und zog, jede Lockung sinnlichen Genusses mit Füßen tretend, eine spärliche Lebensweise vor und verschmähte eine üppige. Jener fragte nicht nach des Königs Achab Gunst167, dieser verachtete die des Herodes. Jener teilte den Jordan168, dieser wandelte ihn zum heilbringenden Taufbad. Dieser verkehrt mit dem Herrn auf Erden, jener erscheint mit dem Herrn in Herrlichkeit169. Dieser ist der Vorläufer bei der ersten, jener bei der zweiten Ankunft des Herrn170. Jener erquickte nach Ablauf von drei Jahren die ausgetrocknete Erde mit reichlichem Regen171 und dieser befruchtete nach drei Jahren das Erdreich unseres Herzens mit dem Tau des Glaubens. Du fragst, welche drei Jahre das seien? „Sieh", spricht er, „drei Jahre sind es, seitdem ich komme und an diesem Feigenbaum Frucht suche, und ich finde keine"172.  Dieser mystischen Zahl (der Jahre) bedurfte es, um den Völkern das Heil zu bringen: Das erste Jahr ist die Zeit der Patriarchen ― und damals gerade reifte aus der Menschheit ein Jahresertrag wie niemals später auf Erden ―, das zweite die Zeit des Moses und der übrigen Propheten, das dritte ist eingeleitet durch die Heilsankunft des Herrn. „Sieh", spricht er, „das angenehme Jahr des Herrn und der Tag der Vergeltung!"173 Auch jener Hausvater, der einen Weinberg pflanzte, schickte nicht einmal, sondern des öfteren seine Erntearbeiter dahin ab: erst schickte er Knechte dahin, sodann wiederum Knechte, das dritte Mal aber sendete er seinen Sohn"174.

  

37.

[Forts.   ] „Im Geiste und in der Kraft des Elias" erschien Johannes. Das eine läßt sich ohne das andere nicht denken. So begegnet man (der gleichen Verbindung) auch im folgenden, wenn es heißt: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten dich überschatten"175. Doch es scheint vielleicht dieser Vorgang zu erhaben für eine Anwendung auf uns und auf die Apostel: indes auch die Wasserfluten, die unter Elias nach Teilung des Jordans zum Ursprung des Flusses zurückströmten, wie die Schrift es bezeugt hat : „Der Jordan ward zurückgestaut"176, deuten auf die künftigen Geheimnisse des Heilsbades hin, durch welche die getauften Kinder vom Sündenzustand in den Urstand ihrer Natur zurückversetzt werden. Und wie? Hat nicht der Herr selbst seinen Aposteln verheißen, daß ihnen die Kraft des Geistes verliehen werden soll, da er versicherte: „Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist in euch kommen wird"?177 Sodann im folgenden: „Da entstand plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein Windstoß mit großer Gewalt daher käme"178. Zutreffend „mit großer Gewalt", weil „durch seines Mundes Hauch (Geist) all ihre Kraft besteht"179 ― jene Kraft, welche die Apostel vom Heiligen Geiste empfangen haben.

  

38.

 Zutreffend steht auch, der heilige Johannes „wird hergehen vor dem Angesichte des Herrn"; denn er war sein Vorbote schon in der Geburt und sein Vorbote noch im Tode. Und vielleicht dürfte sich dieses Geheimnis auch in unserem Leben hier und heute noch wiederholen. Es zieht nämlich unserer Seele, sobald wir den Weg zum Glauben an Christus einschlagen, gleichsam die Kraft des Johannes voraus, um die Wege unserer Seele zu bereiten180 und aus dem Krummpfade dieses Lebens gerade Wege für unseren Wandel zu schaffen: an keiner Krümmung des Irrtums sollen wir ausgleiten, jedes Tal unserer Seele voll Tugendfrüchte prangen können, jede über weltliche Verdienste sich erhebende Höhe lieber in Furcht als Tiefland vor dem Herrn sich breiten im Bewußtsein, daß Hinfälliges nichts Hohes bedeuten kann.

 

 

4. Die Strafe des Zacharias, Luk. 1,18-20

 

Der Unglaube schließt, der Glaube öffnet den Mund (39). Der verstummende Zacharias Typus des aufhörenden alttestamentlichen Priester- und Prophetentums (40), bezw. des im Unglauben ersterbenden Judenvolkes (41). „Unsere Sprache ist der Glaube“ (42).

 

39.

„Und Zacharias sprach zum Engel: Woran soll ich das erkennen? Denn ich bin alt und mein Weib ist vorgerückt in ihren Tagen. Und der Engel antwortete und sprach zu ihm: Ich bin der Engel Gabriel, der vor dem Herrn steht, und bin gesendet worden, dieses dir zu verkünden. Und du wirst stumm sein und nicht reden können bis auf den Tag, da dies alles geschehen wird, darum, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, die in Erfüllung gehen werden zu ihrer Zeit"181.

Zum Schweigen wird der Unglaube des Priesters verurteilt, der Glaube der Propheten erprobt sich im  Sprechen. „Rufe, heißt es, und ich antworte: was soll ich rufen? Alles Fleisch ist Gras"182. Da hast du des Gebietenden Befehl, des Gehorchenden Beflissenheit, des Fragenden Bereitwilligkeit, des Willfährigen (Predigt-) Wort. Denn es glaubte, der da um Aufschluß bat, was er rufen solle; und weil er Glauben hatte, weissagte er. Zacharias hingegen vermochte, weil er nicht glaubte, nicht zu sprechen, sondern „gab es ihnen durch Winke zu verstehen und blieb stumm"183. Nicht* einen* nur betrifft der geheimnisvolle Vorgang, nicht* einen* nur das Schweigen.

  

40.

Es schweigt der Priester, es schweigt der Prophet184. Wenn ich mich nicht täusche, verstummte in dem* einen* der Mund des ganzen Volkes; denn in* einem* Mittler pflegte das ganze Volk zum Herrn zu sprechen. Das Aufhören der Opfer und das Verstummen der Propheten bedeutet das Schweigen des Propheten und das Schweigen des Priesters. „Ich will hinwegnehmen", spricht (der Herr), „die starke Kraft, den Propheten und den Berater"185. Und fürwahr, er hat hinweggenommen die Propheten, indem er von ihnen wegnahm das Wort, das in den Propheten zu sprechen pflegte. Fürwahr, er hat ihnen hinweggenommen die Kraft, indem Gottes Kraft von ihnen wich. Er hat ihnen hinweggenommen den Ratgeber, indem der Engel des Hohen Rates186 sie verließ; hat hinweggenommen die Stimme, weil nur mehr die Stimme des Wortes, nicht mehr das (Gottes-) Wort durch die Stimme ertönte; denn wenn nicht jenes Wort in uns wirkt, ist null und nichtig der Ton der Stimme. Eine Stimme nur ist Johannes, „die Stimme des Rufenden in der Wüste"187. Christus ist das Wort188. Dieses Wort ist das Wirksame; sobald es daher zu wirken aufhört, verstummt auch  schon mit einem Mal, gleichsam des Geistes bar, der Seele Zunge. Auf uns ging nämlich Gottes Wort über, und in uns schweigt es nicht. So kann denn der Jude jetzt nicht mehr sprechen, was der Christ sprechen kann: „Eine Bewährung dessen verlangt ihr, der in mir spricht: Christus"189.

  

41.

„Und er gab es ihnen durch Winke zu verstehen"190. Es blieb nun Zacharias stumm und gab es durch Winke ihnen zu verstehen. Was ist ein Wink anderes als eine stumme Körperbewegung, die sich bemüht, das Gewünschte anzudeuten, ohne es ausdrücken zu können, gleichsam die stumme Sprache der Sterbenden, denen die Stimme im letzten Todesröcheln erstickte? Scheint dir nicht das Volk der Juden einem solchen Sterbenden ähnlich zu sein, so unvernünftig, daß es für sein Handeln keinen vernünftigen Grund angeben kann? Mit seiner Lebenshoffnung in den letzten Zügen liegend verlor es die Sprache, die es hatte; mit tastender Körpergeste trachtet es ein Zeichen für das Wort, nicht das Wort selbst zum Ausdruck zu bringen: ein stummes Volk, ohne die Vernunft, ohne das Wort. Warum denn wolltest du den, der keinen Laut hervorzubringen versteht, in höherem Grade für stumm halten als den, welcher den mystischen Sinn (des Wortlautes) nicht versieht? Fürwahr auch die Werke haben ihre Stimme und der Glaube sein lautes Rufen. So steht zu lesen: „Das Blut deines Bruders ruft laut zu mir"191. Auch jener ruft laut, der „tagüber aus seinem Herzen ruft"192. Wer sonach des Herzens Rufen verloren, hat auch das der Zunge verloren; denn wie könnte einer, der keinen Unterschied im Glauben festhält, unterschiedliche Worte festhalten? Zuvor hatte auch Moses bekannt, er vermöge nicht zu sprechen193, aber nachdem er’s bekannt hatte, empfing er das Wort194 und  vollbrachte herrliche, gute Werke. Wie nun Moses hierin der Typus des Volkes und der Typus des Gesetzes war, so in seinem Verstummen auch Zacharias.

  

42.

[Forts.   ] Die einzelnen Momente sind nun in ihrem Zusammenhang wohl zu beachten: Das Wort im Mutterschoß, das Gesetz im Verstummen; der Name ‚Johannes' wird ausgesprochen und Zacharias vermag zu sprechen; das Wort wird verkündet195 und das Gesetz beendet. Es liegt aber des Gesetzes Beendigung gerade in des Wortes Verkündigung. Die Sprache besitzt demnach, wer das Wort spricht, auch wenn er sie vorher nicht besessen196