Rapunzels finsterer Turm - Stefanie Lasthaus - E-Book

Rapunzels finsterer Turm E-Book

Stefanie Lasthaus

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Beschreibung

Das Schicksal meint es nicht gut mit Tätowiererin Flo: das Tattoostudio, in dem sie arbeitet, brennt nieder, sie verliert Job und Wohnung – und dann stirbt auch noch ihr guter Freund Sam bei einem Autounfall. Da kommt ihr die Anzeige des Hotels Tanglewood in Westmill gerade recht: Man sucht eine Aushilfe, Unterkunft inklusive. Kurzerhand packt Flo ihre Sachen und zieht aufs Land. Doch die anfängliche Idylle trügt. Nachts hört Flo eigenartige Gesänge aus dem Wald, der an das Hotelgelände angrenzt, und es dauert nicht lange, bis sie von lebhaften Visionen heimgesucht wird. Dennoch übt der Wald eine geradezu unheimliche Anziehungskraft auf sie aus. Als sie eines Tages bei einer Wanderung der mysteriösen Frau Gothel begegnet, nimmt ein gruseliges Abenteuer seinen Lauf …

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Seitenzahl: 504

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Buch

Das Schicksal meint es nicht gut mit Tätowiererin Flo: Das Studio, in dem sie arbeitet, brennt nieder, sie verliert ihren Job und ihre Wohnung – und dann stirbt auch noch ihr bester Freund Sam bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Da kommt ihr die Anzeige des Hotels Tanglewood in Westmill gerade recht: Man sucht eine Aushilfe, Unterkunft inklusive. Kurzerhand packt Flo ihre Sachen und zieht aufs Land. Doch die anfängliche Idylle trügt. Nachts hört Flo eigenartige Gesänge aus dem Wald, der an das Hotelgelände angrenzt, und es dauert nicht lange, bis sie von lebhaften Visionen heimgesucht wird. Dennoch übt der Wald eine geradezu unheimliche Anziehungskraft auf sie aus. Als sie eines Tages bei einer Wanderung der mysteriösen Frau Gothel begegnet, nimmt ein gruseliges Abenteuer seinen Lauf …

Die Autorin

Stefanie Lasthaus wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach dem Studium zog es sie nach Australien, England sowie in die Schweiz. Zurück in Deutschland, widmete sie sich zunächst dem Dokumentationsfilm und schließlich ganz dem Schreiben – ob für Zeitungen, Zeitschriften, Onlinespiele, dem PR-Bereich oder als Autorin ihrer Romane. Da sie nur noch temporär durch die Welt reisen kann, besucht sie in ihren Büchern Gegenden, die sie faszinieren. Stefanie Lasthaus lebt in Essen.

Stefanie Lasthaus

Rapunzels finsterer Turm

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 11/2024

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2024 by Stefanie Lasthaus

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat GbR, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32013-3V001

www.heyne.de

Für Herb, den Zeitreisenden.

Und den Wald.

(Ihr geht trotzdem noch mit mir dorthin, oder?)

1 Hit and run

Mit einem dumpfen Geräusch landete ein Käfer außen an der Fensterscheibe. Einen Moment lang rührte er sich nicht, aber als Flo den Kopf bewegte, faltete er die braunen Flügel zusammen und krabbelte los.

Flo blickte wieder weg, und selbst diese Bewegung war anstrengend. Am liebsten hätte sie eine Hand ausgestreckt und das Fenster geöffnet, weil die Luft im Wohnzimmer inzwischen so schwer geworden war, dass sie bald vielleicht nicht mehr atmen konnte. Aber der Griff war zwei Armlängen entfernt, und sie hatte keine Ahnung, wie sie die überwinden sollte.

Sie fühlte sich, als wäre sie nicht mehr Teil der Welt, könnte sich nicht in ihr bewegen, nichts anfassen. Alles um sie herum lebte, lief und krabbelte weiter, nur sie war in dieser Starre gefangen, von der sie nicht wusste, ob sie irgendwann wieder verschwinden würde. Das einzig Gute daran war, dass sie auch alles Negative von ihr fernhielt, so wie Trauer und Fassungslosigkeit. Oder die Gewissheit, hilflos und allein zu sein.

Nur wie lange?

Ihr Blick fiel auf die Erdbröckchen, die der Officer auf dem alten Teppich zurückgelassen hatte. Dunkelbraun auf verwaschenem Blau. Sie verliefen in gerader Linie zur Tür und hatten das Leben aus der Wohnung mit sich genommen.

Flo konnte sich nicht an den Namen des Polizisten erinnern, dabei hatte er ihn mehrmals erwähnt – bevor und nachdem er fragte, ob sie Florie Deverell sei. Da hatte sie bereits gewusst, dass es um Sam ging, denn der Officer mit den grauen Schläfen, dem Seitenscheitel und dem süßlichen Geruch nach E-Zigarette hatte die Pappkarte in der Hand gehalten, die Sam in seinem Portemonnaie aufbewahrte. Die, auf der seine Adresse, die Blutgruppe und ihr Name als Notfallkontakt verzeichnet waren.

Kurz hatte sie sich gewundert, warum niemand sie angerufen hatte. Warum der zweite Polizist im Flur wartete und mit mitleidigem Gesicht umherstarrte. Oder warum er und der Officer mit den schmutzigen Schuhen persönlich bei ihr auftauchten – bis ihr aufgegangen war, dass sie ihr Handy unten im Tattooshop liegen gelassen haben musste, als sie für die Pause hoch in ihre Wohnung gegangen war, und man vermutlich zuvor versucht hatte, sie darüber zu erreichen. An diesen Bildern hatte sie sich festgeklammert, weil es viel leichter war, über ein Handy oder die eigene Vergesslichkeit nachzudenken. Im Kopf war sie die Termine für den Nachmittag durchgegangen und hatte sich an Stevens letzten Entwurf für das Blumentattoo von Michelle Watts erinnert, der so kitschig gewesen war, dass sie Lust auf Kakao mit Marshmallows bekommen hatte. Ihre Gedanken waren gewandert, damit sie nicht hören musste, was der Mann in Uniform sagte, während er redete und redete und redete.

Trotzdem hatte sie alles mitbekommen, und jetzt, in der Stille, kehrte es zu ihr zurück, während sie beobachtete, wie der Käfer die Flügel ausbreitete und losflog.

Sam dagegen würde nie mehr zurückkehren. Man hatte seine Leiche ins Valgate Central Hospital gebracht und mittlerweile wohl auch seine Eltern informiert, die Flo die Schuld geben würden, so wie sie es mit allem taten, was ihren Sohn betraf. In ihren Augen lag es ausschließlich an ihr, dass er in dieser WG lebte und kein großer Künstler geworden war, sondern als Radkurier arbeitete.

Gearbeitet hatte.

Der Autofahrer, der den Unfall verursacht hatte, wurde noch gesucht.

Das machte ihr am meisten zu schaffen. Dort draußen gab es einen Menschen, der das Leben ihres besten Freundes beendet hatte, einfach so, und er fuhr weiter durch die Gegend, als wäre dies ein Tag wie jeder andere. Als wäre alles völlig normal.

Aber das war es nicht. Das würde es nie wieder sein.

Der Officer hatte geklungen, als hätte er heute schon mehrere solcher Nachrichten überbracht. Möglich war es. In der Stadt veränderten sich Dinge, und das nicht nur zum Positiven. Trotzdem waren sie in Valgate geblieben, sie und Sam, und Flo hatte zu glauben gewagt, dass sie alles Negative hinter sich gelassen hatten und nicht mehr weiterziehen mussten. Sie waren ein gutes Team.

Gewesen, verdammt, sie waren ein Team gewesen!

Sogar ein noch besseres, seitdem sie beschlossen hatten, kein Paar mehr zu sein, sondern Freunde. In ihrer Beziehung hatte es zum Schluss ziemlich gekriselt, doch die Spannungen waren auf wundersame Weise verschwunden, nachdem sie neu definiert hatten, was sie füreinander waren – und was nicht. Sam kannte Flo in- und auswendig, und sie ihn. Sie hätten sich vermutlich auch weiterhin regelmäßig gesehen, wenn einer von ihnen einen neuen Partner gefunden hätte, aber das würde sie nun nie erfahren.

Nach einer Weile setzte sie einen Schritt vorwärts, dann noch einen, bis sie mit dem Schienbein gegen das Sofa prallte und sich darauffallen ließ. Sams Name füllte ihren Kopf, aber sie schwieg. Ihre Stimme hatte sich verhakt, irgendwo zwischen ihrem Herzen und ihrer Kehle.

Sie wusste nicht, wie lange sie dort saß, doch irgendwann hämmerte Steven von unten gegen die Zimmerdecke – ihren Fußboden – und kurz darauf an die Wohnungstür.

»Flo? Wo steckst du, verdammt noch mal? Dir ist klar, dass du deine Pause hoffnungslos überziehst, oder? Dein Termin wartet seit einer halben Stunde, beweg deinen Hintern nach unten!« Noch mehr Gehämmer. »Florie? Pennst du etwa? Ich schmeiß dich raus, ich schwör es dir!«

Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Was musste sie jetzt eigentlich tun? Um die Beerdigung würden sich Sams Eltern kümmern. Das war nicht gut. Sie kannten ihn doch kaum noch.

Steven hämmerte noch eine Weile, fluchte, und dann erklangen seine Schritte auf der Treppe und wurden leiser. Das Licht veränderte sich, und Flo schaffte es, sich auf die Seite kippen zu lassen. Ihre Wange traf auf das Kissen, das noch immer nach Pizza roch, weil Sam gestern ein Stück darauf gefallen war. Die Fernbedienung drückte sich durch die Jeans, und ein dumpfer Schmerz zog über ihre Hüfte, dort, wo sie gestern im Supermarkt mit diesem Typen zusammengeprallt war. Er hatte die Kapuze seines Hoodies tief in die Stirn gezogen getragen, sich entschuldigt, etwas von Eile und einem Bus gemurmelt und war weitergehetzt.

Der Kapuzenmann lebte bestimmt noch.

Flo schloss die Augen, riss sie aber wieder auf, da sie nicht schlafen und von Sam träumen wollte. Sie wollte vergessen. In der Küche standen eine halb volle Flasche Rotwein und eine mit wenigen Fingerbreit Whisky darin, aber das war keine Option. Sie mochte die Wirkung von Alkohol nicht und hatte irgendwann aufgehört, welchen zu trinken. Also drehte sie sich auf den Rücken und starrte an die Decke, wo die Schatten länger wurden. Sie verwandelten sich in Finger. Vielleicht würden sie nach ihr greifen, wenn sie weiter wartete, weil die Grenze zwischen Leben und Tod dünner geworden war. Flo befand sich auf der einen Seite und der wichtigste Mensch in ihrem Leben auf der anderen.

Oder weil der Tod ihr einfach folgte wie ein hungriger Straßenköter. Ausgerechnet Sam hatte ihr immer wieder gesagt, dass sie sich das nur einbildete und die Vorfälle in ihrem Leben in keiner Verbindung zueinander standen. »Das sind Zufälle, und jeder einzelne lässt sich erklären. So was wie Menschen, die den Tod anziehen, gibt’s nicht, Flo.«

Er hatte betont, dass sogar heute noch Frauen bei oder kurz nach der Geburt starben, so wie ihre Mutter. Dass nicht nur alte Menschen einen Schlaganfall nicht überlebten, sondern auch welche in den besten Jahren, wie ihr Vater, damals, als sie zwölf gewesen war. Oder dass Mrs. Wilkins, bei der sie als Waisenkind wohnen durfte, schlicht und einfach alt gewesen und friedlich eingeschlafen war. Und dass durchaus Teenager an einem gewanderten Blutgerinnsel sterben konnten, so wie ihre Freundin Conny.

Flo hatte versucht, ihm zu glauben, aber ein Teil von ihr war trotzdem wachsam geblieben und hatte jeden Tag damit gerechnet, dass der Tod wieder aus einer dunklen Ecke hervortrat.

Jetzt hatte er sich ausgerechnet Sam geholt, und die Schatten flüsterten ihr zu, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen war. Sie zuckten, da die Straßenbeleuchtung flackernd ansprang, und zogen sich zurück, nur um dann wieder vorzupreschen, als ein Auto vorbeifuhr. Unter ihr polterte es; vermutlich schloss Steven das Infinity Ink soeben ab. Er würde stocksauer sein – heute Nachmittag hatte sie mehr als einen Termin für kleinere Tattoos gehabt. Zwei? Drei? Ein Teil von Flo lauschte darauf, ob er noch einmal die Treppe hochkommen und sie offiziell durch die Tür feuern würde, ein anderer sorgte dafür, dass sie endlich die Augen schloss, weil der Schlaf anklopfte.

Es dauerte nicht lange, bis sie ihm nachgab.

»Natürlich werden wir unseren Sohn nicht in Valgate beerdigen. Wie lange hat er an diesem Ort gewohnt? Vier Monate?« Die Stimme von Sams Mutter erinnerte Flo an Mixed Pickles, säuerlich und verblasst nach zu langer Zeit unter Glas.

»Über ein Jahr«, sagte sie heiser und umklammerte ihr Handy fester.

Steven warf ihr einen besorgten Blick zu, während er die schwarze Liege desinfizierte. Es war warm hier im Hinterzimmer des Infinity Ink, aber Flo fror auf einmal in ihrem Shirt. Sie tastete über das Feuermal, das sich von ihrer Schulter bis zum Oberarm zog, fuhr die vertrauten Umrisse mit einem Fingernagel nach, aber es half nicht.

»Er wird selbstverständlich in Fleeds seine letzte Ruhe finden«, sagte Mrs. Barnes, »schließlich ist es sein Zuhause.«

Flo schüttelte den Kopf, doch die Worte stockten in ihrer Kehle. Das war allerdings nicht weiter schlimm, denn Sams Mutter überhörte ohnehin alles, was sie sagte.

Sam hatte Fleeds mit siebzehn verlassen und war seitdem niemals länger als einen halben Tag dort gewesen. Sein Leben hatte sich sehr von dem seiner Eltern unterschieden – sein Zuhause war die Welt, ihres ein Anwesen voller Reichtümer, in dem es trotz unzähliger Polstermöbel keinen Platz für Gemütlichkeit gab. Sam hatte sich von Flo so oft am Telefon verleugnen lassen (»Ist gerade unter der Dusche.« – »Ist kurz zum Laden, einkaufen.« – »Flickt sein Fahrrad … oder Moment, ich sehe ihn nicht mehr, vermutlich macht er eine Probefahrt.«), dass es auffällig gewesen war.

Gut möglich, dass Mrs. Barnes sie deshalb hasste, wobei sie Flo schon an jenem Tag schräg gemustert hatte, als Sam sie mit nach Fleeds genommen und als seine neue Freundin präsentiert hatte. Nach einem steifen Essen mit zu viel Besteck und den üblichen Fragen nach Eltern, Beruf und Zukunftsplänen war das Ehepaar Barnes schnell zu dem Schluss gekommen, dass eine Waise, die nicht wild darauf war, Karriere zu machen, und in der kommenden Zeit weder Kinder noch einen Hauskauf plante, mehr als unangemessen war. Sie waren so froh gewesen, als Flo und Sam ihre Beziehung beendet hatten, und umso perplexer, dass sie weiterhin Zeit und Wohnung teilten.

Nach diesem einen Besuch hatte sie Sam nie wieder begleitet, aber zu Feier- und Geburtstagen brav Glückwünsche per Telefon gesäuselt. Aber sie hätte fast alles getan, worum er sie bat, selbst wenn es um seine Familie ging. Manchmal war sie traurig gewesen, weil sie keine mehr hatte, und er, weil er sich mit einer herumschlagen musste, die versuchte, ihn in jemand anderen zu verwandeln, einen Bilderbuchsohn, den man seinen Dinnergästen präsentieren konnte.

Flo konzentrierte sich wieder auf das Telefonat, räusperte sich und war erstaunt, als Mrs. Barnes wirklich schwieg. »Kann ich etwas tun? Helfen? Bei der Organisation, meine ich.« Ihre Stimme zitterte noch immer.

»Natürlich nicht. Wir haben alles unter Kontrolle.«

»Wann … können Sie mir Bescheid geben, sobald Sie wissen, wann die Beerdigung stattfinden wird?«

Die Stille nahm überhand. »Nein«, sagte Sams Mutter schließlich. »Mein Mann und ich möchten nicht, dass Sie hier auftauchen, Florie. Ohne Ihren Einfluss …« Sie räusperte sich. »Wir fragen uns, ob dann nicht alles anders gekommen wäre.«

Obwohl sie mit einem solchen Angriff gerechnet hatte, tat es weh. Flo tastete nach dem Anhänger um ihren Hals und hielt sich daran fest. »Ich habe ihn nicht überfahren, Mrs. Barnes«, sagte sie und biss sich auf die Zunge, da sie lauter geworden war.

»Nein, aber Sam hatte sich sehr verändert, seitdem er Sie kannte, und damit meine ich nicht nur diese schrecklichen Motive auf seiner Haut, sondern auch sein Verhalten. Unser Junge hatte ein weiches Herz, deshalb hat er sich von Ihnen beeinflussen lassen, auf eine sehr negative Weise. Es tut mir leid, wenn ich das so sagen muss, aber es ist nun einmal eine Tatsache.«

»Ja«, stieß Flo hervor. »Er ist älter geworden und denkt anders über vieles als früher. Und er ist eben kein dummer Mensch.«

War. Sam war kein dummer Mensch.

Mrs. Barnes räusperte sich erneut. Es klang affektiert. »Bitte richten Sie sich nach unseren Wünschen, schließlich haben wir unseren Sohn verloren. Melden Sie sich hier nicht mehr, Florie, und tauchen Sie auch nicht auf, sonst werden wir rechtliche Schritte einleiten müssen.« In der nächsten Sekunde wurde das Gespräch beendet.

Eine Weile starrte Flo auf ihr Handy, als könnte die Stimme zurückkehren und ihr sagen, dass es nur ein Versehen gewesen war, dass Mrs. Barnes nicht hatte auflegen wollen und man sie natürlich zur Beerdigung einlud. Ihre Hand verkrampfte sich so sehr, dass sie befürchtete, die Kette zu zerreißen.

»Hey«, sagte Steven. Wann war er neben sie getreten? »Ich frag jetzt nicht, wie es gelaufen ist.« Er sah traurig aus; selbst sein Bart wirkte schlaffer, und es hätte Flo nicht erstaunt, wenn die eingeflochtenen, silbrigen Perlen zu Boden fallen würden.

»Sie erlauben mir nicht zu kommen.« Die Worte waren sperrig, passten weder in ihren Mund noch in ihr Leben. »Sam wird an einem Ort verbuddelt, den er seit Jahren nicht gesehen hat. Er hat es dort nie gemocht.« Sie schüttelte den Kopf, um von den Tränen abzulenken, die plötzlich in ihren Augen brannten. »Ich kann mich nicht mal von ihm verabschieden.« Sie ließ die Kette los. Sam besaß die gleiche, ein schwarzer Turmalin in einer gezackten Silberfassung – ein Geschenk von ihr, als sie noch ein Paar gewesen waren. Doch sie hatten den Schmuck beide weitergetragen.

Steven schnalzte mit der Zunge, ungehalten, wie er es manchmal tat, wenn ihm ein Zeichenentwurf nicht gefiel oder ein Kunde nervte. »Du brauchst keinen Ort, den dir andere vorgeben, um dich von ihm zu verabschieden. Das weißt du, oder?« Er wartete, bis sie nickte. »Mach es da, wo Sam gern war. Du weißt so was tausendmal besser als seine Eltern.«

Flo starrte an ihm vorbei, durch das Schaufenster auf die Straße, und schüttelte sich mit einer knappen Kopfbewegung das dichte, braune Haar aus den Augen. Sam hatte die Natur geliebt und manchmal schon mit einem glücklichen Grinsen und seinem Morgenkaffee auf dem Sofa gehockt, wenn die Vögel draußen loslegten und jeder halbwegs normale Mensch noch im Bett lag.

»Der Fluss«, sagte sie langsam. »Drüben im Park. Den hat er am liebsten gemocht. Er konnte stundenlang aufs Wasser starren.«

Sie hatten öfter am Ufer gelegen, wenn sie beide frei gehabt hatten. Flo mit einem Buch, Sam mit der Fähigkeit, sich vom leisen Rauschen der Strömung einlullen zu lassen. Am Fluss hatten seine Gedanken geschwiegen – oder aber getanzt und Purzelbäume geschlagen, und er war auf alle möglichen schrägen Themen gekommen.

Die Gänsehaut auf Flos Armen wurde stärker, als sie sich daran erinnerte, dass er sogar über seinen Tod geredet und darauf bestanden hatte, verbrannt zu werden. »Danach kannst du mich hier verstreuen, im Wasser, nachts, wenn niemand dich sieht. Eine Kerze, eine Flasche Wein und ein paar liebe Worte. Das genügt mir.«

Flo schloss die Augen. Ein Stimmchen in ihrem Kopf fragte sie, ob Sam die Macht gehabt hatte, seine Worte Realität werden zu lassen, und am liebsten hätte sie es hervorgezerrt, dieses Stimmchen, und ihm einen kleinen Körper gewünscht, damit sie ihm den Hals umdrehen konnte. Sie durfte nun nicht anfangen, solch einen Unsinn zu glauben!

Ist es wirklich größerer Unsinn, als zu glauben, dass du selbst den Tod anziehst, hm? Das Stimmchen kicherte und schwieg.

Steven wirkte zufrieden, als sie die Augen wieder öffnete, und rieb sich seinen nicht zu verachtenden Bauch. »Also. Dann weißt du, wo du hingehen musst. Grüß Sam von mir.«

»Aber ich kann dich heute nicht schon wieder hier alleinlassen.«

Er winkte ab. Dass sie sich vorgestern einfach tot gestellt hatte, war vergessen, und dafür mochte sie ihn noch mehr als ohnehin schon. »Ich habe deine großen Termine umgelegt, die kleinen übernimmt Huck.«

Sie wollte etwas sagen, sich bedanken, aber ihre Stimme krächzte, also drückte sie seine Hände fest und ließ ihn los, ehe sie sich umdrehte und das Infinity Ink so schnell verließ, als wäre sie auf der Flucht.

2 Schlammiges Ufer

Flo erreichte den Three Lakes Park gemeinsam mit der Dämmerung. Seit der schrecklichen Nachricht war sie aus der Zeit gefallen, und die Sonnenauf- und -untergänge kamen mit einer Geschwindigkeit, die sie überraschte. Die Stunden und Tage nutzten ihre Trauer, um sich unbemerkt davonzustehlen, als hätte Flos Wahrnehmung Löcher bekommen; Maschen in einem Gewebe, das mehr und mehr ausleierte.

Sie war froh, als sie die hohen Seidenkiefern sah, die den westlichen Eingang säumten. Meg saß wie üblich am Eingang, mit einem Pappschild vor und den Schlafsack ordentlich zusammengerollt neben sich. Flo kramte in ihrer Tasche, fand einen Fünf-Dollar-Schein und streckte ihn Meg entgegen. Die nahm ihn, grinste und hob zum Dank zwei Finger an die Schläfe – alles wie immer.

Flo legte den Kopf in den Nacken, als das Kopfsteinpflaster unter ihren Füßen von festgestampftem Erdboden abgelöst wurde. Nur wenige Schritte weiter änderte sich auch die Geräuschkulisse, da das Rauschen des Straßenverkehrs immer weiter in den Hintergrund trat und den Vögeln und Insekten Raum gab. Die Luft roch anders, frischer und dunkler zugleich, und ein leichter Wind strich über ihre Haut.

Flo lief langsamer in der Hoffnung, dass ein Teil der Ruhe auf sie abfärbte. Etwas bewegte sich in einem der Baumwipfel. Ein Stieglitz. Unwillkürlich atmete sie tiefer. Sam hatte stets gesagt, dass ihm der Park wie eine andere Welt erschien, obwohl er mitten in der Stadt lag, umgeben von Straßen. Flo betrachtete die Bäume und Gräser und versuchte ein Lächeln. Es musste fürchterlich aussehen, mehr wie eine Grimasse, und es brannte auf ihren Lippen, war aber besser als nichts.

Die Frau, die ihr mit schnellen Schritten entgegenkam, verschreckte es schon mal nicht. Sie hatte ein schmales Gesicht, trug ein einfaches, geblümtes Kleid ohne Taille, mit dem sie auch hundert Jahre in die Vergangenheit gepasst hätte, und bewegte ihre Arme hektisch vor und zurück. Ein geflochtener Zopf baumelte über ihre Schulter, und sie blickte sich immer wieder um, als würde jemand ihr folgen. Erst als sie Flo beinahe erreicht hatte, wurde eine Narbe sichtbar, die quer über den Nasenrücken lief.

Flo war sich sicher, die Frau noch niemals zuvor gesehen zu haben, denn sie hätte sich an sie erinnert. Valgate gliederte sich zwar in fünf Stadtteile auf, war aber nicht allzu groß, und die meisten Leute blieben in ihrem Bezirk. Im Grunde fanden sich auch im Three Lakes stets dieselben Gesichter. Besucher von außerhalb ließen sich so gut wie nie blicken, denn es gab hier nichts Besonderes zu sehen, und die großen Verbindungsstraßen verliefen in einem weiten Bogen um den Ort.

Die Frau hatte Flo beinahe erreicht, wurde langsamer und blieb stehen. »Noch spazieren?« Sie beugte sich zur Seite und blickte an ihr vorbei, vielleicht auf der Suche nach einem Hund.

Flo nickte. »Ja, ich muss den Kopf freibekommen.« Einer Fremden gegenüber fiel es ihr leichter, ihre Trauer zurückzudrängen und ein Small-Talk-Pokerface aufzusetzen. Diese Spaziergängerin kannte sie zu wenig, um sie zu durchschauen.

Die drehte sich noch einmal um. »An Ihrer Stelle würde ich mich beeilen, hier soll ja schon einiges passiert sein. Für eine alleinstehende Frau ist der Park nach Einbruch der Dunkelheit nicht der beste Ort.« Sie sprach schnell, dehnte aber manche Silben auf eine ungewöhnliche Weise.

Alleinstehend.

Als ob man ihr ansah, dass sie jetzt nicht nur Single war, sondern sogar allein lebte. Auf einmal hatte sie das Gefühl, den Three Lakes verteidigen zu müssen. Wobei, wem wollte sie etwas vormachen? Ihr ging es nicht um den Park, sondern um sich. Sie weigerte sich, Angst zu haben, nur weil es niemanden mehr in ihrem Leben gab, der zu ihr gehörte. »Ich habe noch nie mitbekommen, dass hier etwas passiert ist. Zumindest nicht mehr als woanders.«

Die Frau zupfte an ihrem Zopf. »Vielleicht liegt es an Valgate selbst. Ich meine, in einer Stadt glaubt man, jeden zu kennen, aber so ist es eben nicht, oder? Da war neulich diese Frau, die an ihrer Haustür überfallen und in den Keller gestoßen wurde. Sie hat mehrere Brüche davongetragen. Einer anderen haben sie auf dem Nachhauseweg aufgelauert, zwei Typen mit Tüchern vor Mund und Nase.«

Flo hatte nichts von den Vorfällen gehört. Sie hatte seit Tagen keine Nachrichten im Internet gelesen, aber solche Geschichten hätten ganz sicher die Runde gemacht und wären dann bei Steven aufgeschlagen. Manche seiner schwer tätowierten Kumpel waren Meister des lokalen Klatschs und Tratschs.

»Hm.« Konnte die Frau recht haben? Ließ sich Düsteres nicht nur in der Anonymität einer Metropole verbergen, sondern auch in Valgate, wo man jemanden zu kennen glaubte, wenn man sich oft genug begegnete? »Sind Sie neu hergezogen?«, fragte sie, obwohl es sie nicht interessierte. Vielmehr wollte sie dem Gespräch die Schwere nehmen.

Die Frau ließ den Zopf los. »Um Himmels willen, nein. Ich bin nur zu Besuch.«

Flo nickte, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte – zumindest erklärte das diesen Dialekt, den sie nicht einordnen konnte. Auf einmal wollte sie weiter. Offenbar hatte sie sich überschätzt, und es würde noch eine Weile brauchen, bis sie wieder über Belangloses plaudern konnte. Selbst mit Fremden.

»Ich stamme vom Land«, sagte die Frau nun. Ihre Augen hatten sich verengt, als wäre ihr etwas an Flo aufgefallen, das ihr nicht gefiel. »Ich würde niemals hierher ziehen.« Sie schenkte ihr noch einen mahnenden Blick und machte sich wieder auf den Weg.

Flo sah ihr nicht nach, und plötzlich war dieser Druck wieder da, der ihr seit dem Besuch des Officers immer wieder das Atmen erschwerte. Natürlich wusste sie, dass die Trauer um Sam nicht von heute auf morgen nachlassen konnte. Als Kind hatte sie ein Bilderbuch besessen, in dem ein kleines Mädchen erst durch einen Fluss und anschließend durch sein schlammiges Ufer watete, und genauso fühlte es sich jetzt an. Nur erinnerte sie sich nicht mehr daran, wie breit das Ufer gewesen war. Oder was dahinter lag.

Der Weg gabelte sich, und sie wählte den linken, folgte dem abfallenden Pfad zum Cohas River. Die Blätter der Schwarzfichten und Birken malten Farbtupfer in die Dämmerung. Flo dachte an die Frau, aber jetzt erschienen ihr die Warnungen noch übertriebener als vorhin.

Es war ihre Idee gewesen, nach Valgate zu ziehen. Sie hatte einen Bericht über ein Tattoofestival gesehen, in dem auch Steven zu Wort gekommen war und das Infinity Ink vorgestellt hatte. Danach hatte sie gegoogelt, fand heraus, dass er Verstärkung suchte, und kam zu dem Schluss, dass der Ort eine gute Wahl für sie und Sam wäre. Nicht zu groß, aber voller Shops, Läden und Bars und damit ohne die Langeweile, die kleinere Städte ihnen immer entgegengegähnt hatten.

Zu jener Zeit lebten sie in Finwoods, achtzig Kilometer westlich von hier, und nachdem Flo es geschafft hatte, Steven per Videocall zu überreden, dass sie die Richtige für seinen Laden war, machte sie sich daran, Kartons zu packen. Dabei überhörte sie geflissentlich Sams Anmerkung, dass sie nicht immer umziehen konnte, wenn etwas schiefging. Zwei Tage zuvor hatte sie ihren Job als Grafikerin verloren, weil ihre Firma ganze Zweige ins Ausland verlagerte, um Geld zu sparen.

Flo hatte ihm lediglich einen langen Blick geschenkt. Natürlich konnte sie. Es war einfacher, woanders frisch durchzustarten, wenn man böse gestolpert war. Den alten Karren im Dreck stecken lassen und auf einen anderen aufspringen. Sie nannte es eine neue Chance, Sam nannte es weglaufen. Aber er war ihr stets gefolgt.

Er würde noch leben, wenn sie nicht ausgerechnet Valgate gewählt hätte, wo dieser Typ sein Rad umgefahren hatte, ohne anzuhalten und einen Krankenwagen zu rufen oder auch nur zu kontrollieren, ob Sam noch lebte.

Der Druck auf Flos Brust wurde stärker. Sie blieb stehen und presste eine Hand gegen die Rinde einer Birke, bis sich kleine Holzstücke in ihre Haut bohrten. Dann schrie sie.

Stimmen vom Fluss antworteten ihr. Vermutlich lungerten Jugendliche dort herum, tranken Alkohol und rauchten Joints. Aus einer anderen Richtung kam Hundegebell. Flo richtete sich wieder auf. Sam würde sie für verrückt erklären, weil sie durch den Park lief mit der Absicht, ihre Kette in Gedenken an ihn in den Fluss zu werfen wie eine Opfergabe.

Sie folgte dem Gelächter und dem Klirren von Flaschen. Jemand schälte sich aus den Schatten der Bäume und kam auf sie zu: lockere Bewegungen, die Arme angewinkelt, enge Klamotten mit Neonapplikationen an Armen und Beinen. Ein Jogger. Als er auf ihrer Höhe war, neigte er den Kopf in ihre Richtung. »Du solltest nicht hier sein«, raunte er, und dann war er auch schon an ihr vorbei.

Verblüfft drehte sich Flo um und sah ihm hinterher. Er lief weiter, mit gleichmäßigen Schritten, so als wäre nichts geschehen. Hatte sie sich das nur eingebildet?

Drehte sie etwa gerade durch?

»Unsinn«, murmelte sie, weil sie plötzlich ihre Stimme hören musste. Sie war zwar mit den Nerven runter, aber der Typ war nur irgendein Idiot gewesen, der sich einen Scherz erlaubt hatte. Deshalb würde sie nun tun, wofür sie hergekommen war, und wieder verschwinden.

Sie war erleichtert, als endlich das Wasser vor ihr glitzerte, beleuchtet von den Laternen, die sich am Flussufer reihten und den Park notdürftig erhellten, sofern sie noch funktionierten. Mehrere Holzbänke standen ebenfalls dort, manche halb verwittert, andere von der Stadt renoviert oder ausgetauscht, aber alle mit Graffiti überzogen.

Im Augenwinkel sah Flo die Jugendlichen, die sie zuvor gehört hatte, an den großen Steinen, die ein Monument für irgendeinen Dichter darstellten, der mal in Valgate gelebt hatte, doch sie waren zu weit weg und beachteten sie nicht. Ein Pfad führte zu einer kleinen Aussichtsplattform am Cohas River, daneben gab es mehrere Schneisen, wo sich Leute ihren Weg zwischen Sträuchern und Bäumen gebahnt hatten. Flo wählte einen davon, duckte sich unter tief hängenden Zweigen hindurch und atmete das Aroma von feuchter Erde und, verhaltener, süßlichem Rauch ein.

Als sie in das Licht der Laterne trat, zog sie ihre Kette über den Kopf und betrachtete den Anhänger. Sam hatte ihn auf einem Musikfestival entdeckt und das Design gemocht – auf den ersten Blick schlicht, aber trotzdem verspielt. Sie fuhr die Linien und Schwünge mit dem Daumennagel entlang, und jetzt liefen die Tränen. Den ganzen Tag über hatten sie sich zurückgehalten, waren irgendwo in ihrem Körper hängen geblieben, aber nun wurden sie vom Fließgeräusch des Wassers geleitet und folgten ihm.

Flo ließ sich auf den Grasstreifen am Ufer fallen und musterte die Bewegungen des Flusses. Schatten bildeten sich dort, so flüchtig, dass sie ihre Form nicht bestimmen konnte, ehe sie wieder zerfaserten. Die Strömung war an dieser Stelle am stärksten. »Das Wasser ist so lebendig«, hatte Sam einmal gesagt und sich weit vorgebeugt, um eine Hand hineinzuhalten. Flo hatte den Drang unterdrückt, ihn zurückzuzerren.

»Ich hätte dich nicht retten können«, murmelte sie und fragte sich, ob sie die Strömung oder den Unfall meinte. Sie hätte Sam an jenem Morgen davon abhalten müssen, sich auf sein Rad zu schwingen und zur Arbeit zu fahren. Sie hätte mit ihm einen Ausflug machen können, einen Mini-Urlaub, Herrgott, sie hätte so krank sein können, dass er sich freigenommen hätte, um sie zu pflegen. Aber sie hatte nichts davon getan und war nichts davon gewesen; stattdessen saß sie nun hier, um sich von ihm zu verabschieden.

Und vielleicht ist er ja auch gestorben, weil der Tod dir doch folgt. Denk noch mal darüber nach.

»Ich hoffe sehr, dass du mir zusiehst, Sam«, flüsterte sie. »Oder mich irgendwie hörst. Dann käme ich mir nämlich nicht so blöd vor.« Der Anhänger verschwamm vor ihren Augen. Wütend wischte sie mit dem Ärmel darüber und drehte ihn in den Händen. Sie würde ihn vermissen, aber sie wollte ihrem besten Freund etwas hinterlassen, das der Fluss zu einem Ort tragen würde, den er für passend hielt. »Ich hoffe, dir geht es gut, wo immer du auch bist. Ich vermisse dich.« Mit zusammengebissenen Zähnen holte sie aus und schleuderte die Kette. Über das Rauschen der Strömung hörte sie nicht, wie sie ins Wasser eintauchte, aber sie stellte sich vor, wie sie darin verwirbelte und ihre Reise antrat. »Mach’s gut, Sam.«

Sie blieb noch eine Weile sitzen und stand erst auf, als sie fröstelte. Ihre Beine fühlten sich steif an. Als sie den Kopf hob, spürte sie die Gegenwart eines Menschen, so wie es manchmal war, wenn sich Blicke in die Haut brannten.

Eine Frau wartete ein Stück entfernt am Ufer und beobachtete Flo. Sie hielt einen Gegenstand in der Hand, spielte damit, aber es war zu dunkel geworden, um ihn zu erkennen. Etwas an ihr war seltsam – die Art, wie sie herüberstarrte, während sie sich bis auf ihre Finger nicht bewegte. Dann blickte sie zur Seite, in das Gebüsch neben sich.

Eine weitere Gestalt trat daraus hervor, größer und mit breiten Schultern. Flo zuckte zusammen, als sie sich neben die Frau stellte und sie ebenfalls anstarrte. Waren das Obdachlose, die im Park übernachteten und sie aus ihrem Schlafrevier vertreiben wollten?

Du solltest nicht hier sein.

Flo schielte zu dem Felsen, an dem die Jugendlichen getrunken hatten, doch sie waren verschwunden, und auch sonst sah sie niemanden und hörte nichts von dem, was sie jetzt gern gehört hätte: Stimmen. Hundegebell. Da waren nur ein paar späte Vögel, die den Einbruch der Nacht noch nicht akzeptieren wollten.

Es war höchste Zeit zu gehen.

Sie wandte den beiden, die sie noch immer musterten, nur ungern den Rücken zu und ärgerte sich darüber, wie angespannt sie plötzlich war. Unter anderen Umständen, am Tag oder in Begleitung, hätte sie die zwei konfrontiert und sie gefragt, ob es etwas gab, das sie loswerden wollten. Aber nicht heute.

Sie machte sich auf den Weg, schob die Hände in die Taschen ihrer Jeansjacke, fand ein Loch und bohrte einen Finger hinein. Endlich erreichte sie den Pfad, der sie zum Hauptweg bringen würde, und folgte seiner sanften Kurve.

Jemand tauchte vor ihr auf, ein Mann, hochgewachsen und mit einem langen Mantel bekleidet, und zündete sich eine Zigarette an. Die Flamme beleuchtete sein Gesicht – kantig, mit kahl geschorenem Kopf – und ließ seine Augen funkeln. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu verbergen, dass er sie beobachtete.

Allmählich verlor Flo die Nerven. Wenn sie zur Straße wollte, musste sie nah an ihm vorbei, es sei denn, sie drückte sich durch das Gebüsch oder ging zurück und nahm einen Umweg am Ufer entlang. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah zwei Schatten, vermutlich die beiden von zuvor.

Sie folgten ihr. Zufall?

Der Typ mit dem Mantel ließ sein Feuerzeug sinken, doch die Flamme brannte weiter. Langsam hob er die andere Hand, in der er etwas Längliches hielt.

Hinter Flo ertönten Schritte. Sie veränderten sich, wurden immer schneller. Weil diese Leute direkt auf sie zurannten.

Schlagartig verschwanden sämtliche Gedanken aus Flos Kopf. Sie sprintete los, so schnell sie konnte, wobei sie versuchte, einen Bogen um den Typen mit dem Feuerzeug zu laufen, halb in das Dickicht geriet und zum Schutz beide Arme hob. Schmale Äste und Zweige kratzten über ihre Wangen und Stirn und verhakten sich in ihrer Jacke. Sie riss sich los, taumelte, prallte mit der Schulter gegen einen Baum und verlor beinahe das Gleichgewicht.

Von ihren beiden Verfolgern war nichts zu sehen, doch der Typ mit dem Feuerzeug stand noch immer an seinem Platz. Er hob es höher, sodass sie das Grinsen auf seinem Gesicht sehen konnte, und das machte ihr aus unerfindlichen Gründen noch mehr Angst. Ihr Atem brannte, pochte und pulsierte in ihrer Kehle, sodass sie glaubte, ersticken zu müssen, und dann, endlich, rannte sie weiter.

Wo waren, verdammt noch mal, die anderen beiden?

Sie wurde nicht langsamer, als sie die Straße erreichte. Meg war mitsamt Pappschild und Schlafsack verschwunden. Flo hatte Glück, fand eine Lücke im Verkehr und sorgte für ein Hupkonzert, als sie auf die andere Seite wechselte.

Hier waren noch Passanten unterwegs, und im Eingang von Noah’s Ark an der Ecke stand eine Gruppe mit Biergläsern in den Händen. Flo kannte den einen oder anderen vom Sehen, mit manchen hatte sie Pool gespielt, einen Kerl sogar tätowiert, aber das alles waren keine Gründe, um anzuhalten. Sie wurde erst langsamer, als sie den Schriftzug vom Infinity Ink sah, und zerrte ihren Schlüssel aus der Hosentasche.

Der Augenblick, in dem sie versuchte, ihn in das Schloss zu schieben und aufzusperren, war der schlimmste. Selbst bei Filmen hielt sie jedes Mal den Atem an, wenn jemand gezwungen war, stillzustehen, und jeden Vorsprung verschenkte. Auf ihrer Stirn bildete sich Schweiß, und ihr Iron-Maiden-Shirt klebte ihr am Rücken, obwohl ihre Finger eiskalt waren. Aber anders als in Filmen gelang es ihr beim ersten Versuch, aufzuschließen, und niemand legte ihr von hinten eine Hand auf die Schulter oder, schlimmer, rammte ihr ein Messer in den Rücken.

Flo schoss ins Haus, knallte die Tür so fest zu, dass etwas im Rahmen knackte, und hastete weiter zur Treppe, in den ersten Stock und endlich in ihre Wohnung. Mit fliegenden Fingern schloss sie ab und legte die Sicherheitskette vor, ehe sie sich schwer atmend an die Wand lehnte und wartete, bis sich ihr Puls beruhigte.

In ihren Ohren rauschte es, nur unterbrochen vom harten Wummern ihres Herzens. Eine Weile fühlte sie sich, als würde sie noch immer rennen, doch endlich ließ ihre Panik nach, und der Schlüssel fiel zu Boden.

Sie strich sich den Schweiß von der Stirn und die dunklen Ponysträhnen zurück, die auf ihrer Haut klebten. Ihre rechte Wange brannte, dort, wo die Zweige sie erwischt hatten, und auf einmal pochte auch das Hämatom an ihrer Hüfte wieder, als wäre sie gerade eben erst mit dem Hoodie-Träger zusammengestoßen.

Abgesehen von dem Ticken der alten Uhr in der Wand und den gedämpften Geräuschen vom Verkehr vor dem Haus, war es totenstill. Flo verzichtete auf Licht, während sie die Diele durchquerte und das Wohnzimmer betrat, dessen Fenster zur Straße hinausgingen. Obwohl sie wusste, dass man sie von draußen nicht sehen konnte, zögerte sie, ehe sie an die Scheibe trat.

Schlagartig raste ihr Herz wieder los. Dort unten, auf dem Gehweg direkt vor dem Haus, stand der Typ mit dem Mantel und dem Feuerzeug und starrte zu ihr hoch.

3 Überreste von Papier

Das Summen der Tattoomaschine war vor einer Weile verstummt, und Stevens Kunde, ein Biker namens Big Max, hatte sich vor zwanzig Minuten verabschiedet. Seitdem machte Flos Boss im Hinterzimmer Ordnung, während sie am Empfang saß und sich durch die Termine und Änderungen wühlte, die er stets auf Post-its notierte, und sie in den Onlinekalender eintrug. Entwürfe, die er während längerer Telefonate oder wenn Zeit war gezeichnet hatte, heftete sie in seinem Ideen-Ordner ab.

Steven war für heute mit der Arbeit fertig, weil er zu seiner Schwester fahren und den Geburtstag seines Neffen feiern würde, und auf sie wartete in drei Stunden nur noch ein Termin. Bis dahin würde sie Entwürfe für Maisie Davis aus dem Diner an der Ecke skizzieren, die »irgendwas mit Delfinen« auf ihrem Schulterblatt haben wollte.

Der Vorfall im Park lag über einen Monat zurück, und sie hatte niemandem davon erzählt, in der Hoffnung, ihn schnell wieder zu vergessen. Mittlerweile war sie sicher, mit den Nerven einfach zu sehr runter gewesen zu sein. Es war zu früh gewesen, um sich von Sam zu verabschieden. Das war es noch immer. Vielleicht hatte es einen Sinn, dass Beerdigungen so viel Planungszeit brauchten. So konnte man sich darauf vorbereiten, am Grab zu stehen.

Bis heute gab es Augenblicke, in denen die Trauer so plötzlich aufwallte, dass sie Flo lähmte. Die Arbeit lenkte sie ab, deshalb hatte sie darauf verzichtet, sich weiterhin freizunehmen. Wenn sie nicht im Shop war, putzte sie – etwas, das sie noch nie so häufig getan hatte – oder schlief.

»Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich fahre?«

Sie schrak zusammen und wirbelte herum. »Herrgott, Steven!«

Er stand im Durchgang und zupfte an seiner Baseballkappe. »Sorry. Du warst total in deine Zeichnung vertieft.«

Flo starrte erst ihren Boss an, dann den Bleistift in ihrer Hand. Er war durch das Papier gestoßen, da sie eine Stelle zu lange schraffiert hatte. Die Anemonen rund um den Delfin erinnerten an Fratzen, und sie knüllte das Papier zusammen. »Nur ein erster Entwurf. Vermutlich will Maisie doch was anderes, weil sie es bei irgendwem auf Instagram gesehen hat.«

Steven fuhr sich über den Bart. Sogar der halb über seinen Hals laufende Totenschädel strahlte Sorge aus. »Ich weiß nicht, ob ich dich wirklich allein lassen soll.«

Flo lehnte sich an die Wand und schob die Hände in die Hosentaschen. Es tat gut, dass er sich Gedanken um sie machte, und manchmal genügte das schon. »Ich komm klar, und wenn was ist, rufe ich dich an. Versprochen.«

Steven musterte sie eingehend, und es klackte, als er mit seinem Zungenpiercing gegen die Zähne schlug, wie so oft, wenn er nachdachte. »Okay. Ich habe alles reingeholt und hinten abgeschlossen.« Das Infinity Ink teilte sich einen Hinterhof mit Morgans Elektro-Store, und Steven setzte sich gern nach draußen, um zu rauchen und das Gesicht in die Sonne zu halten oder mit Morgan ein Bier zu trinken.

»Alles klar.« Flo nahm den Bleistift und drehte ihn in den Händen. »Und jetzt verschwinde endlich und umarm Sally und Brad von mir.«

»Damit ich mir eine Ohrfeige einfange, was? Sally hasst Umarmungen.« Er ballte eine Hand zur Faust und schlug ihr gegen die Schulter, nicht zu sanft, sodass Flo leicht taumelte. Dann murmelte er noch etwas von Totenstille, warf das Radio mit seinem Lieblingssender an, schnappte sich seine Segeltuchtasche und verließ den Laden in dem Moment, als »Thunderstruck« aus den Boxen dröhnte.

Flo brauchte länger als sonst, um sich wieder auf das Motiv zu konzentrieren. Zweimal kam jemand herein, um sich umzusehen und nach Preisen zu fragen, eine Horde Teenager drückte sich vor der Tür herum, traute sich dann aber doch nicht und ging weiter. Ihre Kundin, eine Frau Mitte dreißig, war pünktlich, redete ununterbrochen und verließ den Laden nach einer kurzen Sitzung zufrieden mit einem geschwungenen Queen-Schriftzug auf dem Handgelenk. Und dann war es auch schon Zeit, den Laden zu schließen. Die Straßenlaternen sprangen an, als Flo mit dem Schlüssel in der Hand zur Tür ging – und innehielt.

Stand dort jemand auf der anderen Straßenseite und starrte zu ihr herüber? Sie machte sich bestimmt nur verrückt, immerhin blieben andauernd Menschen stehen, um sich umzusehen oder vielleicht auf jemanden zu warten.

Wäre da nicht der lange, dunkle Mantel gewesen – und die Art, wie sich der Mann eine Zigarette anzündete. Es kam ihr auf abstoßende Weise bekannt vor. Ein Kälteschauer rann über ihre Haut, doch dann zog eine Horde kichernder Teenager vorbei, und der Typ war verschwunden.

Auf einmal fühlte sich Flo nicht mehr wohl damit, allein im Ink zu sein. Hastig drehte sie den Schlüssel um, presste das Gesicht an die Scheibe und sondierte die Gegend. Autos, Menschen, Tauben, ein Hund, der an die Ecke pinkelte. Nichts Auffälliges. Davon abgesehen, musste sie nicht einmal mehr das Haus verlassen, sondern nur die Treppe hoch in ihre Wohnung steigen. Vermutlich würde sie das Bad putzen. Oder versuchen, sich nach langer Zeit mal wieder einen Film anzusehen, eine Tüte Chips öffnen und sich mit einer Wolldecke auf das Sofa kuscheln.

Sie drehte sich um und streckte die Hand nach der Seitentür aus, die in den Hausflur führte, als ein Geräusch aus dem Hinterzimmer sie innehalten ließ. Schlagartig fror ihr Körper ein, vielleicht war es aber auch nur das Blut, sodass alle Gliedmaßen schwer und unbeweglich wurden. Stumm betete sie, es sich nur eingebildet zu haben. Aber dann wiederholte es sich, eine Art Schaben oder Kratzen, so als versuchte jemand, möglichst unbemerkt das Schloss der Hintertür zu knacken.

Flo schüttelte die Starre ab und atmete tief durch. Sie durfte sich nicht ewig von dieser Sache im Park verrücktmachen lassen oder sich hilflos fühlen, weil Sam fort und sie traurig war. Zwar gab es im Laden kaum Bargeld zu holen, aber die Maschinen samt Equipment waren mehrere Tausend Dollar wert, und heute war sie dafür verantwortlich.

Ihr Blick fiel auf die Theke. Ihr Handy lag dort, und irgendwo bewahrte Steven seinen Baseballschläger auf. Er war kein ängstlicher Mann, aber selbst nach Valgate verirrten sich harte Jungs und Mädels. Manche gehörten Gruppen oder Gangs an, und es war bereits vorgekommen, dass sie hier im Laden aneinandergeraten waren. »Ich bin einfach gern vorbereitet«, hatte Steven gesagt, als er sie zum ersten Mal herumgeführt hatte.

Da war sie ganz seiner Meinung.

Sie huschte zurück zu dem Platz hinter der Theke und fand den Baseballschläger unter einem Stapel Lieferservice-Flyer. Ihre Finger schlossen sich um das glatte Holz, mit der anderen Hand griff sie nach ihrem Handy.

Und zögerte.

Einmal beziehungsweise zweimal in ihrem Leben hatte sie den Notruf der Polizei gewählt – damals, als sie sechzehn gewesen und dieser Typ ihr mit breitem Grinsen bis zur Wohnung von Mrs. Wilkins gefolgt war. Die Beamten hatten Flos Aussage aufgenommen, aber sie war das Gefühl nicht losgeworden, dass man sie nicht ernst nahm. Die Sache war schließlich im Sand verlaufen, weil man den Fremden nie gefunden hatte, und Flo hatte noch lange auf dem Heimweg über die Schulter gesehen. Damals hatte sie gelernt, dass Probleme nicht zwangsläufig verschwanden, wenn man das Gesetz einschaltete, weil Menschen einem ohne Beweise eben nicht immer glaubten. Sie musste daher sicher sein, ehe sie jemanden alarmierte.

Also lauschte sie, doch im Hinterzimmer war alles still. Sie schob das Handy in ihre Hosentasche, zählte stumm bis drei und schlich los, den Schläger mit beiden Händen erhoben. Steven hatte zum Glück mehrere Lampen brennen lassen; mit den schwarzen Liegen und Trennwänden wäre der Raum sonst kaum einzusehen gewesen. Flo blieb stehen, spannte die Muskeln an und schoss um die Rollwand in der Mitte herum.

Nichts. Sie war allein. Im Schloss der Hintertür steckte der Schlüssel, und sie drückte zur Kontrolle die Klinke nach unten. Verschlossen. Keine Chance, dass irgendwer von draußen hier eingedrungen war. Vermutlich hatte sie sich das Ganze wirklich nur eingebildet.

So wie die Sache im Park? Mit dem seltsamen Paar und dem Kerl mit dem Mantel und dem Feuerzeug? Der Frau im Blümchenkleid?

Energisch schob sie die Gedanken beiseite. Sie war auf ein paar Spinner getroffen, die ihr Angst machen wollten. Gut möglich, dass die vier sich sogar gekannt hatten und sie mehr in diese Begegnung hineininterpretierte als nötig. Wenn sie sich momentan nicht auf ihre Nerven verlassen konnte, war das völlig normal und würde auch wieder besser werden.

Sie löschte das Licht, verließ das Ink, schloss die Seitentür ab und ging in ihre Wohnung, wobei sie nach jeder knarrenden Treppenstufe innehielt und in die Stille lauschte. Den Baseballschläger nahm sie vorsichtshalber mit und stellte ihn neben ihr Sofa. Sie schaltete alle Lichter ein und griff nach der Fernbedienung.

Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt, wie anders alles wirkte. Seit Sams Tod überlegte sie, ob es sinnvoll wäre, sich etwas Neues zu suchen, aber im Moment fehlte ihr die Energie. Zudem wusste sie es zu schätzen, innerhalb weniger Schritte bei der Arbeit zu sein, und wenn der Shop geschlossen war, hatte sie das Haus für sich. Keine Nachbarn, die gegen die Wände hämmerten, wenn sie laut Musik hörte, und niemand, der die ganze Nacht den Fernseher laufen ließ oder beim Sex die Wände zum Wackeln brachte.

Jetzt war es dagegen beinahe zu still, und dann begriff Flo, dass sie die Leere spürte. Die Wohnung stand noch voll mit Sams Sachen, weil sie es nicht über das Herz gebracht hatte, auch nur einen Gegenstand in Kisten zu verpacken. Seine Schallplatten warteten säuberlich im Regal, einige wenige waren auf dem Boden verteilt, und das weiße Innenpapier lag auf der Hülle von Henri Rollins’ »Hot Animal Machine«, die sich demnach auf dem Plattenteller befinden musste. Und trotzdem fehlte so viel. Flo zog die Beine an, schlang die Arme darum und wünschte sich, er würde neben ihr sitzen – so sehr, dass es wehtat.

Hin und wieder erwischte sie sich dabei, auf seine Schritte zu lauschen, auf die Geräusche, wenn er seinen Rucksack packte oder in seinem Zimmer Hanteln stemmte. Seine Tür war angelehnt, und sie hatte sie in den vergangenen Tagen stets eine Winzigkeit weiter aufgedrückt, um hineinzusehen.

Sie liebte Stille, aber die Leere machte sie fertig.

Flo riss die Chipstüte auf, roch daran und legte sie auf den Tisch, weil ihr plötzlich nicht mehr danach war. Sie würde kurz die Augen schließen und sich anschließend einen Actionfilm suchen, nichts mit Liebe oder anderen Gefühlen, dafür voller Adrenalin.

Als Flo in die Höhe fuhr, war es totenstill und beinahe stockdunkel. Lediglich von draußen fiel das Licht der Straßenlaternen ins Zimmer. Den Fernseher musste sie im Halbschlaf ebenso ausgeschaltet haben wie die Lampen.

Aber etwas hatte sie aus dem Schlaf gerissen.

Augenblicklich war sie hellwach und so angespannt, als stünde sie in einem Boxring kurz vor dem Wettkampf. In Zeitlupe streckte sie eine Hand aus und tastete nach Stevens Baseballschläger. Der Druck auf ihrer Brust nahm zu, da sie ihn nicht sofort fand, und sie erlaubte sich erst auszuatmen, als ihre Fingerspitzen ihn berührten.

Lautlos erhob sie sich und lauschte in die Dunkelheit, auf Schritte, auf Atem. Auf geflüsterte Worte, die ihr sagten, dass sie nicht hier sein sollte. Doch außer ihr war niemand in der Wohnung, und ein Teil von ihr wusste das bereits. Langsam ging sie zur Tür, und endlich begriff sie ihren Fehler: Sie war allein, aber trotzdem in Gefahr.

Weil es nach Rauch roch.

Mit einem Keuchen rannte sie zum Lichtschalter und betätigte ihn, doch alles sah aus wie immer. Sie ging weiter in die Diele, dann zu Sams Zimmer. Mit zitternder Hand stieß sie die Tür weiter auf, schaltete auch hier das Licht ein und betrat den Raum zum ersten Mal seit seinem Tod. Sie blieb stehen, als sie etwas an ihren Füßen spürte, und ging in die Knie, um den Teppich zur Seite zu schlagen und eine Hand auf den Boden zu pressen.

Er war viel zu warm.

Flo sprang auf und rannte los, schnappte sich den Schlüssel des Ink, sperrte die Wohnungstür auf und flog die Stufen hinunter, während Anspannung und Entsetzen in ihrem Körper hämmerten. Bis auf ihre Schritte und ihr Keuchen war das Treppenhaus so still, wie es in der Nacht nur sein konnte.

Wenige Sekunden später stürzte sie in den Laden … und hustete. Die Luft stank, kratzte im Hals und biss in ihren Augen. Sie schlug eine Faust auf den Lichtschalter, registrierte mit einem Blick, dass die großen Fensterscheiben und der Haupteingang unversehrt waren, presste sich einen Arm vor Mund und Nase und bemerkte einen hellen Schimmer im Augenwinkel.

Das Feuer war im Hinterzimmer ausgebrochen und fraß sich bereits über die Ablage mit den Papieren und Utensilien sowie an den Vorhängen entlang, um dunkle Muster an der Decke zu hinterlassen. Hier war der Qualm dichter, sodass Flo rasch wieder zurückwich. Ihre Gedanken rasten. Wie war das passiert? Als sie abgeschlossen hatte, war doch alles in Ordnung gewesen!

Doch darüber musste sie sich später den Kopf zerbrechen. Wo bewahrte Steven seinen verdammten Feuerlöscher auf? Keuchend rannte sie zurück in den Vorraum. Sie hatte ihn sicher schon einmal gesehen! Schachteln, Kladden und Mappen flogen zu Boden, als sie sich durch die Einrichtung wühlte. Sie stieß die schwarzen Ledersessel der Warteecke zur Seite sowie den kleinen Glastisch und brachte die Standregale ins Wanken, auf denen Steven gerahmte Schnappschüsse von Conventions ausstellte. Einige fielen um; Glas klirrte im Rhythmus mit ihrem Herzen, das viel zu hart schlug. Endlich fand sie den Feuerlöscher und begriff entsetzt, dass sie keine Ahnung hatte, was sie tun sollte. Mit fliegenden Fingern presste sie darauf herum, doch nichts geschah, und ihr Entsetzen verwandelte sich in Panik.

»Komm schon, verdammt«, murmelte sie, hustete und überflog die Anweisung. Endlich entfernte sie die Sicherung, drückte den Betätigungsgriff, holte tief Luft und rannte zurück ins Hinterzimmer. Kurze, zielgerichtete Stöße. Auf die Brandursache richten.

Aber sie wusste nicht, was die Ursache war, und das Feuer zog sich quer an einer Wand entlang, also konzentrierte sie sich zunächst auf die Vorhänge, da sie Angst hatte, dass sich die Flammen an der Decke festfraßen. Es gab keinen Rückstoß, so wie erwartet, aber trotzdem schrie sie auf. Vielleicht hätte sie das schon längst tun sollen, schreien, aber sie hatte es in den vergangenen Tagen so oft unterdrückt, obwohl der Druck in ihrer Kehle da gewesen war. Vielleicht hatte sie verlernt, wie man richtig schrie.

Zu ihrer Erleichterung zeigte der Schaum Wirkung, und die Flammen erstickten nach und nach.

Als Flo vor den glimmenden, verkohlten und von dünnem Weiß bedeckten Überresten von Stoffen und Papier stand, wurde ihr bewusst, dass der Schreck größer gewesen war als das Feuer. Eine Weile stand sie noch da und betrachtete jede Oberfläche, als könnte irgendwo ein neuer Brandherd entstehen. Starrte auf das Chaos aus Asche, Schaum und dunkler, geschmolzener Masse. Es roch schrecklich, nach Rauch, Chemie und Vergangenem, und sie atmete möglichst flach. Sie musste die Feuerwehr rufen, auch wenn der Brand behoben war, und vielleicht auch die Polizei, falls ihn jemand gelegt hatte. Doch wie sollte das gehen? Sie hatte das Ink abgeschlossen und zuvor die Hintertür kontrolliert. Also ein Kurzschluss oder Kabelbrand? Steven war sehr akribisch, was sein Equipment betraf, und hatte ihr beigebracht, stets alle Stecker zu ziehen.

Der Gedanke brachte sie dazu, den Feuerlöscher abzustellen und zurück in den Eingangsbereich zu gehen. Auch hier gab es keine Spuren, die auf einen Einbruch hindeuteten. Sie hatte sich zuvor nicht getäuscht: Sämtliche Glasscheiben waren intakt. »Das kann doch nicht sein«, flüsterte sie, ehe sie die oberen Fenster und dann auch die Hintertür öffnete, um frische Luft hereinzulassen.

Jemand musste hier eingebrochen sein und das Feuer gelegt haben. Nur wie? Flo starrte auf die Laternen, die ihr Licht auf die Straße warfen, wo sich nichts regte, ging zurück hinter die Theke und nahm das Telefon von der Ladestation. Sie musste zunächst Steven benachrichtigen. Auch wenn er gefeiert hatte und vermutlich nicht nüchtern ins Bett gegangen war, würde er es ihr übel nehmen, wenn er erst morgen von dem Brand erfuhr.

4 Pure Wildnis

Über eine Woche später starrte Flo auf die Umzugskartons im Wohnzimmer. Sie hatte gedacht, sie würde mehr besitzen. Aber sie und Sam hatten die Wohnung möbliert von Steven gemietet, etwas, das sie mochte, weil sie bei ihren Umzügen gelernt hatte, dass ihr Herz nur an wenigen Gegenständen hing.

Sams Eltern hatten sie in einem unpersönlichen Brief dazu aufgefordert, ihnen seine Habseligkeiten zu schicken, doch Flo hatte einen Teil behalten – jenen, der Sam wirklich ausgemacht hatte, oder Dinge, die ihm wichtig gewesen waren, wie seine Schallplatten, die gerahmten Fotografien von Baumskeletten, sein Notizbuch und sein Lieblingsshirt. Bis auf das Bad und das Wohnzimmer war ihr Apartment bereits leer geräumt, aber sie hatte keine Eile. Steven gab ihr so viel Zeit, wie sie brauchte.

Obwohl sie den Brand im Infinity Ink rechtzeitig gelöscht hatte, musste einiges im Laden neu gemacht werden, und Steven nahm das zum Anlass, das gesamte Haus zu renovieren, weil es alt und leicht baufällig geworden war. Er hatte die Arbeiten jahrelang hinausgezögert, kam aber nun nicht mehr drum herum, wie ihm die Sachverständigen mitteilten, die Shop und Wohnung nach dem Brand begutachtet hatten.

Er nahm es so gelassen wie nur möglich und entschied, für eine Weile nach Europa zu gehen, Freunde zu besuchen und sich auf Tattoo Conventions zu konzentrieren. Die Konsequenz für Flo lag auf der Hand: Sie konnte nicht länger hier wohnen und hatte deshalb beschlossen, Valgate den Rücken zu kehren. Dieser Ort und sie waren vorübergehend gut miteinander klargekommen, aber er hatte ihr in den vergangenen Wochen deutlich gezeigt, dass sie nicht mehr willkommen war. Es war an der Zeit, weiterzuziehen.

Daran war sie gewöhnt, aber die Lücke, die Sam hinterlassen hatte, war noch immer da, und das machte sie unruhiger, als sie sich eingestehen wollte.

Flo trat gegen einen Karton, musterte die Flecken an der Tapete und fragte sich, ob sie lange genug hier gewohnt hatte, dass die Erinnerungen schmerzen würden, wenn sie fort war. Aber erst einmal musste sie überlegen, wohin sie gehen wollte.

Ihr Blick fiel auf den Poststapel, der ungeöffnet auf dem Wohnzimmertisch wartete. Sie nahm ihn und ließ sich auf das Sofa fallen. Ohne echtes Interesse blätterte sie durch die Werbeflyer und Briefe, bei denen es sich überwiegend um Rechnungen oder noch mehr Werbung handelte, und warf nur einen knappen Blick auf jedes Blatt, ehe sie es zerknüllte. Ein Zettel in fröhlichem Gelb knisterte leise, ehe die Überschrift Flos Aufmerksamkeit weckte.

Aushilfe für Rezeption im Tanglewood Hotelschnellstmöglich gesucht!

Teilzeit. Vorkenntnisse nicht notwendig. Unterkunft vorhanden.

Es folgten eine Adresse in einem Ort namens Westmill – sie hatte keine Ahnung, wo das lag, – eine Telefonnummer sowie ein Name, vermutlich der des Inhabers.

Hamilton Brand

In einer Ecke prangte ein kleines, schlecht hineinkopiertes Foto des Gebäudes. Es war zu verpixelt, um Einzelheiten zu erkennen, aber mit seiner Holzoptik und dem dunklen Dach wirkte das Tanglewood Hotel nicht wie einer dieser Hochglanztempel, wo das Personal Uniformen trug und in denen sich Flo noch nie wohlgefühlt hatte. Im Gegenteil, es strahlte eine hinterwäldlerische Gemütlichkeit aus mit den Bäumen zu beiden Seiten. Flo stellte sich ein altes Haus mit knarrenden Bodendielen vor, das sich seit den Siebzigern nicht mehr verändert hatte und dessen Flure mit Fotos geschmückt waren, die bereits an den Rändern vergilbten.

Ohne lange zu überlegen, schnappte sie sich ihr Handy und googelte.

Es überraschte sie nicht, dass Westmill ein winziger Ort war, knapp vierhundert Einwohner groß und ungefähr anderthalb Fahrstunden von hier entfernt Richtung Norden. Er lag inmitten von Wald- und Moorgebieten und war laut Beschreibung auf einem Outdoorblog eine gute Wahl, wenn man die Natur liebt und gern wandert. Einige Fotos bewiesen, dass er zumindest im Sommer nicht gänzlich ausgestorben war, wenn Städter ihre extra für diesen Anlass gekauften Schuhe einpackten und die Pfade unsicher machten. Auf jedem Schnappschuss strahlte die Sonne vom klaren, blauen Himmel. Flo fand keine einzige Ansicht aus dem Winter, aber vermutlich versank Westmill dann in Einsamkeit oder war so zugeschneit, dass niemand den Weg dorthin auf sich nahm.

Sie nagte an ihrer Lippe. An der Rezeption eines Hotels zu arbeiten, konnte sie sich vorstellen. Das war im Grunde ein Teil von dem, was sie im Infinity Ink tat, nur dass sie in Westmill keine Tattoos stechen, aber dafür vermutlich Zimmer putzen würde. Mehr Organisation und körperliche Arbeit, weniger Kreativität, aber das war ihr erst mal ganz recht. Es war fast September, die Hochsaison für Urlauber vorbei, aber es konnte gut sein, dass noch einige goldene Herbstwochen folgten, ehe der Betrieb im Tanglewood Hotel zur Ruhe kommen würde.

Das klang nicht übel. Nach den Ereignissen in der jüngsten Vergangenheit war die Aussicht auf weniger Menschen ziemlich verlockend. Flo stellte es sich schön vor, morgens aufzuwachen und der Stille zu lauschen. Nachdenklich strich sie den Flyer glatt. Ein Hotel. Warum nicht? Sie hatte kein Wunschziel, also konnte sie ebenso gut einem Impuls nachgeben. Schließlich wusste sie bei aller Planung nicht, was sie erwartete. Niemand konnte in die Zukunft sehen, ansonsten wäre über die Hälfte aller Entscheidungen auf der Welt anders ausgefallen.

Sie schielte in Richtung Diele, wo sie eine Ecke von Sams Tür erahnte. »Was denkst du?«

Er würde lachen und ihr vorhalten, dass ihr etwas mehr Sesshaftigkeit guttäte, um ihr dann den Flyer aus der Hand zu nehmen und sich in die alte Fassade des Hotels zu verlieben.

Flo lächelte und gab die Telefonnummer auf ihrem Handy ein. Es läutete viermal, ehe jemand abnahm.

»Tanglewood Hotel, guten Tag.«

»Hallo, mein Name ist Florie Deverell.« Sie sah auf den Flyer. »Ich möchte gern Mr. Hamilton Brand sprechen.«

»Am Apparat. Ist das ein Werbeanruf? Dann sind Sie bei mir leider falsch, Lady.« Seine Stimme klang jünger als erwartet, locker und längst nicht so gereizt wie viele andere, wenn sich Callcenter meldeten, um etwas vollkommen Überflüssiges zu verkaufen.

»Nein, keine Sorge«, sagte sie rasch, »darum geht es nicht. Ich bin auf Ihren Flyer gestoßen. Den mit dem Stellengesuch für die Rezeption. Ich habe Interesse und würde gern mehr über den Job erfahren. Zum Beispiel, welchen Umfang er hat.« Natürlich wollte sie nicht nur das wissen, aber erst einmal musste sie abschätzen, ob sie von dem Lohn leben konnte. »Ich meine, falls die Stelle überhaupt noch frei ist, natürlich.«

»Oh, das ist sie, ja.« Er klang … erfreut? Erstaunt? Offenbar gab es nicht allzu viele Bewerber. »Der Umfang ist schwer einzuschätzen, aber ich bin da flexibel. Wichtig ist mir, dass ich jemanden habe, der das ebenfalls ist und an mehreren Tagen in der Woche für ein paar Stunden einspringen kann, manchmal eben auf Zuruf. Daher biete ich auch eine voll möblierte Unterkunft hier im Ort, nur wenige Minuten Fußweg zum Hotel.«

»Ja«, sagte Flo und ließ sich auf das Sofa fallen. »Das habe ich gelesen, und das wäre gut, ich komme nämlich nicht aus der Gegend.«

»Und Sie wären bereit, für den Job umzuziehen?«

Flo zögerte und schielte noch einmal in Richtung Diele. War sie das? »Bereit schon, aber das hängt von mehreren Faktoren ab.« Genauer gesagt muss ich vor allem wissen, ob du mich fair bezahlst, Mr. Hamilton Brand.

»Verstehe.« Es klang, als würde er das wirklich tun. »Hören Sie … Florie? Es ist so. Ich habe das Hotel vor nicht allzu langer Zeit übernommen und bin noch dabei, es zu renovieren und auszubauen, um den Staub der letzten Jahrhunderte endlich mal loszuwerden.«

Sie glaubte zu hören, wie er grinste.

»Vor allem deshalb brauche ich jemanden, der mir aushilft. Im Sommer ist es hier gut besucht, aber auch im Winter kommen manchmal Leute zum Wandern. Unsere Gäste sind naturverbunden und robust, und ich suche jemanden, der da hineinpasst. Leute aus der Branche schreckt das oft ab, die erwarten eine andere Arbeitssituation, mehr Komfort, regelmäßige Zeiten, all so was. Es tut mir leid, wenn ich das sage, aber deshalb sind mir Quereinsteiger lieber.«

Sie zuckte die Schultern. »Keine Sorge, ich bin keine gelernte Hotelfachfrau.«

»Gut!« Er schien es ernst zu meinen und die Sache mit dem Jobangebot ähnlich zu sehen wie Steven damals, als sie zum ersten Mal im Ink