Das Fünf Sterne Wochenende - Elin Hilderbrand - E-Book

Das Fünf Sterne Wochenende E-Book

Elin Hilderbrand

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Beschreibung

Hollis Shaws Lebens scheint perfekt: Sie ist erfolgreiche Food-Bloggerin und führt eine glückliche Ehe. Tochter Caroline studiert und geht ihren Weg. Als Hollis' Mann jedoch völlig unerwartet stirbt, ist nichts mehr, wie es war. Doch Hollis hat der Lebensmut nicht verlassen: Sie lädt ihre vier wichtigsten Freundinnen in ihr wunderschönes Strandhaus ein, um zu fünft ein "Fünf Sterne Wochenende" zu verbringen. Jede der Frauen bringt ihre eigene Geschichte mit, und schon bald kommt es zu einigen überraschenden Bekenntnissen.  Während ein unvergessliches Wochenende seinen Lauf nimmt, treten immer mehr kleine und große Geheimnisse ans Licht und das Leben schlägt die fünf Freundinnen auf neue, unerwartete Weise in seinen Bann.

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Seitenzahl: 544

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Elin Hilderbrand

Das Fünf Sterne Wochenende

Roman

Aus dem Englischen von Cornelia Röser

Atlantik

Für Michael Carlisle und David Forrer, in Liebe und ewiger Dankbarkeit. Fünf Sterne sind nicht genug.

Prolog: Nantucket

Ein neuer Sommer auf der Insel beginnt, und wie immer haben wir reichlich Gesprächsstoff. Chefkoch Mario Subiaco hat Lizbet Keaton im Hotel Nantucket einen Antrag gemacht, draußen in Monomoy ist eine Filmcrew unterwegs (die blonde Sharon weiß aus sicherer Quelle, dass da eine Netflix-Original-Serie entsteht), Polizeichef Ed Kapenash wurde mit Schmerzen in der Brust ins Krankenhaus eingeliefert, und es tobt eine hitzige Debatte, ob auf Nantucket Oben-ohne-Strände erlaubt werden sollen. (Wir sind wirklich progressiv und weltoffen, aber das hier ist nun mal nicht Frankreich.)

Und dann geht das Gerücht, dass Hollis Shaw in ihrem Haus in Squam etwas veranstalten will, das sie »Fünf-Sterne-Wochenende« nennt.

Wir sind wirklich gespannt.

 

Hollis Shaw ist eine Ausnahmeerscheinung. Früher war sie eine von uns. Sie ist die Tochter von Tom Shaw, dem besten Klempner der Insel, und der Erzieherin Charlotte Shaw. Hollis war noch keine zwei Jahre alt, als Charlotte beim Duschen an einem Aneurysma starb, und Tom Shaw musste seine Tochter allein großziehen. Aber hier auf der Insel ist jeder für jeden da – schließlich braucht man ein Dorf, um ein Kind großzuziehen –, und damals zogen wir alle gemeinsam Hollis groß. Wir saßen in ihren Ballettaufführungen, sahen ihr beim Football zu und waren bei den Spielen der Nantucket Whalers dabei, wenn sie von der Tribüne aus ihren Freund Jack Finigan anfeuerte. Hollis war eine gute Schülerin und eine herausragende Softball-Pitcherin (in der elften Klasse gewann ihr Team die Landesmeisterschaften, im Jahr darauf belegten sie immerhin den zweiten Platz). Sie lebte mit ihrem Vater in einem eher bescheidenen Haus (auch wenn das Land, auf dem es stand, ein Vermögen wert war), und sobald sie alt genug war, führte sie den Haushalt und kochte jeden Abend für sie beide. Nach der Schule jobbte sie in der Werft, und im Sommer kellnerte sie mit ihrer besten Freundin Tatum.

In der zwölften Klasse schrieb Hollis laut ihrer Englischlehrerin Ms. Fox »den besten Essay, den ich in einunddreißig Jahren gelesen habe«. Er war als Brief an ihre verstorbene Mutter verfasst. Liebe Mom, begann er, ich glaube, du wärst stolz darauf, was aus mir geworden ist, und hier sind einige Gründe dafür.

Dass Hollis zum Studium nach North Carolina ging, sahen wir mit gemischten Gefühlen. Zwar waren wir stolz auf sie – sie erhielt ein Vollstipendium –, aber wir wussten, sie würde uns fehlen.

Nach dem Studium zog Hollis nach Boston, wo sie als Assistentin der Food-Redaktion beim Boston-Magazin arbeitete und sich auf Spesen durch die besten Restaurants schlemmen durfte. Schließlich lernte sie Matthew Madden kennen, einen angehenden Chirurgen aus Harvard. Die beiden heirateten in Wellesley und kauften sich dort ein Haus, in dem sie ihre Tochter Caroline großzogen.

Als Hollis’ Vater Tom 2007 starb, erbte Hollis das Anwesen in Squam. Über den Winter ließen sie das kleine Haus, in dem Hollis aufgewachsen war, an den Rand des Grundstücks versetzen und an seiner Stelle ein großzügiges Ständerwerkhaus erbauen.

Jetzt ist es offiziell, dachten wir. Hollis Shaw ist ein Sommergast geworden. (Aber immerhin war sie unser Sommergast, wir hätten sie schließlich auch an Martha’s Vineyard verlieren können.) Sie spielte Tennis im Field and Oar Club und half als Freiwillige beim alljährlichen Lesefestival mit. An Samstagnachmittagen sah man sie an einem der besten Tische im Restaurant The Deck direkt an der Brüstung über den Monomoy Creeks mit fremden Gesichtern lachen und Rosé trinken.

Störte es uns, dass Hollis sich nicht mehr wie eine Einheimische verhielt und nur noch für den Sommer und Kurzurlaube auf die Insel kam, zu Thanksgiving oder zum Osterglockenfest? Einige störte es, andere freuten sich einfach für sie.

Doch als sie ein Internetstar wurde, da war sie für alle wieder eine von uns.

In den dunkelsten Tagen der Pandemie, als die Geschäfte schlossen, die Aktienmärkte zusammenbrachen und die Restaurants auf Take-away umstellten, postete Hollis sorgfältig aufbereiteten Content auf ihrem mit 274 Abonnentinnen noch bescheidenen Foodblog Hollis hat Hunger. In ihrer Küche in Wellesley filmte sie sich dabei, wie sie ein Hackbraten-Sandwich mit selbst eingelegten Gurken auf frisch gebackenem japanischen Milchbrot zubereitete. Das Video ging viral. Es traf einen Nerv, ungefähr wie das von dem Mann, der auf seinem Balkon in Bologna für seine Nachbarn Geige spielte. Es war ein erhabenes Sandwich: Der Hackbraten war mit Zwiebeln und Kräutern gespickt und von einer rosa »Spezialsoße« gekrönt, die Gürkchen waren knackig und würzig, das japanische Milchbrot, der Instagram-Trend, war weich, aber doch fest genug, um dem Sandwich Stabilität zu verleihen.

Ja, das war ein ziemlich zeitaufwendiges Sandwich, aber plötzlich hatten die Leute ja alle Zeit der Welt.

Außerdem war es billig – aus Lebensmitteln im Wert von gerade mal siebzehn Dollar ließen sich vier Stück zubereiten, und es gab eine vegane Variante.

Es war genau das, was alle brauchten: Wohlfühlessen, aber in ambitioniert.

Mit einem Mal war Hollis’ bescheidener Foodblog gar nicht mehr so bescheiden, sondern angesagt.

Binnen einer Woche hatte der Newsletter des Blogs über eine halbe Million Abonnentinnen. Als Nächstes stellte Hollis ein Rezept für cremige Gazpacho aus gelben Tomaten und dann ein erschreckend knuspriges Brathähnchen online. Die Fans des Blogs feierten nicht nur die Rezepte, sondern auch Hollis selbst. Sie war so etwas wie eine beste Freundin, die tröstliches Essen vorbeibrachte. Sie liebten es, dass Hollis in ihren Kochvideos eine ungeschminkte Version von sich zeigte – samt Falten und Sommersprossen und leichtem Doppelkinn. (Die Frauen mittleren Alters dachten: Wie kann sie die Kamera so nah an sich heranzoomen lassen? Die Millennials und Generation-Z-ler dachten: Wenn sie kein Make-up tragen will, okay, aber wie wäre es mit einem Filter?) In Hollis’ blonden Haaren, die sie in einer Art Nicht-Frisur trug – in der Mitte gescheitelt und hinter die Ohren gesteckt –, war schon Grau zu sehen. Ihr Hals aber sah gut aus. (Welche Creme benutzt sie?, fragten sich die Leute. Wird sie die irgendwo verlinken?) Sie trug stets eine gestärkte Baumwollbluse mit hochgestelltem Kragen (sie besaß das Modell in mehreren Farben) und dazu goldene Creolen vom Durchmesser eines Vierteldollars. Jemand hatte nach den Ohrringen gefragt, und sie hatte ihnen anvertraut, sie habe sie 1987 von ihrem Vater zum Schulabschluss bekommen. Hollis’ Fans feierten sie dafür, dass sie bodenständig blieb, auch wenn ihnen der gigantische Diamant an ihrem Verlobungsring (mindestens drei Karat!) und der Ehering mit Diamant und Saphiren nicht entgangen sein konnten.

Nachdem Hollis ein Video für eine Kartoffel-Frischkäse-Tarte mit knuspriger Baconkruste veröffentlicht hatte, knackte ihr Newsletter die Eine-Million-Marke (Bacon macht’s möglich!). Mit Unterstützung ihrer Tochter Caroline, die in New York studierte, richtete Hollis eine Website für ihren Blog ein und stattete sie mit zwei besonderen Features aus: Das erste hieß Küchenlichter und war eine interaktive Weltkarte. Wenn jemand auf der Website aktiv war, erschien auf dieser Karte ein kleiner Lichtpunkt, damit sich die Besucher der Seite vorstellen konnten, wie ein anderer Koch oder eine andere Köchin in, sagen wir, Spokane, Washington, oder Grand Island, Nebraska, in seiner oder ihrer Küche Schnittlauch und Petersilie für Hollis’ Tortellini-Salat hackte.

Über das zweite Feature, die Pinnwand, konnten Hollis’ Followerinnen Nachrichten hinterlassen, Rezepte posten, Restaurants bewerten, Kochbücher rezensieren und Fragen stellen wie: Warum gibt Planters immer noch Paranüsse in seine Nussmischungen, wenn niemand die isst? Hollis selbst postete ein- bis zweimal pro Woche etwas an der Pinnwand, um die Community über ihre neusten Erfolge auf dem Laufenden zu halten: Sie hatte eine Anfrage für eine eigene Kochgeschirr-Kollektion erhalten, ein Buchvertrag stand ins Haus, und sogar von einer eigenen Fernsehsendung war die Rede, in der sie nicht nur Koch- sondern auch Lifestyletipps geben würde.

Ja, ja, ja, ja! Ihre Millionen Fans wollten all das. Sie konnten nicht genug bekommen von unserer Hollis Shaw (wir waren sehr davon angetan, dass sie ihren Mädchennamen behielt.) Hollis’ Leben war so vollkommen, so geordnet und so vom Glück verwöhnt, und das Leben ihrer Fans wurde allein dadurch besser, dass sie ihr dabei zusehen konnten. Auf Nantucket haben 1670 Personen Hollis’ Newsletter abonniert (darunter ihre ehemalige Lehrerin Ms. Fox, die »schon immer gewusst hat, dass sie etwas Besonderes ist«). Im Sommer 2022 war Hollis hat Hunger so beliebt wie Wordle und die Zimtbrötchen der Wicked Island Bakery. Man konnte sich unmöglich im RJ Miller Salon die Haare machen lassen oder bei Ships etwas trinken, ohne etwas über Hollis Shaw zu hören.

Sie war eine richtige Nantucket-Berühmtheit geworden.

 

Am fünfzehnten Dezember, einem Donnerstag, sucht Ms. Fox auf der Website gerade nach dem Rezept für die einfachen Weihnachts-Horsd’œuvres, die Hollis angekündigt hatte – Ms. Fox braucht ein Mitbringsel für eine Wichtelfeier –, als auf ihrem Bildschirm eine neue Pinnwandnachricht von Hollis angezeigt wird:

Liebe Hollis-hat-Hunger-Gemeinde,

 

heute Morgen ist mein Mann Matthew überraschend gestorben. Um diese furchtbare Tragödie zu verarbeiten, brauche ich etwas Raum. Sicher habt ihr alle Verständnis dafür, dass ich mich für eine Weile von der Website zurückziehe. Ich hoffe, irgendwann weiterzumachen, auch wenn ich jetzt noch nicht absehen kann, wann das sein wird.

Haltet eure Lieben fest.

 

Voller Dankbarkeit,

Hollis

Ms. Fox ringt nach Luft. Sie sucht im Internet nach Matthew, Ehemann von Hollis Shaw. Dass Hollis verheiratet ist, weiß sie wegen der Diamanten, auch wenn Hollis nie von ihrem Mann spricht. (Ms. Fox und einige andere wünschten sich, dass er präsenter wäre, wie zum Beispiel Ina Gartens Mann Jeffrey.) Wenn Ms. Fox sich einen Mann an Hollis’ Seite vorstellt, hat sie immer noch ihren Highschool-Freund Jack Finigan mit seinen süßen Grübchen vor Augen.

Am nächsten Morgen lesen wir alle den Nachruf im Nantucket Standard: Sommergast Dr. Matthew Madden bei Autounfall ums Leben gekommen. Es gibt auch Anzeigen im Boston Globe, Renommierter Chirurg des Massachusetts General Hospital und Harvard-Professor nahe Wellesley mit dem Auto verunglückt, und der New York Times, Dr. Matthew Madden, leitender Herzchirurg und international tätiger Dozent, im Alter von 55 Jahren verstorben.

Ms. Fox möchte Kontakt aufnehmen, und damit ist sie nicht allein. Innerhalb weniger Stunden drücken 17262 Pinnwandnachrichten Beileid aus, viele davon stammen von Menschen, die selbst jemanden verloren haben. Sie alle wollen Trost spenden … auch wenn ihre Motive nicht vollkommen selbstlos sind. Wann wird Hollis wieder auf ihrer Website aktiv sein? Zum Valentinstag? (Nein, zu früh.) Ostern vielleicht?

Wie unfair das Leben sein kann: Erst ist Hollis’ Mutter viel zu jung gestorben, jetzt auch noch ihr Mann. Wir fragen uns, ob Hollis den Sommer auf der Insel verbringen wird. Ob ihr danach zumute sein wird, Tennis zu spielen oder auf der Restaurant-Terrasse Rosé zu trinken? Eddie Pancik, unser ewig durstiger Immobilienmakler, fragt seine Schwester Barbie, ob es geschmacklos wäre, nachzufragen, ob Hollis das Haus in Squam verkaufen will.

»Ja, du Blödmann«, sagt Barbie.

Am 21. Juni, dem ersten Sommertag, vermeldet Romeo von der Steamship Authority, Hollis Shaw sei gerade in ihrem rostigen Volvo von der Fähre gerollt. Der Wagen ist vollgepackt mit Kisten und Taschen und einem Gerät, das durchs Fenster wie ein mobiler Pizzaofen aussieht. Hollis’ serbische Hirtenhündin Henrietta liegt schlafend auf dem Rücksitz. Sehr gut, Hollis, denken wir. In solchen Zeiten will man zu Hause sein.

In den nächsten Wochen wird sie nur sporadisch auf der Insel gesichtet. Sie geht nicht zum Lesefest, auch nicht zum jährlichen Hauseigentümertreffen der Squam Road. Lieferdienstfahrer Johnny Baylor berichtet, Hollis an einem Abend Sushi nach Hause geliefert zu haben und an einem anderen Hummerbrötchen. Hollis’ langjähriger Nachbar Kerri Gasperson sieht sie in der Abenddämmerung mit Henrietta Gassi gehen, aber Hollis hat ihre AirPods drin, und Kerri möchte sie nicht stören.

Wir wissen, dass man Zeit braucht, um einen Verlust zu verarbeiten. Wir gehen davon aus, dass Hollis den Sommer allein verbringen wird, mit Selbstfürsorge und der Trauer um den Mann, mit dem sie vierundzwanzig Jahre verheiratet war.

Aber als wir von der Sache mit dem Fünf-Sterne-Wochenende hören – so kreativ, so ungewöhnlich! –, da sind wir uns alle einig: Das könnte jetzt genau das Richtige für sie sein.

1.Unfallbericht I

Es ist früh am Morgen des fünfzehnten Dezember. In der Küche ihres Hauses in Wellesley bereitet Hollis Shaw den Teig für ihre Cheddar-Tartlets vor. Ihr Mann, Dr. Matthew Madden, nimmt den Zehn-Uhr-Flug nach Deutschland – er soll bei einer Kardiologenkonferenz in Leipzig einen Vortrag halten und wird fünf Tage weg sein.

Würde Hollis diese Eingangsszene in einem Video darstellen, wäre sie ein Sinnbild häuslichen Glücks. Sie trägt einen taillierten, rot karierten Pyjama und hat die Haare zurückgesteckt. Neben der Arbeitsplatte aus graugeädertem Marmor, auf der sie ihren Teig ausrollt, steht eine Schale Milchkaffee. Über das Soundsystem laufen Weihnachtslieder. The Holly and the Ivy mag Hollis am liebsten und singt mit. Die Küche ist weihnachtlich geschmückt: Tannenzweige winden sich um die verwitterten Holzbalken, und die Kupfertöpfe schimmern in den offenen Regalen. Es gibt einen Küchen-Weihnachtsbaum, den sie mit kulinarischem Schmuck behängt hat, einem kleinen Schneebesen, einem Nudelholz, einer Doughnut-Schachtel aus Porzellan. Vor dem Panoramafenster über der Spüle, in der Hollis das Geschirr abwäscht, sieht man die alten Eichen und Tannen im Garten. Der Ausblick ist wunderbar, ganz besonders heute Morgen, als Schneeflocken, so groß und fluffig wie Wattebäusche, langsam zu Boden sinken. Für Hollis gibt es nichts Schöneres als weiße Weihnachten.

Die Küchenuhr klingelt, und Hollis zieht ein Blech knusprigen Bacon aus dem Ofen. Wie magisch angezogen kommt ihre serbische Hirtenhündin Henrietta hereingeklingelt (Hollis hat ihr Glöckchen ans Halsband gebunden) und hebt die haarige Schnauze.

»Na gut.« Hollis gibt ihr ein Stück Bacon. Den Rest legt sie auf Küchenpapier neben die Quiche mit roter Paprika und geräuchertem Gouda, die sie am Morgen zubereitet hat. Sie schneidet ein Stück Quiche heraus und richtet es mit einigen Streifen Bacon an, kontrastiert durch das köstliche, überraschende Pink einer Cara-Cara-Orange.

Als sie Matthews Schritte auf der Treppe hört, schließt sie die Augen und atmet tief durch, um sich zu beruhigen.

Sag nichts, ermahnt sie sich. Lass ihn im Guten gehen.

Aber wenn sie ehrlich ist, ärgert Hollis diese Reise nach Leipzig. Die halbe Nacht lang hat sie sich darüber aufgeregt. Matthew hält seinen Vortrag morgen Vormittag, da könnte er problemlos rechtzeitig zu ihrer Weihnachtsparty am Samstag zurück sein. Seit sie nach Wellesley gezogen sind, richten Hollis und Matthew jedes Jahr so eine Vorweihnachtsfeier aus, und zwar immer am dritten Samstag im Dezember. Matthew behauptet, er habe gedacht, das wäre später, weshalb er bis zum Ende der Konferenz in Leipzig bleiben und anschließend seinen Mentor Dr. Emanuel Schrader in Berlin besuchen will, der nach einer Parkinson-Diagnose seit Kurzem nicht mehr als Chirurg praktizieren kann.

»Aber du darfst bei unserer Party nicht fehlen!«, hatte Hollis gesagt, als er ihr das mitteilte.

Matthew hatte geschmunzelt. »Wir sind uns wohl einig, dass das deine Party ist, Zuckerherz. Bei der ganzen vornehmen Wellesley-Prominenz wirst du kaum bemerken, dass ich nicht da bin.«

Er hatte das leichthin gesagt, aber Hollis war dennoch getroffen. Es stimmte, dass sie die Party jedes Jahr praktisch im Alleingang organisierte. Sie bereitete das Essen zu – die Cheddar-Tartlets, die Rinderfilet-Sandwiches, die Minikartoffeln mit Kaviar –, sie polierte die Champagnerflöten, hängte die Lichter in der Einfahrt auf, füllte Tütchen mit selbst gemachten Toffees, die die Gäste mit nach Hause nehmen konnten. Sie verschickte die Einladungen, und tatsächlich war ihre Gästeliste von Jahr zu Jahr länger geworden (bis auf das Jahr, in dem sie sich mit Electra Undergrove und deren Clique überworfen hatte).

Trotzdem kann sie sich nicht vorstellen, die Gäste an der Tür zu begrüßen, ohne Matthew an ihrer Seite zu haben. Es ist einfach undenkbar.

Aber offenbar nicht für ihn.

Jetzt kommt Matthew in die Küche. Er trägt einen Anzug, wie immer, wenn er fliegt, und dazu die rote Krawatte mit den schnellbootfahrenden Weihnachtsmännern drauf – die Hollis ihm für die Party gekauft hatte! Er summt das Weihnachtslied mit, das gerade läuft, Once in Royal David’s City, und streckt Hollis das rechte Handgelenk entgegen, damit sie ihm mit dem Manschettenknopf, einem silbernen Rentier, hilft. Er ist unübersehbar in Weihnachtsstimmung.

Hollis atmet den Duft seines Rasiergels ein, den sie liebt, weil er sie an romantische gemeinsame Abende erinnert und die (immer selteneren) Morgen, an denen sie in seinen Armen aufwacht.

Sie kann nicht glauben, dass er das wirklich durchzieht.

Sie möchte sagen: Hier, dein Frühstück, oder Warte, ich bringe dir deinen Kaffee – Matthew trinkt seinen Kaffee schwarz und brühend heiß, sie gießt ihn erst in den Becher, wenn ihr Mann direkt vor ihr steht. Doch stattdessen hört sie sich sagen: »Es wäre mir wirklich lieber, du würdest es dir noch mal überlegen.«

 

Als Matthew weg ist – deutlich später als geplant –, rollt Hollis den Teig zu einer Kugel, wickelt ihn in Frischhaltefolie und legt ihn in den Kühlschrank. Die Lust aufs Backen ist ihr vergangen. Matthew hat sein Frühstück nicht angerührt, doch statt den Teller mit Folie abzudecken und für später aufzubewahren – sie hasst Verschwendung, in dieser Hinsicht ist sie ganz Tom Shaws Tochter – kratzt sie das Essen in Hennys Futternapf. Dann reißt sie ein Stück Küchenpapier von der Rolle und tupft sich die Augen. Unglaublich, wie schnell ihr Gespräch zu einem Streit eskaliert ist.

»In letzter Zeit ist dir alles andere wichtiger als ich«, hatte sie gesagt. »Arbeit, Reisen und jetzt Dr. Schrader.«

»Er war mein Mentor, Hollis. Berlin liegt zwei Autostunden von Leipzig entfernt. Es wäre ein Affront, ihn unter diesen Umständen nicht zu besuchen.«

Statt ihm in diesem Punkt recht zu geben, warf sie ihm vor, er würde sich von ihr entfernen, seit Caroline zum studieren ausgezogen war. Sie hatte immer von einer romantischen Ehe geträumt, wie Matthews Eltern sie führten – die beiden schienen bis zum Ende ineinander verliebt gewesen zu sein.

Aber wann hatte es in ihrer Ehe zuletzt Romantik gegeben?, überlegt Hollis. Wenn Matthew seine Reise absagen würde, das wäre eine romantische Geste, aber dazu würde es nicht kommen. Das sah sie an der Anspannung in seinen Schultern und seinem Kiefer. Er konnte es kaum erwarten, aus der Tür zu kommen.

»Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind nur noch eine WG«, sagte Hollis. Fast hätte sie davon angefangen, wie lange sie schon nicht mehr miteinander geschlafen hatten, aber dafür war sie genauso verantwortlich wie er. Tagsüber war sie beschäftigt, und abends fiel sie völlig erschöpft ins Bett.

Matthew benutzte seinen Ärztetrick: Er sah aus, als würde er zuhören, wartete aber nur darauf, dass es vorbei war. Er räusperte sich und sah auf die Uhr. Während er seinen Trenchcoat und die ledernen Fahrhandschuhe anzog, tupfte sie sich die Tränen weg. Matthew ging in die Hocke, um Henny das Gesicht zu kraulen, dann nahm er Hollis fest in den Arm – immerhin etwas.

Kurz bevor er aus der Tür war, drehte er sich noch einmal um. »Du hast dich verändert«, sagte er seufzend. »Und unsere Beziehung hat sich verändert.« Dann trat er hinaus in den Schnee und schloss die Tür hinter sich.

Jetzt hallen die Worte in Hollis’ Ohren nach. Du hast dich verändert. Und unsere Beziehung hat sich verändert. Zu gern würde sie behaupten, keine Ahnung zu haben, was er damit meint – aber sie weiß es genau. Seit ihre Website so angesagt ist und sie die Chancen nutzt, die sich aus ihrer neuen Berühmtheit ergeben, ist sie ein anderer Mensch geworden. Ein Mensch, der kaum noch einen Augenblick erleben kann, ohne ihn für seine Newsletter-Abonnentinnen dokumentieren zu wollen. Ständig hat sie jetzt das Handy oder den Laptop oder beides vor der Nase. Ja, sie hat sich verändert, und vermutlich hat sich dadurch auch ihre Beziehung verändert. Aber Matthew muss doch verstehen, wie großartig es für sie ist, sich etwas Eigenes aufzubauen, nachdem sie zwanzig Jahre lang Ehefrau und Mutter war.

Sie ruft ihn an und will sich dafür entschuldigen, sich wie eine Elefantin im Porzellanladen verhalten zu haben, landet jedoch direkt auf seiner Mailbox. Sie probiert es gleich noch einmal – wieder die Mailbox. Sie wartet auf den Piep und sagt: »An meiner Liebe zu dir hat sich nichts geändert.«

Für den Fall, dass Matthew seine Mailbox nicht abhört (hört heutzutage überhaupt noch jemand seine Mailbox ab?), schickt sie ihm eine Nachricht: Ich liebe dich, Dr. M. Du bist mir wichtig. Unsere Beziehung ist mir wichtig.

Sie wartet ein paar Augenblicke, bekommt jedoch keine Antwort. Plötzlich ist es ihr ungeheuer wichtig, dass er sie sagen hört: Ich liebe dich. Du bist mir wichtig. Wieder versucht sie ihn anzurufen, und wieder landet sie auf der Mailbox.

Also gut, denkt sie. Er braucht Zeit, um sich abzuregen. Sie wird es später noch einmal versuchen, wenn sie davon ausgehen kann, dass er in der Lufthansa-Lounge sitzt. Aber die Aussage Unsere Beziehung hat sich verändert bereitet ihr Sorgen. Was wollte er damit sagen?

So zittrig und unsicher zu sein, sieht ihr gar nicht ähnlich. Alles wird gut. Sicher, Matthew verpasst die Party, aber zum Weihnachtsfest mit der Familie wird er längst zurück sein. Dr. Schrader hat Parkinson, natürlich sollte Matthew ihn besuchen.

Sie setzt sich an den Laptop und beschließt, für Silvester einen Tisch im Mistral zu reservieren. Sie werden ein Uber nehmen, damit sie so viel Champagner trinken können, wie sie wollen. Hollis wird sich ein neues Kleid kaufen: schwarz und sexy. Als Nächstes will sie ihre Website checken – ihre Followerinnen warten auf das Rezept für die Cheddar-Tartlets – doch stattdessen loggt sie sich bei Facebook ein. Ein paar Sekunden kämpft sie dagegen an, dann landet sie schließlich doch auf dem Profil ihres Highschool-Freundes Jack Finigan. Es gibt keine neuen Beiträge; Jack postet nur zwei oder drei Mal im Jahr etwas. Der letzte Post stammt aus dem Herbst: ein Foto von ihm, wie er an einem Seeufer, irgendwo im Westen von Massachusetts, eine Forelle hochhält. Seit vorletztem Sommer hat er keine Fotos mehr von seiner Langzeitfreundin Mindy gepostet. Hollis hatte das Naheliegende getan und versucht, Mindys Profil aufzurufen. Doch das ist auf privat gestellt, weshalb Hollis nur das Hintergrundfoto sehen kann, auf dem ein Quilt zu sehen ist, vermutlich selbst gemacht. Hollis weiß, dass das Stalking ist, aber es ist vollkommen harmlos, sie würde nie versuchen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Sie fragt sich, ob Jack – oder Mindy – von ihrem Blog Hollis hat Hunger gehört hat.

Das Klopfen an der Tür lässt sie wie ertappt zusammenfahren. Eilig schließt sie die Facebook-Seite und geht zur Tür. Das Flackern von blauen und roten Lichtern spiegelt sich auf dem Schnee im Vorgarten.

 

»Mrs. Madden?« Der Polizist ist jung, gerade mal ein paar Jahre älter als Caroline, und Hollis kann sich nicht vorstellen, was er will. Es ist so früh am Morgen, sie ist noch im Schlafanzug. Beinahe hätte sie ihn korrigiert: Ihr Nachname lautet Shaw, nicht Madden. Doch in diesem Moment begreift sie, dass er wegen Matthew hier sein muss – ist etwas mit Matthew?

»Ja?«, sagt sie.

Den genauen Wortlaut bekommt sie nicht mit, aber irgendwie versteht Hollis, dass es einen Unfall gegeben hat, eine Hirschkuh mit einem Kalb, sagt der Polizist. Matthew habe die Kontrolle über den Wagen verloren und sich auf der Dover Street überschlagen.

Auf der Dover Street fahren sie ständig, beinahe jeden Tag, schon seit Jahren, Jahrzehnten. Und ja, es laufen ständig Hirsche über die Dover Street.

»Ist er verletzt?«, fragt Hollis, und obwohl sich Panik in ihr ausbreitet, klingt ihre Stimme immer noch annähernd normal. Sie späht an der Schulter des Polizisten vorbei zum Streifenwagen. Sitzt Matthew auf der Rückbank? Wurde er ins Krankenhaus gebracht? Dann bemerkt sie den Blick des Polizisten. »Geht es ihm gut?«

»Er ist tot, Ma’am«, sagt der Polizist.

Plötzlich wälzt sich Hollis schreiend und weinend auf dem Boden. Es ist ihr egal, dass ein Fremder sie so sieht. Henny kommt und leckt ihr das Gesicht. Hollis hört die Klänge eines Lieds aus der Küche – Ding Dong, Merrily on High – und hält sich die Ohren zu. Der Polizist fragt, ob er jemanden für sie anrufen soll.

»Meinen Mann! Rufen Sie meinen Mann an!«, schreit sie. In diesem Moment scheint das noch möglich zu sein. Matthew ist Arzt, jemand, der die Dinge in Ordnung bringt. Er kann helfen. Nur er.

 

Statt einer Weihnachtsparty gibt es eine Beerdigung. Matthew wird auf dem Friedhof von St. Andrews neben seinen Eltern beigesetzt. Anschließend wartet ein Haus voller Menschen auf sie – Nachbarn aus Wellesley, Ärzte und Schwestern aus dem Krankenhaus, befreundete Mütter, einschließlich Brooke Kirtley, die vom Linden Store Sandwich-Platten liefern lässt und hinterher beim Aufräumen hilft. Wichtig ist Hollis einzig und allein Carolines Anwesenheit, aber ihre Beziehung ist angespannt. Caroline ist gefasst – im Gottesdienst trägt sie, ohne zu stocken, Nothing Gold Can Stay von Robert Frost vor. Vor den Leuten ist sie höflich zu Hollis. Doch sobald sie allein sind, stößt sie ihre Mutter fort. Sie fällt ihr ins Wort, um ihre Erinnerungen zu korrigieren, und kritisiert Hollis’ Entscheidung, den Leichenschmaus bei ihnen zu Hause abzuhalten. »Dad ist tot, und du gibst eine Party.«

»Es ist ein Leichenschmaus, keine Party«, sagt Hollis. »Das macht man so.« Sie weiß, dass es für Caroline die erste Beerdigung ist, und es bricht ihr das Herz.

»So machst du das«, sagt Caroline bitter. »Ich hab gehört, wie du Brooke gebeten hast, fünf Kilo Eis zu besorgen. Mein Vater ist tot, und du interessierst dich für Eis!«

Hollis ist sicher, dass alles besser wird, wenn die anderen gegangen sind, wenn Caroline und sie allein sind und in Ruhe miteinander reden können. Sie malt sich aus, wie sie sich zu zweit tagelang im Wohnzimmer verkriechen, Henny zu ihren Füßen, in Fotoalben blättern und zusammen weinen, vielleicht sogar lachen.

Aber es wird nur schlimmer. Caroline verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer. Abends geht sie mit ihrer Freundin aus und kommt lärmend und sturzbetrunken nach Hause, schwankt an Hollis vorbei, die meistens noch am Küchentisch sitzt und achtlos in Ausgaben von Bon Appétit und Food and Wine blättert. Solange Caroline nicht sicher zu Hause ist, kann sie nicht ins Bett gehen, und Schlaf findet sie ohnehin nicht.

»Hattest du einen schönen Abend, Liebes?«, fragt Hollis einmal.

»Einen schönen Abend?«, schnaubt Caroline höhnisch. »Nein, es war kein schöner Abend, Mutter.« Und damit stürmt sie die Treppe hinauf. Henrietta trottet ihr treu hinterher.

An einem der ersten Abende im neuen Jahr – nachdem sie die halbgegessenen Gerichte aus dem Kühlschrank entsorgt und den Weihnachtsschmuck abgenommen und in Kisten verpackt hat – macht Hollis sich daran, Matthews Sachen zu sortieren, seine Maßanzüge, seine Brille, den Stapel nie getragener Band-Shirts (Hootie and the Blowfish, Social Distortion, Dave Matthews).

Dabei wird sie von Caroline unterbrochen, die schroff fragt, warum Hollis die persönlichen Sachen ihres Vaters so dringend entsorgen möchte.

»Ich will nur …«

»Ihn loswerden? Ja, das sieht man. Wahrscheinlich brauchst du mehr Platz im Schrank für deine komischen Blusen. Wolltest du das echt ohne mich machen?«

»Ich dachte, das ist vielleicht zu schwer für dich«, sagt Hollis. »Ich wollte es dir ersparen.«

Caroline hebt das Hootie-T-Shirt auf. »Das willst du doch nicht etwa weggeben? Dad hat dieses T-Shirt geliebt.«

Hollis öffnet den Mund und will sich verteidigen, doch bevor sie etwas sagen kann, bekommt Caroline einen Wutanfall und wirft ihr vor, Matthew nicht genug zu lieben und nicht richtig um ihn zu trauern. »Du warst nicht mal mit ihm verwandt. Du wirst einen neuen Mann finden, aber ich werde nie, niemals einen anderen Vater haben!«

»Ich weiß, dass du leidest, Liebes«, sagt Hollis. Aber Caroline zufolge weiß sie es eben nicht. Sie weiß überhaupt nichts. Caroline läuft im Zimmer auf und ab wie ein wildes Tier im Käfig und sagt furchtbare Dinge – es fehlt nicht viel zu Ich wünschte, es hätte stattdessen dich getroffen. Aber in der wutschnaubenden Furie sieht Hollis das kleine Mädchen, für das gerade die Welt zusammengebrochen ist. Hollis sitzt auf dem Bett und redet sich gut zu: Ich warte ab, bis sich ihre Wut gelegt hat, ich bin die Erwachsene, ich bin ihre Mutter, es ist meine Aufgabe, das auszuhalten. Matthew und Caroline hatten sich nahegestanden, eine besondere Verbindung zueinander gehabt. Caroline war ein Papakind.

»Es tut mir leid, Liebes«, sagt Hollis. »Für mich ist es schwer, in einem Zimmer zu schlafen, das voll mit Dads Sachen ist … dieses T-Shirt zu sehen und zu wissen, dass er es nie wieder tragen wird.« Sie hält Carolins Blick stand. »Ich tue mein Bestes, um nicht zusammenzubrechen.«

Sie erwartet, dass Caroline ihr nach diesen Worten in die Arme fallen und sich entschuldigen wird, aber da liegt sie falsch. Mit einem »Immer geht es nur um dich!« stürmt Caroline aus dem Zimmer. Sie fährt drei Tage früher als geplant mit dem Schnellzug zurück nach New York, und Hollis bleibt allein und ratlos zurück.

 

Die Polizei von Wellesley schickt Hollis eine E-Mail mit dem offiziellen Unfallbericht, doch sie kann sich nicht dazu überwinden, ihn zu lesen. Sie will keine Einzelheiten darüber wissen, wie schnell Matthew gefahren ist oder wo auf der Dover Street er die Kontrolle über den Wagen verlor oder wie oft sich der Wagen um sich selbst drehte, bevor er sich überschlug. (Dass er sich überschlagen hat, weiß sie, das hat ihr der junge Polizist gesagt. Das ist das einzige Detail, das sie sich gemerkt hat – außer dem mit der Hirschkuh und dem Jungtier, denen Matthew ausgewichen ist und die er am Ende trotzdem totgefahren hat.) Wie gern würde Hollis diese E-Mail löschen und dann für immer aus dem Gelöscht-Ordner löschen – Matthew ist tot, die genauen Umstände spielen keine Rolle. Stattdessen verschiebt sie die Mail in einen Ordner mit der Bezeichnung MM, in dem sie allen Schriftverkehr in Verbindung mit Matthews Tod aufbewahrt.

Sie kocht nicht mehr. Sie isst kaum noch. Ihre Ärztin Karen Lindstrom schlägt vor, ihr für den Tag Ativan zu verschreiben und Ambien zum Schlafen. Aber Hollis will keine Tabletten. Hin und wieder gießt sie sich ein Glas Sancerre ein, doch das führt nur zu Erinnerungen, die sie vermeiden möchte: Du hast dich verändert. Und unsere Beziehung hat sich verändert. Das Klopfen an der Tür.

 

Freunde und Nachbarn sehen nach ihr. Was können sie tun? Die Antwort ist: »Nichts.« Trotzdem geben sie Ratschläge: Yoga, geführte Meditation, Trauerbegleitung, ätherische Öle, Reisen, ein Ashram, ein Medium, Stricken.

Stricken, wirklich?, denkt Hollis.

Die neue Kochgeschirr-Kollektion legt Hollis auf Eis, ebenso ihre Pläne für das Kochbuch und die Fernsehsendung. Wozu das alles noch?

Sie fragt sich, wie ihr Vater den plötzlichen Tod ihrer Mutter verkraftet hat. Wahrscheinlich hat er sich darauf konzentriert, für Hollis zu sorgen und zur Arbeit zu gehen. Seit sie ihn kannte, war er stets unerschütterlich und stoisch gewesen. Er konnte es sich nicht leisten, zusammenzubrechen.

 

Hollis meldet sich alle paar Tage bei Caroline, doch ihre Anrufe werden abgewiesen, und auf ihre Textnachrichten erhält sie immer dieselbe Antwort. Okay. Gerade genug, um Hollis wissen zu lassen, dass Caroline noch lebt.

Soll sie sich in den Zug nach New York setzen und Caroline zur Rede stellen? Soll sie die Anrufe und Textnachrichten einstellen? (Das käme ihr grausam vor, das Mädchen hat gerade ihren Vater verloren.) Soll sie aufhören, Carolines Kreditkartenabrechnungen zu bezahlen? (Damit würde sie garantiert ihre Aufmerksamkeit bekommen.) Hollis weiß, dass Kinder narzisstisch sind, und ihr ist bewusst, dass der präfrontale Kortex erst mit fünfundzwanzig voll entwickelt ist. Caroline trifft keine Schuld, sie wird noch erwachsen. Aber Hollis möchte am liebsten schreien: Du tust mir weh! Das hier wäre leichter durchzustehen, wenn wir zusammenhielten.

Hollis hat gelernt, Carolines Instagram-Posts weder zu liken noch zu kommentieren, aber sie ruft den Account ihrer Tochter mehrmals am Tag auf. Seit Matthews Tod gab es nur einen einzigen Beitrag, eine Story, in der Caroline ihrer besten Freundin Cygnet zum Geburtstag gratuliert. Hollis klickt sie immer wieder an, weil Caroline Kinderfotos von sich und Cygnet gepostet hat: die beiden Mädchen beim Zelten im Garten und mit den Pancake-Pops, die Caroline sich zu ihrem zehnten Geburtstag gewünscht hatte. Hollis legt den Finger aufs Display, damit das Bild nicht weggeht. Ich will wieder in diese Zeit zurück, denkt sie. Eine Zeit, in der Geburtstage mit Übernachtungspartys und einem besonderen Frühstück gefeiert wurden.

Es kommt ihr vor, als hätte sie nicht nur ihren Mann verloren, sondern auch ihre Tochter.

 

Ein wenig Linderung findet Hollis einzig darin, Nachrichten mit einer Frau namens Gigi Ling auszutauschen, die vor einigen Monaten über ihre Website Kontakt mit ihr aufgenommen hatte. Sie kennen sich nicht persönlich, doch durch Gigi hatte sie von Läden entlang des Buford Highways erfahren, in denen man die besten Dim Sum, Bulgogi und Tacos der Südstaaten bekam. Außerdem hatte Gigi ihr die Bücher Home Cooking und More Home Cooking von Laurie Colwin empfohlen, die Hollis inzwischen liebt.

Ja, Gigi Ling ist der Mensch in der Hollis hat Hunger-Gemeinde, den Hollis am liebsten mag, obwohl sie eigentlich findet, sie dürfte keine Lieblinge haben. (Ein alberner Gedanke, jeder hat seine Lieblinge, das ist nur menschlich.)

Eine Woche nach Matthews Tod hatte Gigi ihr eine Direktnachricht geschickt, in der nur ein einziger Satz stand: Ich bin da und höre zu. An diese Worte klammerte Hollis sich wie an einen Rettungsring, und ihr wurde bewusst, dass sie seit dem Posten der Bekanntmachung auf eine Nachricht von Gigi gewartet hatte.

Von da an schreiben sie sich mehrmals pro Woche. Hollis würde ihr gern täglich schreiben, will ihr aber nicht zur Last fallen. Normalerweise loggt sich Gigi dienstags, freitags und manchmal auch sonntagabends auf der Website ein. Wie war dein Tag? Wie geht es dir? Ich bin da. Ich bin da. Ich bin da.– Anfangs war es ein seltsames Gefühl, einer völlig Fremden zu schreiben, aber andererseits machen die Leute das auf Dating-Apps ständig, denkt Hollis – Tinder, Bumble, Hinge. Und schon nach kurzer Zeit ist es kaum noch seltsam, sondern befreiend. Fast ist es sogar leichter, sich einer Fremden anzuvertrauen.

Hollis erzählt auch sehr persönliche Dinge. Matthew und ich hatten kurz vor seinem Tod … Schwierigkeiten.

Inwiefern?, fragt Gigi nach.

Hollis berichtet ihr, dass Matthew und sie sich auseinandergelebt hatten. Einerseits das übliche Leeres-Nest-Syndrom, sagt sie. Caroline war nicht mehr da, um sie als Familie zusammenzuhalten. Und andererseits hatte die Welt Hollis’ Website entdeckt.

Gigi schreibt: Vermutlich fühlte er sich von deinem plötzlichen Erfolg bedroht.

Hat Matthew sich bedroht gefühlt?, überlegt Hollis. Bedroht ist nicht das richtige Wort, hier war schließlich vom allseits geschätzten Dr. Madden die Rede, aber aus irgendeinem Grund hatte Matthew Hollis’ Erfolg nicht rückhaltlos begeistert aufgenommen oder gar unterstützt. Er war davon … irritiert gewesen. Und manchmal genervt. Caroline und er hatten sich über die grenzenlose Anbetung ihrer Fans lustig gemacht. Hatte Matthew ihr je gesagt, er sei stolz auf ihre Leistung? Nein. Hatte er nicht.

Im Laufe der nächsten Monate werden Hollis und Gigi immer vertrauter miteinander, und an einem Tag Mitte Juni fühlt Hollis sich schließlich bereit, Gigi zu erzählen, was am Morgen von Matthews Tod vorgefallen war. Die Konferenz in Leipzig, Dr. Schraders Parkinsonerkrankung, die Weihnachtsparty.

Kurz bevor er das Haus verließ, habe ich ihn deswegen zur Rede gestellt, schreibt Hollis. Ich habe sein Fehlen bei der Weihnachtsparty schlimmer dargestellt, als nötig gewesen wäre. Daraufhin meinte er, ich hätte mich verändert und unsere Beziehung hätte sich verändert. Damals ist mir der Gedanke nicht gekommen, aber jetzt verfolgt er mich: Matthew wollte mich verlassen. Ich habe ihn angerufen, um mich zu entschuldigen, aber er nahm nicht ab. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen und eine WhatsApp geschickt, dass ich ihn liebe. Keine Ahnung, ob er die Nachricht abgehört oder die Nachricht gelesen hat. Was ich aber weiß, ist, dass er meinetwegen spät dran war. Er ist mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, weil er seinen Flug kriegen musste. Ich habe Schuldgefühle. Ich fühle mich … verantwortlich.

Sobald sie auf Senden geklickt hat, ist Hollis erleichtert. Aber plötzlich auch in Matthews Tod verwickelt. Sie hat den Gedanken in die Welt gesetzt, dass sie in geringfügiger oder sogar beträchtlicher Weise zu Matthews Tod beigetragen hat. Zum Glück hatte sie Gigi nicht erzählt, dass sie sich gerade auf Jack Finigans Facebookseite herumgetrieben hatte, als die Polizei an die Tür klopfte. Das wird sie Gigi nie erzählen. Das wird sie nie irgendjemandem erzählen.

Sie wartet auf Gigis Antwort, etwas wie: Sei nicht albern, Hollis, es war nicht deine Schuld. Es war ein Unfall. Die Straße war glatt, es hat geschneit, der Hirsch ist aus dem Nichts aufgetaucht. Doch das schreibt sie nicht. Volle zwei Tage lang erhält Hollis keine Antwort, nicht einmal die drei Punkte in der Sprechblase, die anzeigen, dass Gigi ihre Worte sorgfältig abwägt.

Hollis ist verletzt. Sie entwirft eine ganze Reihe von Nachrichten, um nachzufragen, was los ist. Geht es Gigi gut, hat dieses Eingeständnis sie entsetzt, wird es ihr zu viel? Aber letztendlich schickt Hollis keine davon ab, wahrscheinlich ist Gigi nur beschäftigt. Schließlich hat sie ein eigenes Leben – wobei, was weiß Hollis eigentlich über sie? Gigi ist dreiundvierzig, zehn Jahre jünger als sie selbst. Sie ist Single und hat keine Kinder. Sie hat eine Katze namens Mabel, sie lebt in Atlanta, arbeitet als Pilotin bei Delta Airlines und ist nicht auf Social Media. Von Hollis hat Hunger hat ihr eine Flugbegleiterin erzählt, die meinte, das würde sich lohnen – und damit habe sie recht gehabt. Solche Dinge hat Gigi Hollis explizit von sich erzählt. Was Hollis zwischen den Zeilen mitbekommen hat, ist, dass Gigi viel liest, kocht, aber auch gerne gut essen geht. Sie ist gebildet, kultiviert, anspruchsvoll. Aber in ihren Nachrichten war es stets nur um Hollis gegangen. Kein Wunder, dass Gigi abgetaucht ist. Wahrscheinlich hatte sie genug von dieser einseitigen Freundschaft.

Eine Woche vergeht ohne ein Wort von Gigi. Hollis sieht sogar auf der Hollis hat Hunger-Website nach, ob irgendwo in Atlanta ein Küchenlicht brennt. Ja, viele sogar, aber sie kann nicht erkennen, ob eines dieser Lichter zu Gigi gehört. Als Nächstes sieht Hollis nach, ob Gigi sich vom Newsletter abgemeldet hat – aber Gott sei Dank ist ihre Mailadresse noch da. Wahrscheinlich hat sie nur einen vollen Flugplan, oder ihr ist das Handy in den Pool gefallen, oder sie hat eine neue Beziehung, oder ihre Katze Mabel ist gestorben, oder ihr Vater in Singapur ist krank geworden. (Gigi hatte erwähnt, dass ihre Mutter früh gestorben ist, noch etwas, das sie gemeinsam haben.)

Hollis redet sich gut zu, Gigi wird sich schon wieder melden. Aber ohne Gigi verschlechtert sich Hollis’ seelischer Zustand – und dass Caroline ihr schreibt: Ach, übrigens, ich komme im Sommer nicht mit nach Nantucket. Hab das Praktikum bei Isaac Opoku gekriegt und bleibe in New York. Wohne zur Untermiete in der East 82nd, kostet 1800 im Monat. Danke, ist auch nicht hilfreich.

Hollis ruft Caroline sofort an, landet aber direkt auf der Mailbox. Sie hinterlässt eine überschwängliche Nachricht, von der sie weiß, dass Caroline sie nie abhören wird: »Bin so stolz auf dich, Liebes. Du hast so hart dafür gearbeitet – dein Vater wäre überglücklich! Brava!« Caroline hatte sich seit dem Herbst um dieses Praktikum bemüht. Um diese Chance, mit Isaac Opoku zu arbeiten, bewarben sich tausende angehende Filmschaffende.

Hollis hätte Caroline im Sommer lieber in ihrer Nähe gehabt, um ihre Beziehung zu kitten, doch sie ruft sich in Erinnerung, dass das Praktikum eine große Chance ist und wahrscheinlich genau das, was Caroline nach dem Verlust ihres Vaters braucht.

 

Am 21. Juni, dem Tag des Sommeranfangs, fährt Hollis nach Nantucket, das ihr eigentliches Zuhause ist. Sie ist sich sicher, dass alles besser wird, wenn sie erst wieder in ihrem Haus in der Squam Road ist. Der Tapetenwechsel, der Sommer und das Meer hinter dem Haus werden ihr guttun. Dann wird es ihr nichts mehr ausmachen, dass Gigi abgetaucht ist und Caroline und sie gefährlich kurz davor stehen, sich zu entfremden.

Doch wieder auf Nantucket zu sein, hilft ihr auch nicht, stellt sich heraus. Auf Nantucket trauert sie nämlich um eine andere Version von Matthew, den entspannten Sommerferien-Matthew.

 

Es ist Matthews und ihr zweiter Sommer in diesem soliden, eleganten Haus, von dem Hollis kaum glauben kann, dass es ihr gehört. Von so einem Anwesen hatte sie immer geträumt, als sie noch mit ihrem Vater in dem kleinen Häuschen wohnte, von dem sie stets fürchtete, es würde eines Tages vom Sturm weggetragen wie das im Zauberer von Oz. Geheizt wurde mit einem Holzofen, gegessen haben Hollis und ihr Vater an dem runden Küchentisch, von dem aus sie den Fernseher im Wohnzimmer im Blick hatten. Sie teilten sich ein Bad und hatten ein einziges Telefon. Im Winter ging Hollis mit dickem Pullover und Wollsocken ins Bett. Die Dusche brauchte fünf ganze Minuten, um warm zu werden, und man konnte sich darauf verlassen, dass Tom Shaw sich irgendwann vor der Tür räusperte, um Hollis mitzuteilen, sie solle sich jetzt bitte mal drunterstellen, kaltes Wasser hin oder her.

Hollis hatte als Babysitter bei den Gaspersons gejobbt, die ein Stück die Straße hinunter wohnten. Sie hatten neunzehn Zimmer, manche davon mit eigener Terrasse oder Balkon mit Meerblick. Im Keller gab es einen Raum mit Etagenbetten an den Wänden und im dritten Stock eine Schlafveranda. Die Gaspersons hatten keinen Fernseher. Waren die Eltern und Großeltern ausgegangen, spielten die Gasperson-Kinder Karten oder Brettspiele oder ordneten ihre Muschel- und Strandglassammlung neu. Sie liebten es, wenn Hollis ihnen bei Kerzenlicht Geistergeschichten erzählte. Hollis hätte auch umsonst für die Gaspersons gearbeitet. Sie wollte ein Teil dieser großen Familie sein. Es war ihr Traum, nur noch im Sommer in der Squam Road zu leben.

Und jetzt war dieser Traum wahr geworden.

Hollis und Matthew biegen in die dicht mit spanischen Olivenbäumen und Japanrosen gesäumte Straße ein. An den Gartenzäunen hängen handgemalte Schilder: Runter vom Gas, Fußgänger. In Hollis’ Kindheit war diese Straße so mit Furchen und Schlaglöchern übersät gewesen, dass man ohnehin nicht schneller als fünfzehn Stundenkilometer fahren konnte, doch jetzt bewertet der Nachbarschaftsverband die Straße jedes Jahr als so glatt wie die Seide einer Siegerschleife. Sie kommen an einem Paar in Nantucket-Reds-Hosen und Jack-Kennedy-Sonnenbrillen vorbei, das einen schokobraunen Labrador spazieren führt, dann an einer Frau mit Strohhut, die in ihrem Vorgarten Kosmeen und Schwarzäugige Susannen schneidet. Die würden sich wunderbar als Strauß neben der Spüle machen, denkt Hollis. Schließlich fahren sie die neue weiße Muscheleinfahrt hinauf, die zu beiden Seiten mit jungen Hortensienbüschen gesäumt ist. Die Büsche würden sich noch »füllen«, hat ihnen die Landschaftsgärtnerin Anastasia versprochen. Ihre sechsjährige Tochter Caroline ist gerade neben ihrem Irish Setter Seamus auf dem Rücksitz eingeschlafen.

Als Matthew das Auto vor dem Haus parkt – sie müssen noch einen Namen finden, alle richtigen Sommerhäuser haben Namen –, sagt er: »Lassen wir die beiden einen Moment hier, ich möchte dir etwas zeigen.«

»Aber …« Die Wagenfenster sind offen, Caroline und Seamus schnarchen unisono vor sich hin, warum also nicht?

»Vertrau mir, Zuckerherz«, sagt Matthew. »Es lohnt sich.«

Er führt Hollis ums Haus herum und öffnet das Tor am Pool (Hollis weiß, dass ihr Vater sich deswegen im Grabe umdrehen würde, aber sie hat sich so sehr einen Pool gewünscht), um in den hinteren Teil des Gartens mit dem Teich und dem Zugang zum Strand zu gelangen.

Hollis stockt der Atem. Der Teich – in ihrer Kindheit ein brackiger Tümpel voller Moskitos – ist … völlig neu erfunden worden. Das Wasser sieht aus wie grünes Glas und ist mit Seerosen übersät. Aber das wirklich Besondere ist die geschwungene kleine Brücke mit geflochtenen Handläufen, die sich über den Teich wölbt.

»Hast du das gemacht?«, fragt Hollis, und dann lacht sie – natürlich hat er das. Der Teich hat sich nicht von selbst gereinigt, und die Brücke ist nicht von Elfen erbaut worden.

»Weil du Giverny so geliebt hast«, sagt Matthew.

Claude Monets Garten in Giverny – oh ja, sie hatten eine Frankreichreise gemacht, als Hollis mit Caroline schwanger war, und da hatten es ihr die Brücken angetan. Im Souvenirshop hatte sie sich eines der Giverny-Gemälde als Kunstdruck gekauft. Unglaublich, dass Matthew sich daran erinnert. Dass er so aufmerksam war.

»Können wir … darübergehen?«, fragt Hollis.

Matthew reicht ihr die Hand.

 

Hollis ist in ihrer Trauer gefangen; sie isst nicht, sie schläft nicht. Sie knickt ein und bittet Dr. Lindstrom doch um ein Rezept für Ambien. Die Tabletten helfen ihr beim Einschlafen, aber um ein Uhr morgens ist sie wieder hellwach. Dann schlurft sie in die Küche und klappt ihren Laptop auf. Das Gesicht in blaues Licht getaucht, stürzt sie sich in den Kaninchenbau. Sie tippt: Was tun, wenn der Mann stirbt?, und die Ergebnisse werden angezeigt: Wie man mit dem Tod eines geliebten Menschen umgeht, Anleitung für ein Trauertagebuch, Sex and the Widow.

Sex and the Widow?, denkt sie. Ha, ha, als ob.

Sie liest hier einen Artikel an, da ein paar Sätze von einem anderen, nichts hilft, nichts hilft, nichts hilft! Sie geht auf Jack Finigans Facebookseite. Immer noch keine Bilder von Mindy, aber davon geht es Hollis auch nicht besser.

Sie fragt Caroline per Textnachricht, wie ihr das Praktikum gefällt.

Okay.

Und wie ist die Wohnung? (Für die ich bezahle, denkt Hollis, schreibt es aber nicht.)

Okay.

Geh doch bitte ans Telefon, wenn ich anrufe, Caroline.

Keine Antwort.

Dann, am 15. Juli, genau sieben Monate nach Matthews Tod, stößt Hollis auf etwas Überraschendes.

Auf einer Seite namens Motherlode (von der Hollis vorher noch nie gehört hat) liest sie etwas über Moira Sullivan (59), deren Mann nach dreißig Jahren Ehe eines Tages tot umgefallen war, als er im Baumarkt Körner für ihr Vogelhäuschen kaufen wollte.

Ich war am Ende, schreibt Moira. Ich brach völlig zusammen.

Ja, denkt Hollis.

Aber dann kam mir eine Idee, schreibt Moira. Sie organisierte ein Treffen mit ihren besten Freundinnen, eine aus jeder Phase ihres Lebens. Das Foto zum Artikel zeigt ein Grüppchen lächelnder Frauen mittleren Alters vor einem Strandhaus in Destin, Florida. Moira träg einen Strohhut. Sie steht ganz klar im Mittelpunkt, und ihre Freundinnen umringen sie wie Planeten, die um die Sonne kreisen.

Ich wollte von den Menschen umgeben sein, die mich am besten kannten, schreibt Moira, obwohl ich manche der Frauen seit Jahren nicht mehr gesehen oder gesprochen hatte. Obwohl unsere gemeinsame Basis geschrumpft war. Obwohl sich diese Frauen untereinander nicht gut kannten – wenn überhaupt. Ich wollte die Freundschaften feiern, die mich geformt hatten.

Also lud Moira ihre beste Freundin aus Teenagertagen ein (Cate), ihre beste Freundin aus ihren Zwanzigern (Paige), ihre beste Freundin aus der »Blüte des Lebens« (Phoebe) und ihre beste Freundin aus der Lebensmitte (Liz). Die fünf gingen zusammen zum Strand und lasen Der Gesang der Flusskrebse. Sie mieteten sich ein Hausboot und ließen sich weintrinkend über die smaragdgrünen Wasser von Destin treiben. Am ersten Abend kochten sie gemeinsam Lasagne, und dazu gab es reichlich Wein und eine besondere Playlist von Moira, zu der wir alle auf der Terrasse tanzten (schreibt Cate). Am zweiten Abend ließen sie es in einer Bar so richtig krachen (Phoebes Worte). Alle machten mit ihren iPhones Fotos, die sie in einer eigenen, geschlossenen Facebook-Gruppe teilten, und Moira erstellte ein Erinnerungsalbum auf Shutterfly. Der Titel des Albums hieß genauso wie der Artikel: »Das Fünf-Sterne-Wochenende«.

Was Hollis daran ansprach, war nicht nur die berührende Idee (»dein Leben in Freundinnen«), sondern auch der dafür erforderliche Mut: ein Wochenende mit vier Frauen, deren einzige Verbindung untereinander man selbst ist.

Hollis stellt sich vor, selbst so ein Wochenende zu organisieren.

Die beste Freundin aus ihrer Teenagerzeit: Tatum McKenzie.

Die beste Freundin aus ihren Zwanzigern: Dru-Ann Jones.

Die beste Freundin aus der Blüte ihres Lebens: Da wäre Electra Undergrove, aber sie und Hollis reden nicht mehr miteinander. Auf dem zweiten Platz folgt wohl Brooke Kirtley, die ihr nach Matthews Tod eine große Hilfe gewesen war.

Was ist mit der vierten Freundin, der aus der »Lebensmitte« (was jetzt ist, wie Hollis aufgeht)? Sie hat keine Freunde speziell aus diesem Zeitraum. Wie kann das sein? Wenn die Kinder erst einmal groß sind, lernt man nur noch schwer neue Leute kennen, zumal wenn man von zu Hause arbeitet. Da wäre die süße Zoe Kern aus Hollis’ Barre-Kurs, aber Zoe ist neunundzwanzig und im siebten Monat schwanger.

Aber dann wird Hollis bewusst, dass sie doch eine neue Freundin hat. Sie hat Gigi Ling.

 

Hollis lässt den Tab mit dem Artikel über das Fünf-Sterne-Wochenende im Browser geöffnet. Seltsam aufgekratzt läuft sie in ihrer Küche auf und ab, während sie überlegt, ihr eigenes Fünf-Sterne-Wochenende zu veranstalten. Ihr gefällt der schöne doppelte Wortsinn: die fünf Frauen einerseits und ein Wochenende voller herausragender Erfahrungen, die fünf Sterne verdienen, andererseits. (Wenn irgendjemand so etwas auf die Beine stellen kann, dann natürlich sie.) Aber der größte Reiz liegt für Hollis darin, die Freundschaften zu würdigen, die sie geformt haben.

Hollis ist nicht so naiv, zu glauben, dass das ein Kitschfilm wird, in dem ihre Schuldgefühle, ihre Traurigkeit und Einsamkeit wie durch Zauberhand verschwinden, sobald sie von ihren Freundinnen umringt ist.

Aber doch, eigentlich stellt sie sich das so ähnlich vor.

Alles andere hat nicht funktioniert.

Schaden kann es schließlich nicht. (Oder?)

Sie macht es, beschließt sie. Sie wird hier auf Nantucket ein Fünf-Sterne-Wochenende organisieren.

Sie klappt den Laptop zu und geht ins Bett. Zum ersten Mal seit Matthews Tod fällt ihr das Einschlafen leicht.

2.Die Einladung

Am nächsten Morgen schickt Hollis allen vier »Sternen« denselben Text: Hättest du vom 21. Bis 24. Juli Lust auf ein Mädels-Wochenende in meinem Haus auf Nantucket? Du brauchst nur zu kommen, um alles andere kümmere ich mich.

Brooke Kirtley antwortet als Erste: Oh, Hollis, das freut mich für dich! Bist du sicher, dass du dafür bereit bist? Wenn ja, bin ich auf JEDEN Fall dabei!

Die Nächste ist Dru-Ann: Steht das Datum fest? Bei mir geht’s gerade drunter und drüber.

Auch das ist keine Überraschung. Dru-Ann Jones, Hollis’ Mitbewohnerin an der Uni, ist die angesagteste Agentin für Sportlerinnen, die es derzeit gibt, und moderiert eine Fernsehsendung mit dem Titel Wirf wie ein Mädchen, die dienstagnachmittags ausgestrahlt wird. Außerdem schreibt sie für das New York-Magazin über Hautfarbe und Geschlechterpolitik im Sport.

Als Matthew starb, hielt sich Dru-Ann gerade in Freemantle in Australien auf, um eine Olympiaschwimmerin unter Vertrag zu nehmen. Sie fragte, wie sie helfen könne, und hätte doch tatsächlich alles stehen und liegen gelassen und wäre um die halbe Welt nach Boston geflogen. »Ich werde dich später brauchen«, sagte Hollis da. »Wenn die ganzen Leute hier wieder weg sind.«

»Ich vertraue darauf, dass du die Wahrheit sagst und nicht die Märtyrerin spielst«, hatte Dru-Ann erwidert. »Wenn du mich brauchst, bin ich da.«

Nach Matthews Tod hast du gefragt, was du für mich tun kannst, textet Hollis zurück. Du kannst das hier tun.

Sie erhält keine Antwort, und für einen Moment ist Hollis verzweifelt. Wenn nicht alle kommen, wird sie die ganze Sache absagen, aber Brooke wird dann trotzdem kommen wollen, und wird Hollis ein ganzes Wochenende allein mit Brooke durchstehen? (Nein.) Sie scheibt Dru-Ann eine weitere Nachricht: Ich habe einen Hometrainer. Und ich besorge deine Tequila-Marke. Und Bio-Limetten.

Den Tequila nehm ich gern. Aber um alles andere mach dir keine Gedanken, schreibt Dru-Ann. Ich werde da sein.

Das wären schon mal zwei, denkt Hollis. Bei dem Versuch, sich ein Wochenende nur mit Brooke und Dru-Ann vorzustellen, überkommt sie eine ganz andere Art von Panik. Dru-Ann und Brooke haben sich vor ein paar Jahren bei einem Brunch bei Hollis und Matthew kennengelernt – Dru-Ann war in der Stadt, weil gerade Marathon war und sie eine der Spitzenläuferinnen aus Kenia vertrat, und hatte Brooke anschließend als »das menschliche Äquivalent zu etwas, das einem zwischen den Zähnen steckt« beschrieben. »Nur nervig.« Brooke dagegen ist regelrecht besessen von Dru-Ann. Sie schaut jede Woche Wirf wie ein Mädchen und findet es wahnsinnig cool, dass Hollis mit jemandem studiert hat, der im Fernsehen ist und im letzten Jahr auf Platz 74 der Forbes-Liste der einflussreichsten Frauen stand.

Kurz darauf blinkt auf Hollis’ Handy eine Nachricht von ihrer besten Freundin aus ihrer Jugendzeit auf. Tatum McKenzie, die immer noch das ganze Jahr auf Nantucket lebt: Bedeutet Mädels-Wochenende, wir übernachten in deinem Haus in Squam?

Hollis antwortet: Ja! Das wird Lustig, meinst du nicht?

Okay, schreibt Tatum, was nicht direkt eine Antwort auf Hollis’ Frage ist. Aber es klingt nach einer Zusage, und Erleichterung überkommt Hollis. Seit sie und Matthew das neue Haus auf dem Grundstück ihres Vaters gebaut haben, hat sie Tatum jeden Sommer zum Abendessen eingeladen, und Tatum fand jeden Sommer eine andere Ausrede, warum sie nicht kommen konnte. Tatum war also noch nie in Hollis’ neuem Haus. Vor ein paar Jahren erhielt Hollis einmal aus heiterem Himmel eine Nachricht von Tatum: Kyle und ich haben einen Sonntagsausflug gemacht und sind bei eurem Haus in Squam gelandet. Wir haben in die Fenster geguckt, auf der Poolabdeckung getanzt und hatten Sex unter eurer Außendusche. (Nur Spaß). Du bist jetzt offiziell ein Sommergast, wie du es dir immer gewünscht hast. Dem folgte ein Emoji mit einer Träne.

Hollis wollte witzig sein und schrieb zurück: Natürlich hattet ihr Sex unter der Außendusche!

Tatums Antwort war ein Mittelfinger-Emoji.

Seitdem sind sich Hollis und Tatum ein paarmal über den Weg gelaufen – einmal in Dans Apotheke, einmal auf der Post, einmal in der St.-Mary’s-Kirche (wo sie früher beide Messdienerinnen gewesen waren) – aber wenn Hollis ehrlich ist, muss sie sich eingestehen, dass die Dinge zwischen Tatum und ihr nie wieder gut oder in Ordnung gewesen waren, seit sie zum Studium weggezogen war.

Von wegen Kitschfilm, denkt Hollis. Ihr Fünf-Sterne-Wochenende wird eher wie Real Housewives.

Aber drei von vier Sternen haben definitiv zugesagt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

 

Als die Nachmittagshitze etwas nachlässt, dreht Hollis mit Henrietta eine Runde, das Handy lässt sie zu Hause. Die Hortensienbüsche in der Auffahrt sind jetzt dicht grün, mit prächtigen Blüten, genau wie Anastasia es versprochen hatte, auch wenn Hollis diese Schönheit im Moment nicht angemessen würdigen kann.

Wenn ich zurück bin, denkt Hollis, wird Gigi sich gemeldet haben.

Aber das hat sie nicht. Die einzige neue Nachricht ist von Brooke: Ich bin schon so aufgeregt!!! hab die Fähre gebucht, komme Freitag um 16:05 an!! was kann ich mitbringen?!?!

Fast hätte Hollis Nur dich selbst, sonst nichts!! geantwortet, aber Brookes Textnachrichten sind wie eine chinesische Fingerfalle –, wenn man erst mal drin steckt, kommt man nur schwer wieder heraus. Brooke wird mit einem Herz oder doppeltem Ausrufezeichen auf ihre Nachricht reagieren (welcher Sadist hat sich diese Funktion ausgedacht?!) und dann eine Frage stellen, zum Beispiel Wie wärs mit Steakspitzen von Fells Market?, woraufhin sich Hollis zu einer Antwort verpflichtet fühlen wird, und dann wird Brooke diese Nachricht wieder liken oder markieren, und so wird es weitergehen, bis Hollis entnervt aufhören wird zu antworten, woraufhin Brooke eine Reihe von Herzchen- und Küsschen-Emojis schicken wird.

Hollis lässt Brookes Nachricht also unbeantwortet. Sie klickt Gigis Namen an, um nachzusehen, ob die Nachricht wirklich rausgegangen ist. Das Internet in Squam funktioniert nicht immer zuverlässig.

Ja. Zugestellt heute Morgen um 9:38 Uhr.

Gigi will offenbar nichts mehr mit ihr zu tun haben. Hollis weiß selbst nicht, warum sie das so belastet. Es ist nicht so, dass Gigi ihre Seelenverwandte wäre, Seelenverwandte lernt man nicht im Internet kennen. (Also, andere Menschen vielleicht schon, aber nicht Hollis).

Doch als Hollis am nächsten Tag aufwacht, ist die Antwort da, abgeschickt um drei Uhr fünfzehn: Ich fühle mich sehr geehrt, dabei sein zu dürfen. Bist du dir bei dieser Sache sicher?

Hollis starrt auf die Worte, blinzelt, liest sie noch einmal, vergewissert sich, dass die Nachricht wirklich von Gigi Ling stammt. Der Text klingt nach Gigi: freundlich und gütig. Hollis kann sich gerade noch verkneifen zurückzuschreiben: Wo bist du gewesen? Warum hast du mich geghostet?

Stattdessen tippt sie: Sehr sicher. Kann es nicht erwarten, dich in echt zu treffen!!! Dann löscht sie es wieder (mit den ganzen Ausrufezeichen klingt sie wie Brooke) und tippt: Sehr sicher. Freu mich auf das Treffen.

Sie drückt auf Senden.

3.Der Riss in der Fassade

Caroline Shaw-Madden erhält eine Textnachricht von ihrer Mutter, die sie am kommenden Wochenende auf Nantucket zu sehen wünscht.

Auf keinen Fall!, sagt Caroline zu sich. Doch dann denkt sie noch einmal darüber nach.

Seit siebzehn glutheißen, rauschhaften Tagen hat sie ein romantisches Verhältnis mit ihrem Chef, dem Oscarpreisträger Isaac Opoku.

Nie hätte sich Caroline träumen lassen, dass sich die Dinge mit Isaac in dieser Form entwickeln würden, nicht nur wegen des Altersunterschieds (vierzehn Jahre) oder des Machtgefälles (Caroline steht vor ihrem letzten Studienjahr an der Uni und hat bisher noch nicht mal einen Kurzfilm gedreht), sondern auch, weil Isaac in einer festen Beziehung ist. Seine Freundin Sofia Desmione ist Topmodel (Vogue, italienische Vogue, Valentino, Dolce & Gabbana) und lebt mit Isaac in einem Loft in Chelsea, das Isaac außerdem als Studio benutzt.

Aber … die meiste Zeit über ist sie nicht da. Sie ist entweder bei Shootings oder feiert bis zum Morgengrauen im Zero Bond. Isaac hingegen leidet unter sozialer Phobie. Eine von Carolines Aufgaben bestand darin, seine E-Mails durchzusehen und sämtliche Einladungen abzusagen. Von Anfang an hatte sie sich gewundert, warum die beiden zusammen waren. Sie hatte Sofia nur einmal zu Gesicht bekommen: In einem Kleid, das wie ein Müllsack aussah, und umgeben von einer Wolke aus Jo Malone und Tequila war sie hereingeweht, hatte Isaac einen Kuss auf die Stirn gegeben und ihm gesagt, sie habe einen Auftrag für Acne bekommen und werde die nächsten drei Wochen für ein Shooting in Stockholm sein. Sie fügte hinzu: »Gleich esse ich mit Mauricio im Cluny zu Mittag, dann saus ich los zum JFK. Gemma kommt nachher und packt meine Sachen. Hab dich lieb.«

Und Isaac hatte in seinem hinreißenden Ghanaer Akzent gesagt: »Hab dich auch lieb, ma chérie.«

Dann erst hatte sie Caroline bemerkt. »Eine neue Assistentin? Süß! Ich bin Sofia.« Sie hatte Caroline eine kühle Hand gereicht. »Bitte mach keine Schwierigkeiten.«

Vor Schreck wusste Caroline nichts zu erwidern. Bedeutete es das, was sie dachte? Hatte es mit anderen Assistentinnen »Schwierigkeiten« gegeben? Oder fand Sofia Caroline bedrohlich (was absurd wäre)? Als Caroline sich so weit gefangen hatte, dass sie sagen konnte: »Nein, natürlich nicht«, war Sofia bereits aus der Tür gewesen.

 

Theoretisch hilft Caroline Isaac beim Schneiden seiner Dokumentation L’Ètoile Verte. Sie handelt von Amira Delacroix, einer Köchin, die ihr unglaublich angesagtes Restaurant-Imperium in Paris aufgibt, um in der marokkanischen Wüstenstadt Ouarzazate ein elegantes französisches Bistro zu eröffnen. Dieses Helfen bedeutet allerdings hauptsächlich, dass Caroline Isaac seine Schinken-Käse-Ei-Sandwiches von der Bodega an der Ecke holt, seine Mails öffnet und auf einem Hocker neben ihm sitzt, während er ihr zeigt, wie man einen Film schneidet. Von Anfang an fand Caroline Isaac sanft, anziehend und freundlich. Er hatte sie für die banalen alltäglichen Arbeiten eingestellt, aber auch um der Gesellschaft willen. Außerdem möchte er sein Wissen an jemanden weitergeben, und Caroline saugt alles auf wie ein Schwamm. Doch eines Nachmittags, kurz nachdem Sofia nach Schweden abgereist ist, gab Caroline ihm das Drehbuch mit falsch angeordneten Seiten, und Isaac verlor die Geduld. »Ein Kindergarten-Bébé würde das hinkriegen, Caroline«, sagte er, »und du bringst es fertig, ein Chaos anzurichten!«

Caroline konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, und als sie erst angefangen hatte zu weinen, konnte sie nicht mehr aufhören. Es war nicht Isaacs Zurechtweisung, es war einfach alles, und mit alles meinte sie, dass ihr Vater tot war. Sie hatte Isaac nichts davon erzählt, weil sie keine Sonderbehandlung gewollt hatte. Mit Sicherheit hatten auch die neunhundertneunundneunzig anderen Studierenden, die sich auf diese Stelle beworben hatten, ihre Probleme, aber diese Probleme hatten im Studio nichts verloren.

Doch jetzt sagte sie: »Es tut mir leid. Mein Vater ist im Dezember unerwartet verstorben, und ich bin immer noch etwas labil.«

Sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn Isaac sie auf der Stelle gefeuert hätte, doch stattdessen stand er von seinem Computer auf, nahm sie an der Hand und führte sie zu dem Vintage-Sofa im Wohnbereich des Lofts. Er kochte ihr eine Tasse Yellow-Gold-Tee und stellte eine Auswahl an Cashews, türkischen Feigen und getrockneten Aprikosen von Kalustyan’s in der Lexington Avenue auf den Tisch. Dann erzählte er Caroline, dass er mit neun Jahren seine Mutter verloren habe und kein Tag vergehe, an dem er nicht um sie trauere.

In diesem Augenblick war er so süß zu ihr und seine Einsamkeit so offensichtlich (mit Sofia war er offensichtlich nur aus Image-Gründen zusammen), dass sie sich nicht beherrschen konnte. Sie schlug Sofias Bitte in den Wind und küsste ihn. Zu seiner Verteidigung sei erwähnt, dass er zurückwich und sagte: »Das ist nicht das, was du willst.« Was er damit meinte, war: Das wird nicht die Liebe deines Vaters ersetzen. Was er außerdem meinte, war: Ich bin in einer Machtposition, und deshalb wäre es dir gegenüber nicht fair. Solche Geschichten hat es schon gegeben, und sie sind nie gut ausgegangen.

Caroline hauchte an seinem Mund: »Das ist genau das, was ich will.« Und küsste ihn noch einmal.