14,99 €
Sommer in Nantucket. Als Lizbet Keaton herausfindet, dass ihr Freund sie betrügt, ist sie am Boden zerstört. Um sich abzulenken, heuert sie im legendären Luxushotel auf der Insel an, das dem geheimnisumwobenen Xavier Darling gehört. Sie ist fest entschlossen, das Hotel, hinter dem eine glamouröse, aber auch skandalträchtige Geschichte liegt, wieder auf Vordermann zu bringen. Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt: Hinter den Kulissen des Luxushotels werden Geheimnisse verborgen und Skandale vertuscht. Und dann ist da noch der Geist von Grace Hadley, die in den Goldenen Zwanziger Jahren Zimmermädchen im Hotel gewesen ist und nun fröhlich durch die Hotelflure spukt. Es wird ein schicksalssträchtiger Sommer für Lizbet, in dem sich entscheidet, ob das legendäre Hotel Nantucket in neuem Glanz erstrahlen wird - oder dem Untergang geweiht ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 631
Veröffentlichungsjahr: 2025
Elin Hilderbrand
Roman
Karolin Viseneber
Für Mark und Gwenn Snider
und die gesamte Belegschaft des Hotel Nantucket
in Liebe und ewiger Dankbarkeit
Die Insel Nantucket ist bekannt für Kopfsteinpflasterstraßen, Gehwege aus rotem Backstein, Zedernholzdächer, Rosenbögen, lange Strände mit goldenem Sand, eine erfrischende Meeresbrise – und natürlich für die Schwäche ihrer Bewohner für Klatsch und Tratsch. (Welcher heiße Gärtner etwas mit der Ehefrau des ansässigen Immobilienmaklers angefangen hat – solche Dinge eben.) Und trotzdem ist niemand auf die Welle aus Gerüchten vorbereitet, die über die Main Street auf uns zurollt, dann die Orange Street nimmt und am Kreisverkehr in Richtung Sconset schwappt, als wir erfahren, dass der Londoner Milliardär Xavier Darling dreißig Millionen Dollar in die Bruchbude investieren wird, zu der das Hotel Nantucket mittlerweile verkommen ist.
Die eine Hälfte von uns ist fasziniert. (Wir haben uns schon lange gefragt, wann sich jemand des Gebäudes annimmt.)
Die andere Hälfte ist skeptisch. (Es ist doch wirklich nicht mehr zu retten.)
Xavier Darling ist im Gastgewerbe kein Unbekannter. Als Besitzer von Kreuzfahrtschiffen, Freizeitparks, Rennbahnen und kurz sogar einer eigenen Fluggesellschaft ist er bereits in Erscheinung getreten. Aber soweit uns bekannt ist, hat er noch nie ein Hotel sein Eigen genannt und auch noch nie einen Fuß auf die Insel Nantucket gesetzt.
Mit Hilfe des einheimischen Immobilienmaklers Eddie Pancik – auch bekannt als der schnelle Eddie (der sich wieder mit seiner Frau versöhnt hat, falls das jemanden interessieren sollte) – hat Xavier die weise Entscheidung getroffen, Lizbet Keaton als Geschäftsführerin einzustellen. Die charmante Lizbet wird auf der gesamten Insel geschätzt. Bereits Mitte der Nullerjahre ist sie aus der Metropolregion Minneapolis-Saint Paul, den sogenannten Zwillingsstädten, nach Nantucket gezogen und wirkt mit ihren langen blonden Zöpfen fast wie die jüngere Prinzessin aus Die Eiskönigin – Völlig unverfroren. Gleich im ersten Sommer auf der Insel fand sie ihren Prinzen: JJ O’Malley. Fünfzehn Jahre lang führten Lizbet und JJ gemeinsam das ziemlich angesagte Restaurant The Deck. JJ als Besitzer und Chefkoch, Lizbet als Marketinggenie. Ihr ist zum Beispiel die Idee für den Rosé-Brunnen zu verdanken und auch für die Weingläser ohne Stiel, auf die das jeweils aktuelle Tagesdatum gedruckt wird und die sich in Windeseile zum Markenzeichen des Restaurants und zu einem Social-Media-Phänomen entwickelt haben. Wir interessierten uns zwar nicht alle für Instagram, aber wir verbrachten gerne lange Sonntagabende auf der Terrasse vom The Deck, tranken Rosé, aßen JJs berühmte Austernpfanne und ließen den Blick über die flachen Buchten der sandigen Monomoy-Inseln schweifen, in denen wir gelegentlich einen Silberreiher dabei beobachten konnten, wie er im Seegras nach Abendessen fischte.
Wir alle fanden, dass Lizbet und JJ das erreicht hatten, was Millennials wohl #relationshipgoals nennen. Im Sommer arbeiteten sie im Restaurant, in der Nebensaison sah man sie Muschelnsammeln am Pocomo Beach, Schlittenfahren im Dead Horse Valley oder gemeinsam auf dem Fisch- und Fleischarkt von Nantucket beim Einkaufen, weil sie sich vorgenommen hatten, eine Lachshälfte zu beizen oder eine Zwölfstundenbolognese zu kochen. Wir konnten beobachten, wie sie beim Warten in der Schlange vor dem Postschalter Händchen hielten und gemeinsam ihre Kartons auf der Müllkippe entsorgten.
Wir alle waren entsetzt, als JJ und Lizbet sich trennten. Die Neuigkeit erfuhren wir von der blonden Sharon. Da sie bekannt dafür ist, die Gerüchteküche von Nantucket anzuheizen, zweifelten wir, ob es wirklich stimmte, aber dann bestätigte Love Robbins vom Blumenladen Flowers on Chestnut, dass Lizbet einen Strauß Rosen zurückgeschickt hatte, der ihr im Auftrag von JJ zugestellt worden war. Irgendwann kam dann die ganze Geschichte ans Licht: Bei der Saisonabschlussparty des The Deck im September hatte Lizbet 187 explizite Textnachrichten gefunden, die JJ mit Christina Cross, der Weinvertreterin der beiden, ausgetauscht hatte.
Lizbet ist den Gerüchten nach im Moment äußerst erpicht darauf, sich neu zu erfinden, da kommt ihr jemand wie Xavier Darling gerade recht. Wir wünschen ihr natürlich nur das Beste, aber den angeschlagenen Ruf des früher so prächtigen Hotel Nantucket wird sie erst einmal reparieren müssen (wie auch das Dach, die Fenster, die Böden, die Wände und das sich absenkende Fundament).
Den Winter über, bis ins Frühjahr hinein, beobachten wir, wie Handwerker, Architekten und die Innenarchitektin Jennifer Quinn im Hotel ein und aus gehen. Aber sie alle haben eine Geheimhaltungsklausel unterzeichnet und dürfen nichts darüber preisgeben, was gerade im Hotel passiert. Es heißt, dass unsere beste Fitnesstrainerin, Yolanda Tolentino, eingestellt wurde, um den Wellnessbereich zu betreuen, und dass Xavier Darling auf der Suche nach jemandem mit Insellaufbahn sein soll, um die neue Bar des Hotels zu führen. Lizbet Keaton wirkt schwer beschäftigt, als jedoch die blonde Sharon ihr in der Schlange zur Inspektion ihres Wagens bei Don Allen Ford begegnet und wissen möchte, wie es mit dem Hotel denn so laufe, wechselt Lizbet schnell das Thema und fragt Sharon nach deren Kindern. (Sharon hat allerdings überhaupt kein Interesse daran, über ihre Kinder zu reden, die mittlerweile im Teenageralter sind.)
Jordan Randolph, der Herausgeber des Nantucket Standard, geht zweimal nicht ran, als Lizbet Keaton anruft. Er kann den Gedanken nicht ertragen, dass jemand wie Xavier Darling – ein Geschäftsgigant aus dem Ausland – ein historisch wichtiges Gebäude wie das Hotel Nantucket kauft. (Jordan ist sich durchaus der Tatsache bewusst, dass Herman Melville Moby-Dick verfasst hat, ohne zuvor je auf der Insel gewesen zu sein. Fühlt er sich dadurch besser? Eher nicht.) Andererseits, wenn nicht Xavier Darling es kauft, wer dann? Das Hotel ist schließlich dem Verfall überlassen worden. Noch nicht einmal der Historische Verein Nantuckets hat sich dieses Projekt zugetraut – zu groß und zu teuer.
Als Lizbet zum dritten Mal anruft, nimmt er ab und willigt zögernd ein, einen Journalisten rüberzuschicken.
Lifestyle-Redakteurin Jill Tananbaum ist geradezu besessen von Inneneinrichtung, wie jeder, der sich ihre Instagram-Accounts (@ashleystark, @elemtstyle, @georgantas.design) anschaut, sofort bemerken dürfte. Nur zu gerne würde sie ihre Arbeit beim Nantucket Standard als Sprungbrett für einen Job bei Domino oder gar dem Architectural Digest nutzen. Die Restaurierung des Hotel Nantucket könnte die lang ersehnte Chance sein.
Sobald Jill durch die große Eingangstür tritt, verschlägt es ihr die Sprache. An der Gewölbedecke der Lobby hängt das mit Raffinesse in einen Kronleuchter verwandelte Skelett einer antiken Walfangschaluppe. Die Deckenbalken, die aus der ursprünglichen Konstruktion gerettet werden konnten, verleihen dem Raum einen historischen Anstrich. Breite hortensienblaue (Jill wird bald erfahren, dass es sich dabei um die charakteristische Farbe des Hotels handelt) Polstersessel gibt es dort, mit Wildleder bezogene Ottomane und niedrige Tische mit Büchern und Spielen (Backgammon, Dame und mehrere marmorne Schachbretter). In der entferntesten Ecke des Raumes steht ein weißer Konzertflügel. An der langen Wand neben dem Empfangstresen hängt eine riesige James-Ogilvy-Fotografie des Atlantiks, vom alten Leuchtturm Sankaty Head aus aufgenommen, wodurch das Meer das Hotel erfüllt.
Wow, denkt Jill. Einfach nur … wow. Es juckt ihr in den Fingern, zu gerne würde sie ihr Telefon herausholen, aber Lizbets Worte waren eindeutig, Fotos sind zum jetzigen Zeitpunkt verboten.
Lizbet führt Jill durch die Gästezimmer und Suiten. Tamela Cornejo, eine Künstlerin von Nantucket, hat die Decke jedes einzelnen Gästezimmers mit dem nächtlichen Himmel über Nantucket bemalt. Die Lampen – in Messingketten gewickelte Glaskugeln – lassen an Bullaugen und Schiffstaue denken. Und erst die Betten! Die Himmel bestehen aus Treibholz und dicken Tauen. Die Betten selbst sind eine Sonderanfertigung, Emperor Size, und an den Seiten hängen hauchdünne transparentweiße Vorhänge.
Am spektakulärsten findet Jill jedoch die Badezimmer, so etwas hat sie noch nie gesehen. Jedes verfügt über eine mit Austernschalen gekachelte Dusche, eine elegante Hatbox-Toilette in einem separaten Raum und eine frei stehende Badewanne auf Füßen im charakteristischen Hortensienblau.
»Der Erfolg eines Badezimmers«, sagt Lizbet zu Jill, »misst sich nicht daran, wie es aussieht, sondern daran, wie es den Gast aussehen lässt.« Sie betätigt einen Schalter. Um den großen, rechteckigen Spiegel über dem Doppelwaschbecken herum geht ein sanftes Licht an. »Schmeichelhaft, oder?«
Jill und Lizbet betrachten sich im Spiegel. Es stimmt, denkt Jill; sie hat selten so frisch ausgesehen wie im Badezimmer der Suite mit der Nummer 217.
Dann erzählt Lizbet Jill von der im Preis inbegriffenen Minibar. »Ich weiß nicht, wie oft ich schon in einem Hotelzimmer saß und einfach gern ein Glas Wein getrunken und etwas Salziges zu knabbern gehabt hätte, aber wenn dann eine Flasche Chardonnay siebzig Dollar kostet und eine Packung Erdnüsse sechzehn, finde ich das wirklich übertrieben. Also werden unsere Minibars mit einer Reihe von sorgfältig ausgewählten Produkten ausgestattet, die allesamt auf Nantucket hergestellt wurden« – sie erwähnt Cisco-Bier, Triple-Eight-Wodka und geräucherte Blaufischpastete – »und alles ist im Preis inbegriffen und wird an jedem dritten Tag nachgefüllt.«
Kostenfreie Minibar!, notiert sich Jill. Regionale Produkte! Allein für diese Ankündigung müsste Jordan ihr einen Platz auf Seite eins geben.
Lizbet führt Jill nach draußen zu den Pools. Einer davon ist mit seinem rauschenden Wasserfall perfekt für Familien geeignet. »Jeden Tag um drei Uhr gibt es Limonade und frisch gebackene Cookies«, sagt Lizbet. Der zweite Pool ist nur für Erwachsene gedacht, ein türkisblauer rautenförmiger Zufluchtsort, der von Wänden mit grauen Schindeln umgeben ist, an denen im Sommer hellrosa Kletterrosen blühen werden. Um den Pool herum gibt es außerdem »die bequemsten Sonnenliegen der Welt, besonders breit und einfach einzustellen« sowie stapelweise extra angefertigte türkische Baumwollhandtücher in Hortensienblau.
Als Nächstes geht es ins Yogastudio. Jill ist noch nie auf Bali gewesen, aber hat gerade erst Eat Pray Love gesehen und weiß die Ästhetik zu schätzen. Die Decke des Studios besteht aus einer aufwendigen Schnitzarbeit in Teakholz, die aus einem Tempel in Ubud geborgen wurde. (Jill fragt sich, was es wohl gekostet haben muss, eine Schnitzerei dieser Größe zu verschiffen und einzubauen … Emoji mit explodierendem Kopf!) Dort steht auch ein riesiger, Furcht einflößender Kopf des Gottes Brahma auf dem Boden, aus dem sich Wasser in einen Durchgang mit Flusssteinen ergießt. Das Außenlicht wird durch Reispapierschirme gedimmt, und es läuft Gamelan-Musik. Alles in allem, denkt Jill, ist das neue Yogastudio ein idyllischer Ort, um die Stellung des Kindes zu praktizieren.
Wenn man Jill fragt, ist die größte Entdeckung allerdings die Hotelbar, die in der Farbe Pitch Blue von Farrow and Ball gestrichen ist (ein Ton irgendwo zwischen Saphir und Amethyst). Der Tresen besteht aus blauem Granit, darüber hängen kuppelförmige Lampen, die aussehen wie umgedrehte Kupferschüsseln. Eine mit glänzenden Pennys verkleidete Wand ist ein Extra-Hingucker. Außerdem gibt es eine kupferfarbene Discokugel, die jeden Abend um einundzwanzig Uhr von der Decke heruntergelassen wird. So etwas hat Jill sonst noch nirgendwo auf der Insel gesehen. Sie ist vollkommen baff. Darf sie bitte direkt einen Platz reservieren?
Jill beeilt sich, zurück an ihren Schreibtisch im Büro des Standard zu kommen. Ist sie jemals derart inspiriert gewesen, während sie an einem Artikel geschrieben hat? Sie tippt drauflos, als wäre der Teufel hinter ihr her, versucht, jedes noch so kleine Detail festzuhalten – inklusive der in allen Farben des Regenbogens schillernden Teppiche von Annie Selke, der ausgewählten Romane auf den Regalbrettern der Suiten, der samtenen Barhocker in der neuen Hotelbar – dann liest sie den Artikel noch einmal langsam von Anfang an durch, einen Satz nach dem anderen – und achtet darauf, dass die Sprache genauso kultiviert und prachtvoll klingt, wie das Hotel wirkt.
Nach ihrem letzten Korrekturdurchgang bringt sie den Text in Jordan Randolphs Büro. Er lässt sich die Sonderbeiträge immer vorlegen, liest sie auf Papier und kommentiert sie mit einem Rotstift, als wäre er Maxwell Perkins beim Lektorat von Fitzgerald und Hemingway. Jill und ihre Kollegen machen sich darüber lustig. Hat er noch nie von Google Docs gehört?
Jill steht im Türrahmen, während Jordan Randolph liest, wartet auf das gewohnte »ausgezeichnet«. Als er fertig ist, lässt er jedoch die Blätter auf seinen Schreibtisch fallen und sagt: »Hm.«
Hm? Was bitte bedeutet Hm? Jill hat ihren wortgewandten Vorgesetzten noch nie so einsilbig erlebt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt sie. »Liegt es … am Schreibstil?«
»Der Artikel ist gut geschrieben«, sagt Jordan. »Vielleicht ein wenig zu glatt. Der Text liest sich wie ein Werbebeitrag im Reisemagazin Travel + Leisure.«
»Oh«, erwidert Jill. »Okay, also …«
»Ich hatte mir eher eine Geschichte vorgestellt«, sagt Jordan.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es so etwas wie eine Geschichte gibt«, verteidigt sich Jill. »Das Hotel war baufällig, und Xavier Darling hat es gekauft. Er hat Leute aus der Umgebung eingestellt …«
»Ja, das steht ja da.« Jordan seufzt. »Ich stelle mir eine andere Perspektive vor …«, seine Stimme verebbt. »Diese Woche bringe ich den Artikel nicht. Ich muss erst einmal darüber nachdenken.« Er lächelt Jill zu. »Danke trotzdem, dass du einen ›Blick hinter die Kulissen‹ geworfen hast.« Mit seinen Fingern formt er Anführungszeichen, während er redet, ein echter Boomer eben.
Insgeheim nimmt Jordan Randolph an, dass es sich mit dem Hotel Nantucket wie mit einem Banksy-Gemälde verhalten wird – nachdem es enthüllt wurde, erlebt es einen prachtvollen Höhepunkt und zerstört sich dann selbst. Mint Benedict, ein vierundneunzigjähriger Bewohner des inseleigenen Seniorenheims Our Island Home, ist genau derselben Meinung. Mint ist das einzige Kind von Jackson und Dahlia Benedict, denen das Hotel zwischen 1910 und 1922 gehörte. Er bittet seine Lieblingskrankenpflegerin Charlene, ihn im Rollstuhl den ganzen Weg bis zur Easton Street zu schieben, damit er die schicke neue Fassade sehen kann.
»Auch wenn sie es herrichten, darauf liegt kein Segen«, sagt Mint. »Glaub mir: Im Hotel Nantucket spukt es, und mein Vater ist schuld daran.«
Mint redet wirr, denkt Charlene, er braucht dringend sein Mittagsschläfchen. Dann wendet sie den Rollstuhl und fährt ihn nach Hause zurück.
Es spukt?, denken wir.
Die eine Hälfte von uns ist skeptisch. (Wir glauben nicht an Geister und Gespenster.)
Die andere Hälfte ist neugierig. (Gerade als wir dachten, die Geschichte könnte nicht besser werden!)
Lizbet Keatons Trennungsplaylist
Good 4 U – Olivia Rodrigo
All Too Well (Taylor’s Version) – Taylor Swift
If Looks Could Kill – Heart
You Oughta Know – Alanis Morissette
Far Behind – Social Distortion
Somebody That I Used to Know – Gotye
Marvins Room – Drake
Another You – Elle King
Gives You Hell – The All-American Rejects
Kiss This – The Struts
Save It for a Rainy Day – Kenny Chesney
I Don’t Wanna Be in Love – Good Charlotte
Best of You – Foo Fighters
Rehab – Rihanna
Better Now – Post Malone
Forget You – CeeLo Green
Salt – Ava Max
Go Your Own Way – Fleetwood Mac
Since U Been Gone – Kelly Clarkson
Praying – Kesha
Seit der furchtbaren Trennung von JJ O’Malley hat Lizbet nach einem inspirierenden Spruch gesucht, der ihr helfen soll, sich endlich besser zu fühlen. Bei Wayfair hat sie schließlich ein gerahmtes Exemplar für siebenundsiebzig Dollar erstanden, der Spruch wird fälschlicherweise Sokrates zugeschrieben: Das Geheimnis der Veränderung ist, seine ganze Energie darauf zu fokussieren, nicht das Alte zu bekämpfen, sondern das Neue zu errichten. Sie hängt ihn am Fußende ihres Bettes an die Wand, sodass der Spruch das Erste ist, was sie beim Aufwachen und das Letzte, was sie beim Lichtausschalten am Abend sieht. Trotzdem verwendet sie immer noch ihre ganze Energie darauf, das Alte zu bekämpfen.
Sie durchlebt den letzten gemeinsamen Abend im The Deck immer wieder von neuem.
Eigentlich ist dieser letzte Abend im The Deck eine schöne, wenngleich auch traurige Tradition, da er das Ende der Sommersaison markiert. Lizbet und JJ müssen sich von ihrem Team verabschieden, in das sie so viel Zeit und Energie investiert haben (und Geld natürlich auch). Manche von ihnen werden im nächsten Frühjahr wiederkommen, aber eben nicht alle, weshalb kein Sommer ist wie der andere. Der letzte Abend gleicht einem ausgelassenen Fest für das Personal. Lizbet und JJ lassen es so richtig krachen, es gibt große Mengen Beluga-Kaviar. Eine Flasche Laurent-Perrier-Rosé nach der anderen wird geöffnet.
Tradition ist auch das Gruppenfoto am Geländer vor den Monomoy Creeks. Die Bilder werden gerahmt und hängen im Flur, der zu den Toiletten führt.
Das heutige Foto ist bereits das fünfzehnte. Sie kann es selbst kaum glauben.
Lizbet ruft alle zusammen. Die Kleinen nach vorn! Weinkellner Goose und Oberkellner Wavy nehmen die allseits beliebte (und außerdem ziemlich kleine) Peyton hoch und halten sie der Länge nach vor die Gruppe. Christopher und Marcus fassen einander an den Händen, ein erstes öffentliches Zeichen dafür, dass sie im Sommer ein Paar geworden sind. Ekash und Ibo sowie alle anderen Küchenhilfen, Tellerwäscher und Kellner kommen dazu, fügen sich in das große Ganze ein.
Lizbet nimmt JJs Telefon für das Foto, weil es gerade auf Tisch 10 genau vor ihr liegt. Sie gibt JJs Passwort ein – 0311, ihr Geburtstag –, und seine Nachrichten öffnen sich, die Schrift ist schon fast absurd groß (JJ will sich einfach nicht eingestehen, dass er eine Brille braucht). Als sie gerade dabei ist, die Nachrichten zu schließen, bleibt ihr Blick an einer davon hängen: Ich will dich so sehr. Darauf folgt: Sag mir, was ich für dich tun soll. Lizbet erstarrt, denkt jedoch erst einmal, Moment, das kann nichtJJs Telefon sein. Dieses iPhone 13 Pro Max mit metallic-blauem Gehäuse und einem Foto von Anthony Bourdain auf der Rückseite sowie ihrem Geburtstag als Passwort muss einer anderen Person gehören. Den Bruchteil einer Sekunde später – unglaublich, wie schnell ein Gehirn selbst Informationen verarbeitet, die der eigenen Intuition widersprechen – versteht sie, dass es doch JJs Telefon ist. Diese Nachrichten – sie schaut sie durch, bis sie Bilder einer weiblichen Brust und von etwas, das sie als JJs erigierten Penis identifiziert, findet – wurden mit Christina Cross, ihrer Weinvertreterin, ausgetauscht.
Da ruft Goose: »Libby, mach jetzt das Foto. So langsam wird die hier echt schwer!«
Lizbet zittern die Hände. Was hat sie da gefunden? Ist das echt? Passiert das gerade wirklich? Irgendwie schafft sie es, Haltung zu bewahren (erst später wird ihr bewusst, dass sie damit geradezu übermenschliche Stärke bewiesen hat). Sie macht die Fotos, dann nimmt sie JJs Telefon und rennt zur Damentoilette, wo sie sich in einer der Kabinen durch die 187 pornografischen Textnachrichten liest, die JJ und Christina in den letzten drei Monaten ausgetauscht haben. Die neueste stammt vom frühen Abend. Am liebsten würde Lizbet das Telefon die Toilette runterspülen, aber sie tut es nicht; sie hat die Weitsicht, Screenshots von den Nachrichten zu machen und an sich selbst zu schicken.
Dann geht sie zurück zur Party, die bereits in vollem Gange ist – Polo G singt laut Martina and Gina, Christopher, Marcus und Peyton tanzen. Lizbet entdeckt JJ an Nummer 1, dem beliebtesten Tisch des Restaurants, wo er mit ein paar Typen aus der Küche Bier trinkt.
»Da ist ja meine Königin«, sagt er, legt eine Hand auf Lizbets Taille und versucht, sie an sich zu ziehen und zu küssen. Sie entzieht sich und drückt ihm das Telefon gegen die Brust.
»Ich gehe nach Hause«, sagt sie.
»Was?« JJ nimmt sein Telefon und sieht die Nachrichten von Christina auf dem Bildschirm. »O Gott, nein. Libby, warte doch …«
Lizbet wartet nicht. Sie dreht sich um und geht, drückt sich an Wavy vorbei, der mitbekommen hat, dass irgendetwas nicht stimmt, und sie aufzuhalten versucht.
»Es ist nicht, wonach es aussieht!«, sagt JJ.
Und ob es das ist, denkt Lizbet, als sie zurück im Cottage an der Bear Street ist, das JJ und sie gemeinsam besitzen, und sich alle Nachrichten durchliest. Es ist genau das, wonach es aussieht.
Das Hotel Nantucket ist vielleicht der einzige Ort auf der Insel, an dem es weder gemeinsame Erinnerungen noch Erlebnisse von Lizbet und Jonathan James O’Malley gibt. Als Lizbet also mitbekommt, dass Xavier Darling das Hotel gekauft hat und eine Geschäftsführerin sucht, fährt sie sofort zu Bayberry Immobilien, um den schnellen Eddie zu treffen.
»Was kann ich für dich tun, Lizbet?«, fragt Eddie, als sie ihm gegenüber Platz nimmt. Sie hat ihn tatsächlich in einem seiner seltenen Momente im Büro erwischt. Eddie ist lieber mit seinem Porsche Cayenne auf der Insel unterwegs, um sich umzuschauen, dort draußen trägt er einen Panamahut und macht Geschäfte. »Ich hoffe, du bist nicht hier, um mir dein Cottage anzubieten? Falls doch, kann ich dir selbstverständlich einen exzellenten Preis machen …«
»Wie bitte? Nein!« Sie schüttelt den Kopf. »Warum? Was hast du gehört?«
Eddie räuspert sich. »Ich habe gehört, dass du und JJ euch getrennt habt …«
»Und?«
»Und dass du es kaum erwarten kannst, das Kapitel mit ihm abzuschließen. Und zwar endgültig. Deshalb dachte ich, dass du vielleicht die Insel verlassen willst.«
»Auf gar keinen Fall.« Wenn irgendjemand die Insel verlassen sollte, dannJJ! Aber sie will Eddie sicher nicht in ihr Drama hineinziehen; was auch immer sie jetzt sagt, wird sowieso die Gerüchteküche anheizen. »Ich bin hier, weil ich gern Xavier Darlings Kontaktdaten hätte.« Sie setzt sich zurecht und streicht sich die Zöpfe zurück. »Ich möchte mich für den Job als Geschäftsführerin im neuen Hotel Nantucket bewerben.«
»Hast du schon etwas über das Gehalt erfahren?«, fragt Eddie.
»Nein. Ich habe noch nicht einmal über das Gehalt nachgedacht.«
»Hundertfünfundzwanzigtausend Dollar pro Jahr«, sagt Eddie, »plus Zusatzleistungen.«
Lizbet lehnt sich zurück. Sie stellt sich vor, wie sie sich beim nächsten Zahnarztbesuch keine Sorgen mehr machen müsste, wenn Arzthelferin Janice ihr sagte, es wäre Zeit für Röntgenaufnahmen. »Wow.«
»Ich gebe dir gerne Xaviers E-Mail«, Eddie schnipst mit den Fingern. »Hast du nicht mal erzählt, dass deinem Vater ein Hotel in Wisconsin gehört?«
Lizbets Vater ist der Geschäftsführer eines Seniorenzentrums in Minnetonka, Minnesota. Als Jugendliche hat sie beim Bingo die Zahlen gezogen oder die Bewohner zu einem Termin im Friseursalon begleitet. Einmal hat sie auch als Jurorin die Butter-Skulpturen bewertet.
»So was in der Art«, sagt Lizbet.
Eddie nickt. »Xavier hätte gerne jemanden mit Erfahrungen im Luxushotelsegment.«
Lizbet blinzelt. Ein Four Seasons wird sie aus dem Seniorenzentrum Rising Sun niemals machen können.
»Außerdem wünscht er sich jemanden, der bereits mit der Denkmalschutzkommission und der dort für Nantucket zuständigen Person zu tun hatte.«
»Jemanden wie mich«, sagt Lizbet.
»Und der die Handelskammer bezirzen kann.«
»Auch ich«, sagt sie.
»Das Hotel hat einen ziemlich miesen Ruf loszuwerden.«
»Ja, das stimmt wohl«, antwortet sie. »Ich nehme an, du kennst die Gerüchte über den Geist?«
»Ich glaube nicht an Geister«, erwidert Eddie. »Und auf Gerüchte gebe ich auch nichts.«
Mindestens eine der beiden Aussagen ist eine glatte Lüge.
»Xavier ist der richtige Mann dafür«, sagt Eddie. »Es gibt jede Menge Konkurrenz im Luxussegment – den Beach Club, das White Elephant oder das Wauwinet. Ich habe ihn gewarnt, dass ich mir nicht sicher bin, ob es da noch mehr Bedarf gibt, aber er hat sich nicht beirren lassen, das nötige Kleingeld bringt er außerdem mit. Das Hotel soll bereits im Juni eröffnet werden, und Xavier zufolge wird es die beste Unterkunft, die es auf dieser Insel je gegeben hat. Und dafür will er natürlich die richtige Person am Steuer.«
Lizbet springt fast von ihrem Stuhl auf, so sehr will sie diesen Job. »Noch heute Abend werde ich Mr. Darling meine Bewerbung schicken. Meinst du, du könntest ein gutes Wort für mich einlegen?«
Eddie tut so, als müsste er nachdenken. Lizbet hofft, dass er sich an die vielen Male erinnert, die er auf den letzten Drücker im The Deck angerufen hat. Jedes Mal hat sie einen Tisch für ihn organisiert, selbst wenn sie vollkommen ausgebucht waren und es bereits eine Warteliste gab. Eddie wollte am liebsten an Tisch 1 sitzen, und sie hat ihm diesen Wunsch nach Möglichkeit erfüllt (dass an einem Abend David Ortiz dort saß und an einem anderen Ina Garten war schließlich nicht Lizbets Fehler!).
»Ich werde kein gutes Wort für dich einlegen«, antwortet Eddie. »Sondern ein überragendes.«
Eine Woche später hat Lizbet via Zoom ein Vorstellungsgespräch mit Xavier Darling. Obwohl sie annimmt, es gerockt zu haben – sie hatte schließlich den Namen des Ansprechpartners bei der zuständigen Denkmalschutzkommission fallen lassen, um ihre guten Beziehungen vor Ort zu verdeutlichen –, konnte sie an Xaviers Verhalten nichts ablesen. Lizbet vermutete, dass jemand wie Xavier Darling sicher nur die Top-Leute auf seiner Liste stehen hatte, wie etwa die Geschäftsführer des Wynn Las Vegas oder des XV Beacon Hotel in Boston. Zwei Tage später meldete er sich dann über Zoom und bot ihr den Job an. Sie blieb ganz ruhig und gefasst, während sie das Angebot annahm, sobald sie jedoch Meeting verlassen gedrückt hatte, sprang sie vor Freude in die Luft und formte mit den Händen das Victoryzeichen über ihrem Kopf. Dann ließ sie sich auf den Stuhl fallen und weinte Tränen der Dankbarkeit.
Das Geheimnis der Veränderung ist, seine ganze Energie darauf zu fokussieren, nicht das Alte zu bekämpfen, sondern das Neue zu errichten.
Am Morgen des 12. April ist Lizbet allerdings erneut damit beschäftigt, das Alte zu bekämpfen. Christinas Anruf geht ihr nicht aus dem Kopf, bei dem diese ihr Sexting erklären wollte (diese Nachrichten bedeuten überhaupt nichts, Libby,JJund ich haben uns nur einen Spaß erlaubt). Da erhält sie eine Nachricht von Xavier Darling, der um ein Treffen bittet. Es ist sechs Uhr dreißig – Xavier in England scheint sich der Zeitverschiebung nicht bewusst zu sein –, und Lizbet seufzt. Eigentlich stand gerade Peloton auf dem Programm. Aber da sie nun einmal seinen Konditionen zugestimmt hat, zieht sie sich eine Bluse über ihre Trainingssachen, legt sich die Zöpfe über die Schulter und zupft ihren Pony zurecht.
Der Konferenz beitreten.
»Guten Morgen, Elizabeth.« (Xavier weigert sich, sie Lizbet zu nennen, auch wenn sie ihn schon zweimal darum gebeten und ihm erzählt hat, dass die einzige Person, die sie jemals Elizabeth genannt hat, ihre verstorbene Großmutter war.) Hinter Xavier sieht Lizbet Big Ben und die Houses of Parliament, ein derart klischeehafter Blick auf London, dass es genauso gut ein Zoom-Hintergrund sein könnte.
»Guten Morgen, Sir.« Lizbet versucht, sich nicht von seinem ernsten Tonfall beunruhigen zu lassen, auch wenn sie sich gleichzeitig fragt, ob heute der Tag ist, an dem die ganze Sache sich als verspäteter Aprilscherz entpuppt.
»Ich rufe an, um ein paar Dinge klarzustellen, die bisher vielleicht nicht deutlich genug waren.«
Lizbet erstarrt.
»Sie haben mich bisher nicht gefragt – und sonst ehrlich gesagt auch niemand –, warum ich dieses Hotel gekauft habe. Schließlich lebe ich in London und war noch nie auf Nantucket.« Er hält inne. »Haben Sie sich das denn gar nicht gefragt?«
Natürlich hat sich Lizbet nach dem Warum gefragt, das Ganze aber als typisches Verhalten reicher Leute abgetan: Die kaufen ständig Sachen, einfach weil sie es können.
»Ich habe dieses Hotel gekauft«, fährt Xavier fort, »weil ich damit zwei Frauen beeindrucken möchte.«
»Zwei Frauen?« Lizbet kontrolliert beiläufig das Kamerabild, ihr Erstaunen ist ihr nicht anzusehen. Gut so. Natürlich hat sie Xavier Darling gegoogelt. Einem Artikel der Londoner Ausgabe der Times zufolge war er noch nie verheiratet und hat keine Kinder. Im Internet gab es Fotos von ihm bei der Royal-Scot-Rennwoche oder beim Cartier-Queen’s-Cup-Poloturnier, immer mit jungen, schönen Frauen an seiner Seite, wenn auch nie zweimal mit derselben. Wer sind also die zwei Glücklichen, und werden sie beide nach Nantucket kommen? Das könnte für allerhand Gesprächsstoff auf der Insel sorgen! Am liebsten würde sie anmerken, dass es ihn sicher günstiger gekommen wäre, den beiden Frauen jeweils einen Privatjet oder ein nicht ganz so berühmtes Gemälde von van Gogh zu kaufen.
»Ja«, bestätigt Xavier da. »Ich werde Ihnen jetzt verraten, wer die eine der beiden Frauen ist.«
»Wunderbar, Sir.«
»Eine der Frauen, die ich gerne beeindrucken möchte, ist Shelly Carpenter.«
Shelly Carpenter, denkt Lizbet. Natürlich.
»Wissen Sie, wer Shelly Carpenter ist?«, fragt Xavier.
»Bleibt gesund, Freunde«, zitiert sie. »Und tut Gutes.«
»Genau«, sagt Xavier. »Elizabeth, ich will eine Fünf-Schlüssel-Rezension auf Hotel Confidential.«
Lizbet kontrolliert noch einmal ihr Aussehen im Kamerabild. Wirkt sie erstaunt? Ja – jetzt schon. Genau wie acht Millionen anderer Leute folgt Lizbet Shelly Carpenter auf Instagram. Ihr Account @hotelconfidentiallybySC ist geradezu eine Obsession der gesamten Nation geworden. Am letzten Freitag jeden Monats postet Shelly Carpenter Punkt zwölf einen zehn Bilder umfassenden Beitrag zu einem Hotel (es wird gemunkelt, sie mache die Fotos mit ihrem iPhone) – der Link in ihrer Bio führt zu ihrem Blog Hotel Confidential, auf dem sie für jedes Hotel Schlüssel vergibt, fünf sind das Maximum. Ihre geistreiche und fantastische Schreibe, gepaart mit rasiermesserscharfer Intelligenz und einem ausgeprägten Sinn dafür, was bei Hotels funktioniert und was nicht, sind ihr Erfolgsrezept – aber ein weiterer Erfolgsfaktor ist natürlich auch das Geheimnisvolle. Niemand weiß, wer sie ist. Das Internet ist sich nur in einer Sache sicher: Shelly Carpenter ist ein Pseudonym.
Wie auch immer ihr richtiger Name lautet, sie bereist die ganze Welt und bewertet dabei das südkalifornische Hampton Inn in Murrells Inlet mit demselben kritischen Blick wie das Belmond Cap Juluca in Anguilla. (Beide haben vier von fünf Schlüsseln bekommen.) Außerdem ist allseits bekannt, dass Shelly noch nie fünf Schlüssel vergeben hat. Sie gibt vor, auf der Suche nach dem perfekten Hotel zu sein, aber Lizbet hält das für eine Finte. Shelly wird niemals fünf Schlüssel vergeben, denn genau das ist ihre Währung.
»Tja, Sir, wir werden unser Bestes geben«, erwidert sie.
»Das wird nicht reichen, Elizabeth«, sagt Xavier. »Wir müssen alles tun, was nötig ist, um das einzige Hotel auf der Welt zu sein, dem diese Frau fünf Schlüssel zuspricht. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Sir. Ich habe verstanden.«
»Werden wir also fünf Schlüssel auf Hotel Confidential bekommen, bevor der Sommer zu Ende ist?«
In Lizbet erwacht die Lust auf Wettbewerb, die sie nicht mehr verspürt hat, seit sie mit ihren Brüdern in Minnesota den Serpent Lake durchschwommen hat.
Das Neue errichten, denkt sie und meint in jenem Augenblick wirklich, das (geradezu) Unmögliche erreichen zu können – egal welche Hürden sie dafür nehmen muss.
»Wir werden fünf Schlüssel bekommen.«
Seit hundert Jahren versucht Grace nun schon, diese ganzen Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Ein für alle Mal: Sie wurde ermordet!
Der Nantucket Standard berichtete im August 1922, das neunzehnjährige Zimmermädchen Grace Hadley sei in dem Feuer umgekommen, das im dritten Stock und auf dem Dachboden des bekannten Hotel Nantucket gewütet habe – Ursache des Feuers sei eine »unachtsam weggeworfene Zigarettenkippe unbekannten Ursprungs« gewesen. Irgendwie stimmte das zwar, aber der Artikel sparte geheime, schlüpfrige Einzelheiten aus, die nur Grace wusste. Jackson Benedict, der Hotelbesitzer, hatte für Grace in einer Besenkammer auf dem Dachboden direkt über seinen Gemächern ein Klappbett aufgebaut, sodass er sich zu ihr hinaufstehlen und sie »besuchen« konnte, wann immer er vor Ort war. Neben ihrer Arbeit als Zimmermädchen diente Grace Jacks Ehefrau Dahlia Benedict als Zofe. An dem ersten Arbeitstag von Grace spuckte Dahlia ihr einen Schnaps ins Gesicht, wodurch sie vorübergehend erblindete. Freundlich war Dahlia Benedict nie zu ihr, nannte sie hässlich und renitent.
Bevor das Feuer in den frühen Morgenstunden des zwanzigsten Augusts ausbrach, veranstalteten Jack und Dahlia wie an jedem Sommerwochenende ein Abendessen mit Tanz im Ballsaal. Diese luxuriösen Veranstaltungen endeten meist damit, dass Dahlia sich betrank und dann anderen Männern an den Hals warf. Daraufhin brachte Jackson Benedict sie in ihre gemeinsame Suite, wo sie sich gegenseitig lautstark beschimpften, einmal warf Dahlia sogar einen silbernen Kerzenleuchter nach Jack, verfehlte ihn knapp, traf dafür ihre Tigerkatze Mittens (woraufhin die Katze ihr Leben lang ein Bein nachzog). Grace konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Jack bei einem dieser Kämpfe ihr gemeinsames Geheimnis hervorzog wie den Dolch aus der Scheide. Ich schlafe mit deiner Zofe Grace.
Mehr brauchte Dahlia sicher nicht zu hören.
Grace wurde vom Klang der Sirenen geweckt (gedämpft jedoch, schließlich war sie auf dem Dachboden), sie roch den Rauch und spürte die sengende Hitze der Bodendielen – als stünde sie auf einem Rost –, aber sie kam nicht aus der Besenkammer hinaus. Die Tür war verriegelt. Sie schlug dagegen, schrie, »Hilfe! Rettet mich! Jack! Jack!«, niemand hörte sie. Jack war der einzige Mensch, der wusste, dass sie auf dem Dachboden schlief, und er war nicht gekommen.
Geister sind Seelen, die noch etwas auf der Erde zu erledigen haben, so war es auch im Fall von Grace. Sie versuchte zwar, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um ewige Ruhe zu erlangen – aber es funktionierte nicht und konnte auch nicht funktionieren. Sie muss noch so lange in dem verfluchten Hotel weiterspuken, bis die furchtbare Wahrheit ans Licht kommt: Dahlia Benedict hat absichtlich das Feuer gelegt und dann von außen die Tür zur Besenkammer versperrt. Sie hat Grace getötet! Doch Dahlia war nicht allein schuld an ihrem Tod. Jack hat sich Grace aufgedrängt, und durch die große soziale Kluft zwischen ihnen blieb Grace nichts anderes übrig, als sich ihm zu fügen. Jack hatte sie nicht gerettet. Er konnte nicht zu seiner Geliebten stehen, also ließ er sie elend verbrennen.
Nach dem Feuer hatte Jack das Hotel zum Schleuderpreis verkauft – Grace jedoch war fest entschlossen, die Leute wissen zu lassen, dass sie immer noch dort war.
Sie begann mit den zwei Meter fünfzig hohen Türen aus Mahagoniholz: Termiten.
Darauf folgte die Seide, die von den zum Walfang gedachten Segelschiffen aus Asien mitgebracht worden war, später waren Samt, Brokat und Leinen dran: Motten, Schimmel und Ungeziefer.
Grace flutete das Hotel mit dem Gestank verfaulter Eier. Die Geschäftsführung nahm an, es müsse an der Güllegrube liegen, und rief den Installateur, aber nichts konnte den Geruch vertreiben.
Nach dem Börsencrash von 1929 musste das Hotel schließen. Während der darauffolgenden Weltwirtschaftskrise und natürlich auch während des Krieges blieb es verrammelt. Das waren langweilige Jahre für Grace. Nur sie, die Ratten und ab und zu eine Eule. Ein jeder, der von dem blutjungen Zimmermädchen gehört hatte, das bei dem Feuer im Hotel ums Leben gekommen war, hatte damals andere Sorgen.
In den fünfziger Jahren vermarktete der neue Besitzer die Immobilie als »günstige, familienfreundliche Unterkunft«. Das bedeutete abgenutzte Bettlaken, die ebenso schnell rissen wie nasse Papiertaschentücher, und wild gemusterte Tagesdecken, damit Flecken weniger auffielen. Grace hoffte, dass Jack, wo auch immer er sich gerade aufhalten mochte, wusste, wie sein ehemals elegantes Hotel verkam.
In den achtziger Jahren, als Filme wie Poltergeist oder Ghostbusters ausgestrahlt wurden, war auf einmal jeder Experte für paranormale Phänomene, und es kam in Mode, zu behaupten, im Hotel spuke es. Endlich!, dachte Grace. Irgendjemand musste doch nun wirklich nachforschen und würde dabei sicher herausfinden, was ihr angetan worden war. Grace begann also damit, die Hotelgäste, die es verdient hatten, heimzusuchen: Ehebrecher und Sadisten, Betrüger, Großmäuler und Dummschwätzer. Die Vorkommnisse häuften sich – unerwartete Zugluft, Klopfgeräusche, ein Schüsselbund, der auf dem Servierwagen im Flur des dritten Stocks plötzlich zu kreisen begann, Wasser, das aus dem Nirgendwo auf das Gesicht eines schlummernden Gastes tropfte. (Er hatte den Ruf, die jungen Frauen bei sich im Büro zu begrapschen.)
Das Hotel wurde erneut verkauft, dieses Mal an ein junges Paar, das es mit wenig Geld renovieren wollte. War solch ein Vorhaben jemals von Erfolg gekrönt? Dieses zumindest nicht, auch wenn das Hotel schleppend bis ins neue Jahrtausend weiterlief. 2007 wechselte es erneut den Besitzer und gehörte fortan einem Mann ohne Geschmack (Grace hatte dem Innenarchitekten über die Schulter geschaut und Pläne von runden Betten und Spiegeln mit abgeschrägten Kanten entdeckt). Aber das Hotel wurde unter seiner Ägide nie eröffnet, da er in Bernard Madoff investierte und alles verlor.
Danach stand das Hotel erneut leer, und Grace langweilte sich. Während des Hurrikans José 2017 zerstörte sie ein Fenster, wodurch ein Teil des Daches abgedeckt wurde und Reste davon die North Beach Street entlangtrieben.
Nach dem Sturm war es mühelos möglich, die Tür des verlassenen Hotels zu öffnen, sodass die Lobby zum Schauplatz mehrerer heimlicher Highschool-Partys wurde. Grace lernte so einiges, während sie den Jugendlichen lauschte, sie beobachtete, wie sich Paare von der Gruppe lösten und die dunklen Flure entlangliefen, um in den Gästezimmern ungestört zu sein. Sie begeisterte sich für ihre Musik (Levitating von Dua Lipa). Sie hörte von Instagram, Tinder, Bumble, YouTube, TikTok – und der Besten all dieser Apps: Snapchat (geisterhaft geradezu!). Grace lauschte den Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und stellte mit der Zeit fest, wie sie immer stärker dafür brannte. Jeder Mensch besaß Würde, selbst das Zimmermädchen/die Geliebte, die in einer Besenkammer leben musste!
Grace und die Jugendlichen kamen gut miteinander aus, bis ein Mädchen namens Esmé das Foto eines anderen Mädchens namens Genevieve postete, und zwar in Unterwäsche in der Umkleidekabine beim Sport, um diese bloßzustellen und sich über ihren Körper lustig zu machen. Beim nächsten Mal, als Esmé das Hotel betrat, erschien das Gesicht von Grace auf ihrem Telefon – ihre Haare waren noch immer dunkel gelockt unter der weißen Rüschenhaube, aber dort, wo eigentlich ihre Augen sein sollten, sah man in zwei schwarze Löcher, und als sie ihren Mund öffnete, züngelten Flammen hervor.
Esmé wurde ohnmächtig. Als sie nach einer Weile wieder zu sich kam, schwor sie den anderen, einen Zombie auf ihrem Telefon gesehen zu haben. Echt wahr, wie bei Twilight, postete sie, ein verfluchter Geist! Manche der Jugendlichen googelten Hotel Nantucket und Spuk. Aber sie fanden nichts. Die digitalisierten Ausgaben des Nantucket Standard reichten nur bis 1945 zurück. Um etwas zu finden, hätten sie in Archiven stöbern müssen. Bereits das Wort Archiv klang allerdings nach Stapeln staubigen Papiers und verlangte mehr Einsatz, als sie bereit waren, zu geben.
Durch ihr Verhalten hatte Grace also eine Möglichkeit vertan, anerkannt zu werden. Und nicht nur das, auch die Partys endeten, und sie war wieder allein.
Grace ist, in den Worten der Jugendlichen, hyped, dass ein sehr reicher Geschäftsmann das Hotel gekauft und kompetente (und außerordentlich schnelle) Firmen beauftragt hat, es wieder auf Vordermann zu bringen, auch die Innengestaltung zeugt von äußerst gutem Geschmack. Grace hält sich in den unteren drei Etagen auf und bleibt dabei dezent im Hintergrund, manchmal, wenn sie einen Raum betritt, passiert es allerdings, dass jemand sich schüttelt und fragt: »Ist es hier gerade irgendwie kälter geworden?«
Manche Menschen können Grace sehen, sie nennt sie die für Übernatürliches Empfänglichen. Sie können Grace etwa als Reflexion in Spiegeln und Glas wahrnehmen, die meisten Menschen jedoch bemerken überhaupt nichts. Außerdem ist Grace in der Lage, schaurige, aber harmlose Aktionen durchzuführen. Wenn sie ihre gesamte Energie darauf verwenden würde, jemanden anzugreifen, könnte sie die Person vermutlich auch verletzen. (Natürlich hat sie sich manchmal vorgestellt, Dahlia Benedict eine zu verpassen, nicht nur um sich selbst zu rächen, sondern auch die Katze Mittens.)
In Zimmer 101 betrachtet sich Grace in dem gerade erst auf der Tür des Wandschranks angebrachten Ganzkörperspiegel und denkt: Nein, das geht so nicht. Durch ihr langes taubengraues Kleid und die vergilbte Schürze wirkt sie wie eine Statistin in einem Merchant-Ivory-Film. Das Problem mit der altmodischen Garderobe löst sich aber kurz darauf, da sie die Kiste mit den neuen Hotelbademänteln entdeckt. Diese sind aus weißem Baumwollwaffelgewebe gefertigt und mit weichem, aufnahmefähigem Frottee gefüttert. Grace zieht ihr Kleid aus – nackt könnte sie noch immer als neunzehnjähriges Mädchen durchgehen – und schlüpft in den Bademantel. Er fühlt sich warm und wohlig an wie eine Umarmung, und Taschen hat er sogar auch! Graces Entschluss steht fest, sie wird ihn behalten. Wenn jemand ihr Bild in einem Spiegel entdecken sollte, was würde diese Person sehen? Einen Geist im Bademantel. Oder nur einen schwebenden Bademantel, der um einen unsichtbaren Körper gewickelt ist?
Furchteinflößend wäre es so oder so. Das gefällt Grace.
Als die neue Geschäftsführerin Lizbet Keaton mit einer Kiste durch die frisch aufgearbeitete Eingangstür tritt, denkt Grace: Endlich hat hier eine Frau das Sagen! Lizbet sieht fit und sportlich aus in ihrer Yogahose, der Windjacke und mit der Baseballcap der Minnesota Twins auf den blonden Zöpfen. Auch wenn ihr Gesicht so natürlich wie das eines Kindes wirkt – sie ist ungeschminkt –, schätzt Grace sie auf fünfunddreißig bis vierzig Jahre.
Lizbet stellt die Kiste mit ihren Sachen auf den neuen Empfangstresen und sieht sich mit erhobenen Armen um, als wollte sie die gesamte Lobby umarmen. Mut und Zielstrebigkeit strahlt sie aus, findet Grace und ist fast ein bisschen verliebt in sie.
Hallo, Lizbet, denkt Grace. Ich bin Grace. Willkommen im Hotel Nantucket.
Lizbet plant die dritte Aprilwoche für die letzte Runde Vorstellungsgespräche ein. Sie hat Anzeigen im Nantucket Standard, der Cape Cod Times und dem Boston Globe geschaltet, außerdem auf Monster, ZipRecruiter und Hcareers, aber leider haben sich nicht so viele Interessenten gemeldet wie erhofft. Lizbet hat sogar ihre Spam-Ordner durchgesehen, aber nichts außer E-Mails von FarmersOnly.com gefunden (während eines Tiefs nach der Trennung von JJ hatte sie tatsächlich den Fehler gemacht, die Partnervermittlungswebsite für Landwirte zu testen).
Xavier gegenüber erwähnt Lizbet die enttäuschende Ausbeute nicht, schließlich ist sie für das Tagesgeschäft zuständig. Sie kann eigentlich ja auch froh sein, nicht unzählige Bewerbungen von Studierenden zu bekommen, deren Großmütter dann am zweiten Augustwochenende sterben. Sie braucht schließlich nicht viele Leute, sondern die richtigen.
Grace trägt ihren neuen Bademantel und, um ihr Spitzenhäubchen zu ersetzen, die Minnesota-Twins-Cap, die sie vor ein paar Tagen aus Lizbets Sporttasche stibitzt hat. Sie hat es sich auf dem obersten Regalbrett in Lizbets Büro gemütlich gemacht, einem ausgezeichneten Aussichtspunkt, um die Bewerber zu begutachten. Grace erinnert sich noch ganz genau daran, wie sie im Frühjahr 1922 eingestellt wurde. Mindestens vierzig Mädchen waren in den Ballsaal des Hotels gebracht worden, dort bekam jede von ihnen einen Putzlumpen überreicht. Mrs. Wilkes, die erste Hausdame des Hotels, hatte die Putztechnik aller versammelten Bewerberinnen begutachtet, während diese die Wandvertäfelung und die runden Festtafeln aus Eichenholz abstaubten. Grace nahm an, dass Mrs. Wilkes auch nach Aussehen auswählte, da hauptsächlich die hübschen Mädchen eine Stelle bekamen, die hässlichen wurden nach Hause geschickt.
Grace studiert über Lizbets Schulter hinweg die Bewerbungen, die auf dem Schreibtisch liegen. Die erste Kandidatin stammt von Nantucket und hört auf den Namen Edith Robbins, sie bewirbt sich auf eine Stelle am Empfang. Lizbet öffnet die Tür zu ihrem Büro und bittet Edith – eine junge Frau mit strahlender, gebräunter Haut, die einen Bleistiftrock und Stilettoabsätze trägt – herein und fordert sie auf, Platz zu nehmen.
»Die süße Edie!«, sagt Lizbet. »Ich kann einfach nicht glauben, wie groß Sie mittlerweile sind! Ich weiß noch genau, wie Ihre Eltern mit Ihnen im The Deck Geburtstag gefeiert haben.«
Die süße Edie strahlt. »Jedes Jahr.«
»Wie geht es Ihrer Mutter? Seit der Beerdigung Ihres Vaters habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Sie arbeitet Vollzeit bei Flowers on Chestnut und hat den Platz meines Vaters im Rotary Club eingenommen«, erzählt Edie. »Sie ist viel beschäftigt.«
»Richten Sie ihr bitte meine Grüße aus. Jetzt wird mir erst klar, dass Ihre Eltern beide Erfahrungen im Gastgewerbe haben. Aber wollte Ihre Mutter nicht, dass Sie im Beach Club arbeiten?«
»Ja, stimmt«, erwidert Edie. »Aber ich fand diese Option hier spannender. Die ganze Insel spricht über nichts anderes.«
»Ach wirklich? Was erzählen sich die Leute denn?«
Edie schenkt Lizbet ein etwas verkrampftes Lächeln. Was erzählen sich die Leute denn?, fragt sich auch Grace.
»Ihre Bewerbungsunterlagen sind wirklich beeindruckend«, sagt Lizbet da. »Sie haben einen Abschluss in Hotelverwaltung. Sie hatten ein Stipendium und waren Jahrgangsbeste.«
Natürlich war sie das, denkt Grace. Schau sie dir doch an.
»Was würden Sie als das Wichtigste im Gastgewerbe begreifen?«, fragt Lizbet.
»Mit jedem Gast eine authentische Beziehung aufzubauen, und zwar von der ersten Minute an«, antwortet Edie. »Eine freundliche Begrüßung, ein nettes Lächeln. ›Wir freuen uns, Sie hier willkommen heißen zu dürfen. Wir möchten Ihren Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich gestalten.‹«
»Sehr gute Antwort«, erwidert Lizbet. »Hier steht, Sie haben im Statler Hotel auf dem Campus der Cornell University gearbeitet und letzten Sommer dann im Castle Hill Inn in Newport?«
»Ja, mein Freund und ich haben zusammen im Castle Hill gearbeitet. Ein wirklich beeindruckendes Hotel.«
Lizbet sieht interessiert auf. »Ist Ihr Freund den Sommer über auch hier? Wir brauchen nämlich noch …«
»Wir haben uns kurz nach dem Abschluss getrennt«, sagt Edie.
Grace fragt sich, welcher Trottel bloß so ein einnehmendes, junges Wesen ziehen lässt.
»Wir haben beide eine Einladung zum Management-Training des Ritz-Carlton bekommen«, fährt Edie fort. »Aber ich wollte den Sommer lieber bei meiner Mutter auf Nantucket verbringen. Graydon hat gefragt, ob er auch kommen kann, und ich habe Nein gesagt. Ich wollte als unabhängige Frau in mein Erwachsenenleben starten.«
Gut gemacht, denkt Grace. Wenn das damals schon eine Option gewesen wäre, hätte sie sich sicher auch dafür entschieden, eine unabhängige Frau zu sein.
»Ich biete Ihnen gerne einen Job bei uns am Empfang an«, sagt Lizbet. »Der Stundenlohn liegt bei fünfundzwanzig Dollar.«
Grace versteht, was Inflation ist, dennoch kommt ihr der Betrag irrwitzig vor. 1922 hat sie fünfunddreißig Cent pro Stunde bekommen!
»Wir zahlen deutlich über dem Gastgewerbestandard«, führt Lizbet aus. »Aber wir erwarten auch mehr. Der Zeitplan ist sehr straff.«
»Kein Problem«, sagt Edie. »Uns ist immer wieder eingetrichtert worden, dass wir kein Privatleben haben werden.«
»Ich sehe, Sie sind gut vorbereitet.« Lizbet lehnt sich vor. »Sie folgen Shelly Carpenter auf Instagram, nehme ich an?«
»Bleibt gesund, Freunde«, sagt Edie. »Und tut Gutes. Ihre Rezensionen haben echt Feuer.«
Feuer, denkt Grace. Auch eins dieser Wörter, das endlich durch etwas anderes abgelöst werden könnte.
»Glauben Sie, dass sie jemals fünf Schlüssel vergeben wird?«, fragt Lizbet.
»Meine Freunde und ich haben schon oft darüber diskutiert, wofür sie wohl den fünften Schlüssel vergeben würde. Die Frau ist so penibel, aber gleichzeitig sind ihre Anforderungen auch nicht überzogen. Wenn man fettarme Milch für den Kaffee bestellt, sollte man auch welche bekommen. Der Föhn muss funktionieren, auch ohne dass man vorher den Reset-Knopf drückt. Meiner Meinung nach sind fünf Schlüssel möglich, wenn man aufmerksam genug ist und die entsprechenden Ressourcen hat.«
»Fantastisch. Der Hotelbesitzer Mr. Darling ist fest entschlossen, fünf Schlüssel zu bekommen.«
Die süße Edie strahlt über das ganze Gesicht. »Da bin ich sehr gern dabei!«
Das nächste Vorstellungsgespräch ist ganz nach Graces Geschmack, es geht um die Position der ersten Hausdame! Grace überfliegt die Bewerbung: Magda English, neunundfünfzig Jahre alt. Es sind zwei Adressen angegeben, eine in Saint Thomas, eine der amerikanischen Jungferninseln in der Karibik, die andere ganz in der Nähe, in der West Chester Street. Ms. English hat zweiunddreißig Jahre Erfahrung auf XD-Kreuzfahrtschiffen gesammelt, ist 2021 in Rente gegangen und bewirbt sich dennoch hier als nächste Mrs. Wilkes.
Lizbet trifft Ms. English (»Bitte«, sagt sie, »nennen Sie mich doch Magda«) in der Lobby, und Grace folgt den beiden mit etwas Abstand den Flur hinunter, sie sieht sofort, dass dieser Frau nichts entgeht.
»Wir haben sechsunddreißig Zimmer«, sagt Lizbet. »Und zwölf Suiten.«
Magdas Haltung ist vornehm, auf ihrem Gesicht ist kaum eine Falte zu sehen. Während sie und Lizbet den Flur entlanglaufen, bewundert sie die Decke aus Mahagoniholz und die Messingbullaugen an den Wänden, die aus einem französischen Ozeandampfer geborgen wurden. »Ich habe bisher auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet, das kommt mir hier ganz vertraut vor«, sagt Magda. Sie spricht mit dem leicht singenden Tonfall der Westindischen Inseln. (Mrs. Wilkes hatte eher eine Stimme wie ein Reibeisen.) »Die Bullaugen sollten mindestens einmal pro Woche poliert werden.«
Lizbet öffnet die Tür zu Zimmer 108. Grace schlüpft hindurch und lässt sich oben auf dem Betthimmel nieder, ihre Kleidung zupft sie nur aus Gewohnheit zurecht. Dort oben ist sie weder im Spiegel noch im Fenster zu sehen.
Magda geht zu dem Emperor-Size-Bett hinüber und fährt mit der Hand über die Laken. »Matouk-Wäsche?«
»Sehr gut erkannt«, sagt Lizbet.
»Mit erstklassiger Bettwäsche kenne ich mich aus.« Magda befühlt den hortensienblauen Bettüberwurf aus Kaschmir, der am Fuße des Bettes liegt. »Sehr hübsch.«
»Die gibt es in allen Zimmern. Sie wurden bei Nantucket Looms extra für das Hotel angefertigt.«
»Ich hoffe, sie werden noch weitere davon herstellen«, sagt Magda, »da sie sicher aus Versehen in dem ein oder anderen Reisegepäck landen werden.« Sie steckt kurz den Kopf in den begehbaren Kleiderschrank und ins Badezimmer. »Aus wie vielen Leuten bestünde mein Team?«
»Vier«, antwortet Lizbet.
Magda lacht. »Das ist ein Zehntel dessen, was ich sonst zur Verfügung habe. Aber es sollte reichen.«
»Wie sind Sie nach Nantucket gekommen?«, fragt Lizbet.
Magda seufzt. »Die erste Hälfte meiner Laufbahn habe ich auf Schiffen im Mittelmeer verbracht, dann habe ich darum gebeten, in Richtung Heimat in die Karibik versetzt zu werden. Als die Frau meines Bruders im September starb, bin ich in Rente gegangen und hierhergezogen, um mich um ihn und meinen Neffen Ezekiel zu kümmern.«
»Ezekiel English ist ihr Neffe? Heute Nachmittag habe ich ein Vorstellungsgespräch mit ihm.«
»Er ist ein toller Junge, Sie werden sehen.« Sie lächelt. »Ezekiel und William haben eine harte Zeit durchgemacht … Aber jetzt, da es ihnen wieder besser geht, freue ich mich über einen kleinen Job, der meine Tage ausfüllt.«
Lizbet zieht die Augenbrauen hoch. »Das hier ist mehr als ein kleiner Job.«
»Es ist sicher kein Kreuzfahrtschiff«, sagt Magda. »Ich arbeite nach den höchsten Standards, das wird Ihnen mein letzter Arbeitgeber bestätigen. Und ich verspreche Ihnen, dass das Hotel sauberer sein wird als je zuvor.«
Ach ja?, denkt Grace empört. Das wollen wir aber erst einmal sehen.
Nachdem Magda gegangen ist, überlegt Lizbet, ob sie eine kleine Joggingrunde am Mittag einschieben oder sich eins der neuen Mountainbikes aus der hoteleigenen Flotte schnappen soll, um sich ein wenig auszupowern. Heute Morgen hatte sie endlich gespürt, dass Tauwetter bevorstand, aber so sehr es sie auch reizte, nach draußen zu gehen, blieb sie schließlich doch vor dem Laptop sitzen. Zuerst überprüft sie die Referenzen eines verheirateten Paares – Adam und Raoul Wasserman-Ramirez –, da sich die beiden als Hotelpagen beworben hatten. Momentan arbeiten sie im Four Seasons in Punta Mita in Mexiko und wollen den Sommer in Neuengland verbringen. Lizbet hat die Entscheidung über die Bewerbungen der beiden bisher zurückgestellt, weil sie sich unsicher ist, ob es eine gute Idee wäre, ein verheiratetes Paar für ein und denselben Job anzuheuern, auch wenn beide am Telefon einen guten Eindruck gemacht haben. Aber was, wenn sie sich stritten oder einer deutlich besser war als der andere?
Die E-Mail der Geschäftsführung des Four Sesaons lobt die beiden in den höchsten Tönen. Darin steht, Adam habe eine wundervolle Singstimme. Warum sollte das von Bedeutung sein?, fragt sich Lizbet. Er wird doch Koffer tragen. Die Nachricht endet mit dem Satz: Im Four Seasons Punta Mita haben wir es so gehalten, dass die Eheleute Wasserman-Ramirez in unterschiedliche Schichten eingeteilt waren.
Ha! Ihr Gefühl hat sie nicht getäuscht – dennoch braucht sie weiterhin drei Hotelpagen, und es gibt kaum Bewerbungen. Sie wird Adam und Raoul einstellen.
Als Nächstes prüft sie, auch wenn sie sich eigentlich vorgenommen hatte, das nicht zu tun, ob es neue Reservierungen für die Eröffnungswoche gibt.
Es gibt eine neue. Von einem Paar aus Syracuse, das vier Nächte bleibt. Eine erfreuliche Nachricht, wenn man jedoch bedenkt, dass die gesamte Auslastung erst bei fünfundzwanzig Prozent liegt, obwohl die Website schon seit einer Woche online ist, ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Auf allen großen Reiseportalen und Buchungsplattformen hatte sie Werbebanner schalten lassen, und auch ihre Pressemitteilung war wirklich gut gewesen, fand Lizbet, aber bisher hatten nur wenige reagiert. Als Lizbet daraufhin Jill Tananbaum vom Nantucket Standard anrief, um nachzuhaken, was aus dem Artikel geworden sei, hatte diese geantwortet: »Jordan Randolph hat gesagt, dass er den Artikel irgendwann bringen wird, aber wann, ist wohl noch nicht klar.«
Lizbet legt entmutigt auf. Der Ruf des Hotels war zugegebenermaßen unterirdisch, und auch Xaviers Interesse daran war irgendwie kompliziert, aber es hatte schließlich eine bemerkenswerte Verwandlung durchgemacht.
Das Neue errichten!, denkt sie. Aber nur einen kurzen Augenblick später fragt sie sich, ob an der Sache etwas faul ist. War es nicht viel zu einfach gewesen, von Xavier für den Job ausgewählt zu werden (zumal sie eigentlich keine Erfahrung im Hotelbereich vorzuweisen hat)? Erst jetzt kommt sie auf die Idee, sich zu fragen, wie viel Konkurrenz es denn eigentlich für den Posten gegeben hat. Oder ist sie vielleicht sogar die einzige Bewerberin gewesen?
Xavier hat Lizbet gebeten, Suite 317 – traditionell die Suite des Hotelbesitzers – vom 24. bis zum 28. August zu reservieren. Bei genauerer Betrachtung kommt es ihr schon seltsam vor, dass er nicht bis Ende August bleibt, aber ein wenig erleichtert ist sie auch. Sie muss erst noch herausfinden, was ihre Arbeit alles umfasst.
Lizbet weiß nicht, woher auf einmal die ganzen Selbstzweifel kommen, vermutlich ist sie einfach nur hungrig. Sie ist versucht, schnell zu Born & Bread rüberzulaufen, um sich ein Sandwich zu holen, aber ihr bleibt nicht genug Zeit. Die nächste Bewerberin ist schon da.
Die dritte Bewerbung ist wirklich beeindruckend, denkt Grace. Alessandra Powell, laut ihren Unterlagen dreiunddreißig Jahre alt, bewirbt sich für den Empfang. Sie spricht fließend Spanisch, Französisch, Italienisch und Englisch und hat in Hotels in Ibiza, Monaco und zuletzt in der Gemeinde Tremezzina in Italien gearbeitet. Grace fühlt sich in frühere Zeiten zurückversetzt. Als Dahlia Benedict noch nett zu Grace war, erzählte sie von den Reisen, die sie zusammen mit Jack unternommen hatte. Sie beschrieb, wie die beiden an Bord der Mauretania nach Europa gesegelt waren, und als Grace murmelte, wie gut es doch sei, dass die Mauretania nicht wie die Titanic einen Eisberg gerammt habe, schlug Dahlia sie ins Gesicht.
Grace hatte sich diese Ohrfeige verdient. Zu jenem Zeitpunkt steckte sie schon so tief in der Liebschaft mit Jack fest, dass sie nicht ein noch aus wusste. Sie wünschte sich tatsächlich innig, die Mauretania wäre mit Jack und Dahlia an Bord untergegangen.
Grace wird von einer jungen Frau mit langen apricotfarbenen Locken, die Lizbets Büro betritt, zurück in die Gegenwart geholt.
Nein, denkt Grace. Nein! Diese Frau hat einen Geruch an sich, der nur eins bedeuten kann: eine verdorbene Seele.
Die Frau, Alessandra, hält Lizbet eine weiße Papiertüte hin. »Ich habe Ihnen ein gegrilltes Apfel-, Speck- und Käse-Sandwich von Born & Bread mitgebracht, falls Sie wegen der Vorstellungsgespräche Ihr Mittagessen ausfallen lassen mussten.«
Lizbets blaue Augen weiten sich. »Vielen Dank! Das nenne ich … eine gute Intuition. Ich habe tatsächlich noch nicht gegessen, und Sie haben auch noch mein Lieblings-Sandwich ausgesucht.« Sie nimmt die Tüte entgegen. »Setzen Sie sich doch bitte. Ihre Bewerbungsunterlagen sind wirklich beeindruckend – Italien, Spanien, Monaco. Und Sie sprechen so viele Sprachen. Was führt sie hierher – auf diese kleine Insel?«
»Es war an der Zeit für mich, nach Hause zu kommen. In die Staaten, meine ich, auch wenn ich eigentlich von der Westküste stamme. Ich habe Romanistik in Palo Alto studiert …«
»Waren Sie in Stanford?«, Lizbet guckt in die Unterlagen. »Davon steht hier nichts …«
»Dann habe ich so eine klassische Backpacker-Tour durch Europa gemacht – ein Zug nach dem anderen, günstige Unterkünfte –, und in Ravenna ist mir das Geld ausgegangen. Dort war ich extra hingefahren, um mir die Mosaike in der Kirche San Vitale anzusehen.«
»Mosaike?«
»Ja, dort gibt es die tollsten byzantinischen Mosaike außerhalb Istanbuls zu sehen. Sie sind wirklich beeindruckend. Hatten Sie bereits die Gelegenheit, sie anzuschauen?«
Oh, bitte, denkt Grace, geht es noch großspuriger?
»Nein, noch nicht.«
Alessandra sagt: »Mit meinen letzten Münzen habe ich also den Eintritt in die Kirche bezahlt. Zufälligerweise hat sich dann ein Gespräch mit einem freundlichen Herrn ergeben, der sich auch die Mosaike anschaute, und wie sich herausstellte, gehörte ihm eine pensione in der Stadt. Ich konnte dort umsonst wohnen und habe dafür am Empfang ausgeholfen – so begann meine Hotellaufbahn.«
»Wie lange waren Sie in Europa? Insgesamt … acht Jahre? Mir sind da ein paar Lücken in Ihrem Lebenslauf aufgefallen …«
»Ich wollte Italien verlassen, solange es mir dort noch gefiel. Also habe ich Nantucket ausgewählt, weil es das exklusivste der Sommerziele in Neuengland ist.«
»Erlauben Sie mir eine Frage aus Neugier … hat Shelly Carpenter für Hotel Confidential eines der Hotels bewertet, die Sie in Ihrer Bewerbung auflisten?«
Alessandra nickt. »Sie war in Aguas de Ibiza, während ich dort gearbeitet habe. Ihre Bewertung war sehr positiv, aber wir haben nur vier Schlüssel bekommen. Sie hatte eine Reihe kleinerer, aber durchaus gerechtfertigter Kritikpunkte. Der erste war, dass der Hotelpage fünfzehn Minuten gebraucht hat, um ihr das Gepäck zu bringen, zehn Minuten länger, als sie nach ihren Standards erwartet hätte …«
»Ah, ja. Ich erinnere mich.«
»Außerdem fehlten Salz und Pfeffer auf ihrem Zimmerservicetablett, obwohl sie explizit darum gebeten hatte.«
»Autsch.«
»Ja. Das hat ein paar Angestellte tatsächlich den Job gekostet. Sie wissen sicher, dass sie nie gleich aussieht und verschiedene Namen benutzt und immer gerade dann kommt, wenn es in einem Hotel besonders voll ist, sodass die Hotelmitarbeiter vielleicht weniger aufmerksam sind als unter gewöhnlichen Bedingungen. Manchmal soll sie sogar selbst solche Ausnahmesituationen provozieren, nur um zu gucken, wie das Personal damit zurechtkommt. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass sie bei ihrem Besuch des Pickering House Inn in Wolfeboro selbst den Reifen eines Mietwagens zerschnitten hat, um herauszufinden, wie lange die Angestellten für einen Reifenwechsel brauchen.«
»Das wusste ich noch nicht.« Lizbet sackt ein wenig in sich zusammen.
»Mein Rat wäre, die Hotelpagen in basalen Autoreparaturfragen zu schulen, da Shelly Carpenter, sobald sie Wind von der Eröffnung des Hotels bekommt, sicher hier auftauchen wird.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Ich bin mir sicher. Sie scheint schließlich eine Vorliebe für Nantucket zu haben. Sie hat das White Elephant bewertet …«
»Und vier Schlüssel vergeben.«
»Auch im Nantucket Beach Club und Hotel war sie bereits, dort stelle ich mich als Nächstes vor.«
»Sie sind bei Mack Petersen zum Gespräch eingeladen?«
»Ja, genau. Mack hat mir sogar schon einen Job angeboten, aber ich habe ihm gesagt, dass ich mich noch nicht entschieden habe.«
Komm schon, Lizbet!, denkt Grace. Sie blufft!
Lizbet fährt mit dem Finger über die Bewerbungsunterlagen. »Hier stehen nur die allgemeinen Telefonnummern der Hotels. Können Sie mir noch ein paar Namen oder Durchwahlen geben?«
»Wie Sie sicher wissen, gibt es im Hotelwesen viele Personalwechsel. Meine Vorgesetzte auf Ibiza ist in Rente gegangen und hat sich einen Olivenhain gekauft. Mein Vorgesetzter in Monaco hat Kehlkopfkrebs bekommen und ist gestorben.« Sie macht eine Pause, kostet den Moment so lange aus wie nur möglich. »Alberto. Er hat geraucht wie ein Schlot.«
Als Lizbet mitfühlend schaut, stöhnt Grace auf. Sie würde ihren Bademantel darauf verwetten, dass es dort nie einen Alberto gegeben hat!
»Wenn Sie direkt bei den Hotels anrufen, bekommen Sie gleich meine Tätigkeitsnachweise.«
»Sie haben die Erfahrung, nach der ich suche«, sagt Lizbet. »Hochklassige Luxusunterkünfte mit anspruchsvollen Gästen.«
»Darf ich fragen, wie hoch der Stundenlohn ist?«
»Fünfundzwanzig Doller die Stunde«, sagt Lizbet. »Bei Ihrer Erfahrung kann ich jedoch auch siebenundzwanzig Dollar fünfzig anbieten und Sie zur Empfangschefin machen.«
Nein!, denkt Grace. Sie muss diese kleine Hexe schnellstmöglich loswerden. Grace pustet kalte Luft in Alessandras Nacken.
Alessandra zuckt nicht einmal. Da sieh mal einer an.
»Die Schichten sind ziemlich hart«, sagt Lizbet. »Anderthalb Tage frei alle zwei Wochen.«
»Freie Tage brauche ich nicht.«
»Ha!«, erwidert Lizbet. »Sie sind zu gut, um wahr zu sein.«
Grace hat das Gefühl, dass Lizbet mit dieser Aussage genau ins Schwarze trifft.
Eine fünfköpfige Belegschaft, denkt Lizbet und nimmt einen Bissen von ihrem Sandwich mit Apfel, Speck und weißem Cheddar auf Sauerteigbrot mit Cranberrys, das Alessandra ihr mitgebracht hat. Das Gespräch mit ihr lief gut, auch wenn es Lücken in ihrem Lebenslauf gibt. So zum Beispiel eine fast einjährige Pause in jüngerer Zeit, aber vielleicht ist sie auch nur zwischen verschiedenen Anstellungen gereist, sie wirkt schließlich kulturell interessiert, kunst- und sprachbegeistert. Alessandra hat erwähnt, sie habe Romanistik in Palo Alto studiert – »Palo Alto« ist der scherzhafte Verweis auf Stanford, aber wenn Alessandra wirklich dort gewesen sein sollte, hätte das sicher gut sichtbar ganz oben auf ihrer Bewerbung gestanden. Lizbet entschließt sich, ein Auge zuzudrücken, schließlich hat Mack Peterson vom Beach Club ihr schon einen Job angeboten.
Außerdem wusste Alessandra eine ganze Menge über Shelly Carpenter, sie könnte also geradezu eine Geheimwaffe werden.
Nicht schlecht, denkt Grace, als sie den letzten Kandidaten des Tages sieht. Ezekiel English, vierundzwanzig Jahre alt, ist, wie die jungen Leute heute sagen, heiß, echt heiß.
Ezekiel schenkt Lizbet ein umwerfendes Lächeln und schüttelt ihr die Hand. »Hey, ich bin Zeke English, alles gut?«
»Das Sandwich, das ich gerade gegessen habe, war sehr gut, wenn Sie das meinen?«, sagt Lizbet.
»Sorry, ich bin ein wenig nervös«, sagt Zeke. »Vielen Dank für die Einladung.«
Wie liebenswert!, denkt Grace. Er ist nervös.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, sagt Lizbet. »Ich habe heute Morgen schon Ihre Tante Magda kennengelernt.«
»Ja«, sagt Zeke. »Tante Magda ist der Hammer. Seit September wohnt sie jetzt bei uns …« Zeke senkt den Kopf, und als er wieder aufschaut, hat er Tränen in den Augen. Er räuspert sich. »Meine Mutter ist an einem Aneurysma im Gehirn gestorben. Tante Magda kocht für uns … und macht auch sonst alles besser.« Er wischt sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Auge, und bevor sich Grace versieht, fliegt sie zu ihm hinunter und tätschelt ihm die breiten Schultern. Sie mag Männer, die keine Angst davor haben, Gefühle zu zeigen. Die Berührung scheint Zeke zu beleben (oder traut sich Grace da mehr zu, als sie kann?), zumindest sitzt er nun gerader und sagt lachend: »Versaue ich mir da gerade echt das Vorstellungsgespräch?«