Ein neuer Sommer - Elin Hilderbrand - E-Book
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Ein neuer Sommer E-Book

Elin Hilderbrand

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Beschreibung

Liebe, Sonne, Inselflair: Ein Sommerroman zum Verlieben!

Ein neuer Sommer bricht an auf Nantucket, und die Hochzeit von Celeste Otis und Benji Winbury ist das Event der Saison. Die wohlhabenden Winburys haben keine Kosten und Mühen gescheut, um ein unvergessliches Fest auszurichten. Unvergesslich bleibt der Tag tatsächlich, doch leider aus den falschen Gründen: Nur Stunden vor der Trauung wird Merritt, Celestes beste Freundin und Trauzeugin, tot aufgefunden. Bei der anschließenden polizeilichen Befragung der Hochzeitsgesellschaft stellt sich schnell heraus, dass jeder etwas zu verbergen hat. Kann Celestes und Benjis Liebe diese Tragödie überstehen?

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Seitenzahl: 576

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Buch

Ein neuer Sommer bricht an auf Nantucket, und die Hochzeit von Celeste Otis und Benji Winbury ist das Event der Saison. Die wohlhabenden Winburys haben keine Kosten und Mühen gescheut, um ein unvergessliches Fest auszurichten. Unvergesslich bleibt der Tag tatsächlich, doch leider aus den falschen Gründen: Nur Stunden vor der Trauung wird Merritt, Celestes beste Freundin und Ehren­dame, tot aufgefunden. Bei der anschließenden polizeilichen Befragung der Hochzeitsgesellschaft stellt sich schnell heraus, dass jeder etwas zu verbergen hat. Kann Celestes und Benjis Liebe diese Tragödie überstehen?

Weitere Informationen zu Elin Hilderbrand sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Elin Hilderbrand

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Perfect Couple« bei Little, Brown and Company in der Hachette Book Group, New York. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2019 Copyright © der Originalausgabe 2018 by Elin Hilderbrand Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic®, München Redaktion: Ann-Catherine Geuder AB · Herstellung: kw Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-24402-6V001 www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Chuck und Margie Marino.

So etwas wie ein perfektes Paar gibt es nicht, aber ihr kommt dem schon ziemlich nahe.

Für immer in Liebe

Samstag, 7. Juli 2018, 5:53 Uhr

DER CHIEF

Ein Anruf samstagmorgens kurz vor sechs ist nie ein gutes Zeichen, wenn auch an einem Feiertagswochenende durchaus keine Seltenheit. Zu oft schon hat Chief Ed Kapenash vom Police Department Nantucket erleben müssen, wie der 4. Juli aus dem Ruder läuft. Dass jemandem beim unsachgemäßen Anzünden von Feuerwerkskörpern ein Finger abgerissen wird, gehört zu den häufigsten Missgeschicken. Mitunter kommt es auch zu ernsteren Vorfällen. Einmal ist ein Schwimmer ein Opfer der Strömung geworden und ertrunken; in einem anderen Jahr wollte ein Mann nach dem Genuss von zehn Tequilas der Marke Patrón Añejo vom Dach des Allserve-Gebäudes aus einen Salto rückwärts springen und ist so unglücklich auf dem Wasser aufgekommen, dass er sich das Genick gebrochen hat. Mit der Anzahl randalierender Betrunkener ließe sich in der Regel ein Sightseeingbus füllen, und hinzu kommen Dutzende Schlägereien, einige davon so heftig, dass die Polizei einschreiten musste.

Als das Telefon klingelt, schlafen Andrea und die Kids noch tief und fest. Chloe und Finn sind sechzehn, ein Alter, in dem der Chief mit seinen eigenen Kindern, wie ihm nun klar wird, glimpflich davongekommen ist. Chloe und Finn – die eigentlich die Kinder von Andreas Cousine Tess und ihrem Mann Greg sind, die vor neun Jahren bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen sind – erweisen sich da als größere Herausforderung. Finn hat eine Freundin namens Lola Budd, und ihre junge Liebe stellt den Haushalt regelrecht auf den Kopf. Chloe, Finns Zwillingsschwester, jobbt den Sommer über für Siobhan Crispin bei Island Fare, dem gefragtesten Cateringservice auf Nantucket.

Der Chief und Andrea haben ihre Sorge um die Zwillinge säuberlich untereinander aufgeteilt. Andrea ängstigt sich darum, dass Finn Lola Budd schwängern könnte (obwohl der Chief dem Jungen, etwas verlegen, eine Riesenschachtel Kondome überreicht und ihm dabei streng eingeschärft hat: Benutz die. Jedes, wirklich jedes Mal). Der Chief sorgt sich, dass Chloe mit Drogen und Alkohol in Berührung kommt. Weil er immer und immer wieder gesehen hat, wie die Nahrungs- und Genussmittelindustrie ihre arglosen Angestellten in Versuchung führt. Auf der Insel Nantucket sind über einhundert Schanklizenzen vergeben; in anderen Städten vergleichbarer Größe in Massachusetts durchschnittlich zwölf. Als sommerliches Reiseziel herrscht auf der Insel eine frivole, exzessive Feierkultur. Zu den Pflichten des Chiefs zählt die alljährliche Ansprache zum Thema Drogenmissbrauch vor den Schülern der Highschool eine Woche vor dem Abschlussball; dieses Jahr gehörten auch Finn und Chloe zu den Zuhörern, und beide vermieden es hinterher, ihn auch nur anzusehen.

Er hat oft das Gefühl, zu alt zu sein für die enorme Verantwortung, Teenager großzuziehen. Und es übersteigt ganz sicher seine Fähigkeiten, sie zu beeindrucken.

Der Chief geht mit seinem Telefon nach draußen auf die hintere Terrasse, die nach Westen weist, in Richtung Feuchtschutzgebiete. Hier bleiben seine Gespräche absolut privat, nur die Rotflügelstärlinge und Feldmäuse bekommen etwas davon mit. Das Haus bietet eine wahrhaft großartige Aussicht auf Sonnenuntergänge, aber leider nicht aufs Wasser.

Der Anrufer ist Sergeant Dickson, einer der Besten im Police Department.

»Ed«, sagt er. »Wir haben eine Wasserleiche.«

Der Chief schließt die Augen. Dickson hatte dem Chief seinerzeit auch die Hiobsbotschaft mitgeteilt, dass Tess und Greg tot waren. Sergeant Dickson macht es nichts aus, schlechte Nachrichten zu überbringen; tatsächlich scheint er das sogar zu genießen.

»Ich höre«, sagt der Chief.

»Weiß, weiblich, Name Merritt Monaco. Neunundzwanzig Jahre alt, aus New York City, zu einer Hochzeit hier auf Nantucket angereist. Man hat sie mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibend aufgefunden, nicht weit vom Ufer, vor der Monomoy Road drei, drei, drei, wo die Hochzeit gefeiert wird. Anscheinend Tod durch Ertrinken. Roger Pelton hat angerufen und es gemeldet. Sie kennen doch Roger, den Typen, der die teuren Hochzeiten ausrichtet?«

»Ja«, bestätigt der Chief. Der Chief ist mit Roger Pelton zusammen im Rotary Club.

»Roger hat mir erklärt, dass es zu seiner Arbeitsweise gehört, gleich morgens immer am Ort der Feier nach dem Rechten zu sehen«, sagt Dickson. »Als er hinkam, hat er Schreie gehört. Wie sich herausstellte, zog die Braut gerade den Körper aus dem Wasser. Roger hat noch versucht, die junge Frau wiederzubeleben, aber sie war bereits tot, hat er gesagt. Wohl seit einigen Stunden schon, seiner Einschätzung nach.«

»Das zu bestimmen ist Sache der Rechtsmedizin«, sagt der Chief. »Monomoy Road drei, drei, drei, sagen Sie?«

»Es ist ein Anwesen«, sagt Dickson. »Das Haupthaus, zwei Gästecottages und ein Poolhaus. Summerland, so heißt das Anwesen.«

Summerland. Das Schild kennt der Chief vom Sehen, aber im Haus selbst ist er noch nie gewesen. Dieser Abschnitt der Monomoy Road ist ein exklusives Nobelviertel. Seine Anwohner haben in der Regel keine Probleme, die der Polizei bedürften. Die Häuser sind technisch aufwendig gesichert, und etwaige Vorfälle werden von den Anwohnern diskret unter Verschluss gehalten.

»Sind alle anderen schon verständigt?«, fragt der Chief. »Die State Police? Die Rechtsmedizin?«

»Jawohl«, sagt Dickson. »Der Grieche ist schon zu der Adresse unterwegs. Glücklicherweise war er gestern Abend auf der Insel. Aber Cash und Elsonhurst haben beide bis Montag Urlaub, und ich bin am Ende einer Doppelschicht, ich hab also keine Ahnung, wen Sie sonst noch hinzuziehen wollen. Die anderen Jungs sind noch ziemlich unerfahren …«

»Darüber mache ich mir später Gedanken«, sagt der Chief. »Hat das Mädchen Angehörige, die wir verständigen müssen?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Dickson. »Die Braut war so außer sich, dass ich die Rettungssanitäter angewiesen hab, sie ins Krankenhaus mitzunehmen. Sie brauchte eine Xanax zur Beruhigung, und zwar dringend. Hat kaum Luft bekommen und konnte erst recht nicht sprechen.«

»Die Zeitung darf nicht darüber berichten, bis wir die nächsten Angehörigen verständigt haben«, sagt der Chief. Das fehlte dem Chief gerade noch, dass Jordan Randolph vom Nantucket Standard an seinem Tatort herumschnüffelt. Der Chief kann es kaum fassen, dass er den Notruf auf dem Scanner nicht mitbekommen hat. Über die Jahre hat er einen verblüffenden Filter entwickelt, was den Scanner angeht; er weiß selbst im Schlaf was seine Aufmerksamkeit verdient und was er getrost überhören kann. Nun aber hat er es mit einer Leiche zu tun.

Von Gesetzes wegen müssen sie von Fremdeinwirkung ausgehen, obwohl Gewaltverbrechen hier auf Nantucket eine Seltenheit sind. Der Chief arbeitet seit fast dreißig Jahren auf dieser Insel, und in all dieser Zeit hatte er nur mit drei Morden zu tun. Einer für jedes Jahrzehnt.

Roger Pelton hat die Polizei verständigt. Dem Chief ist Rogers Name erst kürzlich zu Ohren gekommen. In den letzten paar Tagen, also wirklich erst vor Kurzem. Und ein Anwesen in Monomoy – auch das lässt es bei ihm klingeln. Aber warum?

Er hört ein leises Pochen am Fenster, und durch die Glasschiebetür erblickt er Andrea in ihrem Nachthemd, mit einer Tasse Kaffee, die sie in die Höhe hebt. In der Küche hinter ihr sieht er Chloe hantieren, in weißer Hemdbluse und schwarzer Hose, ihrer Cateringmontur.

Chloe ist schon auf?, denkt der Chief. So früh, um sechs Uhr morgens? Oder ist sie in der Nacht so spät nach Hause gekommen, dass sie in ihrer Kleidung eingeschlafen ist?

Ja, denkt er. Sie hat am Vorabend bei einem Probedinner gearbeitet. Dann macht es klick: Chloe hat ihm gestern erzählt, dass das Probedinner und die Hochzeit in Monomoy stattfänden und Roger die Hochzeit koordiniere. Es handelt sich um ein und dieselbe Hochzeit. Der Chief schüttelt den Kopf, obwohl er nur zu gut weiß, wie klein diese Insel ist.

»War die Frau auf dem Anwesen zu Gast, wo die Hochzeit heute stattfindet?«, fragt der Chief.

»Jawohl«, sagt Dickson. »Sie war die Ehrendame, Chief. Ich glaube nicht, dass heute eine Hochzeit stattfindet.«

Andrea, die dem Chief möglicherweise vom Gesicht abliest, was in ihm vorgeht, kommt auf die Terrasse hinaus, reicht Ed seinen Kaffee und verschwindet wieder ins Haus. Chloe ist nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich ist sie nach oben gegangen, um sich für die Arbeit frisch zu machen, die nun abgesagt wird. Neuigkeiten wie diese sprechen sich schnell herum; der Chief rechnet damit, dass Siobhan Crispin jeden Moment anruft.

Was hat Chloe noch über diese Hochzeit erzählt? Eine der Familien ist britisch, die Mutter irgendwie berühmt – eine Schauspielerin? Theaterschauspielerin? Bühnenautorin? Irgend so was.

Der Chief trinkt seinen ersten Schluck Kaffee. »Sie sind noch vor Ort, richtig, Dickson? Haben Sie, außer mit der Braut und Roger, noch mit irgendwem sonst gesprochen?«

»Ja, mit dem Bräutigam«, sagt Dickson. »Er wollte mit der Braut ins Krankenhaus. Erst aber ist er in eins der Gästecottages gelaufen, um sein Handy und seine Geldbörse zu holen. Als er wieder rauskam, sagte er, der Trauzeuge sei verschwunden.«

»Verschwunden?«, wiederholt der Chief. »Kann es sein, dass wir es mit gleich zwei Toten zu tun haben?«

»Ich hab das Wasser abgesucht, unten am Strand, und jeweils einige Hundert Meter in beide Richtungen, per Fernglas«, sagt Dickson. »Und hab nichts entdeckt. Aber zu diesem Zeitpunkt würde ich sagen, alles ist möglich.«

»Sagen Sie dem Griechen, er soll bitte auf mich warten«, sagt der Chief. »Ich bin unterwegs.«

Freitag, 6. Juli 2018, 9:15 Uhr

GREER

Greer Garrison Winbury hält sehr auf Tradition, Protokoll und Benimm – anlässlich der Hochzeit ihres jüngeren Sohnes aber wirft sie all das gern über Bord. Üblicherweise ist es Brauch, dass die Eltern der Braut die Vermählung ihrer Tochter ausrichten und bezahlen, doch wenn dies bei Benji und Celeste der Fall wäre, würde die Hochzeit in einer zur Kirche umfunktionierten Shoppingmall stattfinden, mit einer anschließenden Feier in einem TGI Fridays.

Du bist so entsetzlich snobistisch, sagt ihr Mann Jeffrey gern. Was leider zutrifft, fürchtet Greer. Im Fall von Benjis Hochzeit jedoch musste sie einfach einschreiten. Was hatte sie nicht ertragen müssen, als Thomas sich mit Abigail Freeman verheiratet hat: eine texanische Hochzeit im Zeichen von Mr Freemans Ölvermögen, mit allem Prunk und groteskem Protz. Dreihundert Gäste hatten an der »Willkommensparty« im Salt Lick BBQ teilgenommen – Greer hatte gehofft, niemals im Leben einen Fuß in ein Lokal namens Salt Lick BBQ setzen zu müssen –, für die der vorgeschlagene Dresscode »zwanglos à la Hill Country« lautete; und als Greer sich bei Thomas erkundigte, was das um alles in der Welt bedeuten könnte, hatte er gesagt: Trag Jeans, Mom.

Zur Hochzeitsfeier ihres älteren Sohnes Jeans tragen? Greer hatte sich für eine elfenbeinfarbene Schlabberhose und Pumps von Ferragamo entschieden. Elfenbeinfarben hatte sich als unglückliche Wahl entpuppt, da von den Gästen dieser Willkommensparty erwartet wurde, ihre Schweinsrippchen mit bloßen Händen zu essen. Spitze Freudenschreie waren aufgebrandet, als ein Countrysänger namens George Strait, den alle nur den »King of Country« nannten, zu einem Überraschungsauftritt erschien. Greer vermag sich immer noch nicht vorzustellen, wie viel es Mr Freeman gekostet haben mochte, den King of Country zu engagieren – und das für einen Anlass, der noch nicht mal Teil der eigentlichen Hochzeitsfeierlichkeiten war.

Während Greer hinter dem Steuer des Land Rover Defender 90 (den Jeffrey hat umbauen und aus England einführen lassen) sitzt, um Celestes Eltern, Bruce und Karen Otis, von der Hy-Line-Fähre abzuholen, hört sie Radio und singt mit. Es läuft gerade »Hooked on a Feeling« von B. J. Thomas.

An diesem Wochenende ist Greer nicht nur die Mutter des Bräutigams, sondern bekleidet praktisch auch die Rolle der Brautmutter, da sie alle Organisationsfäden in der Hand hält. Sie hat keinerlei Widerspruch erfahren, von niemandem, auch nicht von Celeste; das Mädel reagiert auf alle Vorschläge von Greer mit der immer selben SMS: Klingt gut. (Greer verabscheut diese Kommunikation per Kurznachricht, aber im Umgang mit Millennials muss man sich notgedrungen anpassen; ein normales Telefonat zu erwarten wäre schlicht altmodisch.) Greer muss zugeben, dass sie sehr viel weniger Schwierigkeiten als befürchtet gehabt hat, ihre Vorstellungen bezüglich des Farbkonzepts, der Einladungen, der Blumen und des Caterers durchzusetzen. Es ist, als wäre dies ihre eigene Hochzeit, zweiunddreißig Jahre später … abzüglich ihrer herrischen Mutter und Großmutter, die auf einem Empfang in der brütenden Nachmittagshitze im Garten von Swallowcroft bestanden, und abzüglich eines Verlobten, der am Abend vor der Hochzeit unbedingt noch Junggesellenabschied feiern musste. Jeffrey war um sieben Uhr morgens nach Hause gekommen, eingehüllt in eine Wolke aus Whisky und Chanel No. 9. Als Greer in Tränen ausgebrochen war und zu wissen verlangt hatte, ob er die Frechheit besessen hätte, am Vorabend seiner Hochzeit mit einer anderen zu schlafen, hatte ihre Mutter sie beiseitegenommen und ihr erklärt, die wichtigste Fähigkeit in einer Ehe bestehe darin zu entscheiden, wann sich ein Kampf lohnt und wann nicht.

Geh vorher auf Nummer sicher, dass du dabei gewinnen kannst, hatte ihre Mutter gesagt.

Greer hat versucht, weiter auf der Hut zu bleiben bezüglich Jeffreys ehelicher Treue, was allerdings keine leichte Aufgabe ist bei einem Mann mit der Ausstrahlung ihres Gatten. Handfeste Beweise für irgendwelche Fehltritte hat sie nie gefunden, in Verdacht aber hatte sie ihn immer wieder. Auch aktuell gibt es eine Kandidatin, die ihren Argwohn weckt, eine gewisse Featherleigh Dale, die in wenigen Stunden, von London aus kommend, auf Nantucket eintreffen wird. Falls Featherleigh so töricht und leichtsinnig sein sollte, den filigranen Silberring mit den rosaroten, gelben und blauen Saphiren zu tragen – Greer weiß genau, wie der Ring aussieht, weil Jessica Hicks, die Juwelierin, ihr ein Bild gezeigt hat! –, dann wird sich Greers dunkle Vorahnung bestätigen.

Auf der Union Street gerät Greer in dichten Verkehr. Sie hätte früher losfahren sollen; sie darf sich bei den Otisens nicht verspäten. Greer trifft Celestes Eltern heute zum ersten Mal, und sie möchte einen guten Eindruck machen; auf keinen Fall sollen sie bei ihrem ersten Besuch auf der Insel verloren auf dem Straight Wharf umherirren, nur weil Greer es nicht rechtzeitig geschafft hat. Greer hatte anfangs ihre Bedenken, eine Hochzeit so unmittelbar nach dem 4. Juli auszurichten, aber es war das einzige Wochenende, das während der Sommermonate in Betracht kam, und bis zum Herbst aufschieben konnten sie es aus Rücksicht auf Celestes Mutter nicht. Karen leidet an Brustkrebs im Endstadium. Niemand weiß, wie lange sie noch zu leben hat.

Das Lied geht zu Ende, der Verkehr kommt zum Stillstand, und das ungute Vorgefühl, das Greer bis jetzt mit Erfolg hat verdrängen können, hängt plötzlich im Wagen wie ein übler Geruch. Beunruhigen lässt sich Greer in der Regel nur von zweierlei: von ihrem Mann und ihrem Schreiben, und die Sache mit dem Schreiben löst sich am Ende immer (wenn man einmal die sinkenden Absatzzahlen außer Acht lässt; aber Greer hat schließlich bloß die Aufgabe, die Krimis zu schreiben, mit dem Verkauf hat sie nichts zu tun). Jetzt aber meldet sich wieder diese gewisse Unruhe … nun, wenn sie die Ursache ihrer Beunruhigung benennen sollte, würde sie sagen, es ist Celeste. Die Leichtigkeit, mit der Greer die Kontrolle über diese Hochzeit hat übernehmen können, erscheint ihr mit einem Mal suspekt. Wie Greers Mutter immer zu sagen pflegte: Wenn man denkt, das ist zu schön, um wahr zu sein, liegt man in der Regel goldrichtig.

Es ist, als würde Celeste rein gar nichts auf die Hochzeit geben. Keinen Pfifferling. Wie hatte Greer diese Möglichkeit vier Monate lang außer Acht lassen können? Sie hatte es sich so erklärt, dass Celeste sich (klugerweise) Greers erstklassigem Geschmack beugte beziehungsweise blindes Vertrauen in sie setzte. Oder dass es Celeste, der Krankheit ihrer Mutter wegen, auf eine möglichst reibungslose Planung der Hochzeit ankam.

Jetzt aber rücken andere Faktoren in den Blick, wie etwa das Stottern, das Celeste auf einmal entwickelt hat, kurze Zeit nach Festlegung des Termins. Anfangs manifestierte sich das Stottern darin, dass Celeste lediglich gewisse Wörter oder kurze Wendungen wiederholte, inzwischen aber ist es eine richtige Sprechhemmung geworden – Celeste stolpert über ihre Rs und Ms und Ps, bis sie hochrot anläuft.

Greer hat Benji gefragt, ob das Stottern Celeste bei der Arbeit irgendwie Probleme bereite. Celeste ist stellvertretende Direktorin im Bronx Zoo und muss in dieser Eigenschaft gelegentlich auch Vorträge vor Besuchern halten – unter der Woche hauptsächlich Schülergruppen und an den Wochenenden ausländische Touristen –, sie muss also langsam und deutlich reden. Bei der Arbeit, lautete Benjis Antwort, gerate Celeste nur selten ins Stottern. Meistens passiere ihr das nur zu Hause und bei geselligen Anlässen.

Das hat Greer zu denken gegeben. Mit achtundzwanzig ein Stottern zu entwickeln, das könnte darauf zurückzuführen sein, dass … ja, worauf? Auf irgendetwas deutete es hin, so viel stand fest. Greer hat das Detail umgehend in den Roman einfließen lassen, an dem sie gerade arbeitet: Der Mörder entwickelt infolge seiner Schuldgefühle ein Stottern, was die Aufmerksamkeit von Miss Dolly Hardaway erregt, dem ältlichen Fräulein, das als Detektivin im Mittelpunkt aller einundzwanzig Kriminalromane steht, die Greer bisher verfasst hat. In der Hinsicht kommt Greer, die die Neigung hat, jede neue Begegnung und Erfahrung für ihre Romane auszuschlachten, das Stottern ganz gelegen. Aber wie geht es Celeste damit? Was ist da eigentlich los? Greer kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass das Stottern irgendwie mit Celestes bevorstehender Heirat mit Benji zusammenhängt.

Zum weiteren Nachdenken bleibt keine Zeit, denn der Verkehr setzt sich unvermittelt wieder in Bewegung. Greer kommt nicht nur zügig in die Stadt, sondern findet auch einen Parkplatz direkt vor dem Fähranleger. Sie ist sogar zwei Minuten zu früh. Was für ein Riesenglück! Ihre Zweifel verflüchtigen sich wieder. Diese Hochzeit, diese Vereinigung zweier Familien am festlichsten aller Sommerwochenenden, steht unter einem guten Stern, gar keine Frage.

KAREN

Von ferne betrachtet ist Nantucket Island alles, was Karen Otis sich davon erträumt hat: stilvoll, charmant, nautisch, klassisch. Die Fähre steuert in eine Steinmole, und Karen drückt Bruce die Hand, zum Zeichen, dass sie nun gern aufstehen und die wenigen Meter zur Reling gehen würde. Bruce legt ihr den Arm um den Rücken und hilft ihr behutsam aus dem Rollstuhl auf. Er ist kein imposanter Mann, aber er ist stark. 1984 hat er den Meistertitel im Ringen im Staat Pennsylvania errungen, in der Gewichtsklasse bis 65 Kilo. Das erste Mal gesehen hatte Karen ihn in der Schwimmhalle der Easton Area High School. Sie schwamm die Butterflystrecke in der Lagenstaffel der Schule, die regelmäßig mittags trainierte, und als sie aus dem Becken kletterte, erspähte sie Bruce, der in einem Jogginganzug oben auf der Zuschauertribüne saß und eine Orange in seinen Händen betrachtete.

»Was macht der Typ da?«, hatte Karen laut nachgedacht.

»Das ist Bruce Otis«, hatte Tracy gesagt, die Rückenschwimmerin. »Er ist Kapitän der Ringermannschaft. Die haben heute Nachmittag einen Wettkampf, und er versucht, Gewicht zu machen.«

Karen hatte sich ein Badetuch um die Taille gewickelt und war die Tribüne hochgestiegen, um sich vorzustellen. Sie war schon als Zehntklässlerin gut entwickelt gewesen und war sich ziemlich sicher, dass ihr Anblick im Badeanzug Bruce Otis mit Erfolg von seiner Orange und dem Gewichtmachen und allem anderen ablenken würde.

Bruce hält und stützt Karen, und so nähern sie sich gemeinsam der Reling. Die Leute, denen sie entgegenkommen, registrieren das Tuch, das Karen um den Kopf gewickelt trägt – eine Perücke zu tragen, das bringt sie nicht über sich –, und treten höflich etwas beiseite, um ihnen Platz zu machen.

Karen hält sich mit beiden Händen an der Reling fest. Selbst das kostet sie Mühe, aber sie möchte bei ihrer Ankunft gute Sicht haben. Die Häuser, die längs am Wasser stehen, sind alle riesig, zehnmal so groß wie Karens und Bruce’ einstöckiges Ranchhaus an der Derhammer Street in Forks Township, Pennsylvania, und diese Häuser sind alle grau in grau mit Zedernschindeln verkleidet, abgesetzt mit schmucker weißer Holzrahmung. Manche der Häuser haben geschwungene Veranden; manche auch Veranden, die kunstvoll schräg übereinandergestapelt sind wie die Quader bei einem Jenga-Spiel. Manche haben sanft gewellte Vorgärten mit saftig grünem Rasen bis hinunter zu den Steinmauern vor einem schmalen Strandstreifen. Vor jedem Haus weht die amerikanische Flagge, und alle sind tadellos gepflegt; nicht eines in der Reihe ist schmuddelig oder verwahrlost.

Geld, denkt Karen. Wo kommt all das Geld her? Sie weiß natürlich, dass sich Glück mit Geld nicht kaufen lässt – und schon gar keine Gesundheit –, aber es ist trotzdem interessant, darüber nachzusinnen, wie schwerreich die Eigentümer dieser Häuser sein müssen. Zunächst einmal handelt es sich hier um Ferienhäuser, man muss also den Hauptwohnsitz dazurechnen – ein Stadthaus in Manhattan oder eine Backsteinvilla in Georgetown, ein Anwesen an der noblen Main Line in Philadelphia oder eine Pferdefarm in Virginia – und dann den Preis einer Strandimmobilie hier auf dieser prestigeträchtigen Insel mit einkalkulieren. Als Nächstes lässt Karen die Einrichtung Revue passieren, mit der diese Häuser ausgestattet sein dürften: die Teppiche, die Sofas, die Tische und Stühle, die Lampen, die Designerbetten, die Bettwäsche aus feinstem belgischem Leinen, die Dekokissen, die Whirlpools, die Duftkerzen neben den Whirlpools. (Celeste hat Karen über die Welt jenseits handelsüblicher Duftkerzen von Yankee Candle aufgeklärt; anscheinend gibt es tatsächlich Kerzen, die über vierhundert Dollar kosten. Eine solche Kerze hat Abby, Celestes künftige Schwägerin, ihr zur Verlobung geschenkt, und als Celeste ihr erzählt hat, dass eine Pinien-und-Eukalyptus-Kerze von Jo Malone nicht weniger als 470 Dollar kostet, hat Karen nur ungläubig aufgelacht. Das war beinahe so viel, wie Bruce damals für sein erstes Auto hingeblättert hatte, einen Chevy Nova, Baujahr 1969!)

Dann ist natürlich noch das Personal zu berücksichtigen: Gärtner, Reinigungskräfte, Hausmeister, Nannys für die Kinder. Da ist der Fuhrpark – Range Rovers, Jaguars, BMWs. Es dürfte Segeln und Tennisstunden geben, Seersucker-Kleider mit Monogramm, Haarbänder aus grob gerippter Seide, jede Saison ein neues Paar Bootsschuhe. Und was ist mit dem Essen, das in solchen Häusern serviert werden wird? Schalen mit Pfirsichen und Pflaumen, Körbchen voller Erdbeeren und Blaubeeren, frisch gebackenes Brot, Quinoa-Salat, reife Avocados, Eier vom Biobauern, mit Fett marmorierte Steaks und dampfende dunkelrote Hummer. Und Butter. Bergeweise Butter.

Karen kalkuliert auch all den faden Kram mit ein, über den niemand gern nachdenkt: Versicherung, Steuern, Strom, Kabelfernsehen, Anwälte.

Diese Familien, entscheidet Karen, dürften jeweils fünfzig Millionen Dollar schwer sein. Mindestens. Und wie verdient jemand, egal wer, so viel Geld? Sie würde ja Bruce fragen, möchte ihn aber nicht in Verlegenheit bringen. Oder besser gesagt, in noch größere Verlegenheit; dass Geld für ihn ein heikles Thema ist, weiß sie schließlich – weil sie selbst keines haben. Trotzdem wird Bruce, davon ist Karen überzeugt, der bestgekleidete Mann auf der Hochzeit sein. Bruce arbeitet in der Anzugabteilung von Neiman Marcus in der King of Prussia Mall. Er erhält dreißig Prozent Rabatt auf alle Kleidungsstücke, kostenlose Änderungen inbegriffen. Da er es geschafft hat, seine alte Ringerfigur zu halten – muskulöse Schultern, schmale Taille (von Bierbauch bei ihm keine Spur!) –, gibt er eine entsprechend attraktive Erscheinung ab. Wenn er nur fünf Zentimeter größer wäre, hat ihm der Vizepräsident des Kaufhauses mal gesagt, könnte er glatt als Model arbeiten.

Bruce liebt modische Kleidung, fast wie eine Frau. Wenn er etwas Neues mit nach Hause bringt (was ziemlich oft vorkommt und Karen früher immer Rätsel aufgab, weil sie für so was eigentlich kein Geld übrig haben und sich auch keine Anlässe leisten können, bei denen er die Sachen tragen könnte), liefert er Karen gern eine kleine Modenschau. Sie sitzt auf der Bettkante – in letzter Zeit liegt sie allerdings im Bett – und wartet, während Bruce sich im Badezimmer umzieht. Wenn er dann zum Vorschein kommt und mit einer Hand an der Hüfte übertrieben durch den Raum stolziert, als befände er sich auf einem Laufsteg, muss Karen jedes Mal herzlich lachen. Inzwischen hat sie begriffen, warum er sich ständig neue Anzüge, Hemden, Krawatten, Hosen und Socken zulegt – um ihr, Karen, eine Freude zu bereiten.

Und weil er gern gut aussieht. Heute, für ihre Ankunft, trägt er zu einer gebügelten schwarzen Jeans von G-Star ein schwarz-türkises Paisleyhemd von Robert Graham mit kontrastierenden grasgrünen Manschetten, dazu Socken mit Zebramuster und schwarze Wildlederloafer von Gucci. In der Sonne ist es sehr warm. Selbst Karen, die wegen der Chemo nun ständig friert, ist warm. Bruce muss umkommen vor Hitze.

Ein mit dem Sternenbanner geschmückter Leuchtturm gelangt ins Blickfeld, und dann sieht Karen zwei Kirchtürme, der eine spitz und ganz in Weiß, der andere ein Uhrenturm, gekrönt von einer goldenen Kuppel. Im Hafen liegen Schiffe aller Art vor Anker – Segelboote, Motorjachten mit gestaffelten Thunfischtürmen, Schnellboote, Kabinenkreuzer.

»Es sieht aus wie eine Filmkulisse«, sagt Karen, aber ihre Worte werden vom Seewind davongetragen, und Bruce kann sie nicht hören. Seiner Miene nach zu urteilen ist er von dem Anblick ebenso hingerissen wie sie. Vermutlich denkt er gerade, dass sie das letzte Mal vor zweiunddreißig Jahren an einem so bezaubernden Ort waren, in ihren Flitterwochen. Sie war damals achtzehn, frisch von der Highschool, und nach den Kosten für ihre Hochzeitsgarderobe und eine Zeremonie in dem Gericht, wo die Trauung stattfand, hatten sie noch 280 Dollar für eine einwöchige Reise übrig. Sie besorgten sich ein Sechserpack Weinschorle (ein Getränk, das mittlerweile aus der Mode ist, aber Karen stand seinerzeit total auf kalte Schorle mit Himbeergeschmack von Bartles & Jaymes!) und etwas zu knabbern – Tortillachips, Doritos, Zwiebelringe –, ehe sie in Bruce’ Chevy Nova stiegen, seine Kassette mit Bat Out of Hell in die Anlage schoben und in Richtung Küste losbrausten, beide aus voller Kehle mitschmetternd.

Sie hatten bereits früh die Küste von New Jersey erreicht, beide aber nicht das Bedürfnis verspürt, schon haltzumachen. Eben jene Küste war der Strand ihrer Jugend gewesen – Schulausflüge, jeden Sommer Urlaub mit der Familie in Wildwood –, daher waren sie nach Norden weitergefahren, gen Neuengland.

Neuengland, das fällt Karen nun wieder ein, hatte sich damals sehr exotisch angehört.

An der Ausfahrt 61 hatten sie die I-95 verlassen, um einen Tankstopp einzulegen, in einem Ort namens Madison, Connecticut, mit einer baumbestandenen, von Geschäften gesäumten Hauptstraße, idyllisch wie aus einer Sitcom aus den Fünfzigern. Als Karen an der Tankstelle aus dem Wagen stieg, um sich die Beine zu vertreten, hatte sie das Salz in der Luft erschnuppert.

Sie sagte: »Ich glaube, wir sind nicht weit vom Wasser.«

Auf die Frage, was es in Madison an Sehenswürdigkeiten gab, hatte der Tankwart ihnen den Weg zu einem Restaurant namens Lobster Deck beschrieben, das eine einzigartige Sicht auf den Long Island Sound bot. Ein Stück die Straße hinunter, gegenüber von einem State Park mit einem Strand, befand sich das Sandpark Motel and Lodge; ein Zimmer kostete 105 Dollar die Woche.

Karen weiß, dass sie nicht sonderlich viel von der Welt gesehen hat. Sie ist nie in Paris gewesen, auf den Bermudas oder auch nur an der Westküste. Sie und Bruce sind mit Celeste in den Ferien immer in die Pocono Mountains gefahren. Im Winter fuhren sie am Camelback Mountain Ski und im Sommer besuchten sie den Great-Wolf-Lodge-Wasserpark. Ihr restliches Geld sparten sie, um Celeste später ein Collegestudium zu ermöglichen. Sie interessierte sich von klein auf für Tiere, und Bruce und Karen hatten beide die Hoffnung, dass sie mal Tierärztin würde. Als Celestes Interesse sich stattdessen auf Zoologie verlagerte, hatten sie auch dagegen nichts einzuwenden. Man hatte ihr ein Teilstipendium an der Miami University of Ohio angeboten, an der es das landesweit beste Institut für Zoologie gab. Ein Teilstipendium ließ noch immer etliche Kosten ungedeckt – einige Studiengebühren, Kost und Logis, Bücher, sonstige Ausgaben, Busfahrkarten nach Hause –, und so war für Reisen kaum etwas übrig geblieben.

Daher ist jene eine Reise nach Neuengland für sie beide, Karen und Bruce, bis heute heilig geblieben. Sie stecken jetzt noch tiefer in den Miesen – fast hunderttausend Dollar Schulden, wegen Karens Arztrechnungen –, aber diese Reise nach Nantucket hätten sie sich nie und nimmer entgehen lassen. Auf der Rückfahrt nach Hause, wenn Celeste und Benji unterwegs in die Flitterwochen in Griechenland sind, werden sie in Madison, Connecticut einen Stopp einlegen für das, wie Karen es insgeheim nennt, große Finale. Das Sandpark Motel and Lodge gibt es schon längst nicht mehr, deshalb hat Bruce ihnen eine Suite mit Blick aufs Meer im Madison Beach Hotel gebucht. Es gehört zur Hilton-Kette. Die Suite kostet ihn nichts, hat Bruce Karen erzählt, weil er von Mr Allen, dem Geschäftsführer des Kaufhauses, Hilton-Honors-Punkte geschenkt bekommen hat. Karen weiß, dass sich Bruce’ Kollegen alle Gedanken darüber gemacht haben, wie sie ihrem Lieblingsverkäufer helfen könnten, dessen Frau unheilbar an Krebs erkrankt ist. Auch wenn ihr das in gewisser Weise peinlich ist, weiß sie die Fürsorge sehr wohl zu schätzen, und besonders Mr Allens großzügiges Angebot, für ihre Hotelkosten aufzukommen. Madison, Connecticut hat sich für sie inzwischen zu einer Art Paradies verklärt, zu einem zweiten Shangri-La. Karen möchte Hummer essen – mit Butter, bergeweise Butter –, und sie möchte dabei zusehen, wie die Sonne, einem Hustenbonbon ähnelnd, im Long Island Sound versinkt. Sie möchte in Bruce’ Armen einschlafen, mit dem Geräusch der Wellen im Ohr, die an den Strand schwappen, und in der Gewissheit, dass ihre Tochter glücklich unter der Haube ist.

Das große Finale.

Im August vergangenen Jahres musste Karen erfahren, dass sie einen Tumor an ihrem dritten Lendenwirbel hat. Der Brustkrebs, den sie besiegt zu haben glaubte, hatte auf ihre Knochen metastasiert. Dr. Edman, ihr Onkologe, hat ihr noch ein Jahr bis achtzehn Monate gegeben. Karen kalkuliert, dass sie noch bis mindestens Spätsommer hat, was ein ungeheurer Segen ist, zumal wenn man an all die Menschen in früheren Jahrhunderten denkt, die ohne Vorwarnung gestorben sind. Wobei, Karen könnte auch in der Innenstadt von Easton die Northampton Street zum Circle überqueren und von einem Auto angefahren werden, wodurch die Krebsdiagnose hinfällig würde.

Celeste traf die Nachricht hart. Sie hatte sich erst kurz zuvor mit Benji verlobt, sagte aber sofort, dass sie die Hochzeit verschieben wolle, um aus New York zurück nach Easton zu ziehen und sich um Karen zu kümmern. Das entsprach nun gar nicht Karens Wünschen. Sie ermunterte Celeste, die Hochzeit sogar vorzuziehen, statt sie zu verschieben.

Und Celeste, gefügig wie eh und je, folgte ihrem Rat.

Als Dr. Edman vergangene Woche anrief und ihr eröffnete, dass der Krebs sich allem Anschein nach auf ihren Magen und die Leber ausgebreitet hat, einigten sich Karen und Bruce hinterher darauf, Celeste diese Nachricht komplett zu verschweigen. Bei ihrer Abreise am Montagmorgen wird Karen sich ganz normal von Celeste verabschieden, als wenn weiter nichts wäre.

Sie muss nur die nächsten drei Tage überstehen, mehr nicht.

Karen kann noch laufen, auf einen Stock gestützt, aber Bruce hat einen Rollstuhl organisiert, um sie anmutig die Rampe hinunter und auf den Kai zu befördern. Greer Garrison Winbury – oder vielmehr Greer Garrison; Celeste zufolge nennt sie kaum jemand bei ihrem Ehenamen – soll sie dort bereits erwarten. Weder Karen noch Bruce sind Greer je begegnet, aber Karen hat zwei ihrer Bücher gelesen: ihr jüngstes Werk, Tod in Dubai, ebenso wie den Roman, der Greer Anfang der Neunziger auf Anhieb berühmt gemacht hat, Der Killer auf der Khao San Road. Karen ist keine große Literaturkritikerin – sie ist aus drei Lesezirkeln ausgestiegen, weil die ausgewählten Romane alle so düster und depressiv waren –, aber sie kann sagen, dass Der Killer auf der Khao San Road rasant erzählt und unterhaltsam war, voller faszinierender Details. Tod in Dubai dagegen kam ihr schablonenhaft und vorhersehbar vor. Karen wusste schon auf Seite vierzehn, wer der Mörder war: der gänzlich haarlose Typ mit dem tätowierten Schnäuzer. Selbst sie hätte einen spannenderen Roman schreiben können, und dies lediglich mit CSI: Miami als Wissenslieferant. Karen fragt sich, ob Greer Garrison, die angesehene Krimiautorin, die immer mit Sue Grafton und Louise Penny in einem Atemzug genannt wird, in ihren mittleren Jahren nun womöglich in eine Flaute geraten ist.

Karen hat Greers Autorenfoto eingehend studiert; in beiden Büchern, die sie gelesen hat, war dasselbe Foto abgedruckt, trotz der annähernd fünfundzwanzig Jahre, die seit der Publikation von Greers Erstling vergangen sind. Greer trägt darauf einen Strohhut, den Hintergrund bildet ein üppiger englischer Garten. Auf dem Foto ist Greer vielleicht dreißig. Sie hat hellblondes Haar und einen blassen, makellosen Teint, dazu zauberhaft intensiv braune Augen und einen langen, anmutigen Hals. Wenn auch nicht direkt schön im landläufigen Sinn, vermittelt sie gleichwohl einen Eindruck von Klasse und Eleganz, von Noblesse sogar, und Karen kann ohne Weiteres nachvollziehen, warum Greer das Foto nie aktualisiert hat. Wer will schon sehen, wie eine Frau altert? Niemand. So muss Karen sich notgedrungen selbst ausmalen, wie Greer inzwischen aussehen mag, mit faltiger Haut und einer gewissen Angespanntheit im Nacken, vielleicht auch etwas Grau oben am Haaransatz.

Auf dem Kai herrscht einiges Gedränge – jene, die gerade die Fähre verlassen; jene, die Hausgäste abholen; Touristen, die an den Geschäften entlangbummeln; hungrige Pärchen auf der Suche nach einem Mittagessen. Seit der Krebs auf ihren Magen übergegriffen hat, verspürt Karen nur noch selten Hunger, aber bei der Aussicht auf Hummer bekommt sie jetzt Appetit. Wird es am Hochzeitswochenende auch Hummer zu essen geben?, hatte sie von Celeste wissen wollen.

Ja, Betty, hatte Celeste erwidert, und bei dem Spitznamen musste Karen spontan lächeln. Es gibt Hummer satt, keine Sorge.

»Karen?«, hört sie eine Stimme rufen. »Bruce?«

Karen blickt suchend in der Menge umher und entdeckt dann eine Frau – blond, sehr schlank, manisch lächelnd, oder vielleicht wirkt das Lächeln auch bloß so manisch, weil sie sich unübersehbar das Gesicht hat straffen lassen –, die mit ausgebreiteten Armen auf sie beide zukommt.

Greer Garrison. Ja, da wäre sie also. Ihr Haar ist noch ebenso hellblond wie zuvor, und sie hat eine teuer wirkende Sonnenbrille auf den Kopf hochgeschoben. Sie ist mit einer Caprihose und einer Leinentunika bekleidet, beides schneeweiß, was, wie Karen überlegt, vermutlich sehr schick und sommerlich ist, obwohl sie persönlich immer bunte Farben bevorzugt, eine Folge der langen Jahre, die sie im Geschenkshop bei Crayola, der Wachsmalstiftfabrik daheim in Easton, gearbeitet hat. Karens Ansicht nach wäre Greers Look interessanter, wenn die Tunika purpurrot oder goldgelb wäre.

Greer neigt sich schwungvoll hinab, um Karen in ihrem Rollstuhl zu umarmen, ohne lang zu fragen, ob sie tatsächlich Karen Otis ist, was Karen das unbehagliche Gefühl vermittelt, dass sie und Bruce so auffällig sind, dass jede Verwechslung ausgeschlossen ist. Oder aber Celeste hat Greer bereits Fotos gezeigt, auch das wäre möglich.

»Wie wundervoll, euch endlich kennenzulernen«, sagt Greer. »Und zu einem so glücklichen Anlass. Ich bin ganz begeistert, dass ihr es einrichten konntet.«

Karen merkt, dass sie gewillt ist, Greer Garrison mit spontaner Ablehnung zu begegnen und jedes ihrer Worte auf die Goldwaage zu legen. Selbstverständlich haben sie und Bruce es eingerichtet herzukommen! Schließlich heiratet ihre einzige Tochter, ihre Freude und ihr Stolz!

Karen weiß, dass sie sich zusammenreißen muss, und zwar schleunigst. Sie muss ihre kleinliche Eifersucht überwinden, ihre Minderwertigkeitsgefühle, ihre Verlegenheit darüber, dass sie und Bruce weder reich noch sonderlich kultiviert sind. Vor allem muss Karen ihre innere Wut abstellen. Eine Wut, die mit Greer persönlich gar nichts zu tun hat. Karen ist wütend auf alle, die nicht krank sind. Alle, bis auf Bruce. Und Celeste natürlich.

»Greer«, sagt Karen. »Es ist so schön, dich kennenzulernen. Danke für die Einladung. Danke für … alles.«

Bruce tritt einen Schritt vor und streckt Greer die Hand entgegen. »Bruce Otis«, stellt er sich förmlich vor. »Sehr angenehm, Ma’am.«

»Ma’am?«, erwidert Greer. Sie wirft lachend den Kopf zurück und offenbart dabei ihren Hals, noch immer hübsch anzusehen zwar, aber fraglos gealtert. »Bitte nenn mich nicht so, da komme ich mir ja uralt vor. Sag einfach Greer zu mir, und mein Mann heißt Jeffrey. Schließlich sind wir doch bald eine Familie!«

Familie, denkt Karen, während Bruce ihr auf den Rücksitz von Greers Auto hilft, das genauso aussieht wie die Fahrzeuge, in denen im Travel Channel Leute in den Savannen Afrikas unterwegs sind. Sie fahren eine kopfsteingepflasterte Straße hinauf. Jeder Stein, über den der Wagen holpert, ist wie ein Schlag in Karens Magengrube, aber sie beißt die Zähne zusammen und sagt nichts. Bruce, der für ihre Schmerzen ein Gespür hat, wendet sich auf dem Beifahrersitz um und legt ihr zur Beruhigung die Hand aufs Knie. Greers Bemerkung zur Familie, wie leicht dahingeworfen auch immer, hat schon ihren Reiz. Karen und Bruce sind mit Familie nicht eben gesegnet. Karens Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben, als sie schwanger mit Celeste war; ihre Mutter hat wieder geheiratet, und zwar Gordon, den Immobilienmakler, den sie mit dem Verkauf des Hauses in Tatamy beauftragt hatte. Als Celeste dann im Kindergarten war, wurde bei Karens Mutter ein seltenes Myelom diagnostiziert, an dem sie ein halbes Jahr später gestorben ist. Gordon ist nach wie vor in der Gegend als Immobilienmakler tätig, aber sie hören nur selten von ihm. Bryan, Bruce’ jüngerer Bruder, war bei der Autobahnpolizei in New Jersey; er ist bei einer Verfolgungsjagd tödlich verunglückt. Nach Bryans Beerdigung sind Bruce’ Eltern in eine Seniorensiedlung in Bethlehem gezogen. Inzwischen sind sie beide an Altersschwäche gestorben. Karen und Bruce haben sich immer aneinander und an Celeste festgeklammert; sie sind ein kleines, inselartiges Trio. Karen hat sich irgendwie nie vorstellen können, dass Celeste ihnen mal zu einer ganz neuen Familie verhelfen würde, noch dazu einem so angesehenen Clan wie den Winburys, die nicht nur einen Sommerwohnsitz auf Nantucket ihr Eigen nennen, sondern auch ein Apartment an der Park Avenue in New York City und eine Wohnung in London, für Jeffrey, wenn er auf Geschäftsreisen ist, oder für Greer, wenn sie »Heimweh« hat. Die Vorstellung einer neuen Familie findet Karen im Stillen schon aufregend, auch wenn sie nicht mehr lange genug leben wird, um etwas davon zu haben.

Greer macht sie auf die Main Street aufmerksam, deutet auf ein Restaurant, das sie schätzt, besonders den Salat aus Bio-Rote-Bete, und auf ein Geschäft, in dem es die roten Hosen gibt, die alle Herren morgen tragen werden. Sie haben auch eine für Bruce bestellt, erzählt Greer, ihm genau auf den Leib geschneidert gemäß den Maßangaben, die er ihnen geschickt hat (davon hört Karen zum ersten Mal). Greer zeigt auf die Boutique, in der sie eine Unterarmtasche gekauft hat, passend zu dem Kleid, das sie als Mutter des Bräutigams tragen wird (wobei sie das Kleid selbst natürlich in New York gekauft hat, sagt sie, worauf Karen um ein Haar einwirft, dass sie ihr Brautmutterkleid natürlich bei Neiman Marcus in der King of Prussia Mall gekauft hat unter Nutzung von Bruce’ Mitarbeiterrabatt, ehe sie lieber den Mund hält, weil das so armselig klingt), und auf einen Laden für antikes Schiffszubehör, in dem Greer immer die Vatertagsgeschenke für Jeffrey besorgt.

»Habt ihr denn ein Boot?«, fragt Bruce.

Greer lacht, als wäre die Frage zu albern, und vielleicht ist es ja auch eine alberne Frage. Vielleicht hat hier auf der Insel jedermann ein Boot, aus rein praktischen Erfordernissen, so, wie man etwa für die strengen Winter in Easton eine stabile Schneeschaufel benötigt.

»Wir haben drei«, erklärt sie. »Ein elf Meter langes Hinckley-Picknickboot, um nach Tuckernuck rüberzutuckern, ein Zehn-Meter-Boot von Grady-White, auf dem wir zum Great Point rüberfahren, um Felsenbarsche zu angeln, und ein Vier-Meter-Motorboot von Whaler, das wir damals angeschafft haben, damit die Jungs mit ihren Freundinnen nach Coatue hoch- und wieder zurückdüsen konnten.«

Bruce nickt, als würde er zustimmen, und Karen fragt sich, ob er Greer auch nur ansatzweise folgen kann. Karen jedenfalls versteht nur Bahnhof; die Frau könnte ebenso gut Suaheli sprechen.

Karen überlegt, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie und Greer stehen werden, wenn die Kinder geheiratet haben. Jede wird die Schwiegermutter des jeweils anderen Kindes sein. Ansonsten aber werden sie nicht miteinander verwandt sein, zumindest nicht auf eine Weise, für die es einen Namen gäbe. Dass sich die Mütter von Eheleuten gegenseitig unsympathisch finden oder Schlimmeres, dürfte gar nicht so selten sein, vermutet sie. Karen würde sich gern vorstellen, dass sie und Greer sich kennenlernen und Gemeinsamkeiten entdecken und ein geradezu schwesterliches Verhältnis entwickeln könnten, aber das wäre nur in der Fantasiewelt möglich, in der Karen nicht sterben muss.

»Wir haben auch Kajaks, ein Einer- und ein Zweierkajak«, sagt Greer. »Jeffrey mag die Kajaks lieber als die Boote, glaube ich. Womöglich sogar lieber als die Jungs, könnte ich mir vorstellen!«

Bruce lacht, als hätte er noch nie etwas so Witziges gehört. Karen verzieht missmutig das Gesicht. Wie kann man denn über so etwas Witze reißen? Sie braucht eine Schmerztablette. Sie kramt in ihrer Hobo-Tasche von Tory Burch – ein Geschenk von Bruce, nachdem sie ihre erste Runde Chemotherapie hinter sich hatte, damals, als sie noch voller Hoffnung waren. Schließlich hat sie das Fläschchen Oxycodon ausfindig gemacht. Sie achtet sorgfältig darauf, eine kleine runde Pille herauszunehmen, keine von den drei ovalen perlschimmernden, und schluckt sie ohne Wasser herunter. Von dem Oxy bekommt sie Herzrasen, aber es ist das Einzige, was gegen die Schmerzen hilft.

Karen würde gern die Umgebung bewundern, muss jedoch die Augen schließen. Nach einer Weile sagt Greer: »Wir sind gleich da.« Ihr britischer Akzent erinnert Karen an Julie Andrews in Mary Poppins. Greer fährt um einen Kreisverkehr, ehe sie den Blinker setzt und dann links abbiegt. Bei der plötzlichen Bewegung des Wagens setzt die Wirkung des Oxy ein. Karens Schmerz lässt nach, und eine goldene Woge des Wohlbefindens macht sich in ihr breit. Das ist bei Weitem das Beste am Oxy, dieser anfängliche Rausch, wenn der Schmerz praktisch aufgesogen wird wie verschüttete Flüssigkeit von einem Schwamm. Karen ist sicher auf dem besten Wege, abhängig zu werden, oder ist es längst, aber Dr. Edman geizt nicht mit Medikamenten. Was kann eine Abhängigkeit jetzt noch groß schaden?

»Da wären wir!«, verkündet Greer, als sie in eine muschelgekalkte Auffahrt einbiegt.

SUMMERLAND, steht auf einem Schild zu lesen. PRIVAT. Karen späht aus dem Fenster. Die Auffahrt ist zu beiden Seiten von Hortensiensträuchern gesäumt, abwechselnd in Fuchsia und Lavendel, und dann fahren sie unter einem Buchsbaumbogen hindurch und gelangen in ein – Karen kann es nicht anders nennen – wahres Küstenparadies. Da ist zum einen ein Haupthaus, stattlich und eindrucksvoll, mit frisch wirkenden, grün-weiß gestreiften Markisen über den Fenstern. Diesem Haus gegenüber stehen zwei kleinere Cottages, inmitten einer gepflegten Gartenanlage mit plätschernden Springbrunnen und steingefliesten Fußwegen und üppigen Blumenbeeten. Und all das befindet sich nur wenige Meter vom Wasser entfernt. Der Bootshafen ist zum Greifen nah, und jenseits des flachen blauen, lang gestreckten Hafens befindet sich die Stadt. Karen kann die Kirchtürme erkennen, die sie schon von der Fähre aus gesehen hat. Die Skyline von Nantucket.

Karen verschlägt es schier den Atem, und die Sprache mit dazu. Sie ist noch nie an einem so schönen Ort gewesen. Es ist so schön, dass es fast wehtut.

Heute ist Freitag. Die Probe in der Episkopalkirche St. Paul’s ist für sechs Uhr nachmittags angesetzt, anschließend findet ein Muschelessen am Strand für sechzig Gäste statt, mit einer Raw Bar, an der es rohe Meeresfrüchte gibt, und untermalt von Livemusik, einer Coverband, die Songs von den Beach Boys und Jimmy Buffett spielt. Auftreten wird die Band in einem »kleinen Zelt« direkt am Strand, in dem vier rechteckige Tische für je fünfzehn Personen stehen. Und es wird Hummer geben.

Die Trauung findet am Samstag um vier Uhr statt, gefolgt von einem Festessen im nach allen Seiten hin offenen »großen Zelt«, das ein durchsichtiges Kunststoffdach hat, damit die Gäste den Himmel sehen können. Dort wird es eine Tanzfläche geben, ein achtzehnköpfiges Orchester und siebzehn runde Tische für je zehn Personen. Am Sonntag richten die Winburys einen Brunch in ihrem Golfclub aus; gefolgt von einem Schläfchen, zumindest für sie selbst, überlegt Karen. Am Montagmorgen reisen Karen und Bruce auf der Fähre wieder ab, und Celeste und Benji fliegen von Boston aus nach Athen und von dort weiter nach Santorin.

Bitte lass die Zeit stehen bleiben, denkt Karen. Sie mag nicht aus dem Wagen aussteigen. Möchte hier sitzen bleiben, mit all diesen verschwenderischen Plänen noch vor sich, für immer und ewig.

Bruce ist Karen beim Aussteigen behilflich und reicht ihr den Gehstock an, und in der Zwischenzeit tauchen aus dem Haupthaus und von den Cottages her Leute auf, als wären Karen und Bruce wichtige Würdenträger. Nun, denkt Karen, das sind wir ja auch. Wir sind die Eltern der Braut.

Sie weiß, dass sie auch ein bisschen eine Kuriosität sind, ihrer Armut wegen und weil sie krank ist, und sie hofft, dass alle ihnen mit Rücksicht begegnen werden.

»Hallo«, sagt Karen zu der versammelten Schar. »Ich bin Karen Otis.« Sie hält nach jemandem Ausschau, den sie kennt, aber Greer ist verschwunden, und Celeste ist nirgends zu entdecken. Karen blinzelt gegen die Sonne an. Benji, Celestes Verlobten, hat sie erst dreimal getroffen, und das Einzige, was sich ihr dabei, der Chemo-Benebelung wegen, eingeprägt hat, ist seine Schmachtlocke, die sie am liebsten alle zehn Sekunden glatt gestrichen hätte. Vor ihr stehen zwei junge, gut aussehende Männer, und Karen weiß, dass keiner davon Benji ist. Einer der beiden trägt ein schmuckes kornblumenblaues Polohemd, und Karen lächelt ihn an. Dieser junge Mann tritt auf sie zu und streckt ihr die Hand entgegen.

»Ich bin Thomas Winbury, Mrs Otis«, sagt er. »Benjis Bruder.«

Karen schüttelt Thomas die Hand; sein Händedruck ist so kräftig, dass er Karen fast die Knochen zermalmt. »Bitte sag doch Karen zu mir.«

»Und ich bin Bruce, Bruce Otis.« Bruce schüttelt erst Thomas die Hand und dann auch dem jungen Mann, der neben Thomas steht. Er hat sehr dunkles Haar und kristallin blaue Augen. Er sieht so blendend aus, dass Karen sich kaum an ihm sattsehen kann.

»Shooter Uxley«, sagt der junge Mann. »Benjis Trauzeuge.«

Shooter, genau! Shooter hat Celeste mal erwähnt. Es ist ein Name, den man nicht so leicht vergisst, und Celeste hat zu erklären versucht, warum Shooter anstelle von Thomas Trauzeuge ist. Aber die Geschichte war für Karen zu verwirrend, als würde Celeste von Figuren in einer Fernsehserie sprechen, die Karen nie gesehen hat.

Danach schüttelt Bruce zwei jungen Damen die Hand, die eine mit kastanienrotem Haar und Sommersprossen, die andere eine gefährlich wirkende Brünette in einem körperbetonten Jerseykleid in einer Farbe, die Karen als Scharlachrot bezeichnen würde.

»Ist Ihnen nicht heiß?«, erkundigt sich die Scharlachrote bei Bruce. Mit einer etwas anderen Betonung könnten die Worte des Mädchens fast als versuchte Anmache aufgefasst werden, aber Karen ist klar, dass sie auf Bruce’ Outfit anspielt, die schwarze Jeans, das schwarz-türkise Hemd, die Socken, die Loafer. Er sieht schick aus, fällt aber deutlich aus dem Rahmen. Alle anderen tragen lässige Sommersachen – die Männer kurze Hosen und Polohemden, die Damen farbenfrohe Sommerkleider aus Baumwolle. Celeste hatte Karen etwa ein halbes Dutzend Mal eingeschärft, Bruce daran zu erinnern, dass die Winburys modisch auf Preppy-Linie seien. Preppy, dieses Wort hatte Celeste ausdrücklich benutzt, und es kam Karen seltsam überholt vor. Ist dieser Ausdruck nicht schon vor Jahrzehnten aus der Mode gekommen zusammen mit Yuppie? Celeste hatte gesagt: Richte MacGyver aus, blaue Blazer und keine Socken. Als Karen das weiterleitete, hatte Bruce gelacht, aber amüsiert klang er nicht.

Ich kann mich schon selbst anziehen, hatte Bruce gesagt. Das ist immerhin mein Beruf.

Ein großer silberhaariger Gentleman kommt über den Rasen und federt die drei Steinstufen zu der Auffahrt hinunter. Er trägt eine Badehose und ein langärmeliges Neoprenshirt und ist tropfnass.

»Willkommen!«, ruft er herüber. »Ich würde euch ja in die Arme schließen, aber warten wir lieber mit solchen Vertraulichkeiten, bis ich etwas abgetrocknet bin.«

»Bist du wieder gekentert, Jeffrey?«, neckt ihn die Scharlachrote.

Der Gentleman geht nicht darauf ein und steuert auf Karen zu. Als sie ihm die Hand entgegenstreckt, nimmt er sie und gibt ihr einen Handkuss, eine Geste, die sie völlig überrumpelt. Sie ist sich nicht sicher, ob ihr schon jemals ein Mann die Hand geküsst hat. Es gibt für alles ein erstes Mal, denkt sie, selbst für eine Frau, die nicht mehr lange zu leben hat. »Madame«, sagt er. Sein englischer Akzent klingt charmant, aber nicht so übertrieben, dass es affig wirkt. »Ich bin Jeffrey Winbury. Danke, dass Sie den weiten Weg hergekommen sind, danke, dass Sie meine Frau sich mit ihren Planungen haben austoben lassen, und vor allem danke für Ihre wunderschöne, intelligente und bezaubernde Tochter, unsere himmlische Celeste. Wir sind ganz hin und weg von ihr und freuen uns wahnsinnig auf diese bevorstehende Verbindung.«

»Oh«, sagt Karen. Sie spürt, wie ihr die Rosen in die Wangen steigen, wie ihr Vater es immer genannt hat, wenn sie rot anlief. Was für ein reizender Mann! Er hat es geschafft, Karen die Befangenheit zu nehmen, und ihr gleichzeitig das Gefühl vermittelt, eine Königin zu sein.

Jemand tippt Karen von hinten auf die Schulter, und sie dreht sich vorsichtig um, auf ihren Stock gestützt, der im Muschelkalk der Auffahrt knirscht.

»B-B-Betty!«

Es ist Celeste. Sie trägt ein weißes Flatterkleid und dazu zarte Riemchensandalen; ihr Haar ist geflochten. Sie ist braun gebrannt, und ihre blauen Augen blicken groß und traurig aus ihrem Gesicht.

Traurig?, denkt Karen. Dies sollte der glücklichste Tag ihres Lebens sein oder der zweitglücklichste. Karen weiß, dass Celeste sich um sie Sorgen macht, aber Karen ist entschlossen, ihre Krankheit zu vergessen – die nächsten drei Tage zumindest –, und sie hätte gern, dass es alle anderen ebenso halten.

»Schatz!«, sagt Karen und küsst Celeste auf die Wange.

»Betty, du bist hier«, sagt Celeste ohne die Spur eines Stotterns. »Ist das zu fassen? Du bist hier.«

»Ja«, sagt Karen und erinnert sich im Stillen daran, dass sie der Grund ist, warum die Hochzeit ausgerechnet jetzt abgehalten wird, während der betriebsamsten Woche des Sommers. »Ich bin hier.«

Samstag, 7. Juli 2018, 6:45 Uhr

DER CHIEF

Er macht vor der Monomoy Road Nummer 333 halt, direkt hinter Detective Nicholas Diamantopoulos von der State Police, auch bekannt als der Grieche. Nicks Vater ist Grieche, seine Mutter von den Kapverden; Nick hat braune Haut, einen kahl rasierten Schädel und einen pechschwarzen Kinnbart. Er sieht so gut aus, dass die Leute gern scherzen, er solle doch seinen Job an den Nagel hängen und lieber einen Cop im Fernsehen spielen – bessere Arbeitszeiten und bessere Bezahlung –, aber Nick ist vollauf zufrieden damit, ein verdammt guter Detective zu sein, und ein notorischer Frauenheld noch dazu.

Nick und der Chief haben bei dem letzten Tötungsdelikt zusammengearbeitet, einem Mord im Drogenmilieu an der Cato Lane. Nick hat die ersten fünfzehn Jahre seiner Laufbahn in New Bedford verbracht, wo die Straßen gefährlich und die Kriminellen abgebrüht waren. Den harten Hund aber markiert er trotzdem nicht; von den brutalen Methoden, die man aus Filmen kennt, hält er nichts. Bei der Vernehmung von Personen, die für die Polizei von besonderem Interesse sind, setzt Nick eher auf Empathie und Ermunterung; gern erzählt er von seiner giagia daheim in Thessaloniki, die nach dem Tod seines Großvaters bis an ihr Lebensende tagein, tagaus ein hässliches schwarzes Kleid und dazu noch hässlichere schwarze Schuhe trug. Und der Erfolg gibt ihm recht, aber hallo! Er braucht nur das Wort giagia zu sagen, und die Leute gestehen alles. Der Typ ist ein Zauberer.

»Nicky«, sagt der Chief.

»Chief«, sagt Nick. Er deutet mit dem Kopf auf die Villa. »Traurige Sache, was? Die Ehrendame.«

»Tragisch.« Dem Chief graut davor, was er im Inneren vorfinden wird. Nicht genug damit, dass eine Neunundzwanzigjährige tot ist; die Familie und die Gäste müssen vernommen werden, und all die aufwendigen, kostspieligen Hochzeitsvorbereitungen müssen rückgängig gemacht werden, ohne die Unversehrtheit des Tatorts zu beschädigen.

Ehe der Chief sein Haus verlassen hat, ist er nach oben gegangen, um zu sehen, ob Chloe die Neuigkeit bereits gehört hatte. Sie war im Badezimmer. Durch die geschlossene Tür hörte er, wie sie sich erbrach.

Er klopfte an. »Bei dir alles okay?«

»Ja«, sagte sie. »Mir fehlt nichts.«

Ihr fehlt nichts, dachte der Chief. Was im Klartext hieß, dass sie die Stunden nach ihrer Arbeit am Strand verbracht und dort Bier und Whiskylikör gebechert hat.

Beim Abschiedskuss in der Küche sagte er zu Andrea: »Ich glaube, Chloe hat gestern Nacht getrunken.«

Andrea seufzte. »Ich werde mit ihr reden.«

Mit Chloe zu reden würde wenig helfen, dachte der Chief. Sie brauchte einen neuen Job – vielleicht könnte sie ja in der Kinderbücherei aushelfen oder Regenpfeifer-Eier in Smith’s Point zählen. Irgendwas Harmloses, bei dem sie nicht so leicht Gefahr lief, auf die schiefe Bahn zu geraten.

Der Chief und Nick begeben sich seitlich links am Haupthaus vorbei auf den Rasen, wo ein riesiges, nach allen Seiten hin offenes Festzelt aufgebaut ist. Im Zelt treffen sie die Typen von der Spurensicherung an; der eine tütet Beweismittel ein, der andere macht Fotos. Nick stapft los zum Strand, um die Leiche zu begutachten. Der Chief sieht, dass man das Mädchen unweit der Wasserlinie liegen gelassen hat; an diesem warmen Tag aber wird sie so bald wie möglich in die Leichenhalle der Klinik geschafft werden müssen. Das Zelt beherbergt einen runden Tisch mit vier weißen Stühlen drum herum. Auf dem Tisch stehen eine fast leere Flasche Rum, Mount Gay Black Barrel, und vier Schnapsgläser, zwei davon sind umgekippt. Eine halbe Muschelschale daneben hat als Aschenbecher für eine Zigarre gedient. Eine Romeo y Julieta. Aus Kuba.

Randy, der eine Spurentechniker, tütet gerade ein Paar silberne Sandalen ein.

»Wo haben Sie die gefunden?«, fragt der Chief.

»Unter dem Stuhl dort.« Ray deutet hin. »Connor hat sie fotografiert. Sandalen der Marke Mystique, Größe 39. Ich bin kein Schuhverkäufer, aber ich tippe mal darauf, dass es die Sandalen der Verstorbenen sind. Das klären wir noch.«

Nick kehrt zurück. »Das Mädchen hat eine üble Schnittwunde am Fuß«, sagt er. »Und im Sand ist mir eine Blutspur aufgefallen.«

»Ist Blut an den Sandalen?«, erkundigt sich der Chief bei Ray.

»Nein, Sir.«

»Nun, an einer Schnittwunde am Fuß ist sie nicht gestorben«, stellt der Chief fest. »Es sei denn, sie ist zu weit rausgeschwommen und hat es dann wegen der Wunde am Fuß nicht mehr zurückgeschafft?«

»Das scheint mir nicht sehr glaubhaft«, sagt Nick. »Am Strand liegt auch ein Zweierkajak, umgekippt, und ein Ruder, ein paar Meter daneben im Sand. Blut befindet sich keines am Kajak.«

Der Chief atmet tief durch. Es ist windstill; kein Lüftchen weht vom Wasser her. Der Tag verspricht drückend heiß zu werden. Sie müssen die Leiche hier wegschaffen, und zwar pronto. Sie müssen mit ihren Befragungen anfangen, herauszufinden versuchen, was geschehen ist. Ihm fällt ein, was Dickson erwähnt hat: dass der Trauzeuge vermisst wird. Hoffentlich hat sich das inzwischen geklärt. »Gehen wir zum Haus hoch«, sagt er.

»Sollen wir uns aufteilen?«, fragt der Grieche.

»Ich nehme mir die Männer vor, Sie nehmen die Frauen«, erwidert der Chief. Bei Frauen wirkt Nick wahre Wunder.

Nick nickt. »Einverstanden.«

Als sie eben auf die vordere Verandatreppe zugehen, macht Bob von Old Salt Taxi in der Auffahrt halt, und ein junger Mann in den Zwanzigern steigt aus. Er trägt kurze Hosen in Altrosa, sogenannte Nantucket Reds, ein blaues Oxfordhemd, einen dunkelblauen Blazer und Loafer; in der einen Hand hält er einen großen Seesack, in der anderen einen Kleiderbeutel. Sein Haar wirkt zerzaust, und er ist unrasiert.

»Wer ist der Typ?«, fragt Nick halblaut.

»Ein Nachzügler«, sagt der Chief. Er winkt Bob zu, während jener auf der Auffahrt zurücksetzt.

Der junge Mann sieht Nick und den Chief an und lächelt etwas unsicher. »Was ist los?«, fragt er.

»Gehören Sie zu der Hochzeit?«, fragt Nick.

»Ja. Ich bin der Trauzeuge«, sagt der Junge. »Shooter Uxley. Ist irgendwas passiert?«

Nick wirft dem Chief einen Blick zu. Der Chief nickt fast unmerklich und ist bemüht, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ein Rätsel wenigstens hat sich gelöst.

»Die Ehrendame ist tot«, sagt Nick.

Die beiden Säcke landen mit einem Plumps am Boden, und der Junge – Shooter Uxley, welch ein Name – wird bleich. »Was?«, sagt er. »Moment mal … was?«

EINGANGSBEFRAGUNG, ROGER PELTON, SAMSTAG, 7. JULI, 7:00 Uhr

Der Chief trifft Roger Pelton in der Auffahrt. Die beiden wechseln einen Händedruck, und der Chief umfasst dabei Rogers Arm, zum Zeichen der Freundschaft und Unterstützung. Roger ist seit ewigen Zeiten mit Rita verheiratet, und sie haben fünf Kinder, alle schon erwachsen. Er betreibt seine Hochzeitsagentur jetzt seit über zehn Jahren; davor war er ein erfolgreicher Generalunternehmer. Roger Pelton ist durch und durch anständig und grundsolide. Er war auch in Vietnam, wie dem Chief einfällt, wo er mit einem Verwundetenabzeichen und einem Bronze Star für besondere Tapferkeit ausgezeichnet wurde. Ein wenig überraschend vielleicht, dass er heute zu Nantuckets gefragtestem Hochzeitsplaner avanciert ist, aber er hat ein Händchen dafür, und seine Geschäfte laufen glänzend.

Im Augenblick wirkt Roger zutiefst erschüttert. Sein Gesicht ist bleich und mit Schweißperlen benetzt; seine Schultern hängen nach unten.

»Es tut mir leid, Roger«, sagt der Chief. »Das muss für dich ein furchtbarer Schock gewesen sein.«

»Ich dachte, mich könnte nichts mehr überraschen«, sagt Roger. »Ich hab schon erlebt, dass Bräute auf halbem Weg zum Altar kehrtgemacht haben; dass der Bräutigam nicht aufgetaucht ist; ich hab Pärchen beim Sex in der Kirchentoilette erwischt. Ich hab miterlebt, wie Brautmütter die Mütter von Bräutigamen geohrfeigt haben. Es hat Väter gegeben, die sich geweigert haben, meine Rechnung zu begleichen, und Väter, die fünf Riesen als Trinkgeld haben springen lassen. Ich hab schon Hurrikane gehabt, Gewitter, Hitzewellen, Nebel und einmal Hagel. Es haben sich schon Bräute übergeben und sind in Ohnmacht gefallen; einmal hat sogar ein Trauzeuge nach dem Genuss einer Muschel einen anaphylaktischen Schock erlitten. Aber dass jemand gestorben wäre, das hatte ich noch nie. Ich hab die Ehrendame nur kurz kennengelernt, ich kann dir also nur sagen, dass sie Celestes beste Freundin war. Mehr weiß ich nicht.«

»Celeste?«, fragt der Chief.

»Celeste Otis, die Braut«, erklärt Roger. »Sie ist hübsch und gescheit, aber von der Sorte hübsch und gescheit sehe ich hier auf der Insel viele. Vor allem ist Celeste ihren Eltern eine liebende Tochter, und sie ist freundlich und geduldig ihren Schwiegereltern in spe gegenüber. Sie ist bescheiden. Hast du eine Ahnung, wie selten Bescheidenheit ist, wenn man hier auf Nantucket mit Bräuten zu tun hat?«

»Selten?«, meint der Chief.

»Selten«, sagt Roger. »Es ist schrecklich, dass das am Tag ihrer Hochzeit passiert ist. Sie war vollkommen außer sich.«

»Versuchen wir herauszufinden, was genau geschehen ist«, sagt der Chief. »Ich fange mit dir an, weil ich weiß, dass du ein viel beschäftigter Mann bist.«

Der Chief geht mit Roger zu einer weiß lackierten schmiedeeisernen Bank hinüber, die in einer von Blüten nur so strotzenden Laube aus New-Dawn-Kletterrosen steht, und sie nehmen darauf Platz.

»Erzähl mir, was du gesehen hast, als du hergekommen bist«, sagt der Chief. »Fang ganz von vorn an.«

»Ich war gegen Viertel vor sechs hier«, sagt Roger. »Der Eventverleih sollte siebzehn Rundtische und hundertfünfundsiebzig Klappstühle anliefern. Ich wollte noch einmal die Anzahl überprüfen, sehen, wie sich die Tanzfläche bewährt hat, auf Nummer sicher gehen, dass nicht noch nach Festende weitergefeiert worden war. Das Übliche eben.«

»Verstehe«, sagt der Chief.

»Als ich aus dem Wagen ausstieg, hab ich jemanden schreien gehört«, sagt Roger. »Und ich hab sofort erkannt, dass es Celeste war. Ich dachte, es wäre irgendwas mit ihrer Mutter.« Roger legt eine Pause ein. »Celestes Mutter, Karen Otis, ist schwer krank. Krebs. Jedenfalls hab ich gleich gewusst, dass jemand tot war, allein dem Schreien nach. Es hatte diese Intensität