Das Frostmädchen - Stefanie Lasthaus - E-Book

Das Frostmädchen E-Book

Stefanie Lasthaus

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Beschreibung

Als ihr Freund Gideon bei einem Streit handgreiflich wird, flieht die zwanzigjährige Neve hinaus in die klirrend kalte Nacht des kanadischen Winters und verirrt sich. Glücklicherweise wird sie rechtzeitig von dem jungen Künstler Lauri gefunden, der sie in seiner abgelegenen Blockhütte gesund pflegt. Bei Lauri fühlt sich Neve vom ersten Augenblick an geborgen, und zwischen den beiden entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Doch in der Nacht im Wald ist etwas mit Neve geschehen – etwas, das die uralte Wintermagie in ihr entfesselt hat …

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Das Buch

Es ist eine eisige, kanadische Winternacht, als die einundzwanzigjährige Neve Whitmore nach einem fürchterlichen Streit mit ihrem Freund Gideon hinaus in die Wälder flieht. Neve verirrt sich und verliert inmitten im Schnee das Bewusstsein. Gerade noch rechtzeitig wird sie von Lauri gefunden, der die junge Frau mit in seine einsame Blockhütte nimmt, um sie dort gesund zu pflegen. Vom ersten Augenblick an fühlt sich Neve bei Lauri geborgen, und zwischen den beiden entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Aber obwohl Neve mit Lauri glücklich ist, merkt sie, dass sie sich verändert hat: Ihre Haut ist stets eiskalt, und doch friert sie nie. Zunehmend empfindet sie eine Sehnsucht, die nur Eis und Schnee stillen können. In jener Nacht im Wald ist etwas mit Neve passiert – etwas, das eine uralte Magie, die bisher unerkannt in ihr schlummerte, erweckt hat. Von nun an muss sich Neve dunklen Mächten stellen, die mit dem Winter verbündet sind, und die sie zwingen, einen schrecklichen Pakt einzugehen …

Die Autorin

Stefanie Lasthaus wuchs im nördlichen Ruhrgebiet auf. Sie studierte Skandinavistik, Publizistik und Sozialanthropologie in Bochum und Kopenhagen. Nach verschiedenen Stationen in Australien, England und der Schweiz kehrte sie nach Deutschland zurück und widmete sich von da an ganz dem Schreiben – ob als Texterin für Onlinespiele-Anbieter oder als Autorin ihrer eigenen Romane. Stefanie Lasthaus lebt und arbeitet in Karlsruhe.

 

STEFANIE LASTHAUS

 

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 12/2016

Copyright © 2016 by Stefanie Lasthaus

Copyright © 2016 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel

Redaktion: Catherine Beck

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock/captblack76

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-18061-4V004

www.heyne.de

 

»Wie Samen, die unter der Schneedecke träumen,

träumen eure Herzen vom Frühling.

Vertraut diesen Träumen, denn in ihnen verbirgt sich

das Tor zur Unendlichkeit.«

Khalil Gibran

 

 

1

Die Welt bestand aus Nacht und Helligkeit, aus Kälte und zarten Berührungen auf den Wangen. Und aus Schmerz.

Neve wollte rennen, stattdessen taumelte sie durch den kniehohen Schnee. Sie legte alle Kraft in die Beine und kämpfte sich mit geballten Fäusten vorwärts, so als würde sie dadurch schneller vorankommen. Doch sie war nicht schnell. Quälend langsam zog sie eine Schneise, weg von dem Gelächter und der Musik aus der Bar. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Geräusche leiser wurden.

Irgendwo vor ihr brach ein Ast unter dem Gewicht des Schnees. Angst? Nein, sie spürte keine Angst. Nicht einmal ein wildes Tier würde sie so erschrecken wie die Erinnerung an Gideons Fratze. Kein Gesicht. Sie konnte es nicht mehr Gesicht nennen, dieses hassverzerrte Abbild des Mannes, der bis vor wenigen Augenblicken noch ihr Freund gewesen war.

Etwas tropfte auf die weiße Fläche vor ihr, dunkle Flecken im Licht der fernen Lampen. Blut. Ihre Lippe musste aufgeplatzt sein, vielleicht auch ihre Augenbraue. Ihr Gesicht brannte, und die Eisluft stach mit kleinen Nadeln in die Wunden. Es war das einzig Lebendige an ihr, der Körper fühlte sich dagegen taub an. Sie hatte die Kälte nie gemocht, doch nun war sie ihr beinahe eine Verbündete geworden.

Ihre Arme und Beine zitterten, so als gehörten sie längst nicht mehr ihr. Sie hatte es nicht einmal bis zu den Bäumen geschafft, als sie ihre Füße nicht mehr spürte. Warum hatte sie nicht zumindest eine Jacke angezogen, oder Schuhe? Ihre Hausschlappen aus Filz waren vollkommen durchnässt. Aber sie musste Abstand zu Gideon schaffen. Selbst jetzt, da der Schnee unter ihren Pulli und in ihre Jeans kroch, würde sie nicht mehr umkehren. Ihre Kehle war so eng, dass sie bei jedem Schritt zu ersticken fürchtete. Tränen schwammen in ihren Augen, doch sie wagte nicht zu weinen. Es würde ihr nur Kraft stehlen, und die durfte sie nicht verschwenden. Sie musste weg, weiter weg. Noch konnte Gideon sie sehen, wenn er aus dem Fenster blickte: eine Gestalt in einem Feld aus Weiß, das an einer Seite vom Schatten der Bäume begrenzt wurde. Noch würde er innerhalb kurzer Zeit bei ihr sein und sie womöglich noch einmal schlagen. Er konnte sie ohne Probleme verfolgen, wenn der Alkohol es zuließ, doch wenn sie die Baumstämme erreichte, würde sie sich vielleicht sicherer fühlen. Dort war es dunkler.

Wind kam auf, wirbelte die oberste Schicht Pulverschnee in die Luft und vermischte sie mit den fallenden Flocken. Neve kniff die Augen zusammen und lief die nächsten Schritte blind. Ihre Haare hatten sich zu harten Strähnen verklebt und schlugen ihr ins Gesicht. Ihre Oberschenkel schmerzten, wurden schwerer und schwerer. Der Schnee verwandelte sich in eine Wand, die ihr verriet, dass sie hier nicht hingehörte.

Sie hatte es gewusst, von Anfang an. Das Longtree-Resort mit den rauen Männern, die sich hier draußen eine Auszeit von ihren Familien nahmen, war kein Ort für sie. Trotzdem war sie mit Gideon hergekommen, in der Hoffnung, dass sich die Risse der letzten Monate kitten ließen. Sie hatte sich diese Reise zum Geburtstag gewünscht, für sie beide, und sich wie ein kleines Kind gefreut, als Gideon ihr den ersehnten Umschlag wirklich überreichte. Die gemeinsamen Pläne hatten ihr Hoffnung geschenkt, und für einen winzigen Moment hatte sie geglaubt, dass alles wieder so werden würde wie früher. Es war eine dumme Idee gewesen. Kälte ließ sich nicht mit Kälte bekämpfen. Das, was einst zwischen ihr und Gideon existiert hatte, war in den letzten Jahren nach und nach gestorben.

Mittlerweile war sie komplett durchnässt. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und sie biss sich die Zunge und das Innere einer Wange blutig. Sie schmeckte nichts, spürte nur den Hauch Wärme, der in ihre Mundhöhle kroch. Krampfhaft schluckte sie die wenigen Tropfen, weil sie etwas anderes waren als kalt.

Beim nächsten Schritt stürzte sie. Die Schneedecke gab nach und verwandelte sich in eine weiche Masse, die Neve einhüllte und in eine feuchte Umarmung zog. Kleine Rinnsale krochen über ihren Hals und Nacken bis unter ihren Pullover. Die Kälte verscheuchte die Taubheit und spickte ihre Haut mit Schmerzen, schüttelte sie wie eine Puppe und fand ihren Weg bis in ihr Inneres.

Neve wurde schwindelig. Sie kämpfte mit sich selbst, mit den Gliedmaßen, die ihr nicht mehr gehorchten, und als sie sich endlich aufrappelte, fiel ihr Blick auf ihre Hände: Sie waren rötlichblau verfärbt, die Finger geschwollen. Neve versuchte, sie zu strecken und wollte sich die Kälte aus dem Gesicht wischen, doch sie schlug gegen ihre Wangen, da sie die Finger nicht mehr krümmen konnte.

Weit hinter ihr wurde die Musik lauter. Jemand musste die Tür der Bar aufgestoßen haben, die in der Mitte des Komplexes stand, wahrscheinlich, um sich im Schnee zu erleichtern. Die öffentlichen Toiletten wurden von den Männern nur selten genutzt. Jemand brüllte etwas, das Neve nicht verstand, aber sie hörte den Alkohol in jeder Silbe. Es war nicht Gideon, aber auch er konnte jeden Moment rufen. Nach ihr.

Vorhin in ihrer Hütte hatte er nicht geschrien. Es wäre ihr lieber gewesen. Alles wäre ihr lieber gewesen als sein Schweigen, weil so seine Schläge das einzige Geräusch neben ihren Bitten gewesen waren.

Nun schluchzte Neve doch.

Vor ihr ragten die ersten Baumstämme des Waldgebiets in die Höhe, das Longtree an einer Seite gegen Wind und Wetter abschirmte. Früher hatten hier vielleicht mehr Bäume gestanden, als es die Urlaubshütten noch nicht gegeben hatte. Als es sie selbst oder Gideon noch nicht gegeben hatte.

Neve hob einen Arm und versuchte, einen der Äste zu greifen. Es gelang ihr erst beim dritten Versuch, und ihre Hand klatschte auf das Holz wie totes Fleisch. Sie spürte es nicht, aber sie zog sich vorwärts, und ihr Körper folgte. Als sie zwischen die Winterskelette der Bäume tauchte, ließ sie einen Teil der Geräuschkulisse zurück.

Hier war es stiller. Keine unheimliche Stille, nein, im Gegenteil. Sie beruhigte, hielt Töne ab wie eine Schutzwand oder dämpfte sie, sodass sie klangen wie mit Puderzucker bestäubt. Töne für eine Welt aus Weiß.

Zwischen den Baumstämmen nahm die Höhe der Schneewehen ab, obwohl die Äste sich nackt in das Schwarzgrau des Himmels streckten und den Flocken nur wenig Widerstand boten. Hin und wieder erahnte Neve Pfotenabdrücke, wohl von Hasen. Wie schafften es die Tiere nur, nicht zu versinken? Überhaupt, wie überlebten sie in dieser Kälte?

Die Spuren verschwanden, als Neve dem letzten Schimmer der Außenbeleuchtungen Longtrees den Rücken kehrte. Hier, im Wald, herrschte Dämmerlicht. Der Mond speiste die Schneedecke mit zartem Blau, das Weiß schien fast zu leuchten. Etwas flog vor Neve auf, ein Schatten zwischen Himmel und Erde, und der Schrei eines Tiers gellte durch die Nacht. Hoffentlich nur ein Vogel, doch andererseits war es ihr auch egal. Sie hatte es beinahe geschafft, sie war fast in Sicherheit.

Lief sie noch? Sie sah nach unten, wo ihr Fuß soeben ein Loch in den Schnee stanzte. Die Baumwipfel wogten hin und her, dabei ging kein Wind. Vielleicht war sie es selbst, die schwankte, da sie so sehr zitterte. Wenngleich die Kälte ein wenig nachgelassen hatte. Neve tastete nach ihrer Kleidung, um festzustellen, wie schlimm es war – vielleicht war die Nässe gar nicht so weit vorgedrungen, wie sie glaubte. Sie konnte nichts fühlen, weder Feuchtigkeit noch Wärme noch irgendetwas anderes. Aber sie lief noch immer, Schritt für Schritt, und jeder brachte sie weiter weg von der Angst und der Leere. Wenn sie das alles doch nur hinter sich lassen könnte wie die Holzhütten! Stattdessen schleppte sie diese Gefühle mit sich herum. Sie war oft allein gewesen, aber noch nie so sehr wie jetzt. Gideon war nicht mehr Teil ihres Lebens, also wusste sie nichts anderes zu tun außer laufen. Immer weiter.

Der Wald hieß sie willkommen. Zwischen den Baumstämmen schimmerten Lichter in einem sanften Tanz. Neve blinzelte. Ihre Beine zitterten nicht mehr, sie musste sich wohl warmgelaufen und an die Kälte gewöhnt haben. Die Schmerzen in ihrem Körper waren beinahe verschwunden, nun musste diese Winternacht nur noch das Eis aus ihrem Herzen vertreiben. Wobei es überall saß, dieses Eis, in ihrem Bauch und ihrem Kopf und ihrem Hals. Ganz besonders dort. Sie versuchte, Gideons Namen zu flüstern, doch es ging nicht.

Als sie sich noch einmal umdrehte, waren die Hütten endlich verschwunden, und mit ihnen die Bäume. Sie mischten sich mit dem Weiß und färbten es dunkel, dann kehrte das Gleißen zurück. Neve bemerkte zu spät, dass die Welt sich drehte. Dieses Mal landete sie auf dem Rücken und sank in den Schnee. So weich. Und zart, endlich.

Gideon?

Nein, sie war noch immer draußen, zumindest waren Äste über ihr, dahinter der Mond. Auf einmal war sie wieder traurig, ihr Herz so unendlich schwer, und einen Moment lang war sie verwirrt. Wie war sie hergekommen?

Sie wollte eine Hand heben, um sich das Kitzeln von ihren Wangen zu wischen, doch ihr Arm war viel zu schwer. Nicht so schlimm, die Schneeflocken störten ja nicht wirklich. Sie schmerzten nicht.

Neve summte leise. Warum hatte sie stets geglaubt, dass sie den Winter nicht mochte? Ihr Leben lang hatte sie sich gewünscht, Kanada zu verlassen und an einem wärmeren Ort zu leben, einem Ort voller Sonne und Gold. Dabei war an dem, was sie hier hatte, nichts auszusetzen. Alles war so friedlich. War sie etwa zu Hause, in ihrer kleinen Wohnung in Squamish?

Neve schaffte es, den Kopf zu drehen, und ihr Mund füllte sich mit Schnee, der augenblicklich schmolz. Es war warm. Sie schluckte, schloss die Augen und entspannte sich. Warum war sie nicht schon vorher darauf gekommen? Es war so leicht.

Ein Gesicht tauchte in ihren Gedanken auf. Gideon, der ihr Worte an den Kopf warf wie Steine. Sie wusste nicht mehr, warum, aber sie erinnerte sich, wie verraten sie sich gefühlt hatte. Er hatte sie allein gelassen, und als er zurückgekehrt war, hatte er Streit mitgebracht. Eine Explosion an ihrem Ohr, auf ihrer Wange. Seine Hände waren groß und sehnig. Holzfällerhände.

Und immer wieder der Schnee.

Gideons Gesicht verschwamm. In Neves Augenwinkel schimmerte es blau. Sie wollte den Ursprung finden, doch das Funkeln rund um ihren Körper faszinierte sie zu sehr. Es sah aus wie tausend Sterne, die sich aneinanderschmiegten und nur auf sie gewartet hatten. Sie streckte eine Hand aus. Weit entfernt hörte sie etwas, wie einen Sturm hoch oben am Himmel, dann ein Donnern wie von unzähligen Pferdehufen. Jemand lachte … nein, jemand sang.

Gideon und der Schlag. Das Blut in ihrem Gesicht.

Das Glitzern. Der Schnee war so wunderschön.

Neve glaubte zu lächeln.

 

 

2

Es war nicht das erste Mal, dass Lauri die Zeit vergaß. Mehr noch, sie spielte einfach keine Rolle mehr. Die Kälte riss ihn aus seiner Konzentration, war durch seine Socken gedrungen und hatte sich bis zu seinen Füßen vorgearbeitet.

Er blinzelte zu der Wolldecke auf dem Sessel, dann zum Kamin, wo die Überreste eines Feuers glommen, entschied sich gegen eine Pause und widmete sich wieder seiner Zeichnung. Erst als der Waschbär auf dem Papier aussah, als würde er jeden Augenblick eine Pfote heben, ließ Lauri Block und Stift sinken und stand auf. Seine Gelenke knackten, da er zu lange in derselben Position verbracht hatte, den Kopf gesenkt. Sein Nacken schmerzte. Er betrachtete seine geschwärzten Fingerkuppen und wischte sie an der Hose ab, dann streckte er sich und sah zum Holzstapel neben dem Kamin. Ob er das Feuer noch einmal anheizen sollte? Es wäre gut, dann konnte er sich gemütlich danebensetzen und es für die Nacht ausbrennen lassen. Andererseits hatte er die Stunden seit dem Frühstück in der Hütte verbracht. Nun sehnte er sich nach Bewegung, nach frischer Luft in den Lungen, und vor allem wollte er auf andere Gedanken kommen. Er lag gut in der Zeit, und die Deadline von Woodbeck House war kein Problem, sogar wenn er sich eine Pause gönnte.

Lauri trat zum Fenster und blickte hinaus. Der Sternenhimmel funkelte ihm mit einer Schärfe entgegen, die er so aus der Stadt nicht kannte. Hier draußen, ungefähr hundert Meilen nördlich von Vancouver, waren nicht nur die Farben und Formen klarer, sondern alles wirkte viel intensiver. Einfacher, auf eine positive Art, die man erst begriff, wenn man sie erlebte. Es ließ ihn tiefer durchatmen und die Einsamkeit, die er freiwillig gewählt hatte, unumstößlicher werden. In der Ferienhütte der Pecks gab es kein Telefon, keinen Fernseher, nicht einmal ein Radio. Das Handynetz war stabil, solange er sich nicht zu weit Richtung Westen von der Hütte entfernte. Das Urlaubsresort als nächstes Zeichen von Zivilisation befand sich eine halbe Stunde Fußweg von hier. Doch genau das hatte er gewollt: eine Weile mit niemandem außer sich selbst und seinen Bildern klarkommen zu müssen. Es war ein gutes Gefühl.

Der Anblick der unberührten Schneefläche vor dem Fenster bekräftigte seine Entscheidung. Lauri angelte nach seinen Stiefeln und schlüpfte hinein. Die Ruhe dort draußen war eine andere als hier in der Hütte, und er wollte sie genießen, ehe er zu Bett ging.

Als er seine Jacke überstreifte, vibrierte etwas in der Tasche. Richtig, sein Handy. Er hatte die Nachricht vollkommen vergessen, die irgendwann in den vergangenen Stunden eingetroffen war und wegen der er das Zeichnen nicht hatte unterbrechen wollen. Nun schlug die Erinnerungsfunktion an, die er in weiser Voraussicht auf einen Stundentakt programmiert hatte, falls er mal wieder alles um sich herum vergaß. Er legte ungern eine Pause ein, wenn er erst einmal in den Fluss gekommen war.

In den Fluss kommen. Früher hatte er die Formulierung als affektiert empfunden, da so viele Menschen der Meinung waren, dass die Worte wichtig klangen und sie daher unentwegt vor sich herplapperten, ohne weiter darüber nachzudenken. Nach und nach hatte er gelernt, wenig auf das zu achten, was andere sagten. Wichtig war vielmehr, wie er sich in den Motiven verlor, wenn er arbeitete. Es passierte nicht immer, aber wenn, dann führte ihn jeder Strich auf eine Reise, die weich und mitreißend war wie Wasser und an deren Ende etwas auf ihn wartete, das er allein erschaffen hatte. Im Fluss sein war eine wunderbare Sucht. Sie ließ zu, dass er sich gut fühlte – fast schon zu Hause. Manchmal ertappte er sich, dabei zu lächeln, ohne zu wissen, wann es angefangen hatte. Es war ein Gefühl, das tiefer ging als Freude, das selten und äußerst kostbar war.

Lauri blickte auf das Display: Die Nachricht war bereits vor zwei Stunden eingegangen.

Ich hoffe, du reißt das Ferienhaus meiner Eltern nicht ab, Kollege Eremit.

Typisch Ben. Lauri grinste und tippte eine Antwort, in der er seinem besten Freund versicherte, dass alles in Ordnung war. Er legte das Handy beiseite und schlang sich den Schal um den Hals. Handschuhe? Nein, er hatte seine Finger so lange beschäftigt, dass sie leise pochten und ihnen Kühlung guttun würde. Ein letzter Blick in das Zimmer, dann öffnete er die Tür und trat in die Nacht.

Die Kälte empfing ihn gnadenlos, doch die Luft war klar und frisch. Lauri sog einen Schwall tief in die Lungen und genoss das Gefühl der Taubheit, das sich sofort wieder verflüchtigte. Beinahe den gesamten Tag hatte er all seine Empfindungen und Gedanken in seine Zeichnungen gesteckt, nun kehrten sie zu ihm zurück.

Schon als Kind hatte ihn fasziniert, dass man Schnee riechen konnte, und die Dezemberluft war voll davon. Er vergrub die Fäuste in den Jackentaschen und stapfte los. Die Schneewehen hatten sich seit gestern Abend wieder fast bis zur Tür gekämpft, und die Schneise, die er geschaufelt hatte, war größtenteils verschwunden. Es sah aus, als hätte ein Riese die Hütte von Bens Eltern mitten in die unberührte Landschaft gesetzt. Lauri hatte die Außenbeleuchtung nicht eingeschaltet, aber Mond und Sterne sorgten für ausreichend Licht.

Er schlug den Weg nach rechts ein, wo der Pfad, den er am Tag seiner Ankunft getrampelt hatte, noch schwach zu erkennen war. Ein kleines Waldgebiet lag in Sichtweite. Die Silhouetten der Bäume ragten in die Höhe und standen weit genug auseinander, um das Mondlicht zwischen die Stämme fallen zu lassen. Lauri musste nicht lang überlegen, er würde eine größere Runde laufen.

Laut den Pecks und den Besitzern der nahen Feriensiedlung hatte es in dieser Gegend noch nie Probleme mit Wölfen oder Bären gegeben, und Lauri hatte sich stets sicher gefühlt. Zumal zumindest die Bären im Winter kaum eine Gefahr darstellten. Bis Ende der kommenden Woche war all das allein sein Reich, das er mit niemandem teilen musste. Bens Eltern hatten nie etwas dagegen, wenn er sich eine Auszeit in ihrer Hütte nahm. Sie liebten den Winter hier oben, waren aber jetzt, nach Weihnachten und vor dem Jahreswechsel, mit Familie und Verwandten beschäftigt.

Lauri grinste, als er an den Weihnachtstag dachte. Er hatte ihn wie jedes Jahr bei seinen Adoptiveltern verbracht, zusammen mit seinen sechs Geschwistern und deren Kindern. Es kam ihm stets vor, als wäre er in eine andere Welt gewechselt, in der jede Ecke vor Leben, Geschrei, Gelächter und manchmal auch Auseinandersetzungen überquoll. Er mochte es für eine Weile, und gleichzeitig musste er die Zähne zusammenbeißen, um es durchzustehen. Auch dieses Mal hatte er sich als Erster verabschiedet, um den Abend allein in seiner Wohnung zu verbringen. Am nächsten Morgen war er früh Richtung Norden aufgebrochen, hatte den Alice Lake Provincial Park hinter sich gelassen und aufgeatmet, als er am Longtree-Resort aus dem Bus steigen konnte. Von dort war es nur noch ein kurzer Fußmarsch zur Peck-Hütte. Hier konnte er bis zum Morgen wach bleiben und erst in den Stunden der Dämmerung schlafen. Vollkommene Freiheit.

Lauri starrte auf seine Stiefel, an denen der Schnee pappte. Das Knirschen bei jedem Schritt und sein Atem waren die einzigen Geräusche, und selbst sie klangen gedämpft. Schneeflocken tanzten vereinzelt vom Himmel.

Lauri behielt sein Tempo bei, als er nach links auf den Pfad abbog, den er seltener nutzte. Die weiße Masse reichte ihm nun bis zu den Knien. Er winkelte die Arme an, um mit mehr Schwung gegen den Widerstand anzugehen. Sobald er den Wald erreicht hatte und der Schnee sich nicht mehr so auftürmte, würde ihm das Laufen leichter fallen.

Als er die erste Baumgruppe erreichte, blieb er stehen und legte eine Hand auf einen der Stämme. Die Rinde war nicht so kalt, wie er vermutet hatte, und fühlte sich fast weich an. Das Muster aus Furchen und Rillen schmiegte sich an seine Haut. Es würde gut auf Papier aussehen.

Er lief weiter, doch etwas störte die Ruhe: Gelächter. Es kam von der anderen Seite des Waldstücks, aus dem Longtree Holiday Resort, das neben der Haltebucht für den Bus lag. Lauri war nach seiner Ankunft hindurchgelaufen, aber niemandem begegnet, da es früh am Morgen gewesen war. Er würde sich nur im Notfall dort blicken lassen, und der war zum Glück noch nicht eingetreten. Verpflegung hatte er mehr als genug mitgebracht, ohnehin brauchte er nicht viel. Zudem war er nicht wild auf Small Talk in der Bar oder darauf, mit anderen auf die Jagd zu gehen oder Schneemobilrennen zu fahren. Die Menschen in den Hütten dort liebten die Einsamkeit, weil sie Raum für alles gab, was die Stadt ihnen verwehrte. Lauri dagegen liebte sie, weil er ganz er selbst sein konnte.

Unwillkürlich versuchte er, sich leiser zu bewegen, als er weiterging. Für eine Weile schloss er die Augen und lief blind, die Arme nach vorn gestreckt. Selbst das konnte er hier tun: einen oder mehrere Sinne ausschalten, ohne eine unangenehme Überraschung zu erleben. Es gab nicht viel in dieser Idylle, und gerade das machte sie so wertvoll.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er etwas, das die Regelmäßigkeit der Landschaft störte. Oder bildete er sich das nur ein? Lauri blinzelte. Schneeflocken, die sich auf seine Wimpern gelegt hatten, schmolzen und liefen die Wangen hinab. Er wischte sich über die Augen, doch das Bild blieb: eine dunkle Vertiefung zwischen zwei Bäumen. Sie bewegte sich nicht. Vermutlich ein abgebrochener Ast. Lauri ging darauf zu, einfach nur, um ein Ziel zu haben. Es musste ein ziemlich großes Stück Holz sein, beinahe so lang wie er.

Nach wenigen Schritten runzelte er die Stirn – und blieb stehen. Die Kälte, vor der seine Kleidung ihn bisher geschützt hatte, traf ihn voller Wucht und verbiss sich in seiner Haut. Gleichzeitig wurde ihm unerträglich heiß. Das konnte nicht sein!

So schnell er konnte, rannte er auf die Mulde zu. Er hatte sich nicht getäuscht: Da war ein Arm mit hellen Fingern, die ihm weißer erschienen als die Umgebung. Er ragte einfach so aus dem Schnee heraus.

O mein Gott.

Lauri keuchte. Jemand musste dort verunglückt sein, nur wie? Womöglich ein Wildtier? Normalerweise hielten die sich fern von der Siedlung und ihrer Umgebung, aber wer wusste schon, ob ein Wolf plötzlich sein Revierverhalten änderte oder ein Bär seinen Winterschlaf unterbrach.

Lauri hielt den Atem an, trat näher und erkannte ein Gesicht, das sich unter der dünnen Schneeschicht nur schwach abzeichnete.

Dort lag eine Frau. Die Erkenntnis landete wie eine Faust in Lauris Magen, und er ging so hart auf die Knie, dass er schwankte. Er stützte sich mit einer Hand ab und wischte mit der anderen den Schnee von ihrem Gesicht. Sie war jung, höchstens Anfang zwanzig. Ihre Augen waren geschlossen, eine Braue aufgeplatzt, ihre Unterlippe geschwollen und dunkel verfärbt. Auf einer Wange prangte ein Hämatom, das halb so groß war wie seine Faust. Keine blutigen Wunden, nur diese Verletzungen. Es sah nicht aus, als hätte ein Tier ihr das angetan.

»Hallo? Hörst du mich?« Lauri schüttelte sie vorsichtig, doch sie reagierte nicht. Wie eine Puppe aus Schnee und Eis folgte ihr Körper träge seinen Bewegungen. In Lauris Brust hämmerte es, und verzweifelt versuchte er, einen klaren Gedanken zu fassen. Was musste er noch einmal tun? Sie wärmen, die nassen Sachen ersetzen, aber erst nach einem Puls suchen. Er berührte ihre Lippen und hielt ein Ohr darüber, doch er spürte nichts. Seine Finger flogen über ihre Wangen, zu ihrem Hals. Sie waren selbst so kalt, dass er die Körpertemperatur der Frau nicht bestimmen konnte, und er konnte auch keine Ader finden, die noch pochte. Oder doch? Er war sich nicht sicher, aber er durfte keine Sekunde länger warten. Noch einmal schüttelte er die Frau, schlug leicht auf ihre Wangen, doch es brachte nichts.

Hastig fegte er den übrigen Schnee von ihrem Körper. Sie trug nicht einmal Winterkleidung, lediglich eine Jeans und einen Pullover, beides komplett durchnässt und schon steif vor Kälte. Keine Schuhe. Irgendwo zu ihren Füßen schimmerte es dunkel, doch als Lauri den Schnee wegschaufelte, fand er nur einen Filzklumpen, der einmal ein Pantoffel gewesen sein musste. Mit fliegenden Fingern schlüpfte er aus seiner Jacke und ignorierte die Kälte. Er schob seine Arme unter den Oberkörper der Frau und zog ihr den nassen Pulli aus. Der Stoff klebte an ihrer Haut, sträubte sich, doch schließlich gab er nach. Darunter trug sie nur ein dünnes Top. Lauri versuchte, sie vorsichtig und zugleich so schnell wie möglich in seine Jacke zu hüllen. Ihre Arme folgten seinen Bewegungen nur widerspenstig, doch endlich konnte er den Reißverschluss hochziehen, nahm seinen Schal und schlang ihn um ihren Hals. Er zitterte, doch die Kälte machte ihm nicht so viel aus, wie sie sollte.

Noch immer bewegte sich die Frau nicht. Lauris Gedanken rasten, als er die Entfernungen schätzte. Bis zur Longtree-Siedlung war es ungefähr genauso weit wie bis zu seiner Hütte, und wenn Ben recht hatte, dann feierte der Besitzer des Komplexes oft mit seinen Gästen und trank dabei gern ein wenig mehr. Das Risiko, dass er vor verschlossenen Türen stand, hinter denen Menschen ihren Rausch ausschliefen, war zu hoch. Nein, er würde sie zu seiner Hütte bringen und den Notruf wählen. Warum hatte er auch das verdammte Telefon nicht mitgenommen!

Er stopfte den Pulli der Frau in seine Jackentasche – er war so dünn, dass er ihn faustgroß zusammendrücken konnte –, taumelte, als er sie auf die Arme hob, sich aufrichtete und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Der Untergrund schien plötzlich tückischer zu sein als vorher, und er zu langsam. Seine Gedanken trieben ihn schneller vorwärts, als sein Körper folgen konnte, und dann begriff er, dass es Panik war. Panik, dass er eine Tote in den Armen hielt, oder dass sie sterben würde, während sie durch die Nacht liefen. Er hielt sie eng an seine Brust gepresst und hoffte auf einen Herzschlag. Da war nichts, doch das musste einfach an der dicken Jacke liegen. Einen anderen Grund durfte es nicht geben!

Er lief in seinen Spuren zurück, um sich besser bewegen zu können. Doch es ging ihm nicht schnell genug, und nach wenigen Schritten pflügten seine Beine durch die Schneemassen. Der Widerstand kostete Unmengen Kraft, und Lauris Oberschenkel begannen zu schmerzen. Er biss die Zähne zusammen und fasste die Frau fester, um sie nicht fallen zu lassen.

Als er den Waldrand erreichte, wurde der Weg noch beschwerlicher. Lauris Muskeln brannten, und die Beine waren jetzt so schwer, dass er sie kaum noch heben konnte. Er durfte nicht an den Weg denken, der vor ihm lag! Stattdessen konzentrierte er sich auf die Frau. Aus ihren Haaren perlte Wasser auf seine Jacke und spickte sie mit winzigen Tropfen.

»Nur noch ein Stück durchhalten«, keuchte Lauri. »Wir sind bald da, dann gibt es ein Feuer, warme Sachen und was Heißes zu trinken. Und bald bist du in einem Krankenhaus.«

Er redete weiter, belanglose Worte, die nicht mehr ihr galten, sondern ihm. Irgendwann tauchte etwas Dunkles in den Augenwinkeln auf, doch er war noch zu weit von der Hütte entfernt. Was auch immer er gesehen hatte, es half ihm nicht weiter. Im Gegenteil, es könnte ihm höchstens gefährlich werden.

Plötzlich kam ihm die Umgebung feindselig vor, und die Nacht war nur noch eine Zeit, in der man bei Licht und Wärme in seinen vier Wänden blieb. Vielleicht war derjenige, der dieses Mädchen so zugerichtet hatte, noch immer in der Nähe. Vielleicht beobachtete er sie gerade.

Lauri fluchte, sah sich um und lauschte. Sein Atem rasselte so laut in seiner Kehle, dass er kaum etwas hörte, doch die Sichtverhältnisse waren gut. Da war niemand. Er war allein. Nässe lief über sein Gesicht und tropfte von seinem Kinn, die Haare klebten ihm an der Stirn. Es war egal, er musste weiter. Ihretwegen. Mittlerweile schwitzte er unter seinem Pullover, sein Gesicht glühte. Die Kraft verließ ihn. Er zwang sich, langsamer zu laufen, um nicht zu stolpern. Es fiel ihm schwer. Das Gefühl, womöglich gegen die Zeit zu kämpfen, war kaum zu ertragen, doch er kannte seinen Körper und seine Kondition genau. Er tastete über einen Arm der Frau. War ihre Haut wärmer als zuvor? Noch immer fand er keinen Puls.

»Wir haben es gleich geschafft«, murmelte er und betrachtete den Teil ihres Gesichts, der nicht vom Haar bedeckt war. Die Nasenspitze beschrieb einen leichten Schwung nach oben, die Lippen darunter waren so hell wie die übrige Haut, mit sanften Kerben darin. Es sah aus, als würde sie schmollen oder den Mund anspannen, weil ihr etwas nicht gefiel oder sie nachdachte. Auf ihrem Kinn prangte ein dunkler Fleck. Lauri hielt ihn zuerst für eine weitere Verletzung, bis er erkannte, dass es ein Muttermal war.

Als endlich die Hütte auftauchte, stöhnte er vor Erleichterung auf. Das Gelände stieg an, und er lehnte sich so weit wie möglich nach vorn, um den Schwung zu nutzen. Zweimal stolperte er und verlor fast das Gleichgewicht, dann knickten seine Beine ein. Er ließ sich fallen und konzentrierte sich darauf, die Frau festzuhalten. In seinen Waden kribbelte und stach es, als er sich wieder aufrappelte, doch nun hatte er das Ziel vor Augen. Es gab nur noch den Körper in seinen Armen und die Hütte, und endlich trat er die Tür auf und stürmte hinein. Das Rauschen von Wind und Kälte in seinen Ohren verstummte und ließ Platz für das Hämmern seines Herzens. Seine Füße krachten auf den Holzboden, da er noch immer mit derselben Kraft lief, die er im Schnee gebraucht hatte.

Plötzlich erschien ihm die Luft hier drinnen warm und stickig. Er stürzte zum Sofa, legte die Frau vorsichtig darauf ab und breitete die Decke über sie. Sein Handy lag auf dem Tisch. Als er es aktivieren wollte, regte sich nichts auf dem Display. Er versuchte es noch einmal, doch das Schwarz verhöhnte ihn hartnäckig.

»Verdammt!« Das durfte nicht wahr sein. Der Akku war noch halb voll gewesen, als er losgegangen war – immerhin hatte er seit seiner Ankunft vor zwei Tagen kein einziges Mal telefoniert. Mit fliegenden Fingern riss er die Schublade der Kommode neben dem Tisch auf, fand das Ladekabel und hängte das Telefon an die Steckdose. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Frau, rannte die Holztreppe hinauf und ins Schlafzimmer, den einzigen Raum in der oberen Etage. Ohne genau hinzusehen, griff er in den Schrank, packte nahezu alles, was dort hing, und rannte wieder zurück, immer zwei Stufen auf einmal. Neben dem Sofa ließ er den Stapel zu Boden fallen und betrachtete die Bewusstlose. Ihr Gesicht sah trotz der Verletzungen so friedlich aus, dass die Blässe unter der Haut fast schön wirkte. Ihre Lippen waren leicht geöffnet.

Waren sie das eben auch schon gewesen? Verdammt, er wusste es nicht! Lauri ballte die Hände zu Fäusten. Hatte sie sich etwa bewegt? Atmete sie? Er riss die Decke zurück und legte seinen Kopf auf ihre Brust. Da war ein Herzschlag, unregelmäßig und verhalten. Oder war es sein eigener Puls, der ihm vorgaukelte, die Frau gerettet zu haben?

Ungehalten schüttelte er den Kopf. Er verschwendete gerade wertvolle Zeit mit Spekulationen, die ihn nicht weiterbrachten. Zunächst musste er die Frau aufwärmen und dann endlich Hilfe holen. Besser, er steckte eine Tote in seine Sachen, als dass ihm jemand unter den Fingern wegstarb.

Er versuchte, ihr seine Jacke so behutsam wie möglich auszuziehen, dann ihre Socken, die Jeans und, nach kurzem Zögern, das weiße Top. Seine Finger waren wieder warm geworden, der Kontrast zu ihrer eiskalten Haut umso stärker. Jedes Mal, wenn er sie berührte, sank seine Hoffnung ein Stück mehr. Die Frau war schlank und ging ihm höchstens bis zur Schulter; viel hatte ihr Körper der Kälte nicht entgegenzusetzen gehabt. Alles an ihr war hell. Welche Farbe wohl ihre Augen besaßen? Lauri hielt an dieser Frage fest, um sie nicht zu sehr anzustarren, wie sie nur mit einem Slip bekleidet vor ihm lag.

»Also dann«, murmelte er und griff nach einem seiner T-Shirts. Es würde ihr viel zu groß sein, aber immerhin hatte er kaum Probleme, es ihr überzuziehen. Sie reagierte auch jetzt nicht, als er ihre Arme durch die Öffnungen zog und dabei Worte murmelte, die er selbst nicht verstand.

Während er sie in Stoffschicht um Stoffschicht hüllte und dabei durch vorsichtiges Reiben die Kälte von ihrer Haut zu vertreiben versuchte, redete er sich ein, dass sie wieder zu sich kommen würde, wenn ihr Kreislauf auf die Wärme ansprach und ihr Herzmuskel nicht zu sehr ausgekühlt war. Versuchsweise presste er einen Daumen in die weiche Haut ihres Unterarms, doch an der Druckstelle zeigten sich keine Verfärbungen. Das war nicht gut.

Nach dem Shirt folgten eine Jeans, zwei Paar Socken, sein dickster Pulli und sein Schal. Zuletzt nahm er ein Kissen und schob es behutsam unter ihren Kopf, ehe er die Decke wieder über sie zog. Aus ihren Haaren perlte kein Wasser mehr, aber sie waren noch feucht. Allmählich schwand die dunkle Farbe, und die Strähnen strahlten immer mehr in einem Lichtblond – ein starker Kontrast zu dem getrockneten Blut und ihrer Wange. Selbst ihre Wimpern waren hell.

Lauri nahm ihre Hände und legte sie unter die Decke auf ihre Brust. Ihre Fingernägel waren so weit runtergebissen, dass an den Rändern blutige Risse entstanden waren. Sie sah so zerbrechlich aus, und irgendetwas an ihr machte es Lauri schwer wegzusehen. Doch er musste, wenn er sie retten wollte. Er machte sich nicht die Mühe, um die Stühle herumzulaufen, stieß sie grob beiseite und griff nach seinem Handy. Nichts. Er konnte darauf herumdrücken, wie er wollte, es blieb stumm.

Das konnte einfach nicht sein. Die Steckdose funktionierte, er hatte sie vor wenigen Stunden benutzt. Lauri zog das Kabel heraus, um es woanders an den Strom zu hängen, als er etwas hörte. Ein Geräusch, so leise, als wollte es sich vor ihm verstecken. Zu zart und nah, um von draußen zu kommen.

Er wirbelte herum, war in der nächsten Sekunde bei ihr und ging neben dem Sofa in die Knie. Sie bewegte sich noch immer nicht, doch ihre Lippen waren jetzt geschlossen. Lauri tastete an ihrem Hals nach einem Puls, und dieses Mal fand er ihn. Schwach zwar und langsam, aber er war da.

Etwas sackte von seiner Brust in seinen Magen und löste sich dort ganz, ganz langsam auf. Er griff unter der Decke nach ihren Händen.

»Hey«, flüsterte er und versuchte, sorglos zu klingen, um sie nicht zu beunruhigen. »Es ist alles okay. Du bist in Sicherheit. Ich werde den Notarzt rufen, dann geht es dir bald besser.«

Hatte sie etwas gesagt? Nein, er musste sich geirrt haben, denn sie lag noch immer so unbeweglich da wie zuvor. Ihre Haut widersetzte sich seiner Wärme und blieb Eis. Doch dann hörte er es noch einmal. Es kam aus ihrer Kehle, halb Wimmern, halb Rasseln, so leise, als wäre sie weit weg. Eine Bewegung an ihrem Hals. Sie schluckte.

Lauri drückte ihre Finger. »Ich bin sofort wieder bei dir.« Er rannte in die Küche und setzte Wasser auf. Verpackungen polterten zu Boden, eine Tasse folgte und zersprang, dann hatte er Tee gefunden und zog einen Beutel aus der Schachtel. Er nahm sein Handy, probierte kurz den Toaster aus – er funktionierte –, stöpselte ihn aus und rammte das Ladekabel seines Telefons so fest in die Steckdose, dass die Verkleidung knirschte. Im nächsten Augenblick war er auch schon wieder neben der Frau.

Ihre Finger zuckten, dann lagen sie wieder still. Lauri streichelte über ihren Handrücken, dann über ihre Wange, um sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein war. Sie wirkte so hilflos und zerbrechlich. Wer hatte ihr das nur angetan? Allein der Gedanke, dass sie diesem Jemand ausgeliefert gewesen war, machte ihn wütend. Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Hörst du mich?«, flüsterte er und lauschte auf eine Antwort, einen Atemzug, irgendetwas.

Sie rührte sich nicht. Im Hintergrund brodelte das Wasser im Kocher. Lauri sprang auf, goss es ein, kramte den Honig aus seinen Vorräten und gab einen Löffel hinzu. Zucker war sicher nicht verkehrt, um ihren Kreislauf wieder auf Touren zu bringen, sobald sie aufwachte. Seine Bewegungen waren zu schnell, sodass Flüssigkeit auf seine Haut schwappte und ihn verbrühte. Er bemerkte es nur am Rande und überlegte gleichzeitig fieberhaft.

Sie lebte, aber es ging ihr nicht gut. Er sah auf sein Telefon, doch noch immer leuchtete die Ladeanzeige nicht. Wider besseres Wissen versuchte er noch mal, das Ding einzuschalten, doch es sah ganz danach aus, als hätte es sich den ungünstigsten Moment ausgesucht, um sich endgültig zu verabschieden. Dabei war es noch gar nicht so alt.

Lauri warf den Teebeutel in die Spüle und balancierte die Tasse zum Tisch. Als er sich wieder neben das Sofa kniete, zuckte ein Augenlid der jungen Frau. Sie zitterte, und Lauri hätte sie gern in den Arm genommen, um sie zu wärmen. Doch er traute sich nicht. Er wollte – durfte – sie nicht erschrecken. Also zog er nur die Decke bis zu ihrem Kinn, blies über die dampfende Flüssigkeit in der Tasse und entschied, dass der Tee noch zu heiß war.

»Wir sehen erst einmal zu, dass wir dich wieder warm bekommen. Wenn es dir besser geht, laufe ich los und hole Hilfe«, flüsterte er und verfluchte sich dafür, nicht doch zur Siedlung gegangen zu sein.

Dieses Mal bewegten sich nicht nur die Finger der Bewusstlosen. Sie hob eine Hand von der Decke. Ihr Arm zitterte und fiel wieder herab, so als hätte diese Bewegung sämtliche Kraft gekostet.

Die Frau öffnete die Lippen und murmelte etwas. Es war so leise, dass sich Lauri vorbeugte und sein Ohr dicht an ihr Gesicht hielt.

»Ich verstehe dich nicht«, sagte er. »Versuch es noch mal.«

Sie spannte sich an. Dann kitzelten ihre Lippen seine Haut.

»Sag es niemandem.«

 

 

3

Die Sterne zogen wie im Rausch an Neve vorbei. Der Wind riss an ihren Haaren und sprühte Kälte in ihr Gesicht, doch es schmerzte nicht. Im Gegenteil, jede Faser ihres Körpers jubelte über die Geschwindigkeit, über die Lebendigkeit um sie herum. Hinter ihr rief ein Mann, ein anderer lachte – oder war es eine Frau? –, und Neve stimmte mit ein. Laut und vergnügt tönte ihre Stimme durch die Nacht, plötzlich umrahmt von Musik. Ein Hund bellte, Pferde wieherten, ein Schemen huschte an ihr vorbei. Mit einem Mal war sie glücklich, warf den Kopf in den Nacken, breitete die Arme aus und drehte sich um sich selbst. Sie trug ein Kleid, weich wie Seide. Es bauschte sich auf und verwandelte sie in eine Prinzessin. Das Sternenzelt über ihr glänzte und hüllte sie ein, dann kamen die Sterne näher, ihr Schimmer berührte Neves Hände.

Nein, es waren nicht die Sterne.

Neve senkte den Kopf und sah sich um. Die Pferde, Reiter und Hunde waren verschwunden, ebenso die anderen Menschen, in deren Tross sie soeben getanzt hatte. Sie stand allein auf einer Lichtung vor einer Höhle. Ihre nackten Füße versanken im Schnee, doch sie fror nicht. Ihre Aufmerksamkeit wurde von dem Schimmer gefesselt, der aus dem Inneren der Felsen drang: Silberfäden, durchwoben von klarem Eisblau. Nie zuvor hatte sie bemerkt, wie schön die Facetten des Winters sein konnten. Warum hatte sie sich in ihrem Leben nur immer nach Sonnenschein gesehnt?

Sie war nicht allein. Jemand wartete dort drinnen auf sie. Zögernd setzte Neve einen Fuß nach vorn, dann den anderen. Das Blau strahlte stärker, umschmeichelte ihre Schultern und spielte auf ihren Unterschenkeln. Lockte sie. Trotzdem blieb sie stehen. Irgendetwas hielt sie zurück, obwohl sie am liebsten weitergelaufen wäre. Dann hörte sie es: eine Stimme, dunkel und ruhig und warm.

Du bist in Sicherheit.

Die Worte kamen nicht aus der Höhle, sie kamen nicht einmal aus der Umgebung … nein, sie hatten ihren Ursprung in ihr selbst. Neve legte die Hände auf ihre Brust, so als könnte sie diese Stimme beschwören. Die Umgebung verschwamm und mit ihr die Höhle. Neve zuckte zusammen und streckte die Arme aus. Sie wollte hier nicht weg. Tränen füllten ihre Augen und liefen die Wangen hinab. Es fühlte sich an, als würde jemand sie zerreißen oder ihr etwas nehmen, das lieb und teuer war und ohne das sie nicht sein wollte. Die Welt begann sich zu drehen, Blau vermischte sich mit dem Nachtschwarz des Himmels und ließ die Sterne noch mehr leuchten. Ihr Licht dehnte sich aus, weiter und weiter, bis Neve die Augen mit den Händen bedecken musste. Verzweifelt versuchte sie etwas zu sagen, doch sie spürte ihren Körper nicht mehr.

Ich verstehe dich nicht!

Die Helligkeit zog sich wieder zusammen und nahm Neve mit sich.

Die Bilder flackerten nur kurz auf, trotzdem brannten sie sich in ihr Gedächtnis ein: Holz in Honigfarben. Eine Tasse, aus der Dampf aufstieg. Ein von dunklen Locken umrahmtes Gesicht, aus dem braune Augen sie besorgt anblickten. Neve wollte diese Sorge beiseite wischen, irgendetwas sagen, aber da zerrte die Dunkelheit schon wieder an ihr, und es war so leicht, sich fallen zu lassen.

Der Schmerz brachte sie viel zu bald zurück. Als sie zum zweiten Mal aufwachte, starrte sie an eine Zimmerdecke, wo Lampen so hell brannten, dass es ihren Augen wehtat. Etwas lag auf ihr und drohte, sie zu ersticken. Sie wollte eine Hand heben, um es wegzuschieben, und begriff, dass es ihr eigener Körper war. Er war zu schwer. Brannte. Vielleicht war es auch die Wolldecke, die jemand über sie gebreitet hatte.

Sie konnte nicht durchatmen, also drehte sie den Kopf zur Seite, um zumindest nicht länger geblendet zu werden. Selbst diese Bewegung verlangte ihr beinahe alle Kraft ab. Kleine Explosionen zogen über ihre Haut, so viele, dass sie aufhörte zu zählen.

Endlich wurde das Licht schwächer, und ein Umriss schälte sich in Neves Sichtfeld. Sie blinzelte und erkannte einen Tisch sowie eine schlafende Gestalt in einem Sessel. Ein Mann. Er trug ein graues T-Shirt, seine Arme waren unter dem Kopf verschränkt. Dunkles Haar berührte seine Wangen, darunter spross ein Dreitagebart. Das Bild war so friedlich, dass Neve unwillkürlich lächeln musste. Im selben Moment wünschte sie sich, es nicht getan zu haben. Feuer zog über ihr Gesicht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.

Sie klammerte sich an das friedliche Bild des schlafenden Mannes, um die Schmerzen zu vergessen. Es musste seine Stimme gewesen sein, die sie zuvor gehört hatte. Sie betrachtete die Linie seines Kinns und seine nackten Arme, auf denen das Licht tanzte. Versuchsweise hob sie einen Mundwinkel und wappnete sich gegen den Schmerz, doch er war längst nicht mehr so stark wie zuvor. Als Nächstes bewegte sie ihre Finger. Ihre Gliedmaßen brannten, gehorchten ihr aber. Neve schloss erschöpft die Augen. Ihr war kalt und im nächsten Augenblick so warm, dass sie fast die Decke weggeschoben hätte, doch sie wollte das Gefühl von Schutz und Geborgenheit nicht verlieren. Am besten war es, sie bewegte sich gar nicht. Doch die Unruhe wuchs, und ihre Gedanken preschten davon, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Als sie zurückkehrten, brachten sie Erinnerungen mit, die Neve lieber weggesperrt hätte: Gideon. Der Streit. Wie hatte es nur dazu kommen können?

Sie hatte gehofft, dass die Abgeschiedenheit Longtrees ihnen helfen würde, ihre Probleme zu bewältigen. Sich wieder aufeinander zu konzentrieren. Aber in der letzten Zeit hatten sie nur noch gestritten, und jedes Mal war ein Teil ihrer Welt gestorben. Sie war nicht groß, diese Welt, und Gideon war der Mittelpunkt. Stark und massiv, aber nicht so beständig, wie sie gehofft hatte.

Der Graben zwischen ihnen war bereits zu breit gewesen. Neve hatte ihn nicht mehr überwinden können und es dennoch versucht. Ihre Worte hatten Gideon nicht erreicht, und seine sie nicht, weil sie nicht hören wollte, was er ihr wirklich sagte. Sie wollte die Probleme ignorieren, so als hätte es sie nie gegeben. Sie wollte wieder da anfangen, wo jeder seiner Küsse in ihrem Bauch gekribbelt hatte. Aber sie hatte nicht gewusst, wie. Stattdessen suchte sie nach einem Ausweg aus der Sackgasse, in der sie feststeckten. Ohne Erfolg. Gideon gab sich lieber mit den Männern aus den anderen Hütten ab, trank und lachte mit ihnen in der Bar, statt sich um das zu kümmern, was sie so verzweifelt wiederbeleben wollte. Statt sich um sie zu kümmern. Begriff er denn nicht, dass sie ohne ihn nicht wusste, was sie tun oder wohin sie gehen sollte?

Es war seltsam, jetzt darüber nachzudenken, während sie in diesem fremden Zimmer auf dem Sofa lag. Es fühlte sich nicht so schlimm an, wie sie vermutet hatte. Da war kein Strudel, der sie hinabriss, und keine Panik, die in ihren Eingeweiden wütete. Nein, da waren einfach nur die Bilder, und es war, als wäre dieser Abstand nötig, damit sie die Sache mit Gideon endlich klar sehen konnte.

Sie hatte in der Hütte auf dem Bett gesessen, die Arme um die Knie geschlungen, und jedes Geräusch aus der Bar hatte sich wie eine Klinge in ihr Herz gebohrt. Gideon feierte, sie war allein. Mit jeder Sekunde wurde der Gedanke stärker und wickelte Neve in ein Netz, das sie erstickte. Sie musste es loswerden, und das tat sie, als Gideon endlich zurückkehrte. Der Geruch von Alkohol durchtränkte den Raum, kaum dass er die Tür hinter sich schloss. Ihr Streit war schlimmer und vor allem lauter als je zuvor, und irgendwann wusste sie sich nicht mehr zu helfen und ohrfeigte ihn. Danach erkannte sie ihn nicht mehr wieder. Das war nicht Gleichgültigkeit, die in seinen Augen flackerte, sondern Hass. Besonders schlimm, da er plötzlich schwieg, so als würden Worte nicht mehr ausreichen, um ihr zu sagen, was in seinen Augen falsch lief. In den Sekundenbruchteilen, ehe seine Faust sie traf, überlegte Neve zum ersten Mal in ihrem Leben, ob sie ihn überhaupt noch liebte.

Das Nächste, an das sie sich erinnerte, waren lediglich Fragmente, und sie war froh darüber. Sie hatte versucht, sich zu schützen, und war zur Tür gerannt, als sie den Anblick seiner gefletschten Zähne und der schmalen Augen nicht mehr ertrug. Anschließend war da nur noch der Schnee gewesen und die Kälte, und endlich, endlich vollkommene Ruhe.

Sie hatte geträumt, einen Traum voller Farben, die so wundervoll waren, dass sie ihr Herz berührten. Streicheleinheiten, nach denen sie sich gesehnt hatte. Seit langer Zeit hatte sie sich nicht mehr so geborgen gefühlt wie … ja, wie wann?

Neve tastete über das fremde Sofa. War sie da bereits in dieser Hütte gewesen? Hatte sie gespürt, wie dieser Fremde sie gefunden und in seinen Armen gehalten hatte? Er musste sie hierhergetragen haben, wo auch immer hier war.

Noch einmal öffnete sie die Augen und musterte ihn. Er stammte nicht aus Longtree. Vielleicht doch, vielleicht war er neu angekommen und hatte sie im Wald getroffen. Aber warum hatte er sie dann nicht zu Gideon gebracht? Der Besitzer des Resorts wusste, wer sie war und mit wem sie zusammenwohnte. Allerdings … nein, sie glaubte nicht, dass sie in einer Longtree-Hütte lag. Diese hier sah anders aus, war größer und besaß einen persönlichen Stil. War sie etwa ohnmächtig geworden, und der Fremde hatte sie weiter weggebracht? Wahrscheinlich sollte sie bei diesem Gedanken Angst haben, aber sie war nicht im Geringsten beunruhigt. Nur müde.

Zu viele Fragen kreisten in ihrem Kopf, und sie konnte keine davon beantworten.

Sie schaffte es noch, in eine bequemere Position zu rutschen, dann gab sie der Erschöpfung nach und sank erneut in den Schlaf.

Wärme flutete ihre Haut. Verbrannte sie. Neve zuckte zurück, um sie loszuwerden, und bäumte sich auf.

Der Druck auf ihre Schulter war zart, aber unnachgiebig.

»Ruhig. Es ist nur Tee.« Die Stimme passte zu der Berührung vorher.

Neve presste ihre Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, dann hörte sie, wie eine Tasse abgestellt wurde. Zögernd öffnete sie die Augen und starrte in das Gesicht, das sie schon einmal gesehen hatte. Es befand sich fast auf einer Höhe mit ihrem. Über Augen, die so dunkel waren, dass Neve die Iris erst beim zweiten Hinsehen erkannte, waren die Brauen herabgezogen. Sie rahmten zwei senkrechte Kerben über dem Nasenrücken ein. Der dunkelhaarige Fremde schien sich zu sorgen.

Um sie. Es war ein seltsames Gefühl, schön und befremdlich zugleich. Neve bewegte eine Hand. Es tat nicht weh. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Zunge klebte am Gaumen. Ihre Lippen waren trocken, der Schluck Tee hatte nicht ausgereicht. Sie hatte Durst, aber bei dem Gedanken an das heiße Getränk wurde ihr beinahe übel.

»Kann ich etwas Wasser haben?« Sie stolperte über die Worte. Ihre Stimme klang fremd, aber noch viel fremder war es, die Lippen zu bewegen. Trotzdem versuchte sie, den Mann anzulächeln. Es fühlte sich schief an.

Er runzelte die Stirn stärker und berührte flüchtig ihre Hand. »Du solltest besser etwas trinken, das dich wärmt. Du bist noch immer ganz kalt.« Es klang bestimmt und entschuldigend zugleich.

Neve schüttelte den Kopf. »Bitte, ich möchte Wasser.« Normalerweise war sie nicht so hartnäckig, aber die Schwäche in ihr ließ wenig Raum für Höflichkeiten.

Es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr er mit sich rang. Dann nickte er und stand auf. An der gegenüberliegenden Seite des Raums erkannte Neve eine Küchenzeile, kurz darauf hörte sie Wasser rauschen. Sie umfasste die Sofalehne, biss die Zähne zusammen und zog, um sich aufzurichten. Ihre Arme zitterten, aber sie spannte sie an und legte all ihre Kraft in die Bewegung. Viel war ihr nicht geblieben, ihr Körper musste seine Energiereserven wohl erst wieder aufladen.

Als sie endlich saß, atmete sie heiser, und ihr war so warm, dass sie die Decke bis zur Hüfte herabzog. Sie trug einen Pullover, den sie noch nie zuvor gesehen hatte und dessen Ärmel bis über ihre Fingerspitzen reichten. Ein Blick unter die Decke verriet, dass auch die Jeans zu groß war. Beides gehörte wohl dem Fremden, was bedeutete, dass er sie an- und damit zuvor auch ausgezogen hatte. Neves Wangen wurden heiß, aber sie schwieg, um es nicht noch schlimmer zu machen.

»Hey, was tust du denn?«

Ehe sie reagieren konnte, stand er vor ihr, ein Glas Wasser in einer Hand. Er reichte es ihr, beugte sich vor und griff nach der Decke. Viel zu nah. Neve zuckte zurück. Sofort ließ er los und nahm Abstand, beide Hände erhoben.

»Entschuldige«, murmelte er und starrte sie betroffen an, aber auch mit einer dumpfen Ahnung in den Augen.

Neve schüttelte den Kopf, dann nickte sie. Die Situation überforderte sie, und sie wünschte sich, dass ihr irgendjemand sagen würde, was sie tun sollte. »Schon okay«, flüsterte sie, war aber nicht sicher, ob es stimmte.

Er bewegte sich langsam, um sie nicht noch mal zu erschrecken. »Ich tue dir nichts«, sagte er, griff die Decke und zog sie in Zeitlupe bis zu Neves Schultern hoch. Anschließend setzte er sich an das andere Ende des Sofas und versicherte ihr stumm, dass er ihr nicht zu nah kommen würde.

Neve atmete auf, zog ihre Füße ein Stück an, um ihm Platz zu machen, und nippte an ihrem Wasser. Es vertrieb endlich die Enge in ihrer Kehle und half, den letzten Rest Schläfrigkeit abzuschütteln. Der erste Schluck brannte, der zweite schon weniger, und als sie das Glas zur Hälfte geleert hatte, fühlte sie sich besser.

»Danke.« Sie blinzelte zu dem Fremden hinüber. Plötzlich fühlte sie sich unsicher, fast schüchtern. Sie hatte keine Ahnung, was geschehen und wie sie hierhergekommen war, und er sah sie so wachsam an, als könnte sie jeden Augenblick ohnmächtig werden. »Ich glaube, ich bin okay«, sagte sie, um ihm seine Sorge zu nehmen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Immerhin sah es ganz so aus, als hätte er sie gerettet, und ihr fiel nichts Besseres ein, als ihm zu misstrauen.

Er beugte sich vor und legte eine Hand prüfend und leicht wie eine Feder auf ihre. Keine Annäherung, nur ein Check. Seine Haut war warm, fast heiß, aber trotzdem war seine Berührung nicht unangenehm. Dieses Mal schreckte Neve nicht zurück.

»Noch immer kalt«, murmelte er. »Frierst du wirklich nicht?«

Sie hielt seinem Blick einen Augenblick lang stand, dann zog sie ihre Hand zurück und senkte den Kopf. »Nein.« Sie beugte sich vor und zupfte an einer Socke herum, die unter der Decke hervorschaute. Auch nicht ihre.

Mehrere Sekunden lang herrschte Schweigen, und Neve zermarterte sich das Hirn, um es zu brechen. Gar nicht mal so einfach, da sie sich nicht an alles erinnern konnte, was geschehen war, nachdem sie Longtree verlassen hatte. Zum Glück kam er ihr zuvor.

»Wie heißt du?« Er klang angespannt, aber freundlich.

»Neve«, sagte sie. »Neve Whitmore. Ich wohne in Squamish«, fügte sie an, um mit dieser zusätzlichen Information seine Zweifel wegzuwischen.

Es funktionierte. Zum ersten Mal, seitdem sie aufgewacht war, sah sie den Hauch eines Lächelns. Er hatte volle Lippen für einen Mann und presste sie ein wenig aufeinander, als wäre er nicht hundertprozentig zufrieden mit der Situation. Nicht auf eine berechnende Art, nicht wie ein Geschäftsmann auf der Karriereleiter. Nein, er war einfach jemand, der nachdachte. Sich sorgte. Wahrscheinlich wollte er sich an einem freien Wochenende entspannen, und nun hatte er sie am Hals. Sie würde sich so bald wie möglich für seine Hilfe bedanken und dann verabschieden.

Da gab es nur ein Problem: Sie wusste nicht, wo sie hingehen sollte. Zu Gideon konnte sie nicht zurück, also kam sie auch nicht an ihre Sachen. Zumindest vorerst. Trotzdem würde sie bei ihrer Entscheidung bleiben und sich nicht mehr umstimmen lassen, weder von Gideon noch von sentimentalen Erinnerungen. Seine Schläge hatten mehr zerstört als ihr Gesicht.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, deutete der Fremde auf ihre Wange. »Wie ist das passiert?«

Sie biss sich auf die Lippe. »Und wie heißt du?« Es war unangenehm, seiner Frage auszuweichen, doch noch unangenehmer wäre es, ihm alles zu erzählen.

Er schien zu verstehen, starrte aber noch einige Sekunden so vielsagend auf den Bluterguss, dass sie die Verletzung fast spürte.

»Ich bin Lauri«, sagte er. »Diese Hütte gehört den Eltern eines Freundes. Ich habe dich draußen gefunden. Du warst ohnmächtig. Ich …« Er suchte nach Worten. »Ich hatte ziemliche Angst, dass du bereits erfroren wärst.«

Neve ließ seine Worte in ihrem Kopf nachklingen und wartete darauf, dass sie von ihnen berührt wurde. Doch da war nichts. Sie empfand weder Angst noch Panik bei der Vorstellung, in dem kleinen Wald fast gestorben zu sein, in Rufweite von Gideon und all den anderen Urlaubern, aber dennoch vollkommen allein. Es war, als wäre trotz Lauris Bemühungen, sie aufzuwärmen, ein Eisklumpen in ihr zurückgeblieben, und er hatte zielsicher den Weg in ihr Herz gefunden und sich dort festgesetzt. Gideon war ihr nicht gefolgt, und von den anderen Gästen hatte niemand gewusst, wo sie war. Wenn Lauri nicht gewesen wäre …

Neve versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste. Wie sie eins mit der Stille des Walds war, bedeckt vom unerbittlichsten Leichentuch der Welt. Es war auf seltsame Weise faszinierend.

»Wo hast du mich gefunden?«, flüsterte sie. »War mein Körper schon kalt? Oder vom Schnee bedeckt?«

Ob er zufällig über sie gestolpert war? Womöglich hatte er auch ihre Spur entdeckt und war ihr gefolgt.

Lauri sah plötzlich unsicher aus, ihre Fragen verwirrten ihn. Kein Wunder. Wahrscheinlich hielt er sie für verstört oder, schlimmer, für geisteskrank und nicht in der Lage, einen normalen Gedanken zu fassen. Dabei hatte sie noch nie so klar gesehen wie jetzt. Sie wollte ihr altes Leben nicht zurück. Sie hatte sich an eine Illusion geklammert und dieses Trugbild mit ihrer Hoffnung immer weiter aufgebauscht, bis es nichts anderes mehr tun konnte, als zu platzen. Es tat weh, um die Scherben zu wissen, aber sie würde sich nicht noch einmal daran schneiden. Und das bedeutete vor allem eins: Sie besaß kein Zuhause mehr.

Im Grunde hatte sie das alles längst geahnt. Aber es hatte erst etwas Schlimmes geschehen müssen, damit sie begriff. Genau wie Gideon. Auch er hatte es nicht mehr in dieser Beziehung ausgehalten, die nur noch ein Echo gewesen war. Nur hatte er es auf eine andere Weise gezeigt.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch ihre Augen brannten. »Keine Sorge, ich bin nicht verwirrt. Es … interessiert mich einfach.«

Sein Blick flackerte zur Seite, dann zu ihr zurück. »Also gut.« Er starrte auf seine Hände. Sie waren groß und kräftig, mit leichten Abschürfungen an den Knöcheln. »Ich habe dich in dem kleinen Wald in der Nähe der Feriensiedlung gefunden. Ich weiß nicht, wie lange du dort gelegen hast, aber ich habe dich im Schnee fast übersehen. Deine Haut war sehr kalt.« Er sprach leise, als teilten sie ein Geheimnis. Dann räusperte er sich. »Kommst du von dort? Longtree? Ich kann jemanden für dich benachrichtigen. Mein Handy funktioniert nicht, darum konnte ich niemanden anrufen. Aber jetzt, wo es dir besser geht, laufe ich zu den Hütten und gebe Bescheid. Einverstanden? Ich wäre nicht lange weg.«

»Nein, danke«, sagte Neve rasch, um nicht weiter über seinen Vorschlag nachdenken zu müssen. Sie wollte nicht herausfinden, ob es noch irgendwo in ihr Zweifel gab, und sie wollte auch nicht weiter über Gideon grübeln. »Es gibt dort niemanden, der Bescheid wissen müsste.«

»Du solltest dich wirklich untersuchen lassen. Ich könnte von Longtree aus den Notarzt rufen.«

»Nein, bitte, ich … mir fehlt nichts. Wirklich.« Allein der Gedanke an eine Untersuchung und die damit verbundene Aufmerksamkeit veranlasste Neve, sich tiefer in das Sofa zu kuscheln. Man würde sie nach ihrer Adresse fragen, nach Angehörigen oder anderen Bezugspersonen und damit nach Dingen, an die sie nicht denken wollte.

Squamish. Gideon. Ihre Wohnung. Wie sehr wünschte sie sich, das alles verschwinden zu wissen wie eine Landschaft, die sich in Nebel hüllte.

Lauri sah mit einem Mal hilflos aus. Im selben Moment dämmerte Neve, dass sie wahrscheinlich reichlich unverschämt war. Er hatte sie gerettet und wollte diese ganze Angelegenheit klären. Sie war eine große Verantwortung für ihn, fremd, erschöpft und schwach, und sicher würde er sich besser fühlen, wenn sie sich von einem Arzt untersuchen ließ. Wahrscheinlich hatte er auch gar keine Zeit für Mädchen, die er halb erfroren im Wald fand. Immerhin führte er ein eigenes Leben.

»Es geht mir wirklich wieder gut«, sagte sie hastig und überlegte, was sie nun tun sollte. Erst einmal musste sie aus Longtree weg, aber das stellte sie bereits vor ihr erstes Problem. Gideon hatte die Wagenschlüssel, und für öffentliche Verkehrsmittel brauchte sie Geld. Aber ihr würde schon etwas einfallen. Im schlimmsten Fall würde sie einfach loslaufen und darauf hoffen, dass früher oder später jemand anhielt und sie mitnahm. Zu Hause würde sie das Nötigste zusammenpacken und verschwinden. Ein klarer Schnitt, ohne lange Diskussionen und Konfrontationen. Ja, das wäre sicher das Beste.

Sie legte Enthusiasmus in ihr Lächeln und hoffte, so von ihrem Zustand abzulenken. »Weißt du, ob ein Bus in der Nähe hält? Oder gibt es vielleicht eine andere Möglichkeit, nach Squamish zu kommen? Sobald meine Sachen trocken sind, breche ich auf.« Sie zupfte an seinem Pullover herum, der nur ein wenig kratzte.

Lauri zögerte, doch dann stand er auf, fasste sie bei der Schulter und drückte sie unendlich vorsichtig, aber bestimmt zurück. Er war nun so nah, dass Neve Funken im Braun seiner Augen entdeckte. Es war eine schöne Farbe, warm und leuchtend zugleich. Fasziniert starrte sie hinein, sah dann schnell weg und widmete sich den Wollflusen auf der Decke. Gleichzeitig schielte sie unter ihren Wimpern hervor zu ihm hinüber.

Lauri schien nichts bemerkt zu haben. »Nichts da«, erklärte er bestimmt. »Ich habe keine Ahnung, wie lange du da draußen gelegen hast und was die Kälte mit dir angestellt hat. Ich werde dich ganz sicher nicht allein durch die Gegend spazieren lassen. Wenn es niemanden gibt, der dich abholen kann, dann musst du wohl oder übel noch eine Weile hierbleiben.«

Sie nagte an der Lippe. »Das kann ich doch nicht einfach machen. Ich meine, du hast sicher …« Hilflos deutete sie auf einen unbestimmten Punkt im Raum. Eine Bewegung, die alles umfasste und doch wieder nichts.