Die Saphirtür - Stefanie Lasthaus - E-Book

Die Saphirtür E-Book

Stefanie Lasthaus

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Beschreibung

Als die hübsche Isla Hall eine Stelle als Privatlehrerin im exklusiven Silverton House antritt, ahnt sie noch nicht, dass sich ihr Leben für immer verändern wird. Eines Tages nämlich vertraut ihr Schützling, die sechsjährige Ruby, ihr an, dass sie nicht träumen kann, Islas eigene Träume sind dagegen ungeheuer intensiv und verstörend, seit sie bei der Familie lebt. Gemeinsam mit Rubys attraktivem Bruder Jeremy versucht Isla, dem Geheimnis von Silverton House auf die Spur zu kommen und entdeckt dabei ein Portal, das in eine magische Welt führt ...

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Seitenzahl: 653

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Das Buch

Isla sah auf ihre Hände, dann zu Ruby und zu der richtigen Tür. Nicht die andere, die mitten in der Wand zwischen Regal und Bett prangte, wo zuvor nur weiße Tapete gewesen war. Sie war viel zu klein für einen Erwachsenen und ging Isla bis zu den Hüften. Wenn überhaupt. Sie schimmerte in sanftem Blau. Unzählige Funken tanzten auf einer Oberfläche, die an Gestein erinnerte. An Kristall.

Wir schreiben das Jahr 1957. Die schwerreiche Familie Austin führt auf dem exklusiven Landsitz Silverton House ein sorgenfreies Leben, das sich zwischen Rosengärten und gesellschaftlichen Ereignissen abspielt. Aber der schöne Schein trügt, denn Ruby, die sechsjährige Tochter der Austins, ist kränklich und in sich gekehrt. Eines Tages vertraut das kleine Mädchen seiner Erzieherin, der ebenso jungen wie hübschen Isla Hall, an, dass es nicht träumen kann. Daraufhin beobachtet Isla Ruby im Schlaf – und tatsächlich liegt ihr Schützling wie tot in ihrem Bett. Doch das ist nicht das einzig Rätselhafte, das in Rubys Zimmer vorgeht: Plötzlich ist da eine magische Tür, die in eine andere Welt führt. Eine Welt, die Isla aus ihren eigenen Träumen nur allzu gut kennt. Als sie versucht, das Geheimnis von Silverton House zu entschlüsseln, findet sie dabei nicht nur das große Abenteuer, sondern auch die Liebe ihres Lebens …

Die Autorin

Stefanie Lasthaus wuchs im nördlichen Ruhrgebiet auf. Sie studierte Skandinavistik, Publizistik und Sozialanthropologie in Bochum und Kopenhagen. Nach verschiedenen Stationen in Australien, England und der Schweiz kehrte sie nach Deutschland zurück und widmete sich von da an ganz dem Schreiben – ob als Texterin für Onlinespiele-Anbieter oder als Autorin ihrer eigenen Geschichten. Stefanie Lasthaus lebt und arbeitet in Karlsruhe. Zuletzt ist im Heyne Verlag ihr Roman Das Frostmädchen erschienen.

STEFANIE LASTHAUS

DIE

SAPHIRTÜR

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 08/2018

Copyright © 2018 by Stefanie Lasthaus

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock (dip, Andreiuc88)

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-22280-2V002

www.heyne.de

Für Jörg

absolution and a frozen room

are the dreams of men below

i try to grab it but the touch is hot

the mirror collapses, but the image came not

i’m scared of the darkness in the light

i scare myself because i know i’m right

(from: Ministry, »Burning inside«)

Prolog

Hampshire, England. 1954

Messerschnitte hätten nicht mit dem Regen mithalten können. Er schlug hart gegen die Windschutzscheibe und wurde vom Sturm kerzengerade zur Seite gedrückt, sodass sich ein unregelmäßiges Muster bildete.

»Sollte ich diesen Abend nicht überleben, dann versprich mir, dass du mich verbrennen lässt.« Seine Worte mischten sich mit dem Geräusch des Regens. Er musste sich konzentrieren, um die Umrisse der Straße zu erkennen. Scheibenwischer und Scheinwerfer hatten kaum eine Chance, und die Tachonadel zitterte knapp über zwanzig Meilen pro Stunde. »Ich ertrage die Vorstellung nicht, wochenlang steif in der Erde zu liegen.«

Er hörte ihr Lächeln, wagte aber nicht, seine Aufmerksamkeit auch nur eine Sekunde von der Fahrbahn zu nehmen. Dabei hatte sie alle Aufmerksamkeit verdient, schließlich war sie die schönste Frau der Welt.

Sanft berührten ihre Finger seine Hand, dann lachte sie leise. »Auch auf die Gefahr hin, dass dich das überrascht, Schatz, aber: Du übertreibst.« Sie streichelte über die weiche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger und machte ihm Gänsehaut.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie noch Stunden durch den Regen irren können. Neben ihm saß die Frau, die er über alles in der Welt liebte, und ihre Nähe entschädigte für das, was noch auf ihn zukommen würde. »Ich befürchte eher, dass ich untertreibe. Wenn das so weitergeht, kommen wir vor morgen früh nicht an, und ich kann die Stelle vergessen.«

»Es ist höhere Gewalt, da kannst selbst du nichts machen. Was denkst du, werden sie mit dir anstellen?«

»Mich ertränken beispielsweise.« Mit einer Kopfbewegung deutete er nach vorn. »Wenn das so weitergeht, gibt es auch morgen noch zahlreiche Gelegenheiten dafür.«

Nun beugte sie sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Dann werde ich sie davon abhalten und ihnen erzählen, wie dumm sie wären, wenn sie den großartigsten Mann der Welt nicht unter Vertrag nehmen.«

Blind berührte er ihre Wange und das weiche, kurze Haar. Wie konnte man mitten im schlimmsten Unwetter Englands und zudem in einem Auto, dessen Heizung nicht richtig funktionierte, nur so glücklich sein? Sollte ihm die Stelle verwehrt werden, da er es nicht rechtzeitig nach Hause schaffte, um die Entscheider kennenzulernen und zu beeindrucken, dann würde er ein Haus an der Küste für sie suchen. Eines, in dem sie lachen, sich lieben und später ihre Kinder aufwachsen sehen konnten. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass ihm diese Möglichkeit ebenso gut gefiel. »Ich liebe dich bis zum Wasser und über die Wellen hinaus …«, flüsterte er ihren ganz eigenen Schwur.

Sie antwortete nicht.

Nun blickte er doch zur Seite – und keuchte. Niemals hatte er so viel Angst in ihrem Gesicht sehen wollen. Ihre Hände lagen auf der Scheibe des Seitenfensters, ihr Mund war weit aufgerissen … und dann krachte ein gigantischer Schatten gegen das Auto und schleuderte es von der Fahrbahn.

Die Welt verschob sich, verschwand unter Chaos, Lärm und Bewegungen. Der Aufprall war nicht mal das Schlimmste, obwohl er ihm die Luft aus der Lunge presste und dafür sorgte, dass seine Sicht verschwand. Es wurde schwarz, doch in der Dunkelheit explodierten grelle Blitze, die ihm Angst machten. Etwas drückte gegen sein Bein, seine Finger fanden glitschige Haut, und irgendwas schrillte so laut, dass er die Hände gegen die Ohren pressen wollte. Doch er konnte nicht, seine Arme waren eingeklemmt.

Ihr Schrei überlagerte all das. Sie schrie und schrie und schrie, und dann verstummte sie. Schlagartig, als hätte jemand sie verschwinden lassen. Eine weitere Bewegung, noch ein Krachen, Reißen, ein seltsames Gurgeln, das er nicht zuordnen konnte, und dann: Stille.

Sein Herz begann zu rasen. Er riss einen Arm los, tastete nach ihr, fand die Haut, die Nässe darauf und ihre Finger. Sie waren warm, lagen aber still. »Liebling?« Seine Stimme zitterte so sehr, dass er wie eine Maschine klang. »Liebling, was ist mit dir?« Er tastete weiter, ihren Arm hinauf, dann ihre Schulter. Etwas stimmte nicht. Die Knochen waren nicht da, wo sie sein sollten, dafür war überall um ihren Körper Metall. Viel zu eng. Ihm wurde übel. Er würgte, blinzelte und versuchte, etwas zu erkennen. Vergeblich. Säure schoss ihm in die Mundhöhle, als er weitertastete. Nun roch er auch das Blut und begriff, dass die Nässe auf ihrem Körper kein Wasser war. »Liebling, sag was. Bitte.«

Sie gab noch immer keine Antwort. Er fand ihren Hals und tastete nach der Schlagader. Nichts. »Sag was!« Nun brüllte er. Licht flammte auf, irgendwo außerhalb des Wagens, und schickte Nadelstiche in seinen Kopf. Vor ihm bog sich Metall in unnatürlichen Winkeln, und dicke Glassplitter hingen im gerissenen Rahmen. Er schrie, vor Kummer und nach Hilfe, und er schrie noch immer, als eine Stimme in der Nähe antwortete, irgendeinen Unsinn über Stillhalten, Unfall und Rettung. Es interessierte ihn nicht. Er tastete weiter, und endlich begann die Ader unter seinen Fingern zu pochen.

1

Drei Jahre später

Ich will nicht schlafen. Es ist so dunkel und kalt, seitdem sie weg sind.«

Isla ließ das Buch sinken, das sie gerade in das Regal mit den Blumen- und Sternschnitzereien hatte einsortieren wollen, und drehte sich um. »Wer ist weg, Kätzchen?«

Ruby saß aufrecht in ihrem Bett, nur auf den ersten Blick störrisch – die Haltung war Teil ihrer Erziehung. Teil der Gesellschaftsschicht, in der sie lebte und die sie vom Säuglingsalter an in Regeln und Vorschriften gehüllt hatte wie ein Labyrinth aus Stein, das letztlich nur auf eine ganz bestimmte Weise durchquert werden konnte und ansonsten mit Mauern aufwartete, an denen man sich schmerzhaft stieß. Sie war ein folgsames Mädchen, doch manchmal, viel zu selten, schimmerte ihr Dickkopf durch. Sehr zu Islas Erleichterung. Es gab Tage, an denen sie sich bei dem Gedanken erwischte, die Kleine möge doch mehr Kind sein: lauter und widerborstiger, mit Farbspritzern auf den Wangen und von Süßigkeiten verklebten Lippen.

Ruby hatte die Bettdecke mit beiden Fäusten umklammert, als wollte sie mit aller Kraft gegen die Müdigkeit ankämpfen, die ihre Augenlider bereits erreicht hatte. In ihrem weißen Nachthemd und mit dem sorgfältig ausgebürsteten braunen Haar ähnelte sie einer Puppe. Einer Puppe aus viel zu dünnem Porzellan, das brechen würde, wenn man sorglos mit ihr umging.

Jetzt holte sie Luft und riss die Augen noch mal weit auf. »Die Träume.« Sie senkte den Kopf, als würde sie sich schämen. »Ich kann doch nicht mehr träumen«, nuschelte sie und rutschte tiefer, bis sie in einer Wolke aus Weiß zu verschwinden drohte.

Isla überlegte, wie sie auf so eine Idee kam und was sie ihr am besten antworten sollte. Dabei betrachtete sie das Buch in ihrer Hand: Der Korridor ohne Wiederkehr. Die Abbildung auf dem Deckel zeigte eine Holztür, neben der ein Teddy mit nur einem Auge lehnte. Entweder war er sehr groß oder aber die Tür winzig, denn seine Ohren befanden sich auf einer Höhe mit dem oberen Rahmen. Vielleicht sollte sie Rubys Bücher genauer durchsehen und das eine oder andere aussortieren. Bei einem solchen Titel war es kein Wunder, dass ihr Schützling an solch absurde und fast schon gruselige Dinge glaubte.

Sie stellte das Buch an seinen Platz, stand auf und strich ihren Rock glatt. Dann ging sie zu Rubys Bett, zog sich den Korbstuhl heran und ließ sich darauf nieder. Das Licht der Nachttischlampe malte ein Muster auf die Bettdecke und floss über ihre Finger, als sie den Stoff ein Stück nach unten zog.

Rubys Gesicht kam wieder zum Vorschein. Die Müdigkeit verwandelte das Bernstein ihrer Augen in mattes Braun.

»Jeder Mensch träumt, Ruby«, sagte Isla und lächelte, während sie die Kissen ordnete. Sie konnte nicht anders, da das Mädchen sie anblickte, als wäre sie in der Lage, sämtliche Monster der Welt mit einer Handbewegung zu beseitigen. In Rubys Leben war sie die Heldin, und manchmal befürchtete sie, diese Rolle nicht ausfüllen zu können oder eine Grenze zu übertreten. Schließlich war sie nicht Rubys Mutter und musste eine gewisse Distanz wahren.

Nicht jedoch, wenn es darum ging, ihr die Angst vor dem Schlaf zu nehmen. »Die meisten Menschen können sich nur nicht mehr an ihre Träume erinnern, wenn sie aufwachen. Und wenn sie es tun, verblassen die Bilder ganz, ganz schnell wieder. Fast so, als hätten wir sie uns nur geliehen, um einen kurzen Blick darauf zu werfen, ehe wir sie zurückgeben müssen. Aber das ist gut so. Überleg mal, was alles in unseren Köpfen herumschwirren würde, wenn wir morgens noch genau wüssten, durch welche Landschaften wir nachts gestreift sind.« Sie lächelte breiter. »Was für ein Chaos wäre das! Da bliebe kein Platz mehr für wichtige Dinge, die wir lernen wollen. Wegen denen du nun übrigens schlafen musst, weil du das sonst morgen im Unterricht tust. Und wie soll ich das dann deinen Eltern erklären?«

»Aber früher hab ich geträumt, und ich wusste auch immer noch ganz viel!« Stolz schimmerte durch ihre Worte, wurde aber schnell von Zweifeln abgelöst. Letztlich waren die Müdigkeit und Islas Argumente zu stark. Ruby drehte sich auf die Seite und kuschelte sich tief in ihr Kissen. »Kannst du nicht hier sitzen bleiben? Neben meinem Bett?«

»Ich weiß genau, was du vorhast. Du willst dir noch eine Geschichte ergaunern, hab ich recht?« Isla tupfte Ruby auf die Nasenspitze, und die Kleine vergrub sich kichernd weiter in den Kissen.

»Du machst aber das kleine Licht an?«

»Natürlich.« Isla löschte die Lampe neben dem Bett, beugte sich vor, zögerte und strich Ruby schließlich über das Haar. Das Mobile über ihr klackte, als sie daran stieß, und die Holzfische schlugen gegeneinander. »Schlaf gut. Wir sehen uns morgen.«

Ruby antwortete etwas Unverständliches, sank weiter in die Daunen und kurz darauf in den Schlaf. Ihre Atemzüge wurden bereits regelmäßiger, ehe Isla das Zimmer verlassen hatte.

Sie betätigte die Lampe neben der Tür. Sanftes, orangefarbenes Licht schimmerte, zu zart, um die Dunkelheit zu vertreiben, aber trotzdem warm inmitten der Ansammlung von Schatten, in die sich das Zimmer verwandelt hatte.

Isla trat auf den Gang und zog die Tür ins Schloss. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Atem angehalten hatte.

Noch wusste sie nicht so recht, ob sie sich Sorgen um Ruby machen sollte. Die Kleine war bereits blass und schmal gewesen, als Isla ihre Stelle im Haushalt der Austins angetreten hatte, mit für Kinder ihres Alters ungewöhnlichen Violettschatten unter den Augen. Isla argwöhnte, dass die sich in den vergangenen Wochen kontinuierlich weiter vertieft hatten, doch sicher war sie nicht. Vor allem, da Alan und Victoria Austin, die Besitzer von Silverton House und Rubys Eltern, nichts zu bemerken schienen und sich erst recht nicht darum sorgten. Isla hatte Rubys Blässe vor einigen Tagen bei Victoria angesprochen, doch lediglich zur Antwort erhalten, dass Ruby die zarte Haut ihrer Großmutter Isabell geerbt hatte, die von Natur aus schmal gebaut und bei bester Gesundheit sei.

»Sie isst und schläft doch vollkommen normal, nicht wahr?«, hatte Victoria gefragt, in jenem Tonfall, der andeutete, dass jede weitere Nachfrage als Kritik aufgefasst und entsprechende Konsequenzen mit sich bringen würde.

Isla hatte sich daraufhin in der Hausbibliothek vor das Porträt von Lady Isabell Austin gestellt und die Frau mit dem Spitzenkragen und den eng stehenden Augen betrachtet. Der Greifvogelblick wurde durch die Überlebensgröße noch betont. Sogar der Bilderrahmen wirkte düster.

Isla konnte sich regelrecht vorstellen, wie Isabell durch Silverton geschritten war. Damals hatte es sicher eine ganze Armada von Dienstboten gegeben, die sich um die Herrschaften kümmerten und Ärger bekamen, wenn sie es nicht schafften, ihnen jeden Wunsch vom Gesicht abzulesen. Vielleicht hatte Lady Isabell extra für solche Vorkommnisse einen Damenrevolver im Strumpfband getragen!

Heutzutage gab es lediglich Hannah, das Hausmädchen, und Isla, die sich um den Unterricht und die Erziehung von Ruby kümmerte. Und das, so glaubte sie, nicht ausschließlich, weil die Austins versuchten, an eine Vergangenheit anzuknüpfen, die sich bereits vor Jahren in den Erinnerungen der Menschen verloren hatte, sondern weil Ruby zu jung für sie war. Beziehungsweise sie zu alt für ihre Tochter.

Isla drehte sich um und ging den Gang hinab, der von auf alt getrimmten, jedoch hochmodernen Lampen erhellt wurde. Nach der breiten Treppe durchquerte sie die große Halle im Erdgeschoss und bog links ab.

Am Anfang ihrer Zeit in Silverton hatte sie den Austins Bericht erstattet darüber, wie der Abend mit Ruby gelaufen war, doch mittlerweile schien man ihr zu vertrauen und entließ sie am Abend ohne Kontrolle in ihre vier Wände.

Nach einer Probezeit von einer Woche hatte Isla ihr geräumiges Zimmer samt eigenem Bad in dem Anbau bezogen, der sich hinter dem Haus befand und erst zu sehen war, nachdem man es halb umrundet hatte. Vielleicht hatte sich der Erbauer deshalb kaum Mühe gegeben, sein Erscheinungsbild an das mit Türmen, Balustraden und Erkern verzierte Haupthaus anzugleichen. Wenn die Sonne schien und den Anbau erstrahlen ließ, kam er Isla wie eine Überraschung vor. An trüben Tagen oder in der Dunkelheit schien er sich dagegen verstecken zu wollen. Aber er gehörte ihr, zumindest vorübergehend, und sie war froh über die Privatsphäre. Unter der Woche wohnte sie hier, und jeden zweiten Samstag setzte sie sich in den Zug und fuhr die knappen vier Stunden nach Hause.

Sie seufzte, als sie sich noch einmal umdrehte und die Halle betrachtete, in die das halbe Haus ihrer Eltern gepasst hätte. Dann bog sie in den Westflur ab und verzichtete darauf, das Licht einzuschalten – mittlerweile konnte sie den Gang blind entlanglaufen. Ein Schemen riss sie aus ihren Gedanken. Auf Kopfhöhe glomm etwas Rötliches auf, und sie zuckte zurück.

»Himmel!« Sie stieß den Atem aus. »Du sollst doch nicht im Haus rauchen.«

Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und Hannahs Gesicht schälte sich heraus. Als die Zigarette ein weiteres Mal aufleuchtete, verlieh die Glut ihren Augen etwas Dämonisches.

»Merkt doch eh niemand.« Das unbekümmerte Schnauben passte nicht zu ihrem Anblick. »Die Einzige, die um diese Zeit hier rumschleicht, bist du.«

»Allerdings bin ich nicht die Einzige, die den Rauch riechen wird, wenn der sich erst mal festgesetzt hat.«

Hannah hob eine Hand und äffte Isla nach, indem sie Daumen und die anderen Finger mehrmals zuschnappen ließ, während sie das Gesicht verzog. In den ersten Tagen auf Silverton hätte sich Isla darüber geärgert, doch mittlerweile wusste sie, dass dieses Verhalten ebenso zu Hannah gehörte wie der dichte Pony, der ihr bis in die Augen hing. Sie hatte sich gewundert, dass die Austins ausgerechnet jemanden wie Hannah einstellten, um das Haus in Schuss zu halten und das Essen auf den Tisch zu bringen. Sie hatte eine raue, rotzige Art und machte keine Anstalten, es zu verbergen. Doch sie war eine großartige Köchin, wohnte in der Nähe, war bereit, auch außerhalb ihrer Arbeitszeiten einzuspringen, wenn Not am Mann war, und erledigte offenbar alles zur Zufriedenheit der Austins.

Isla wäre beim Einstellungsgespräch nur zu gern dabei gewesen. Selbst wenn Hannah nicht rauchte, strahlte sie etwas aus, das besser hinter die Theke eines Pubs gepasst hätte. Vielleicht wegen ihrer stets rauen Stimme, ihrem Mund, der mit der vollen Unterlippe herausfordernd wirkte, oder der Tatsache, dass sich Hannah einen Dreck darum scherte, was andere von ihr dachten. Isla konnte sich niemanden vorstellen, an dem die schlichte Arbeitskluft mehr wie eine Verkleidung gewirkt hätte.

»Was machst du überhaupt noch hier?«

»Überstunden schieben.« Hannah stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte die Zigarette an einer Wandlampe aus. »Passt ganz gut, die Jungs können mich eh erst später abholen. Waren noch unterwegs.«

Hannahs Jungs waren eine Gruppe junger Männer, die Victoria Austin einmal als räudig bezeichnet hatte. Sie tauchten regelmäßig mit zwei von Rostflecken übersäten Autos auf und waren auf dem Grundstück der Austins alles andere als gern gesehen. Doch auch das schien Hannah nicht zu stören. Isla wusste, dass ihre beiden jüngeren Brüder Teil der Truppe waren, den Rest kannten die Geschwister aus dem Kinder- und Jugendheim, in dem sie aufgewachsen waren.

»Okay, dann einen schönen Abend«, sagte sie, da ihr nichts anderes einfiel. Es war nicht ihre Sache, wenn ihre Kollegin permanent an der Toleranzgrenze ihrer Arbeitgeber entlangbalancierte.

Hannah schnalzte mit der Zunge. »Ach komm schon, Isla, mach nicht so’n Gesicht. Ich reiß nachher die Seitentür auf und sprüh mit Parfum. Es wird riechen, als hätte die Oberfee persönlich gefurzt. Niemand wird auch nur eine Zigarette auf dem gesamten Anwesen vermuten.«

»Mach das besser, ehe die Austins durch die Motorgeräusche deiner Jungs geweckt werden und in die Halle kommen, um ihnen zu sagen, dass sie das Grundstück sofort zu verlassen haben.«

»Ah, daher weht der Wind. Mach dir da mal nicht ins Hemd, sie halten unten an der Einfahrt. Ich muss nur auf die Scheinwerfer achten.«

Isla schüttelte den Kopf. »Ach, Hannah. Ich will doch nur nicht, dass es hier im Haus knallt. Bisher haben die Austins dir viel Narrenfreiheit gelassen. Warum nutzt du das so aus? Möchtest du deinen Job denn gar nicht behalten?«

»Doch, klar.« Hannah streckte sich. »Und das werd ich auch. Warum, glaubst du, haben sie jemanden wie mich eingestellt und kein scheues Reh oder ein glupschäugiges Huhn, das am besten noch Haube trägt, einen Knicks hinlegt und zu sabbern beginnt, wenn es Anweisungen hagelt?«

»Das frag ich mich wahrscheinlich öfter als du«, murmelte Isla laut genug, dass Hannah sie hören konnte.

Die schlug ihr gegen die Schulter. »Ich verrat dir, warum. Wenn die guten Austins eines nicht leiden können, dann ist es Tratsch. Damit meine ich nicht den über andere ihres Stands. Den lieben sie mehr als ihre Kohle. Nein, ich mein die Sorte, bei der sie im Mittelpunkt stehen. Genau der Tratsch, der unter diesen Hausmädchen-Hühnern dauernd die Runde macht. Die kennen sich alle, und wenn nicht, finden sie einander mit dem Gespür eines halb verhungerten Bettlers. Was, denkst du, geht ab, wenn die aus ihren Arbeitsuniformen hüpfen? Sie hocken im Dorf zusammen und erzählen sich alles, aber auch alles, was sich in ihren Hohlköpfen festgesetzt hat. Obs nun wirklich passiert ist oder nicht, wer weiß das schon. Vor denen ist nichts sicher, und keiner mit Geld hat auch nur die geringste Chance, dabei gut wegzukommen. Ich kann solche Pseudo-Liebchen nicht leiden, ich kann Tratsch nicht leiden, und ich tratsche nicht. Unsere herzallerliebsten Austins wissen das, und so, wie es scheint, gäbe es über sie einiges zu tratschen. Sonst würden sie mich ja nicht machen lassen.« Schulterzucken. »Jemand, der die Klappe hält, ist ihnen wohl wichtiger als ein bisschen kalter Rauch.«

Isla glaubte ihr. Hannah hielt ganz sicher nicht mit der Wahrheit hinter dem Berg. Im Gegenteil, wahrscheinlich rückte sie damit öfter raus, als andere es hören wollten, aber eben nicht zum eigenen Vergnügen. Auf ihre schroffe Art war sie ihr dadurch sympathisch. »Ich hoffe wirklich für dich, dass du recht hast. Also dann bis morgen.«

»Bis morgen.«

Isla winkte und ging den Gang hinab, blieb vor der Seitentür stehen, schloss sie auf und betrat ihr Reich.

Mit nur einem Schritt wechselte sie von einer Welt in die andere. Sie ließ die Angestellte und Aufsichtsperson für Ruby in dem altehrwürdigen Herrenhaus zurück und wurde inmitten der hell getünchten Wände zu Isla Hall, die sich darauf freute, mit einem Tee auf ihr Sofa zu sinken. Beinahe war es, als würde sie eine Reise durch die Jahrhunderte machen, bis sie in der Zukunft Silvertons landete, die ihre Gegenwart war.

Wie so oft blieb sie stehen und betrachtete das Zimmer. Sie mochte die Einrichtung und die erhabene Atmosphäre des Hauses, doch ihr kleines Reich strahlte etwas vollkommen anderes aus. Hier dominierten weder Stuck noch schweres Holz, das sie an regnerischen Tagen nahezu erdrücken konnte, sondern klare Formen. Die Austins hatten dem Zimmer eine solide Grundausstattung verpasst, und Isla hatte nach der Probezeit einen Teil ihrer persönlichen Dinge hergeholt: Bilder, Zeichenmaterial, ein paar Grünpflanzen und Bücher.

Sie ging zu der winzigen Kochzeile, die sie selten benötigte, da sie meist im Haupthaus mit Ruby aß, setzte Wasser auf und schlüpfte in etwas Bequemes. Kurz darauf kuschelte sie sich in die Kissen, blies die Dampfschwaden über der Tasse weg und dachte an Rubys Worte.

Ich kann doch nicht mehr träumen.

Sie musste herausfinden, was es damit auf sich hatte. Vermutlich hatte Ruby sich das ausgedacht, aber andererseits sah ihr so etwas nicht ähnlich. Isla nahm einen Schluck und starrte auf der Suche nach einer Erklärung ins Nichts. Ruby sah kränklich aus, selbst für ihre Verhältnisse, das konnte sie nicht leugnen. Irgendwas stimmte nicht. Sollte sie diese Sache morgen noch mal ansprechen? Einerseits wollte sie die Fantasien der Kleinen nicht bestärken und ihr womöglich Angst machen, andererseits wollte sie, dass es ihr gut ging. Schließlich hatte sie eine Fürsorgepflicht Ruby gegenüber. Sie war ein liebes Kind, und manchmal juckte es Isla in den Fingern, nicht nur ihre Bettdecke festzustecken, sondern sie auch zu umarmen. Jedes Mal sagte sie sich, dass es ihre Pflicht war, Abstand zu wahren.

Sie hatte ihre Regeln: für Ruby da zu sein, aber ihr nicht näherzukommen, als ihre Eltern es taten. Vertraut sein, aber nicht die Vertrauteste in der überschaubaren Welt der Kleinen. Nur so konnte sie weiterhin professionell arbeiten.

Vorsichtig atmete sie den Minzduft ein und nahm noch einen Schluck Tee, in Gedanken bei Rubys Worten. Sie selbst hatte sehr intensive Träume, seitdem sie hier lebte. Zwar verblassten sie so schnell wie sonst auch, doch in den Minuten nach dem Aufwachen – manchmal auch nur Sekunden – kam es ihr oft vor, als müsste sie nur eine Hand ausstrecken und die Bilder in ihrem Kopf würden zurückkehren. Nur einen der Schleier zerreißen, die sich schnell davorschoben, um noch einen letzten Blick auf das Ganze zu werfen.

Sie stellte die Tasse ab, stand auf und ging zu dem Vorhang, der eine Nische von dem restlichen Raum trennte. Darin befand sich ihr Bett. Mit dem Buch vom Nachttisch machte sie es sich wieder auf dem Sofa bequem. Der violette Einband schimmerte, als sie das Gummiband abzog und es aufschlug. Bleistiftzeichnungen bedeckten die Seiten, so zart, als hätte sie das Papier schonen wollen … oder als wäre sie nicht sicher, ob das, was sie da zeichnete, für eine Erinnerung bestimmt war.

Sie blätterte zum letzten Motiv und betrachtete es genauer. Die Linienführung war nicht so sicher wie sonst. Sie hatte es gezeichnet, während sie halb benommen auf ihrer Bettkante hockte. So wie das vorherige Motiv auch, und das davor. Es war der Mann, den sie in ihren Träumen gesehen hatte. Mittlerweile konnte sich Isla nicht mehr an die Traumbilder erinnern, aber sie hatte schon vor Jahren gelernt, dem zu vertrauen, was ihre Hände nach dem Aufwachen zu Papier brachten.

Nachdenklich betrachtete sie die gerade Haltung des Mannes, den stolzen Schwung seines Halses sowie die angedeuteten Schraffierungen darüber. Sein Gesicht sah sie nie – oder sie hatte es beim Aufwachen bereits wieder vergessen –, obwohl sie wusste, dass sein Haar dunkel war. Es war nicht zu leugnen: Unter einem Mangel an Träumen litt sie ganz sicher nicht. Immerhin waren die Menschen, die sie in ihren Träumen traf, netter als die Austins.

Das ist auch nicht weiter schwierig!

Sie versuchte, sich an mehr als dieses Bild zu erinnern, doch erfolglos. Aber sie wusste, dass sie den Unbekannten bereits zweimal in ihren Traumwelten gesehen hatte. Oder es waren zwei Männer, die sich verdammt ähnlich waren, sich ähnlich bewegten und dasselbe ausstrahlten.

Isla verzog die Lippen. Da lebte und arbeitete sie in einem alten Herrenhaus, nur um nachts von dunkelhaarigen Fremden zu träumen. Besonders rühmlich klang das nicht.

Sie lachte leise, legte das Zeichenbuch beiseite und widmete sich wieder ihrem Tee. Träume bot Silverton genug. Sie musste nur einen Weg finden, Ruby davon zu überzeugen.

2

Am nächsten Morgen riss Hannah sie aus dem Schlaf, ehe ihr Wecker eine Chance dazu bekam. Isla hörte sie fluchen und schimpfen, dann ertönte ein dumpfes Geräusch, eine Art Donnern. Es wiederholte sich und pendelte sich in einem stetigen Rhythmus ein, immer wieder unterbrochen von Hannahs Verwünschungen.

Isla seufzte und sah auf die Uhr. Ihr blieben noch zwanzig Minuten, bis sie aufstehen musste, aber nun war sie ohnehin wach.

Sie gähnte, strich sich die Haare aus dem Gesicht und setzte sich auf. Endlich konnte sie die Geräusche zuordnen: Hannah klopfte neben dem Haus Teppiche aus und ließ jeden in der Nähe wissen, wie ungern sie es tat. Hier hinter dem Anbau konnte sie das guten Gewissens machen, die Austins würden es nur mitbekommen, wenn sie bereits in aller Frühe draußen unterwegs waren, und dazu gab es keinen Grund. Vermutlich waren sie noch nicht einmal wach. Die zwei erschienen am Morgen stets gemeinsam und zogen sich an den meisten Abenden auch gemeinsam zurück, es sei denn, Alan war mit seinen Freunden unterwegs. Isla vermutete, dass es Gewohnheit war und nicht geschah, weil sie so sehr aneinander hingen. Ihre Ehe schien generell von Gewohnheit geprägt, nicht von Leidenschaft, und erinnerte Isla oft an ein Theaterstück, in dem alles glänzen und glitzern musste und jeder Handgriff, jedes Wort und sogar jeder Blick nach langem Einstudieren saß.

Sie zog ihren Bademantel über, ging zum Fenster und öffnete es. Wie erwartet, stand Hannah breitbeinig vor einem Teppich, der über einer Stange baumelte, und drosch mit aller Kraft darauf ein, während sie ihn verfluchte. Immerhin hatte sie keine Zigarette im Mundwinkel. In einiger Entfernung bewegten sich zwei Gestalten in den Rosenbeeten des Anwesens – die Austins. Entweder waren sie zu weit entfernt, um Hannahs Morgenhymne zu hören, oder sie hatten sich entschieden, darüber ebenfalls hinwegzusehen. Vielleicht nahmen aber auch die kostbaren Rosen ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch.

Die Rosenbeete waren nicht nur der ganze Stolz, sondern auch das Herzblut des Paars. Die halbe Gegend wusste, dass Victoria und Alan sich bei einer Zuchtrosenausstellung kennengelernt hatten, und seitdem hatte ihr Hobby einen festen Platz in ihrem Tagesablauf eingenommen. Manchmal lag Isla die Bemerkung auf der Zunge, wie schön es wäre, wenn sie ihrer Tochter ebenso viel Zeit widmen würden.

Sie erinnerte sich noch gut an ihr Vorstellungsgespräch. Victoria hatte sie im Salon empfangen und von Hannah Tee servieren lassen. Nach kurzer Zeit war Ruby ins Zimmer gestürzt, sichtlich neugierig ob der fremden Person, die vielleicht in Zukunft auf sie aufpassen sollte.

»Hallo«, hatte sie geflüstert und dabei den Kopf gesenkt, da sie wohl wusste, dass sie eigentlich nicht hätte herkommen sollen.

Victorias Tasse schepperte auf dem Unterteller. »Wie lautete unsere Abmachung, Ruby?«, fragte sie im selben Ton, mit dem sie Hannah angewiesen hatte, den Tee auf die Anrichte zu stellen. »Du wartest, bis ich dich abhole und dir von Miss Hall hier erzähle.«

»Ja.« Ein schüchterner Blick traf Isla und brachte sie zum Lächeln. »Aber ich wollte …«

»Wollen«, sagte Victoria, »bringt uns nicht weiter, Ruby. Ein fester Zeitplan dagegen schon. Und der bestimmt, dass ich mich nun mit Miss Hall unterhalte, dann müssen dein Vater und ich uns um die neue Rosenlieferung kümmern, und anschließend habe ich Zeit für dich. Und nun geh bitte auf dein Zimmer.«

Ruby hatte gehorcht, aber in Islas Richtung geschielt, bis die Tür ins Schloss gefallen war.

Später hatte Isla erfahren, dass Victoria sehr spät schwanger geworden war. Oft war es kaum zu übersehen, dass sie mit den Gedanken, Wünschen und Träumen ihrer Tochter nichts anfangen konnte. Von ihrem Mann ganz zu schweigen. Die zwei schienen froh zu sein, jemanden gefunden zu haben, der zwischen diesen beiden Welten tanzte. Lebte. Manchmal sogar vermittelte. Isla war nicht nur Lehrerin und Erzieherin, sondern auch Botschafterin geworden. Es machte ihr nichts aus, allerdings beschlich sie immer öfter das Gefühl, dass sie und Ruby eine andere Auffassung von Botschaften hatten als das Ehepaar Austin.

An ihrem zweiten Arbeitstag hatte Victoria Isla ermahnt, im Rosengarten besonders vorsichtig zu sein, und dass jede noch so kleine Beschädigung Konsequenzen nach sich ziehen würde. Isla hatte entschieden, die Rosen Rosen sein zu lassen, schließlich war das Grundstück groß genug. Vor allem, da die Rosen sich als Konkurrenten für Ruby entpuppten.

»Starrst du mir etwa auf den Hintern?« Hannah riss sie aus ihren Gedanken. Das Klopfen hatte aufgehört, sie stand schwer atmend vor dem Teppich und starrte mit gerunzelter Stirn zum Fenster.

Hastig schüttelte Isla den Kopf, tippte sich zur Antwort an die Schläfe und schloss das Fenster.

Es war kühl geworden im Zimmer, und sie entschied, heiß zu duschen, ehe sie das Unterrichtsmaterial durchging.

Eine halbe Stunde später betrat sie das Haupthaus und nahm einen Umweg, um frische Luft zu schnappen. Hannah war in der Zwischenzeit mit dem Teppich fertig geworden, lediglich die Austins hielten sich noch immer in den Rosenbeeten auf. Isla war das nur recht. Sie frühstückte ungern unter den Blicken der beiden und ließ erst gar nicht zu, dass sie bei Rubys Unterrichtsstunden anwesend waren. Das hatte sie gleich zu Anfang höflich mit dem Hinweis unterbunden, dass es Ruby nur ablenkte.

Der Himmel über ihr schwankte zwischen fahlem Blau und einem Grau, das beinahe weiß wirkte. Die Luft war kühl, und bis auf einige Vögel war es still. Isla legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Die Sonne ließ sich nicht blicken, doch die Wolkendecke war so filigran, dass sie bald aufreißen und die ersten Strahlen durchsickern lassen würde.

Langsam schlenderte sie um das Haus und musterte die weitläufigen Rasenflächen. Zweimal pro Woche kam ein Gärtner, hielt Gras und Hecken in Form und kümmerte sich um das private Waldstück, entfernte abgebrochene Äste oder fällte hin und wieder sogar einen morschen Baum.

Im Windschatten des Hauses sowie im Pavillon standen weiße Teetische samt Stühlen. Manchmal, wenn Ruby an einer längeren Aufgabe arbeitete, machte es sich Isla dort mit einem Buch gemütlich oder genoss die Ruhe und den Luxus, nicht wie zu Hause in die Wohnung der Nachbarn oder auf eine Betonwand zu starren. Hier gab es keinen Verkehrslärm, der Boden wurde nicht von vorbeirasenden Zügen erschüttert.

Trotzdem fragte sie sich, ob diese Abgeschiedenheit für eine Sechsjährige auf Dauer wirklich gut war. Seit sie auf Silverton arbeitete, war nur einmal ein anderes Kind zu Besuch gekommen. Eines Tages würde sie das den Austins gegenüber ansprechen, aber erst musste sie ihre Position im Haus festigen. Sie war nicht so blauäugig zu glauben, sich von Anfang an dieselben Freiheiten herausnehmen zu können wie Hannah, auch wenn eine Hauslehrerin sicherlich schwerer zu finden war als ein Zimmermädchen mit Kochkünsten.

Sie machte sich auf den Weg ins Haus. Das Esszimmer war verlassen. Auf Rubys Platz stand benutztes Geschirr, umrahmt von einem Meer an Physalishüllen. Ruby liebte die mandarinfarbenen, säuerlichen Beeren über alles, und wenn sie nicht auf dem Speiseplan der Austins standen, tauchten sie manchmal wie durch Zauberhand beim Frühstück neben Rubys Teller auf. Isla vermutete, dass Hannah dahintersteckte, sprach sie aber nicht darauf an. Ein goldenes Herz passte nicht in ihr Image, sie würde es auf jeden Fall abstreiten.

Eier, Speck und Brötchen unter den Platten waren noch warm, in einer Kanne wartete frischer Tee. Isla bereitete sich die erste Tasse zu, häufte sich Eier auf ihren Teller und bestrich ein Brötchen mit Marmelade, ehe sie sich setzte und die Unterlagen für den Unterricht durchging. Zwischendurch warf sie immer wieder einen Blick auf die Standuhr. Fünf Minuten, ehe der Unterricht begann, brach die Sonne durch die Wolkendecke und schickte einen Lichtstrahl über das Tischtuch. Isla nahm es als Signal zum Aufbruch und fegte die Krümel zusammen. Noch immer fühlte sie sich nicht wohl dabei, es Hannah zu überlassen, ihr schmutziges Geschirr abzuräumen. Aber so war es in Silverton nun einmal geregelt. Zudem musste sie sich beeilen, wenn sie auch in Sachen Pünktlichkeit ein gutes Vorbild sein wollte.

Als sie den Raum betrat, in dem der Unterricht stattfand, wartete Ruby bereits an ihrem Platz. Sie hatte ihr langes Haar zu zwei Zöpfen geflochten. Das Kleid in Pastellfarben war adrett über die Knie gezogen, der Kragen saß tadellos. Vor ihr lagen Schreibheft und Stift.

Isla lächelte. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum ihre Vorgängerin mit Ruby nicht zurechtgekommen war. Die Kleine war eine aufmerksame Schülerin und folgte sämtlichen Anweisungen mit einer Mischung aus Eifer und Neugier.

Der Raum war karg eingerichtet, um Ruby den Ernst des Unterrichts zu vermitteln, wie Victoria gesagt hatte. Neben zwei Tischen und Stühlen gab es ein Buchregal und ein reich verziertes Pult mit einer Schublade, deren Knauf so antik und gebrechlich war, dass Isla bis heute nicht gewagt hatte, sie aufzuziehen und nachzusehen, was Rubys Eltern als geeignetes Unterrichtsmaterial erachtet und darin verstaut hatten.

»Guten Morgen.« Isla schloss die Tür hinter sich und sah zum Fenster. Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen die Sonne herein. Sie wünschte sich, die Strahlen würden Rubys Haut erreichen und ihr etwas Wärme schenken. Die Schatten unter ihren Augen waren kaum schwächer geworden, sie war noch blasser als am Vorabend und sah fast schon krank aus.

»Guten Morgen«, sagte Ruby, legte die Hände auf den Tisch und betrachtete ihre Nägel. Sogar ihr Blick kam Isla trüb vor. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie sagen, dass Ruby eine gute Portion Schlaf fehlte.

Aus einem Impuls heraus berührte sie ihre Stirn. »Geht es dir gut, Kätzchen?«

Rubys Wimpern senkten sich kurz und flatterten dann wieder empor. »Ich glaube, ich habe zu viel heiße Schokolade beim Frühstück getrunken. Hannah wollte mich überreden, Tee zu trinken, aber ich mag doch keinen Tee, ganz ganz ganz sicher. Ich mag nur heiße Schokolade. Keinen Tee!« Sie sah auf ihren Bauch, als könnte der ihr mehr verraten. Ihr Blick glitt zur Seite und dann wieder zu Isla.

Die betrachtete den Teddybären, der neben Ruby auf dem Stuhl hockte, ein Bein in der Luft. Er war hellbraun, hatte nur ein zerrupftes Ohr und machte den Anschein, als hätte ein Tier ihn quer durch das Haus geschleppt. Isla hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er unterschied sich deutlich von der adretten Sammlung, die sich in Rubys Zimmer auf dem Regal und neben dem Kopfkissen reihte, und sie wunderte sich, dass Victoria ihn überhaupt duldete. Vermutlich war der Bär Rubys erstes Stofftier gewesen und hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel.

»Und wer ist das?«

Ruby folgte Islas Blick. »Jem«, sagte sie zögerlich, als müsste sie erst noch überlegen, ob sie dieses Geheimnis wirklich preisgeben sollte. Sie nestelte am struppigen Arm des Bären und wirkte überzeugt, zu viel verraten zu haben.

»Gem? Wie der Edelstein?«

»Nein, einfach wie Jem.« Ruby starrte auf ihre Lackschuhe und schlug die Füße mehrmals zusammen.

»Nun, wenn er dich nicht ablenkt, kann er gern bei dir sitzen bleiben.« Sie sah noch mal zum Fenster. Die Sonne lockte und brachte das Grün des Gartens zum Strahlen. Einer Eingebung folgend, ging Isla zum Regal und zog die Bücher heraus, die sie heute benötigte. Sie wirbelte herum und stemmte den Stapel in die Höhe, bis Ruby zu kichern begann.

»Ruby, ich habe es mir anders überlegt. Nimm deine Sachen, wir verlegen den Unterricht nach draußen. Die Sonne meint es heute gut mit uns, und es wäre schade, sie zu verpassen. Na, was hältst du davon?« Außerdem brauchst du dringend ein wenig Farbe auf den Wangen.

Ruby blickte von Isla zu ihrem Stoffbären, nickte in einer Mischung aus Aufregung und Gehorsam, nahm ihre Schreibutensilien und stand auf, wobei sie darauf achtete, mit dem Kleid nicht an der Tischkante hängenzubleiben. Isla folgte ihr, die Bücher auf dem Arm. Ruby hielt sich kerzengerade, so wie Islas Vorgängerin es ihr beigebracht haben musste, die sie nur aus Hannahs Erzählungen kannte, in denen sie keine sehr rühmliche Rolle einnahm. Knitterhaken war noch der netteste Ausdruck, den Hannah für sie übrig hatte. Die Mittvierzigerin hatte eines Tages das Haus verlassen, da es ihr angeblich zu abgelegen und Ruby zu anstrengend gewesen war. Hannah vermutete, dass die erhofften Gehaltssteigerungen ausgeblieben waren und das schnöde Geld letztlich dafür gesorgt hatte, dass sich die endlosen Wiesen und Wälder rund um Silverton für die Dame in einen Flickenteppich aus Einsamkeit verwandelten.

Als Ruby sich der großen Tür in der Haupthalle näherte, begann sie zu hüpfen. Unwillkürlich atmete Isla auf. Wenn die frische Luft das Leben nicht zurück auf ihre Wangen zauberte, stimmte wirklich etwas nicht, und sie musste nach dem Unterricht mit den Austins reden. Es war ihr ohnehin schleierhaft, dass ihnen der Zustand ihrer Tochter nicht auffiel oder sie ihn nicht ernst nahmen. Es war eine Sache, zu alt für ein Kind zu sein, doch eine andere, seine Fürsorgepflicht zu vernachlässigen.

»Was ist denn hier los?«

Ruby erstarrte, ein Bein noch in der Luft. Sie ließ es langsam sinken, streckte den Rücken und hob das Kinn, als würde jemand hinter ihr stehen und ihre Haltung korrigieren.

Victoria Austin stand am Fuß der Treppe und sah ihre Tochter an, beide Hände in die Hüften gestemmt. Die Finger verschwanden in Schleifen aus apricotfarbener Seide. »Warum bist du nicht in deinem Unterrichtsraum?«, fragte sie so schneidend, dass sogar Isla zusammenzuckte. »Du kannst nicht einfach tun, was du willst, Ruby. Du hast deine Pflichten. Jeder von uns hat welche, dein Vater, ich. Jeder. Davon bist du nicht ausgenommen, Ruby Imogen.«

Ruby schluckte hörbar, senkte den Kopf und knibbelte an ihrem Kleid herum, hörte aber sofort auf, als sich Victoria räusperte.

Isla trat vor und kämpfte gegen den Impuls, sich zwischen Ruby und ihre Mutter zu stellen. »Ich habe entschieden, dass wir den Unterricht heute nach draußen verlegen und das Lernen mit frischer Luft verbinden. Guten Morgen.« Das Höflichkeitslächeln fiel ihr schwer.

»Miss Hall.« Victoria klang nicht im Geringsten überrascht, sie hatte sie schon längst bemerkt. Umso erschreckender fand Isla, dass sie ihre Tochter so rügte. »Wenn Sie der Meinung sind, dass die Lernergebnisse dieselben sind, dann tun Sie, was Sie für richtig halten.« Sie wandte sich ab und machte sich auf den Weg in die obere Etage, ohne ihre Tochter noch einmal anzusehen.

Ruby starrte auf einen Punkt vor sich, ihre Fröhlichkeit war verschwunden.

»Na komm«, sagte Isla und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Lass uns die Sonne genießen.«

Ruby lief ein paar Schritte mit gesenktem Kopf, doch dann kehrte ein Teil ihrer Energie zurück, und sie streckte beide Ärmchen in die Luft.

Der Anblick ließ Isla schmunzeln, doch gleichzeitig empfand sie eine Sehnsucht, die sie vor Silverton niemals gekannt hatte. In den vergangenen Wochen hatte sie sich gefragt, wie es gewesen wäre, in einer solchen Umgebung aufzuwachsen oder einfach in einem anderen Haus. Wie es wäre, frei zu sein, ohne die Befürchtung, dass ihr Anblick ihre Eltern traurig machte und daran erinnerte, dass sie zwei blonde Mädchen hätten haben sollen. Geblieben war ihnen nur eines.

Isla schüttelte den Gedanken ab. Dafür war jetzt nun wirklich weder Zeit noch Raum. Sie holte Ruby ein und führte sie zu der windgeschützten Terrasse an der Ostseite des Gebäudes. Von hier hatten sie einen wunderschönen Blick über das Gelände, durch das sich in einiger Entfernung ein Bach schlängelte. Die Sonne verwandelte das Wasser in etwas Kostbares, Geheimnisvolles. Isla ertappte sich dabei, wie das Silberband sie hypnotisierte, während Ruby Buchstaben auf die Seite malte.

Die Luft hatte sich erwärmt, die Wolkendecke wies nun unzählige Löcher auf. Sie wuchsen mit deutlichem Tempo. Ruby hatte sich mit gerunzelter Stirn über ihr Aufgabenheft gebeugt. Als sie vor lauter Konzentration seufzte, erinnerte sie an ein Wesen aus einer anderen Welt, zu zart, um in dieser zu bestehen.

Einem Impuls folgend, beugte sich Isla vor und kniff ihr vorsichtig in die Wange. »Was ist los, kleiner Vampir? Schon müde?« Sie behielt die Stelle im Auge, die sie berührt hatte, und war erleichtert, dass sich die Haut dort verfärbte. Gleichzeitig schalt sie sich eine Idiotin. Was hatte sie auch erwartet? Dass sie mit einem untoten Mädchen am Tisch saß? Im schlimmsten Fall litt Ruby unter Blutarmut und würde ein Eisenpräparat zu sich nehmen müssen.

»Ein bisschen«, murmelte Ruby und rieb sich geistesabwesend über die Wange, während sie ein gleichmäßiges N in ihr Heft schrieb. »Das ist immer so, seitdem alles schwarz ist, wenn ich schlafe.«

Die Beiläufigkeit, mit der Ruby ihre fehlenden Träume erwähnte, machte Isla wieder mal stutzig. Die Kleine arbeitete zügig, mit ihrer Konzentration stand alles zum Besten. Trotzdem sah sie aus, als hätte man ihr eine enorme Menge Blut abgezapft.

Oder sie nächtelang vom Schlaf ferngehalten.

Gab es eine Krankheit, die sich auf Träume auswirken oder sie unterdrücken konnte?

Isla dachte an ihre eigenen Träume hier auf Silverton, an den Fremden darin. Sie hatte es auf die ungewohnte Umgebung geschoben, vor allem aber auf die Erkenntnis, dass sie sich offenbar doch mehr nach jemandem sehnte, der zu ihr gehörte, als sie zugeben wollte.

Sie spürte Wärme auf ihren Wangen und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Ein Seitenblick verriet ihr, dass Ruby auf ihrem Stift kaute und nichts mitbekommen hatte. Gut. Später würde sie einen Ausflug in die umfangreiche Bibliothek der Austins unternehmen, sich ein Naturkundebuch für Rubys Unterricht besorgen und dabei einen Blick in die medizinische Sektion werfen. Sie war keine Ärztin, aber es konnte nicht schaden, nach einer Verbindung zwischen Krankheiten und Träumen zu suchen.

Nachdem sich Isla durch den dritten Wälzer gearbeitet und dabei dem Gefühl nach eine Handvoll Staub eingeatmet hatte, ging ihr auf, dass ihre Idee nicht gut durchdacht war. Sie hatte auf eine möglichst rasche und am besten noch simple Lösung für Rubys Problem gehofft, ohne dass sie jemanden hinzuziehen musste, wusste aber mittlerweile nicht mehr weiter.

Das nennt man dann wohl Selbsttäuschung, meine Liebe.

Sie klappte Edmunds Enzyklopädie der Krankheiten zu und betrachtete den golden schimmernden Schnitt, ehe sie über den Buchdeckel strich. Das Leder war in einem wunderschönen Blau gehalten, dick und reich verziert. Isla fuhr die Ränder der Prägung nach, einer von einer Schlange umwundenen Geraden: der Äskulapstab.

Dies war ihr Lieblingsplatz im Haus. Wenn Silverton ihr gehören würde, hätte sie bereits viele freie Tage hier verbracht. Die Buchsammlung war sicher nicht die größte in der Umgebung, aber groß genug – und lange nicht so gut abgestaubt wie der Rest des Zimmers.

Offenbar mag Hannah Bücher ebenso wenig wie Teppiche.

Die Bibliothek war eine eigene Welt. Ein Reich aus Zauber, Goldschimmer und Geheimnissen, bereit, entdeckt zu werden. Die Regale reichten bis zur Decke, wo sich Stuckornamente miteinander verschlangen. Das Holz besaß einen Schimmer, der es bei dem geringsten Lichteinfall erstrahlen ließ, und die Begrenzungen der Regale gingen in geschnitzte Blattornamente über. Der Teppich lud geradezu ein, die Schuhe auszuziehen und die Zehen hineinzugraben. Jemand hatte tropfenförmige Kristalle auf eine Schnur gezogen und vor das Fenster gehängt. Tagsüber fingen sich in ihnen Sonnenstrahlen, wurden gebrochen und warfen ein Spektrum aus Farbtupfern quer durch den Raum. Sie tanzten, sobald einer der Kristalle in Schwingung versetzt wurde, und Isla konnte nicht genug von dem Farbspiel bekommen. Es war, als fänden die Lichter ihren Weg direkt in ihr Herz, um ihren Tanz dort fortzuführen.

Doch nun war es Abend, und sie hatte anderes zu tun, so gern sie einfach weiterhin in der Sammlung gestöbert hätte. Also stand sie auf und nahm das Buch an sich, um es zurück an seinen Platz zu stellen, als die Tür sich öffnete und Victoria eintrat.

»Oh, Miss Hall. Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Sie hatte ihr Tagesoutfit gegen ein elegantes Abendkleid getauscht, so wie immer. Selbst wenn sie zu Hause blieb und niemanden außer ihrer Familie und den Angestellten sah, legte sie Wert auf ihr Äußeres. Oder, wie Hannah mal gesagt hatte: »Sie hasst stinknormale Dinge nicht nur, sondern hat fast so viel Angst vor ihnen wie vor dem Alter. Darum säuft sie jede noch so ekelhafte Brühe, mit der ihr alter Quacksalber ihr das Geld aus der Tasche zieht.«

Und es stimmte, Victoria wirkte sogar dann perfekt, wenn sie mit ihren Rosen beschäftigt war. Ihre Haut war dezent gebräunt, und ihre Haare, deren Kastanienfarbe so sehr an Rubys erinnerte, mit perlenbesetzten Nadeln hochgesteckt. Weitere Perlen zierten Kragen und Saum ihres Kleids in Mitternachtsblau.

Wie immer, wenn sie überraschend auftauchte, verspürte Isla den Drang, in einen Knicks zu sinken, sich zu verbeugen oder zumindest zu salutieren. »Guten Abend. Ich habe nur was nachgeschlagen.« Sie deutete auf das Buch in ihrer Hand.

Ein argwöhnischer Blick. »Und, haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?«

»Leider nein.« Isla gab sich einen Ruck. »Es geht um Ruby. Sie ist sehr blass, und ich habe das Gefühl, dass es schlimmer geworden ist. Sie hat mir erzählt, dass sie schlecht schläft. Also nicht wirklich schlecht«, verbesserte sie sich. »Vielmehr glaubt sie, nicht zu träumen. Ich habe überlegt, ob das ein Hinweis sein könnte auf …«

»So ein Unsinn.«

Erstaunt über den schroffen Ton schloss Isla den Mund. So hatte die stets um Etikette bemühte Victoria noch nie mit ihr geredet.

»Vielleicht kümmern Sie sich lieber um den Unterricht meiner Tochter, anstatt diese Flausen zu verstärken oder sich sogar anzumaßen, hier Ärztin zu spielen«, fuhr Victoria fort.

Isla blinzelte und nickte. Dann erst begriff sie, dass soeben ihre Arbeitsweise kritisiert worden war. Das wollte sie weder auf sich sitzen lassen noch Rubys Problem herunterspielen – vor allem, da sie nicht verstand, warum Victoria so aufgebracht reagierte. »Machen Sie sich keine Sorgen um den Unterricht, ich lege die Inhalte stets für eine komplette Woche fest und habe daher Zeit, um nebenher andere Dinge zu lesen.« Sie zögerte. »Aber Ihnen ist doch sicher aufgefallen, wie ungesund Ruby aussieht?«

Victoria presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie einen Atemzug lang fast so weiß waren wie Rubys Wangen. Dann schoss das Blut zurück, und mit ihm eine Strenge, für die es keinen Grund gab. »Mir fällt vielmehr auf, dass Sie eine blühende Fantasie zu haben scheinen, und ich bin nicht sicher, ob das für den Umgang mit meiner Tochter förderlich ist. Konzentrieren Sie sich besser auf das, wofür mein Mann und ich Sie eingestellt haben, und füllen Sie Rubys Kopf nicht mit derartigem …«, sie suchte nach einem passenden Wort. »… Schrott.« Sie fuhr mit einer Hand durch die Luft. Eine Haarsträhne löste sich und fiel in ihre Stirn, direkt neben die Ader, die dort pochte. Victoria schien es nicht mal zu bemerken. »Wenn Sie Ihre Stellung behalten möchten, rate ich Ihnen, diesen Unsinn zu vergessen.«

Unwillkürlich trat Isla zurück. Mit einer Drohung hatte sie beim besten Willen nicht gerechnet. Es war völlig übertrieben. Wäre es Victoria wirklich lieber, wenn sie Ruby lediglich unterrichten und sich davon abgesehen nicht weiter um sie kümmern würde?

Sie überlegte noch, was sie erwidern sollte, als Victoria ihr das Buch aus der Hand nahm. »Das stelle ich für Sie zurück. Sie haben doch sicher noch zu tun.« Ihr Tonfall gab Isla das Gefühl, eine Leibeigene und keine Angestellte zu sein. Doch sie wusste, dass es nichts brachte, einen Streit vom Zaun zu brechen. Immerhin ging es um Ruby und nicht um ihren Stolz. Um den konnte sie sich später kümmern, wenn sie herausgefunden hatte, warum Victoria so empfindlich war.

»Ja, das habe ich in der Tat«, sagte sie steif, verabschiedete sich und verließ den Raum. Ihre Schritte hallten ungewohnt hart im Gang wider. Aus ihr unbegreiflichen Gründen hatte die Hausherrin erreichen wollen, dass sie Rubys Schlafprobleme möglichst rasch wieder vergaß.

Erreicht hatte sie das Gegenteil.

3

Das Blau war unbeschreiblich schön und schimmerte wie die größte Kostbarkeit der Welt. In seinem Inneren waren Sterne gefangen. Sie begannen zu tanzen, während das Blau sich bewegte, kleiner und kleiner wurde, bis Isla erkannte, dass es ein Stein an einer Silberkette war. Sie baumelte um einen Hals.

Isla hob den Kopf und sah wie durch einen Schleier das Profil eines Mannes mit kurzen Haaren. Er wirkte nachdenklich.

Nein, nicht nachdenklich, sondern angespannt oder … vorsichtig. Als wäre er auf der Hut. Er nahm den Anhänger und ließ ihn unter seinem Oberteil verschwinden.

Isla wollte die Trübung beseitigen, die sie für einen Schleier gehalten hatte, doch vergeblich. Es sah weiterhin aus, als würde man ein altes Foto betrachten. Im Hintergrund erkannte sie Möbel vor einer Wand mit verhaltenem Muster, von links fiel Licht durch ein Fenster.

Isla betrachtete die Hände des Mannes – groß, mit kräftigen Fingern –, die nackten Unterarme sowie die Kinnlinie, an der sich eine Schnittwunde entlangzog, wahrscheinlich von einer Rasur. Selbst von der Seite konnte sie erkennen, dass er die Lippen aufeinanderpresste. Dann lächelte er. Sie bemerkte es zunächst kaum, aber plötzlich wirkte er jünger, anders, und sie überlegte, ob es sich um den gesichtslosen Fremden handelte, von dem sie bereits geträumt hatte. Derjenige, zu dem sie sich so sehr hingezogen gefühlt hatte, dass sie verwirrt aufgewacht war und sich wünschte, weiterträumen zu können.

Jetzt wollte sie ihn näher betrachten, doch die seltsamen Schleier in der Luft wurden dichter. Der Mann wandte sich weiter ab und fing etwas auf.

Jemanden. Ein Kind. Er wirbelte es herum. Haare flogen, ein Fuß streifte eine Lampe. Klirrend fiel sie zu Boden und zerbrach. In das Gelächter des Kindes mischte sich das des Mannes, dunkel und ausgelassen. Seine Bewegungen wurden langsamer, und er ließ das Kind wieder zu Boden. Ruby? Isla konnte das Gesicht nicht erkennen, aber es schien jünger zu sein, die Wangen voller, die Nase runder. Ein Mädchen.

Der Mann ging vor ihm in die Knie. Es griff sich an die Brust und hob etwas in die Höhe.

Die Szene verschwamm, und Isla fand sich vor einem Haus wieder. Eindeutig Silverton, nur sah der Garten anders aus, und der Wald ragte weiter in das Grundstück hinein. Ein Paar stand neben der Auffahrt: die Austins. Victoria sagte etwas, doch Isla hörte nichts. Alan dagegen starrte in die Ferne, als wäre er gelangweilt und würde nur seine Zeit verschwenden, wenn er sich mit seiner Frau unterhielt. Wo war der dunkelhaarige Fremde geblieben? Und das Mädchen?

Isla wollte auf die Austins zugehen, doch Victoria bedeutete ihr, stehen zu bleiben. Das milchige Weiß der Luft wurde dichter, verwischte zunächst die Austins samt Wiesen und Haus und machte sie unsichtbar. Auf einmal fühlte sich Isla leicht, so als gäbe es keinen Boden unter ihren Füßen oder auch keine Füße mehr. Fast so, als schwebte sie.

Isla erwachte und erschrak dabei so sehr, dass sie sich kerzengerade aufsetzte. Ein Buch rutschte von ihrem Schoß zu Boden.

Ihr Blick fiel auf die Lampe und die so vertraute Zimmereinrichtung. Augenblicklich entspannte sie sich wieder. Sie hatte geträumt, besonders intensiv. Mal wieder. Die Bilder waren auch jetzt noch in ihrem Kopf, vor allem der Mann. Sie war sich sicher, dass es sich um denjenigen gehandelt hatte, dem sie schon vorher in ihren Träumen begegnet war. Nur hatte sie dieses Mal sein Gesicht gesehen, ansatzweise im Profil, verborgen hinter Nebelschwaden.

Am liebsten hätte sie die Szenen notiert, ihn gezeichnet oder die Geschichte aus ihrem Traum auf dem Papier fortgesetzt, doch ihr Block lag in ihrem Zimmer – und sie saß neben Rubys Bett.

Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie für eine knappe halbe Stunde eingenickt war, doch selbst das hatte für einen dieser unglaublich lebendigen Träume ausgereicht. Wahrscheinlich beeindruckte das Leben auf Silverton sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.

Isla unterdrückte ein Gähnen. Ihre Beine kribbelten, und sie reckte sich vorsichtig, um Ruby nicht zu wecken, ehe sie aufstand, um das Buch zurückzustellen.

Ruby schlief tief und fest, kein Laut war zu hören. Isla trat an das Fenster und starrte hinaus, während die letzten Traumbilder verblassten. Dort hinten hatten die Austins gestanden – oder war es nur Victoria gewesen? Hatte sie ein dunkelblaues Kleid getragen oder ein silbernes? Isla fuhr sich über die Stirn. Schon erinnerte sie sich nicht mehr richtig. Was in Traum-Victorias Fall auch kein Beinbruch war.

Aus der unteren Etage kam Licht, Victoria und Alan waren also noch wach. Victoria hatte sich wie oft kurz die Ehre gegeben, Ruby eine gute Nacht gewünscht und ihr das Kissen so sehr aufgeschüttelt, dass es wieder plattgedrückt werden musste, um bequem darauf zu schlafen. Offenbar glaubte sie, sich wie eine Mutter zu verhalten. Vielleicht glaubte sie sogar, ihre Tochter mehr als alles andere zu lieben – und möglicherweise tat sie das sogar. Falls ja, hatte sie eine seltsame Art, es zu zeigen. Oder schlicht keine Ahnung von Kindern. Sie erinnerte Isla an Mütter vergangener Zeiten, die es als ihre Pflicht betrachtet hatten, Kinder zu gebären, aber nicht, sich mit ihnen zu befassen. Victoria hatte sich mit einigen Floskeln verabschiedet, die vor allem einstudiert klangen, und war hinausgerauscht, ohne Isla eines Blickes zu würdigen. Der schwere Duft ihres Parfums war zurückgeblieben. Selbst jetzt hing noch immer ein Rest in der Luft. Die Note passte nicht in ein Kinderzimmer.

Isla hatte das Spielzeug in die Holzkiste und Bücher sowie Stofftiere zurück an ihren Platz geräumt. Lediglich Jem, der Teddy mit nur einem Ohr, saß auf dem Boden zwischen Bett und Regal. Die Bordüre auf der Tapete schimmerte dunkel. Sie war mit einem Rosenmuster bedruckt.

Isla legte den Kopf in den Nacken und genoss die Stille.

Vollkommene Stille.

Viel zu still.

Sie sah zum Bett. Ruby lag auf dem Rücken und hielt wie so oft die Decke mit beiden Fäusten umklammert. Isla zögerte, trat näher und lauschte. Es dauerte einen Moment, aber dann hörte sie es: Atemzüge.

Puh!

Einen Augenblick lang hatte sie wirklich geglaubt … Sie schüttelte den Kopf. Natürlich ging es Ruby gut. Sie durfte sich nicht verrückt machen lassen.

Nachdenklich betrachtete sie das helle Gesicht und die auf dem Kopfkissen ausgebreiteten Haare. Ruby sah aus wie eine Modellpuppe, die jemand dort platziert hatte, um ein Kind zu imitieren.

Der Gedanke machte Isla stutzig. Aus einiger Entfernung hätte man Ruby wirklich mit einer Puppe verwechseln können. Sie lag ganz still, nicht mal ein Finger zuckte. Ja, sie atmete, doch so flach, dass man genau hinsehen und lauschen musste, so zerbrechlich waren die Geräusche. Als ob sie verstummen würden, wenn ein Windhauch durchs Zimmer strich.

Isla setzte sich wieder in den Sessel. Die Polster strahlten noch immer Wärme aus, trotzdem fröstelte sie. Ruby war so bleich, beinahe wächsern im Nachtlicht. Isla atmete flach und wagte nicht, sich zu bewegen, bis ihre Arme zu kribbeln begannen und ein Fuß einschlief. Angestrengt rief sie sich ins Gedächtnis, was sie zum Thema Schlaf und Träume zusammengesucht hatte. In der Bibliothek hatte sie nichts wirklich Hilfreiches gefunden, wusste nun aber, dass manche Schlafphasen durch Augenbewegungen gekennzeichnet waren. Diese sogenannten REM-Phasen bildeten je zusammen mit NonREM-Sequenzen einen Schlafzyklus, der in der Regel achtzig bis hundertzehn Minuten dauerte. Wenn sie sich richtig erinnerte, gab es pro Nacht vier bis fünf solcher Zyklen.

Da Ruby erst vor knapp einer Stunde eingeschlafen war, konnte es also gut sein, dass die REM-Phase noch bevorstand. Isla ärgerte sich, nicht mehr über Schlafrhythmen oder Schlafstörungen gelesen zu haben, doch sie hatte vorrangig nach Informationen über Träume gesucht.

Waren diese REM-Zyklen stets gleich lang? Sie musste es unbedingt noch mal nachschlagen. Aber jetzt war sie eh schon wach und hatte genug Zeit, um Ruby zu beobachten und darauf zu achten, ob sie sich im Schlaf bewegte.

Sie sah auf die Uhr und wieder zum Bett, während sie versuchte, eine bequemere Position zu finden. Nach einer Weile begannen ihre Augen zu tränen, und sie blinzelte, um wach zu bleiben. Doch Müdigkeit war ein Raubtier und ließ sich nur vorübergehend zurückdrängen, um dann ganz in der Nähe zu lauern. Isla gähnte, bis ihre Kiefergelenke knackten, streckte ihre Finger, zählte die Bücher auf dem Regal, versuchte, ihre Beine möglichst lange waagrecht von sich in der Luft zu halten, zählte ihre Zehen – was natürlich kompletter Unsinn war, sodass sie sich anschließend selbst einen Vogel zeigte –, rief sich den Text ihres Lieblingssongs ins Gedächtnis, versuchte sich $an Fingerschattenfiguren und flocht kleine Zöpfchen in ihr Haar. Die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Als Isla irgendwann feststellte, dass erst fünfzig Minuten vergangen waren, überlegte sie, ob sie nicht besser aufgeben und Ruby ein andermal beobachten sollte.

Sie stand auf, obwohl ihr Körper protestierte. Die Farben verschwammen ebenso wie die Gegenwart, und Isla sank in einen Zustand zwischen Trance und Anspannung. Sie musste durchhalten, für Ruby, und genau das würde sie auch tun.

Von draußen drang der Schrei eines Tiers herein, vermutlich einer Katze, als Isla feststellte, dass sie bereits zwei Stunden ausharrte. In all der Zeit hatte Ruby sich weder bewegt noch tiefer geatmet … noch hatten sich ihre Augen hinter den geschlossenen Lidern bewegt.

Kein einziges Mal.

Rubys Atemzüge waren noch immer regelmäßig. Isla streckte eine Hand aus, zögerte und hielt sie flach über die leicht geöffneten Lippen. Augenblicklich spürte sie Luft ihre Haut kitzeln. Fast hätte sie vor Erleichterung aufgelacht, ärgerte sich aber vor allem über sich selbst. Sie durfte keine Hirngespinste entwickeln, sondern musste ihre Gedanken ordnen. Diese Nachtwache hatte eine erschreckende Erkenntnis mit sich gebracht: Ruby hatte keine Anzeichen einer REM-Phase gezeigt, es hatte nicht die geringste Spur einer Bewegung ihrer Augen gegeben. Nicht für eine Sekunde. Stattdessen lag sie nun, nach einem kurzen Zucken, wieder da wie tot. Was stimmte da nicht? War Ruby wirklich unfähig zu träumen? War so etwas überhaupt möglich, und falls ja, welche Folgen hatte es, abgesehen von dieser geisterhaften Blässe?

Bisher hatte sie Ruby nicht geglaubt, und auch jetzt war sie nicht sicher, was sie tun sollte. Sie hatte keine Ahnung von derartigen Dingen und würde Antworten auf diese Fragen sicher nicht in der Bibliothek finden. Möglicherweise gab es ja Menschen, die weniger träumten als andere? Seltener? Allerdings … Sie drehte sich noch mal zu Ruby um. Je länger sie ihr bei ihrem unnatürlichen Schlaf zugesehen hatte, desto fremder wirkte das Kind auf sie.

Isla trat wieder ans Bett. Mit einem Anflug von Schuldgefühl zupfte sie die Decke zurecht. »Schlaf gut, Kätzchen«, flüsterte sie.

Keine Reaktion. Natürlich. Ruby blieb in ihrem puppenhaften Stadium, eine kleine Schönheit in Licht und Schatten.

Isla zögerte und drehte sich um. Im Augenwinkel glaubte sie, etwas an der Wand schimmern zu sehen, doch als sie genauer hinsah, war da nichts.