Inselschwestern - Elin Hilderbrand - E-Book

Inselschwestern E-Book

Elin Hilderbrand

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Beschreibung

Die Zwillingsschwestern Harper und Tabitha sind unzertrennlich. Doch als die Eltern sich scheiden lassen, nimmt der Vater ein Mädchen mit nach Martha's Vineyard, das andere bleibt bei der Mutter auf Nantucket. Über die Entfernung leben sie sich auseinander, aus einst engsten Vertrauten werden Fremde, und schließlich bricht der Kontakt vollends ab. Doch dann stirbt der Vater, und Tabitha und Harper tauschen die Inseln – und ihren Alltag – um ihre Familien wieder zusammenzuführen. Ein einzigartiger Sommer bricht an, voller Konflikte und Feindschaften, Liebe und Freundschaften. Wird er die Schwestern versöhnen, oder sie endgültig entzweien?

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Seitenzahl: 564

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Buch

Die Zwillingsschwestern Harper und Tabitha sind als Kinder unzertrennlich. Doch als die Eltern sich scheiden lassen, nimmt der Vater ein Mädchen mit nach Martha’s Vineyard, das andere bleibt bei der Mutter auf Nantucket. Beide Schwestern würden gerne mit dem Vater gehen, und so lassen sie letztendlich eine Runde »Schere, Stein, Papier« über ihr Schicksal entscheiden – und Harper gewinnt. Vierzehn Jahre ist das jetzt her, und Tabitha hegt seitdem einen Groll gegen ihre Schwester. Aus einst engsten Vertrauten werden Fremde, und schließlich bricht der Kontakt vollends ab. Doch dann stirbt der Vater, und die beiden Schwestern sind zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder vereint …

Weitere Informationen zu Elin Hilderbrand

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Elin Hilderbrand

Inselschwestern

Roman

Aus dem Englischen

von Almuth Carstens

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»The Identicals« bei Little, Brown and Company

in der Hachette Book Group, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2018

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Elin Hilderbrand

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Getty Images/A. Green

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

em · Herstellung: eR

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN: 978-3-641-22743-2V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Eric, Randy, Heather und Doug

Gemeinsam sind wir stark

NANTUCKET

Wie Tausende kluge, gebildete Menschen haben Sie beschlossen, Ihre Sommerferien auf einer Insel vor der Küste von Massachusetts zu verbringen. Sie wünschen sich Bilderbuchstrände. Sie möchten in yankeeeblauen Gewässern schwimmen, segeln und surfen. Sie möchten Muschel-Chowder und Hummerbrötchen essen und hätten es gern, dass Ihnen diese Gerichte von jemandem serviert werden, der sie Chowdah und Hummah ausspricht. Sie möchten in einem Jeep mit offenem Verdeck fahren, Ihren Golden Retriever, der Charles Emerson Winchester III. heißt, neben sich. Sie möchten einen Traum leben. Sie wünschen sich einen amerikanischen Sommer.

Aber halt! Sie sind hin- und hergerissen. Sollen Sie sich für Nantucket entscheiden … oder für Martha’s Vineyard? Ist das überhaupt wichtig? Gleichen sich die beiden Inseln nicht ziemlich?

Diese Annahme, die von so vielen geteilt wird, können wir nur belächeln. Vermutlich kennen Sie den Autoaufkleber nicht (ein Bestseller im Hub in der Main Street, stolz präsentiert auf den Fahrzeugen fast aller Insulaner von Rang und Namen, darunter die Geschäftsführerin der Handelskammer von Nantucket), auf dem steht: GOTTSCHUFDENVINEYARD … ABERERWOHNTAUFNANTUCKET.

Wenn Sie von derartig schamloser Propaganda nicht zu beeinflussen sind, hier die wichtigsten Fakten:

Nantucket Island

Besiedelt: 1659

Ursprungsbevölkerung: Wampanoag-Indianer

Entfernung von Hyannis: 30 Meilen

Fläche: 45 Quadratmeilen

Einwohner: 11.000 ganzjährig, 50.000 im Sommer

Anzahl der Städte: 1

Berühmte Einwohner: möchten lieber nicht genannt werden

Martha’s Vineyard

Besiedelt: 1642 (Wir sagen: »Alter vor Schönheit.«)

Ursprungsbevölkerung: Wampanoag-Indianer

Entfernung von Woods Hole: 11 Meilen (Wir sagen: »Gehört praktisch zum Festland.«)

Fläche: 100 Quadratmeilen (Wir sagen: »Doppelt so groß.«)

Einwohner: 16.535 ganzjährig, 100.000 im Sommer (Wir sagen: »Doppelt so viele.«)

Anzahl der Städte: 6 (Wir sind sprachlos [!!!] – und kann uns bitte jemand verraten, was mit Chappaquiddick ist?)

Berühmte Einwohner: Meg Ryan, Lady Gaga, Skip Gates, Vernon Jordan, Carly Simon, James Taylor und … John Belushi, beerdigt auf dem Abel’s Hill Cemetery

Gibt es auf Martha’s Vineyard einen Teil, der es mit unseren Kopfsteinpflasterstraßen aufnehmen kann oder der würdevollen Pracht der Three Bricks, Wohnhäuser, die der Waltranhändler Joseph Starbuck zwischen 1837 und 1840 für seine drei Söhne errichten ließ? Besitzt der Vineyard eine Enklave aus winzigen rosenumrankten Cottages – putzig wie Puppenhäuser –, wie wir sie in Form des pittoresken Dörfchens Sconset haben? Gehört zu »MVY« eine geschützte Landzunge aus goldenem Sandstrand wie Great Point, unsere Nordspitze, Heimat von Regenpfeifern und einer Seehundkolonie? Hat die Insel Ausblicke wie den über den Sesachacha Pond auf den Leuchtturm von Sankaty Head zu bieten? Gibt es hier einen so glamourös-schmuddeligen Tanzschuppen wie die Chicken Box, wo man in einer Woche Grace Potter hören kann und Trombone Shorty in der nächsten? Und von der Überlegenheit unserer Restaurants wollen wir gar nicht erst anfangen. Wenn es unser letzter Abend auf Erden wäre, wer von uns könnte sich dann zwischen dem Cheeseburger mit Knoblauch-Fritten im Languedoc Bistro und dem Taco mit Jakobsmuscheln und rotem Krautsalat bei Millie’s entscheiden?

Uns ist klar, warum Sie uns hier vielleicht mit unseren Landsleuten dort verwechseln – schließlich wird unsere gesamte Region pauschal als »Cape Cod und die Inseln« bezeichnet –, doch wir sind zwei unterschiedliche Nationen, jede mit ihrer eigenen Lebensweise, ihren eigenen Gewohnheiten, Traditionen, Geheimnissen, ihrer eigenen Geschichte, ihrem eigenen Geflecht aus Tratsch und Skandalen. Betrachten Sie die beiden Inseln wie ein Zwillingspaar. Äußerlich gleichen wir uns, aber unter der Oberfläche … sind wir Individuen.

MARTHA’S VINEYARD

Es gibt einen Autoaufkleber – dem Inhaber von Alley’s General Store zufolge ein Bestseller –, auf dem GOTTSCHUFNANTUCKET, ABERERWOHNTAUFDEMVINEYARDsteht. Manchen von uns wäre es lieber, wenn da ABERERWOHNTINCHILMARK stünde, denn wer möchte schon gern mit dem Trubel der Spelunken in den Touristenzentren in einen Topf geworfen werden?

Doch wir wollen uns nicht den Zwistigkeiten zwischen den Vineyardern widmen. Heben wir lieber hervor, in welchen Punkten wir Nantucket überlegen sind. Der Vineyard zeichnet sich durch Vielfalt aus – an Rassen, an Meinungen, an Geländeformen. Wir haben den Methodist Campground mit seinen bunten Zuckerbäckerhäuschen, den Tabernakel, Ocean Park, Inkwell Beach und Donovan’s Reef, Heimat des Dirty Banana – und da sprechen wir nur von Oak Bluffs! Wir haben Dutzende Farmen, die eine Fülle von Bioprodukten anbauen; wir haben die Jaws Bridge und die Klippen von Aquinnah; wir haben East Chop und West Chop, den Flugplatz von Katama und einen Nachbarn in Edgartown, der in seinem Vorgarten Lamas hält. Wir haben Chappaquiddick, das weitaus mehr ist als der Ort, wo Edward Kennedy Mary Jo Kopechne von der Dike Bridge in den Tod stürzte oder auch nicht. Immerhin gibt es einen japanischen Garten auf Chappy! Und wenn wir ein wenig Luft aus den Reifen unseres Jeeps lassen und zweihundert Dollar für eine Genehmigung bezahlen, können wir uns an der wilden, windumtosten Schönheit von Cape Poge erfreuen.

Wir haben Hügellandschaften, Laubbäume und niedrige Steinmauern. Wir haben Menemsha, das beste Fischerdorf der zivilisierten Welt, wo man die frischesten Meeresfrüchte, die cremigste Muschelsuppe und die saftigsten Venusmuscheln bekommt. Haben Sie etwa noch nie vom Bite gehört? Von Larsen’s? Von The Home Port? Das sind Orte mit Kultstatus, Legenden.

Wir haben die schönsten Feste: Illumination Night, Ag Fair, das August-Feuerwerk. Was gibt es auf Nantucket schon zu feiern außer der gelungenen Landung eines Flugzeugs auch bei dichtestem Nebel oder dass man endlich das Glück hatte, ein Paar Shorts in der richtigen Altrosa-Schattierung zu finden?

Was den Vineyard aber wirklich speziell macht, sind seine Menschen. Die Insel kann sich einer großen und aktiven Community von Mittel- und Oberschichts-Afroamerikanern rühmen. Wir haben eine brasilianische Kirche. Wir haben auch Prominente, doch die Hälfte von ihnen würden Sie nie erkennen, weil sie ebenso wie alle anderen im »Back Door Doughnuts« Schlange stehen müssen und an den Five Corners in Vineyard Haven im Stau stecken.

Die meisten von uns fahren nur aus einem Grund nach Nantucket: zum Island Cup. Wir wollen hier nichts über das Footballspiel selbst sagen, denn keiner mag Aufschneider, aber jedes Mal, wenn wir dort unsere Highschool-Spieler anfeuern, müssen wir uns darüber wundern, wie unsere Nachbarinsulaner es ertragen, auf einem so flachen, öden und nebligen Felsen so weit draußen im Meer zu leben.

Dennoch besteht eine Verbindung zwischen uns, die schwer zu widerlegen ist. Geologen vermuten, dass noch vor dreiundzwanzigtausend Jahren Martha’s Vineyard, Nantucket und Cape Cod Teil einer einzigen Landmasse waren. Vielleicht sollten wir uns als Schwestern begreifen – Zwillinge sogar –, geboren von derselben Mutter. Dabei sehen wir Martha’s Vineyard gern als ihr Lieblingskind.

Doch natürlich sieht sich auch Nantucket als ihr Lieblingskind.

MARTHA’S VINEYARD: HARPER

Als Harper Frosts Vater Billy am Freitag, dem 16. Juni, um 19:00 Uhr seinen letzten Atemzug tut, hat Reed Zimmer keine Bereitschaft. Dr. Zimmer ist mit der Familie seiner Frau bei einem Picknick in Lambert’s Cove; anscheinend veranstalten sie dieses Treffen jedes Jahr zu Beginn des Sommers – mit Lagerfeuer, Kartoffelsalat, Hähnchen auf dem tragbaren Grill. Franklin Phelps, Sadie Zimmers Bruder, ist einer der populärsten Gitarristen auf dem Vineyard – Harper hört ihn sich immer an, wenn er im Ritz spielt –, und Harper malt sich aus, wie Dr. Zimmer, die Füße in den kalten Sand gegraben, zusammen mit Franklin »Wagon Wheel« singt.

Harper sitzt noch am Bett ihres Vaters, als sie Dr. Zimmer eine SMS schickt. Sie lautet: Billy ist tot. Sie stellt sich seinen Schock vor, gefolgt von Schuldgefühlen; er hat Harper versprochen, dass es nicht heute Abend passieren würde. Er meinte, Billy habe noch Zeit.

»Schau nach ihm wie immer«, sagte Dr. Zimmer am Nachmittag, als er sich von Harpers Bett erhob, dessen weiße Laken zerwühlt waren von ihrem Liebesspiel. »Aber ansonsten genieß ruhig dein Wochenende.« Er sah aus dem Fenster auf den Fliederstrauch, der sich über Nacht, so schien es, in eine prahlerische Blütenwolke verwandelt hatte. »Ich fasse es nicht, dass alles wieder von vorn anfängt. Wieder ein Sommer.«

Genieß ruhig dein Wochenende?, dachte Harper. Sie hasste es, wenn Reed mit ihr redete, als sei sie lediglich die Tochter seines Patienten, also praktisch eine Fremde – aber ist sie das nicht eigentlich auch? Reed und Harper sehen sich nur, wenn sie im Krankenhaus am Bett ihres Vaters sitzt oder wenn sie sich in ihrer Maisonette lieben. Sie gehen nicht zusammen aus, sie treffen sich nie zufällig bei Cronig’s; Reed behauptet, er habe sie noch nie in ihrem Rooster-Lieferwagen bemerkt, auch nicht, wenn sie ihm zuwinkt wie eine Ertrinkende. Harper und Reed schlafen erst seit letztem Oktober miteinander, deshalb ist sie sich nicht sicher, was »wieder ein Sommer« für ihn bedeutet. Einen ersten Hinweis bekam sie heute: Die Eltern seiner Frau, die älteren Phelps, wohnen jetzt in ihrem Haus in Katama, nachdem sie vor kurzem aus Vero Beach eingetroffen sind. Es wird also familiäre Verpflichtungen geben, so wie dieses Picknick, bei denen es für Harper sein wird, als lebte Reed auf einem anderen Planeten.

Harper wartet ein bisschen, bevor sie weitere Nachrichten verschickt. Ihr Vater liegt neben ihr, und doch ist er nicht mehr da. Sein Gesicht ist schlaff; es wirkt leer wie ein unbewohntes Haus. Billy starb, während Harper mit ihm über Dustin Pedroia von den Red Sox sprach; er tat einen tiefen, zitternden Atemzug, dann noch einen, dann schaute er Harper direkt in die Augen, ins Herz, in die Seele und sagte: »Tut mir leid, Kindchen.« Und das war’s. Harper legte ihm ein Ohr an die Brust. Die Maschine gab ihr anhaltendes Piepsen von sich. Ein Zeichen, dass das Spiel aus war.

Reed schreibt nicht zurück. Harper versucht sich zu erinnern, ob es in Lambert’s Cove Handyempfang gibt. Sie findet ständig Entschuldigungen für ihn, denn von den drei noch in ihrem Leben verbliebenen Männern ist er derjenige, in den sie verliebt ist.

Sie schickt denselben Text – Billy ist tot – an Sergeant Drew Truman vom Edgartown Police Department. Harper und Drew treffen sich seit drei Wochen miteinander. Zu ihrem ersten Date hat er sie eingeladen, als sie beide auf der Fähre nach Chappy waren, und Harper dachte: Warum nicht? Drew Truman entstammt einer der angesehensten afroamerikanischen Familien in Oaks Bluff. Yvonne Truman, seine Mutter, war über zehn Jahre lang Stadträtin. Sie ist eine der fünf Snyder-Schwestern, die alle bunt gestrichene, makellos instand gehaltene Zuckerbäcker-Cottages mit Blick auf den Ocean Park besitzen. Harper kannte Drew schon, als er noch zur Highschool ging und dort zu den besten Athleten gehörte. Über ihn war jede Woche auf den Sportseiten der Vineyard Gazette berichtet worden. Danach hatte er das College und die Polizeiakademie besucht, bevor er nach Dukes County zurückgekehrt war, um zu dienen und zu beschützen.

Harper glaubte, dass es die Qual, mit einem verheirateten Mann liiert zu sein, vielleicht lindern würde, wenn sie jemand Neuen datete. Sie und Drew haben sich bisher sechsmal getroffen: Sie haben im Sharky’s (Drews Lieblingslokal, was Harper nicht so recht begreift) viermal mexikanisch gegessen, waren einmal zum Lunch im Diner am Flugplatz von Katama verabredet, und ihr letztes Date war ein »schicker« Abend im Seafood Shanty – Surf and Turf, Blick aufs Wasser, singende Kellner. Harper weiß, dass Drew anschließend Sex erwartete, doch bisher hat sie es geschafft, ihn sich mit der Begründung, ihr Vater liege im Sterben, vom Leib zu halten.

Drew möchte Harper unbedingt seiner Mutter, seinem Bruder, der Frau seines Bruders, seinen Nichten und Neffen, seinen Tanten, seinen Cousins und Cousinen sowie deren Kindern vorstellen – also dem gesamten Snyder-Truman-Clan –, aber auch zu diesem Schritt ist Harper noch nicht bereit. Zwar sehnt sie sich irgendwie danach, aufgenommen, bemuttert und gehätschelt, bekocht, bewundert und verwöhnt oder auch kritisiert und schief angesehen zu werden, weil ihre Haut weiß ist. Kurz gesagt, hätte es seinen Reiz, »offiziell« mit Drew zusammen zu sein. Doch die unumstößliche Wahrheit ist nach wie vor die: Harper liebt Reed und nur Reed.

Sie seufzt. Drew fährt heute Abend Streife. Die Arbeitsstunden an den Wochenenden werden doppelt angerechnet – aber ist es das wert bei all den Typen, die jetzt unterwegs sind, um die ersten Sommertage zu genießen und zu viel trinken? Er wird dreißig Einsätze haben, schätzt sie, von denen es bei siebenundzwanzig um Trunkenheit und Ruhestörung gehen wird und bei dreien um Unfälle, an denen Taxifahrer beteiligt sind, die sich auf der Insel noch nicht auskennen.

Der dritte Mann, der Harper in ihrem Leben bleibt, ist ihr lieber, schwer angeschlagener Freund Brendan Donegal, der drüben auf Chappy im Exil lebt. Harper würde Brendan gern mitteilen, dass Billy tot ist, aber Brendan schafft das Texten nicht mehr. Das Alphabet umschwärmt ihn wie sechsundzwanzig Killerwespen. Er benutzt das Handy nur noch, um nachzusehen, wie spät es ist.

Nichts von Dr. Zimmer. Wird Harper gezwungen sein, von sich aus anzurufen? Sie ruft Dr. Zimmer ständig an, weil sie zahlreiche berechtigte Fragen zum Gesundheitszustand ihres Vaters hat – zu Leberinsuffizienz, Niereninsuffizienz, kongestiver Herzinsuffizienz. Billy Frosts Ende war eine Abfolge von Insuffizienzen.

Sicher wird keiner Harper einen Vorwurf machen, wenn sie Reed jetzt anruft, da ihr Vater tot ist. Doch sie hat eine ungute Vorahnung. Sie wartet.

Billy Frost ist im Alter von dreiundsiebzig Jahren gestorben. Harper versucht sich im Geiste an seinem Nachruf, während die Schwestern hereinkommen, um ihn zu waschen und auf die vergnügliche Fahrt zur Leichenhalle vorzubereiten. William O’Shaughnessy Frost, Elektrikermeister und leidenschaftlicher Red-Sox-Fan, starb gestern Abend im Martha’s Vineyard Hospital in Oak Bluffs. Er hinterlässt seine Tochter Harper Frost.

Und … seine Tochter Tabitha Frost … und seine Enkelin Ainsley Cruise … und seine Exfrau Eleanor Roxie-Frost, alle wohnhaft auf Nantucket, Massachusetts. Was wird die Leute am meisten überraschen?, fragt sich Harper. Dass Billy eine Tochter hat, die genauso aussieht wie die niedliche Versagerin, die für Rooster Express Pakete ausliefert, aber vollkommen anders ist? Oder dass Billy früher mit der berühmten Bostoner Modedesignerin Eleanor Roxie-Frost, besser bekannt als ERF, verheiratet war? Oder wird es der Schocker sein, dass die andere Hälfte von Billys Familie auf der rivalisierenden Insel wohnt – jener schicken, exklusiven Zuflucht für Milliardäre? Harpers Zwillingsschwester Tabitha hat seit vierzehn Jahren keinen Fuß mehr auf Martha’s Vineyard gesetzt, und Harpers Mutter Eleanor war seit ihren Flitterwochen im Jahr 1968 nicht mehr hier. Harpers Nichte Ainsley war noch nie hier. Billy war traurig darüber; wenn er Ainsley sehen wollte, musste er nach Nantucket fahren, was er jeden August gewissenhaft tat.

Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?, fragte er Harper dann immer.

Ich bin sicher, sagte Harper. Das wäre Tabitha nicht recht.

Lernt ihr Mädels denn nie dazu?, entgegnete Billy, und Harper formte zusammen mit ihm mit dem Mund die Worte: Familie ist eben Familie.

Familie ist eben Familie, denkt Harper. Das ist das Problem.

Keine Antwort von Reed. Harper stellt sich vor, dass er Pie isst. Seine Ehefrau Sadie ist berühmt für ihre Pies; ihre Mutter hatte früher einen Straßenstand, und Sadie hat aus der Hobbybäckerei eine Goldgrube gemacht. Sie hat in Vineyard Haven – eine knappe Meile entfernt von Harpers Wohnung – eine kleine kommerzielle Küche mit Laden gemietet und verkauft dort ihre Pies: Erdbeer-Rhabarber, Blaubeer-Pfirsich, Hummer. Eine Hummerpie kostet zweiundvierzig Dollar. Das weiß Harper, weil Billy gegen Ende seines Lebens ein Fan davon wurde. Eine seiner Verehrerinnen (von denen es viele gab) brachte ihm eine duftende Hummerpie, noch warm und gefüllt mit dem Fleisch aus Scheren und Gelenken, in einer dicken, cremigen Sherrysauce unter golden gebackenem Teig, und Billy meinte, er sei wohl gestorben und gegen alle Erwartungen in den Himmel gekommen. Als es ihm richtig schlecht ging, er aber noch essen konnte, fühlte Harper sich verpflichtet, ihm eine Hummerpie zu kaufen. Sie betrat Sadies Geschäft – das Upper Crust hieß – voller Beklommenheit, da sie wusste, dass sie sich höchstwahrscheinlich gleich zum ersten Mal der Frau ihres Liebhabers gegenübersehen würde.

So war sie zwar gewappnet, doch Sadies Anblick überraschte sie trotzdem. Sie war viel kleiner, als Harper erwartet hatte; ihr Kopf überragte die Vitrine mit den Pies kaum. Ihre Haare waren kurz geschnitten wie die eines Jungen, und ihre Augen traten hervor, was ihr den Gesichtsausdruck einer dauerhaft erstaunten Comicfigur verlieh.

Sadie schien keine Ahnung zu haben, wer Harper war. Sie zeigte keinen Argwohn, nur ein freundliches Lächeln, das eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen sichtbar werden ließ. Harper wusste, dass manche Männer eine solche Lücke sexy fanden, obwohl sie das nicht verstand. Wenn ihre Zähne so ausgesehen hätten, wäre sie schnurstracks zum Kieferorthopäden gerannt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Sadie.

»Mein Vater liegt im Sterben«, platzte es aus Harper heraus.

Sadies Augen traten noch ein wenig weiter hervor.

»Er möchte eine Hummerpie«, sagte Harper. »Er ist ganz wild darauf. Mrs Tobias hat letzte Woche eine für ihn abgegeben, und er redet über nichts anderes mehr.«

»Mrs Tobias ist eine sehr gute Kundin«, sagte Sadie und legte den Kopf schief. »Ist Ihr Vater zufällig Billy Frost?«

»Ja«, sagte Harper. Sie hatte das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen, die sich dem höchsten Punkt nähert …

»Mrs Tobias hat mir erzählt, dass er krank ist. Wissen Sie, er hat einige Lichtleitungen für mich verlegt, als ich dieses Geschäft eröffnete. Er war der einzige Elektriker, der dazu bereit war. Alle anderen meinten, ich sollte mich an den Handwerker wenden, der die Anschlüsse gelegt hat, als das hier noch ein Laden für Duftkerzen war, aber der Typ saß schon lange im Gefängnis.«

»Buttons«, sagte Harper fast automatisch. Billy hatte einen Großteil von Buttons Jones’ Kundschaft übernommen, als Buttons wegen Steuerhinterziehung verhaftet wurde.

Sadie holte eine Hummerpie aus dem Ofen. Eine Sekunde lang dachte Harper, die Pie wäre gratis, ein Geschenk für einen Mann, der Sadie Zimmer einst einen Gefallen getan hatte.

»Das sind dann zweiundvierzig Dollar«, sagte Sadie.

Harper fällt es schwer, sich Reed und Sadie zusammen zu Hause vorzustellen. Sie weiß, welches Haus sie bewohnen – es liegt in West Tisbury, nahe der Field Gallery –, aber sie ist nie drinnen gewesen. Leichter gelingt es ihr, sich auszumalen, wie die Zimmers in Lambert’s Cove nebeneinander vor dem Feuer im Sand sitzen. Vielleicht hat Sadie eine schöne Singstimme, während Harper – obwohl sie in dem Lieferwagen von Rooster Express nur allzu gern Lieder schmettert – keine Melodie halten kann. Es ist kein Wettbewerb, das weiß Harper, bei dem die Pros und Kontras aufgelistet werden. Die Liebe ist ein Rätsel.

Harpers Lieblingskrankenschwester Dee steckt den Kopf ins Zimmer. »Wie geht’s?«

Harper versucht zu nicken – Okay –, doch sie kann nur starren. »Ich erreiche Dr. Zimmer nicht«, sagt sie, dann hat sie Angst, sich verraten zu haben. »Ich meine, ich weiß, dass er keine Bereitschaft hat, aber ich dachte, ich sollte ihm Bescheid geben. Billy war sein Lieblingspatient.«

Dee schenkt ihr ein nachsichtiges Lächeln, und Harper rechnet fast damit, dass sie sagt, Dr. Zimmer habe nur Lieblingspatienten, das sei das Wunderbare an ihm. Dann befürchtet Harper, Dee könne darauf warten, dass sie das Zimmer räumt. Schließlich ist sie keine zahlende Kundin mehr.

Doch stattdessen sagt Dee: »Sie waren gut zu ihm, Harper. Wahrscheinlich werden Sie merken, dass sein Tod ein Segen ist.«

Ein Segen?, denkt Harper wütend. Am liebsten würde sie Dee sagen, sie solle doch einfach noch ein bisschen Kuchen essen, aber dann fragt sie sich, ob Dee womöglich Recht hat. In den letzten zehn Monaten hat sich Harpers ganzes Leben um die Angst davor gedreht, dass Billy sterben würde. Jetzt, da er tot ist, ist sie in gewisser Weise frei. Es gibt nichts mehr, um das sie sich sorgen muss. Aber sie bleibt mit einer schweren Bürde des Kummers zurück, einer Traurigkeit so intensiv und durchdringend, dass sie eine andere Bezeichnung haben müsste. Seit der Scheidung ihrer Eltern, bei der sie siebzehn war, war Billy »ihr« Elternteil. Er war ihr Freund, ihr Held, ihr unfehlbarer Verbündeter, ihr täglicher Gefährte. Sie hätte sich keinen besseren Vater erträumen können – und jetzt ist er tot.

Tot.

Harper wischt sich die Tränen ab, atmet tief ein und sagt, ganz die tapfere Soldatin, für die Billy sie hielt: »Weiter geht’s.«

»Braves Mädchen«, sagt Dee. »Ich hole Billys Sachen.«

Weiter geht’s: Billys Wünschen gemäß wird sein Leichnam eingeäschert werden und die Trauerfeier für ihn im Farm Neck Golf Club stattfinden. Sobald Harper Billys Haus verkauft hat, wird sie ihren Job bei Rooster Express aufgeben können, einen Job, den sie vor drei Jahren aus reiner Verzweiflung annahm, als Jude von Garden Goddesses sie infolge der Joey-Bowen-Katastrophe feuerte. Und was soll Harper dann anfangen? Theoretisch könnte sie ihre eigene Gärtnerfirma gründen. Sie ist sich sicher, dass viele Kunden immer noch nach ihr fragen, und das nicht nur, weil sie beim Rasenmähen ein Bikinioberteil trug. Sie ist ein netter Mensch und ein guter Mensch, obwohl einige Indizien für das Gegenteil sprechen.

Dee taucht wieder auf mit Papieren, die Harper unterschreiben soll, und einem großen Ziplock-Beutel, der Billys Kleider und sonstige Habe enthält, darunter die goldene 1954er Omega-Armbanduhr, die er von seinem eigenen Vater geerbt hat und die ihm von all seinen Besitztümern am wichtigsten war. Billy Frost war 1995 nach Martha’s Vineyard gekommen, völlig pleite nach seiner Scheidung von Eleanor, und strampelte sich ab, ebenso wie sie im selben Jahr in ihrem ersten Semester an der Tulane. Er übernahm kleine Aufträge als Elektriker, die Leute wie Buttons Jones ihm übrig ließen. Er freundete sich mit den Typen an, die Bäume fällten und Umzüge durchführten und Kriechkeller isolierten; er freundete sich mit den Fischern und Ersten Maaten an, mit den Durchreisenden und Junkies, die im Wharf abhingen und, wenn sie flüssig waren, Carmen, die Barkeeperin im Coop de Ville, belästigten.

Aber Billy trug immer seine Armbanduhr, die goldene Omega, und das hob ihn von den anderen ab.

Was soll Harper mit der Uhr tun? Sie hat niemanden, dem sie sie schenken kann.

Tabitha hat Ainsley, doch was soll eine Sechzehnjährige mit einer goldenen 1954er Omega anfangen? Harper denkt an Ainsleys Vater Wyatt. Billy hat ihn gemocht, aber kann Harper vorschlagen, dass er die Uhr nimmt? Nein.

Und Tabitha ist ein Zahnschmerz, der sich keine weitere Sekunde ignorieren lässt. Vor sechs Wochen, als es Billy merklich schlechter ging, hat Harper in seinen Kontakten nach Tabithas Handynummer gesucht und ihr mit Hilfe von sechs Bieren und drei Jägermeistern eine Sprachnachricht hinterlassen, in der sie Tabitha mitteilte, dass sie sich beeilen müsse, falls sie Billy ein letztes Mal vor seinem Tod sehen wolle. Tabitha hat nicht geantwortet – keine Überraschung. Harper wünscht, sie hätte in nüchternem Zustand bei Tabitha angerufen, weil sie befürchtet, dass sie genuschelt hat und ihre Nachricht deshalb noch leichter abzutun und zu löschen war.

Billys Tod erfordert einen weiteren Anruf, aber Harper ist zu wütend, um dabei höflich zu bleiben. Hat Tabitha geruht, auf ihre Voicemail zu reagieren? Ist sie Billy besuchen gekommen? Hat sie den Vineyard seit dem Tod ihres Sohnes Julian vor vierzehn Jahren auch nur einmal betreten? Hat sie nicht. Nantucket ist nur 11,2 Meilen weit weg, also war die Entfernung sicher nicht das Problem.

Harper schickt Tabitha dieselbe SMS wie Reed. Billy ist tot. Und dann, in der Geborgenheit ihres Bronco, bricht sie zusammen und ruft Dr. Zimmer an.

Das Telefon klingelt sechsmal, dann meldet er sich mit leiser Stimme. Harper stellt sich vor, dass er vom Lagerfeuer weg in den Schatten getreten ist.

»Tut mir leid, Harper«, sagt er. »Ich dachte, er hätte mehr Zeit. Noch Wochen.«

Was ist er nur für ein Arzt? Sie würde ihn gern für inkompetent halten oder hassen, doch das kann sie nicht. Reed gibt seinen Patienten alles, was er hat. Er bleibt bis spät abends im Krankenhaus; er ist nie in Eile; er ist aufmerksam, rücksichtsvoll, freundlich, offen. Nicht einmal in zehn Monaten hatte Harper das Gefühl, er hätte woanders sein wollen oder müssen. Billy hätte ebenso gut sein einziger Patient sein können. Manchmal brachte Dr. Zimmer ihm eine Überraschung oder etwas Besonderes mit – die Bademodenausgabe der Sports Illustrated, eine Pfeilspitze, die er auf einer Wanderung entdeckt hatte, eine Pralinenmischung, die Billy, wie er wusste, liebte (eigentlich aber nicht essen durfte). Reed Zimmer war wie ein Arzt aus dem Fernsehen, nur besser, weil er real war. Er war sowohl attraktiv als auch menschlich. Gelegentlich hatte er Ringe unter den Augen, weil er die ganze Nacht wach gewesen war, oder Bartstoppeln im Gesicht oder zerzauste Haare. Manchmal kreuzte er in Jeans und einem grauen T-Shirt unter seinem weißen Kittel auf. Was hätte Harper anderes tun können, als sich in ihn zu verlieben?

»Komm zu mir«, sagt sie.

»Nicht heute Abend. Ich …« Seine Stimme verklingt, und Harper stellt sich vor, dass Sadie ihm das Telefon aus der Hand gerissen hat. Sie hat böse Vorahnungen, seit sie heute Morgen aufgewacht ist. Sie fühlt sich wie ihr sibirischer Husky Fish, wenn er die Ohren spitzt; dieser Hund kann eine drei Meilen entfernte Maus furzen hören. »Ich muss hier bei meiner Familie bleiben.«

Das ist nicht deine Familie, hätte Harper ihn gern korrigiert. Es ist Sadies Familie.

»Meine Familie ist gerade gestorben«, sagt sie.

Reed schweigt – aus Schuldbewusstsein oder weil er abgelenkt ist, weiß Harper nicht.

»Hast du deine Schwester angerufen?«, fragt er. »Oder deine Mutter?«

Meine Mutter?, denkt Harper. Ha! Wenn Harper Eleanor anruft und ihr sagt, dass Billy gestorben ist, wird ihre Mutter mit einem Schniefen oder Hüsteln reagieren. Vielleicht. Während der schweren Kämpfe um die Scheidung gab es eine Zeit, in der Eleanor sich nur wünschte, Billy möge tot umfallen. Wenn sie besonders gnädig gesinnt war, würde sie jetzt womöglich sagen: Dein Verlust tut mir leid, Liebling, aber bei der schrecklichen Raucherei hat Billy es nicht anders verdient.

So hat Eleanor natürlich nicht immer empfunden. Früher einmal waren Eleanor Roxie-Frost und Billy Frost ein dynamisches, magnetisches Paar – Eleanor eine prominente Modedesignerin, Billy der Inhaber von Frost Electrical Contractors GmbH. Sie lebten in einem Haus in Beacon Hill, das sie von Eleanors Eltern geerbt hatten, und zogen dort eineiige Zwillingstöchter auf. Sie verhielten sich, wie es sich gehörte; wie alle guten Episkopalen gingen sie einen Sonntag im Monat sowie zu Weihnachten und zu Ostern in die Church of the Advent. Sie schickten die Zwillinge auf die Winsor, eine private Mädchenschule, auf die auch Eleanor und Eleanors Mutter gegangen waren. Billy und Eleanor besuchten Partys im Park Plaza, im Museum of Fine Arts und im Harvard Club. Bei gesellschaftlichen Anlässen wurden sie so oft fotografiert, dass sie dafür eine typische Pose entwickelt hatten: Eleanor strahlte in die Kamera, während Billy ihr einen Arm um die Taille schlang und sie auf die Wange küsste. Sie waren Bostons Sweethearts; die ganze Stadt vergötterte sie.

Zu guter Letzt, vermutet Harper, war es der Erfolg, an dem sie scheiterten. Eleanors Kleider wurden so populär, dass sie in der Newbury Street die Eröffnung einer dreistöckigen Boutique mit ihrem Namen in Angriff nahm. Fast zwei Jahre verbrachte sie Tag und Nacht auf der Baustelle, wo sie Renovierung und Ausgestaltung überwachte. Ein Foto von Eleanor in der Women’s Wear Daily, das sie in engem Rock, Stilettos und Schutzhelm als verführerisches Arbeitermädchen zeigte, erregte als Erstes Billys Zorn.

»Eure Mutter«, sagte er, während er den Mädchen das Bild am Frühstückstisch präsentierte, »ist nur zufrieden, wenn sie alles hundertprozentig unter Kontrolle hat.«

In Wahrheit ging es darum, erfuhren die Zwillinge bald, dass Eleanor für die Elektroinstallationen in der Boutique nicht Billys Firma angeheuert hatte. So etwas lehnte sie prinzipiell ab, denn sie meinte, eine solche Zusammenarbeit würde ihre Ehe ruinieren.

»So ein Quatsch«, sagte Billy. »Eure Mutter ist einfach nur ein Snob. Sie will nicht, dass diese Modefotografen einen Schnappschuss von ihrem Proletarier-Ehemann machen. Sie hatte schon immer das Gefühl, unter ihrem Stand geheiratet zu haben.«

In dem Jahr gab es viele lautstarke Streitereien, erinnert sich Harper. Billy beschuldigte Eleanor, die Familie zugunsten ihres Geschäfts zu vernachlässigen; Eleanor beklagte sich, Billy wolle sie klein halten. Warum gönnte er ihr den Erfolg nicht? Er habe von Anfang an gewusst, dass sie sich eine Karriere wünschte.

Billy glaubte, Eleanor würde nur dann öfter zu Hause bleiben, wenn er mehr ausging, und begann, drei, vier Abende pro Woche mit einer Gruppe von Männern, die sie als Unterweltler bezeichnete, im Eire Pub in Dorchester zu verbringen. Billys Freunde seien nicht besser als Whitey Bulger und die Winter Hill Gang, sagte sie.

Au contraire, gab Billy zurück, dessen französischer Akzent dank der vielen Jahre des Zusammenlebens mit Eleanor auch nach sechs oder sieben Whiskeys noch tadellos war. Seine Freunde aus Southie seien über jeden Zweifel erhaben. Sie ermutigten Billy sogar, für den Stadtrat zu kandidieren.

Nur über meine Leiche, sagte Eleanor.

Schön wär’s, sagte Billy.

Im Sommer, bevor die Zwillinge aufs College gingen – Tabitha aufs Bennington, Harper aufs Tulane –, ließen sich Billy und Eleanor scheiden. Die Mädchen waren siebzehn, und es würde mindestens vier Jahre dauern, bis sie finanziell unabhängig wären. Es war Eleanors Idee, die beiden unter sich aufzuteilen – eine würde von ihr unterstützt werden und in den Sommerferien bei ihr wohnen, die andere zu Billy kommen. Die Feiertage sollten die Zwillinge dann beim jeweils anderen Elternteil verbringen. Was Eleanor nicht ertrug, war der Gedanke, dass beide Mädchen zusammen bei einem Elternteil waren, ihre Habseligkeiten in einem Koffer, zwischen zwei Haushalten hin- und herreisten. Das sei ungehörig, fand sie.

Heute ist Harper klar, dass ihre Mutter schreckliche Angst vorm Alleinsein hatte. Eleanors Eltern waren gestorben; ihre Schwester Flossie lebte in Florida. Sie hatte keine Freunde, nur Geschäftsbeziehungen.

Allerdings rechnete Eleanor nicht damit, dass beide Mädchen zu Billy wollten. Als sie schließlich den Mut aufbrachten, das einzugestehen, lachte Eleanor herablassend und sagte: »Alle Töchter ziehen ihren Vater vor. Das ist eine bekannte Tatsache. Bei mir war es auch so. Aber Billy kann sich nicht euch beide leisten, also fürchte ich, dass eine von euch zu mir kommen muss. Es ist mir egal, welche, denn im Gegensatz zu euch favorisiere ich keine. Ich habe euch beide gleich lieb. Macht ihr das bitte unter euch aus. Bis morgen früh.«

Es folgte eine der qualvollsten Nächte in Harpers Leben – ein stundenlanges im Flüsterton geführtes Gespräch, in dem argumentiert, beraten und gefeilscht und schließlich offen gestritten wurde. Harper behauptete, sie habe Billy immer ein klein wenig nähergestanden – sie sei die Sportliche und Anhängerin der Red Sox! Tabitha sagte, sie sei nach Billys Mutter benannt, während Harper den Mädchennamen von Eleanors Mutter geerbt habe, Vivian Harper Roxie, die in der Tat furchteinflößend war. Deshalb, meinte sie, gehöre Harper zu Eleanor und sie selbst zu Billy. So war es hin- und hergegangen, bis die Mädchen irgendwann beschlossen – ehe es zu richtigen Handgreiflichkeiten kam –, den Konflikt so zu lösen, wie sie seit siebzehn Jahren ihre Konflikte lösten: indem sie Schere, Stein, Papier spielten.

Es war eine Lösung, die Billy ihnen beigebracht hatte. Er behauptete, jeder Streit auf der Welt lasse sich durch Schere, Stein, Papier beilegen. Seiner Meinung nach waren Faustkämpfe, Rechtsanwälte oder Kriege unnötig; alles, was man brauche, seien eine Hand und die Kenntnis der Grundregeln – Schere schneidet Papier, Papier wickelt Stein ein, Stein macht Schere stumpf.

Und wenn euch das Ergebnis nicht gefällt, sagte Billy, macht ihr es drei Mal hintereinander und seht, wer am öftesten gewonnen hat.

Tabitha wählte den Stein und Harper das Papier. Harper gewann.

Tabitha beschuldigte sie, gemogelt zu haben.

Wie das denn?, fragte Harper. Hab ich etwa deine Gedanken gelesen? Trotzdem ließ sie die 3-Runden-Regelung zu. Wieder wählte Tabitha den Stein und Harper das Papier. Wieder gewann Harper.

Sie würde zu Billy ziehen.

Man kann getrost sagen, dass Harpers Beziehung zu Tabitha danach nie wieder dieselbe war. Ein paar Jahre lang gingen sie noch höflich miteinander um, doch Freundinnen waren sie nicht mehr. Billy verließ Boston ganz. Er kaufte ein Haus in der Daggett Avenue in Vineyard Haven, während Eleanor in der stattlichen dreistöckigen Villa in der Pinckney Street wohnen blieb. Als Eleanor dann ihre Schuhkollektion an Steve Madden veräußerte – ein Deal, zu dessen Aufschub bis nach der Scheidung ihr Anwalt ihr geraten hatte –, erstand sie ein zweites Haus auf Nantucket.

Die Mädchen verbrachten jeden Sommer bei »ihrem« Elternteil und besuchten, wie Eleanor es bestimmt hatte, an den Feiertagen den anderen Elternteil. Harper malte sich dann immer aus, wie die eine Fähre dabei über das Kielwasser der anderen hüpfte und die Kondensstreifen ihrer Flugzeuge sich am Himmel kreuzten.

Es gab eine Chance zur Wiedervereinigung der Zwillinge, und zwar nachdem Tabithas zweites Kind – ein Sohn, Julian – drei Monate zu früh zur Welt gekommen war. Sie brauchte Hilfe, und Harper eilte herbei, um ihr beizustehen … aber dann endete alles in einer Katastrophe. Julian starb, und Tabitha hielt es für angebracht, Harper die Schuld zu geben – nicht nur für Julians Tod, sondern auch dafür, dass sie bei Schere, Stein, Papier gewonnen hatte, und für jedes andere Unglück, das ihr als Erwachsene zugestoßen war.

Du machst alles kaputt, sagte Tabitha. Du bist an allem schuld.

Das ist vierzehn Jahre her, und die Zwillinge haben seitdem kaum miteinander gesprochen.

Harper ist klar, dass Reed auf ihre Antwort wartet. Sie denkt nicht gern an ihre Schwester oder ihre Mutter, denn dann hat sie das Gefühl, jemand habe ihr die Augen verbunden und sie geknebelt.

»Ich habe Tabitha gesimst«, sagt sie. »Vermutlich wird sie es meiner Mutter erzählen.«

»Gut«, sagt Reed. »Hör zu, tut mir leid, aber ich muss Schluss machen.«

»Du willst dich nicht mit mir treffen?«, fragt Harper. »Ich soll also Drew anrufen?« Es ist reine Verzweiflung und gemein von ihr, das zu sagen. Harper hat Reed erzählt, dass sie angefangen hat, mit Sergeant Drew Truman vom Edgartown Police Department auszugehen, und das gefällt Reed gar nicht. Drew hat den Vorzug der Jugend und des Körperbaus eines Polizisten und des Junggesellenstandes und eines großen Familienclans – und außerdem ist er ein netter Kerl. Sergeant Truman und Dr. Zimmer kennen sich aufgrund von Heroin-Überdosen. Drew hat im letzten Jahr dreimal Naloxon verabreicht und die Junkies danach direkt ins Krankenhaus gebracht, wo sie in die Obhut von Dr. Zimmer gegeben wurden.

»Ruf Drew bitte nicht an«, sagt Reed. »Fahr einfach nach Hause und kuschle mit Fish.«

»Fish ist ein Hund, Reed, kein Mensch«, sagt Harper. »Billy ist gestorben, als ich ihm gerade die Statistiken von Pedroia vorlas. Was du von mir verlangst, ist nicht fair, und das weißt du.«

»Ich komme morgen früh«, sagt Reed.

»Heute Abend«, sagt Harper.

»Gut, heute Abend«, sagt er. »Aber spät. Um Mitternacht. Und nicht zu dir nach Hause – das ist zu gefährlich. Treffen wir uns auf dem Parkplatz am Lucy Vincent Beach.«

»Und das hältst du für sicher?«, fragt Harper. Bevor Reed einwilligte, sie in ihrer Wohnung zu besuchen, trafen sie sich immer auf dem Parkplatz hinter der Eissporthalle nach Betriebsschluss. Zu dieser Jahreszeit ist da mit Sicherheit keiner mehr, während der Strand … »Es ist schon fast Sommer, Reed. Da sind überall Leute.«

»Das ist mir klar«, sagt er. »Aber ich fahre nicht quer über die ganze Insel.« Anscheinend fällt ihm auf, wie unfreundlich das klingt, denn er fügt hinzu: »Mehr kann ich nicht tun, wenn es noch heute sein muss.«

»Es muss noch heute sein«, sagt Harper. »Lucy Vincent um Mitternacht.«

»Für fünf Minuten, damit ich dir einen Kuss geben und versichern kann, dass alles gut wird.«

»Wird es das denn?«, fragt sie.

»Ja«, sagt er.

Harper fährt kurz nach Hause, um Fish rauszulassen. Er ist ein Hund, kein Mensch, und doch steht er an der Tür und wartet auf sie, obwohl er derzeit meistens schlafend auf seinem Bett liegt und kaum den Kopf wendet, wenn sie hereinkommt. Aber heute ist er gleich da, die Pfoten auf ihren Oberschenkeln, leckt ihr das Gesicht und schenkt ihr so viel Liebe, wie er kann. Er weiß Bescheid. Das rührt Harper zu Tränen. Ihr Hund weiß, dass Billy gestorben ist, aber sie verspürt das Bedürfnis, es ihm ausdrücklich mitzuteilen. Sie packt Fishs Schnauze, schaut in seine eisblauen Augen und sagt: »Pops ist tot, Kumpel.« Er jault und reibt sich an Harpers Bein, und sie muss ihn praktisch zur Tür hinaus in den Vorgarten schieben, wo er in den größten Hortensienstrauch auf dem ganzen Grundstück pinkelt. Dann kommt er in die Küche zurückgetrottet, wo Harper sagt: »Heute gibt’s Lamm, zu Ehren von Pops.« Aber Fish schlingt sein Futter nicht herunter, wie er es normalerweise tut, sondern blickt zu Harper auf, als wolle er um Erlaubnis bitten. »Na los«, sagt sie. Und Fish senkt seinen Kopf mit trauervoller Würde auf den Fressnapf.

Harper verlässt das Haus und fährt zum Our Market, um sich einen Sixpack Amity-Island-Ale und drei Jägermeister zu holen. Robyn, die Kassiererin, kennt Harper seit zwanzig Jahren, ist aber eine gute Freundin von Jude, daher begegnet Harper ihr immer argwöhnisch und reserviert.

»Möchtest du eine Tüte?«, fragt Robyn.

»Bitte«, sagt Harper.

Vielleicht hat Robyn schon von Billys Tod gehört, denn sie wirft einen Gratis-Hundesnack mit in die Tüte.

Es ist halb neun, die Sonne eben untergegangen. Harper zieht den Winter vor, in dem es um halb vier dunkel wird und bereits stockfinster ist, wenn sie ihre Schicht beendet. Die Sommersonne macht zu viel sichtbar.

Harper öffnet eins der Biere mit dem metallenen Ende ihres Sicherheitsgurtes und trinkt es in einem Zug zur Hälfte aus, dann kippt sie sich einen Jäger in den Mund. Ihre Mutter wäre entsetzt.

Harper hätte die Middle Road nehmen sollen, denn die State Road führt sie direkt an Judes Haus vorbei, wo Harper zu beiden Seiten des Garden-Goddesses-Schilds Autos und Pick-ups die Straße säumen sieht. Jude veranstaltet die alljährliche Sommeranfangsparty für ihr Personal. Sie serviert Spanferkel und selbstgemachtes Maisbrot und Apfel-Krautsalat, und eine große Zinkwanne ist mit Bier gefüllt. Judes Partnerin Stella mixt Mudslide-Cocktails, und alle hören Jack Johnson, und die Neulinge denken: Wow, was für ein toller Arbeitsplatz! Nur die erfahrenen Angestellten wissen, dass dies bis zum Labor Day, an dem Jude eine zweite Party gibt, diesmal mit Hummer, ihr letzter freier Tag sein wird.

Harper tritt aufs Gas. Sie kann gar nicht schnell genug an Judes Grundstück vorbeikommen.

Sirene. Lichter. Harper schaut in den Rückspiegel.

Polizei. Sie flucht vor sich hin und sieht auf die offene Dose neben sich, aber sie hat keine Zeit, sie zu entsorgen, und kein Versteck für sie. Sie setzt den Blinker und fährt an den Straßenrand.

Das hier ist das Letzte, was sie braucht. Ihr guter Ruf ist bereits angeschlagen, besudelt und mit Stahlkappenstiefeln zertreten. Vor drei Jahren wurde Harper verhaftet, weil sie einem Mann namens Joey Bowen, den sie nur flüchtig kannte, einen »Gefallen« getan hatte; er war Stammgast im Dahlia’s, wo Harper einmal wöchentlich kellnerte. Der Gefallen bestand darin, dass sie dem Sohn einer Familie, der Monacos, die Kunden von Jude waren, ein Päckchen lieferte; sie sollte bei ihnen den Rasen mähen und die Beete jäten. Sie musste das Päckchen nur in ihrer Schubkarre unter dem Mulch und Dünger verstecken und zu den Monacos in den Garten bringen und die Schubkarre vor der Seitentür parken, dann würde der Monaco-Sohn herauskommen und sich das Päckchen holen – und dafür wollte Joey Bowen ihr dreitausend Dollar bezahlen. Harper war klar, dass sie vermutlich Drogen transportierte, doch das Angebot war zu verlockend; sie brauchte das Geld. Zu der Zeit lebte sie noch bei Billy und wollte eine eigene Wohnung, aber der Vineyard war teuer, und es war schwierig, es hier zu etwas zu bringen.

Nur wusste Harper leider nicht, dass die Staatspolizei und das FBI das Haus der Monacos seit Wochen beobachteten und genau diese Lieferung im Auge hatten. Als der Sohn sich das Päckchen schnappte, hüpften Beamte über den Zaun, sprangen aus Bäumen und stürmten über den Rasen. Dann legten sie dem Jungen Handschellen an, ebenso Harper.

Bei der Befragung erklärte Harper den Polizisten, dies sei das erste und einzige Mal gewesen, dass sie irgendetwas an jemanden geliefert hätte. Joey Bowen sei Gast in dem Restaurant, wo sie arbeite. Man informierte sie, dass Joey Bowen vom Upper Cape bis nach New Bedford wegen Drogenhandels gesucht werde.

Harper verbrachte achtzehn Stunden in Gewahrsam, bis Billy einen Anwalt für sie aufgetrieben hatte. Sie wurde entlassen und nur zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, verlor aber ihre Jobs bei Garden Goddesses und im Dahlia’s. Jude Hogan verabscheut Harper ganz offen dafür, dass sie ihren Gärtnereibetrieb für ihre Zwecke missbraucht hat. Die anderen, die Harper sonst noch hassen, sind beängstigender, wenn auch weitaus weniger sichtbar – die Leute, die früher bei Joey ihre Drogen gekauft haben.

Das Schlimmste war aber vielleicht, dass sich die Nachbarin der Monacos, eine Frau namens Ann-Lane Crenshaw, als College-Zimmergenossin von Eleanor Roxie-Frost erwies, die daher sofort von Harpers Verhaftung erfuhr und die erschreckende Neuigkeit zweifellos an Tabitha weiterleitete. Wie sollte Harper sich da nicht plötzlich wie das schwärzeste aller Schafe fühlen?

Jeder andere hätte die Insel verlassen. Es zeugt von Harpers Erbärmlichkeit, dass sie geblieben ist.

Sie weiß nicht, wo sie sonst hinsoll.

Und ihr Vater ist hier. War hier.

Unwillkürlich steigen Tränen in ihr auf. Ihr Vater ist gerade gestorben. Das wird sie dem Beamten einfach erzählen. An sein Mitleid appellieren.

Sie kurbelt das Fenster herunter. Sie steht etwa hundert Meter jenseits von Judes Grundstücksgrenze; wenn sie bloß keiner von den Partygästen sieht!

»Hey, Baby.«

Sie blickt auf. Es ist Drew.

»Was?«, sagt sie und schaut in den Rückspiegel. Es ist ein Streifenwagen aus Edgartown, nicht aus West Tisbury. Sie lässt sich in ihren Sitz sinken, und Erleichterung durchströmt sie bis in die Zehenspitzen. »Musstest du mich wirklich anhalten?«

»Du bist so schön, dass du damit das Gesetz brichst«, sagt er und steckt den Kopf durchs Fenster, um sie zu küssen. »Außerdem bist du zu schnell gefahren.«

»Echt?«

»Was machst du hier?«, fragt er. »Ich bin dir gefolgt, als du vom Our Market wegfuhrst.«

»Ach ja?«, sagt sie. Drew hat von Natur aus einen leichten Hang zum Stalken. Womöglich argwöhnt er, dass sie ein Geheimnis hat. »Musst du nicht arbeiten?«

»Ich habe bis neun Uhr Pause«, sagt Drew. »Eigentlich wollte ich dich vom Krankenhaus abholen, aber dann habe ich deinen Wagen gesehen.« Er beäugt das Bier. »Damit solltest du vorsichtig sein.«

»Ich bin unterwegs nach Aquinnah, um einen klaren Kopf zu kriegen«, sagt sie. »Es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen um mich machst, aber ich sagte ja schon am Telefon, dass ich glaube, ich muss einfach allein sein.«

Drew nickt. In seiner Uniform findet sie ihn unwiderstehlich. Er ist so attraktiv, so aufrecht, ein so eiserner Gutmensch. Warum kann sie nicht in Drew verliebt sein?

»Die Tanten machen dir einen Hummereintopf«, sagt er. »Den bringe ich dir morgen vorbei.«

»Du hast ihnen schon von Billy erzählt?«, fragt Harper.

»Ich habe meine Mutter angerufen«, sagt Drew. »Wanda und Mavis waren bei ihr, um beim Bohnenputzen zu helfen, und so haben sie es mitgehört. Wanda ist gleich losgezogen, um mit dem Eintopf anzufangen. Das ist ihre automatische Reaktion auf den Tod – ein Topf mit einer warmen und schmackhaften Mahlzeit, damit du nicht zu essen vergisst und auf Haut und Knochen abmagerst.«

»Aber das müssen sie doch nicht!«, sagt Harper. »Sie kennen mich ja nicht mal.«

»Sie wissen, dass ich dich mag«, erwidert Drew und beugt sich vor, um sie erneut zu küssen. »Nur das zählt.«

Harper lächelt und kurbelt das Fenster hoch.

Um Mitternacht sitzt Harper mehr oder weniger schlafend vorn in ihrem Bronco, nachdem sie fünf von den Bieren und zwei Schnäpse getrunken und sich aus Alley’s General Store außerdem ein Glas Pickles geholt hat – ihr Abendessen. (Die Tanten sorgen sich zu Recht um sie.) Seit Viertel vor zehn, als eine Gruppe Highschool-Kids vom Strand kam, war niemand auf dem Parkplatz. Harper ist erleichtert: Am Lucy Vincent Beach ist es also nach wie vor sicher.

Reed kommt um Punkt zwölf; er ist immer pünktlich. Harper stellt ihren Sitz hoch und steigt aus. Er hat fünf Minuten gesagt, und Harper weiß, was sie erwartet – nicht mehr und nicht weniger. Er schaltet den Motor seines Lexus ab, steigt aus und läuft auf sie zu. Er breitet die Arme aus, und sie lässt sich an seine Brust fallen.

»Er ist weg«, sagt sie. »Ich werde ihn nie wiedersehen. Das ist es, glaube ich, womit ich nicht klarkomme.«

Reed drückt sie fester an sich. Er ist Arzt. Der Umgang mit dem Tod ist Teil seines Jobs – nicht jeden Tag, aber ziemlich oft.

»Wir müssen alle sterben, Harper«, sagt er. »Billy ist friedlich eingeschlafen. Er hatte den Menschen bei sich, den er auf dieser Welt am meisten liebte und der ihm die Statistiken von Pedroia vorlas. Was für ein Tod.«

Harper hebt ihr Gesicht, und ihre Lippen treffen sich. Reeds Mund ist warm; ihn zu küssen erregt sie immer, doch heute Nacht ist ihr Verlangen, weil sie erschöpft ist vom Weinen, ungezügelt und überwältigend. Er reagiert darauf, indem er mit seiner Zunge ihre sucht und seinen Unterkörper an ihren presst. Er verlagert seinen Mund unter Harpers Ohr. Sie werden miteinander schlafen. Harper kann es kaum fassen. Er muss beim Familienpicknick ein paar Bier getrunken haben und zu Hause vielleicht noch einen Scotch, da er an diesem Wochenende keine Bereitschaft hat. Er ist lockerer als sonst, fast verwegen. Seine Hände schieben sich unter ihre Bluse; er hakt den vorderen Verschluss ihres BHs auf. Er spielt mit ihren Brustwarzen, dann senkt er den Kopf und saugt an der linken, bis sie aufstöhnt. Sie hält es nicht mehr aus. Sie streicht über den Reißverschluss seiner Jeans.

Er zieht ihn mit einer Hand auf, und Harper greift nach der Autotür.

»Nein«, sagt er. »Draußen.«

»Draußen?«, fragt sie. Ist das hier Reed? Reed Zimmer? Er kümmert sich nicht einmal um Verhütung, worauf er normalerweise größten Wert legt; er stößt einfach in sie. Harpers Rücken ist an die Tür des Bronco gedrückt, und in dieser Sekunde sieht sie Scheinwerfer. Jemand fährt vorbei, denkt sie. Aber nein: Ein Wagen biegt auf den Parkplatz ein. Er nähert sich. Harper will sich von Reed lösen, doch er bemerkt die Lichter und das Motorengeräusch nicht. Er ist zu sehr auf seinen Rhythmus konzentriert, seine Augen sind geschlossen. Er kommt mit einem Stöhnen und erschauert. Ein leiser Schrei entweicht ihm.

Harper schiebt ihn weg, aber es ist zu spät. Eine Autotür knallt zu, und eine Frau ruft, schreit, kreischt. »Reed! Reed! Reed!«

Es ist Sadie.

NANTUCKET: TABITHA

Man hat sie zu einer Cocktailparty auf der Belle eingeladen, einer siebenundsiebzig Fuß langen hölzernen Motoryacht, erbaut 1929, die mittlerweile für Partys der Mitglieder des Westmoor Club genutzt wird. Die heutige Soiree veranstalten Leute, die Tabitha kaum kennt, und es ist noch ein bisschen zu frisch, um abends draußen auf dem Wasser zu sein, doch seit Tabitha sich von Ramsay getrennt hat, freut sie sich über jede Gelegenheit zum Ausgehen.

Ramsay sitzt jetzt bestimmt an der Bar des Straight Wharf und wartet darauf, dass Caylees Schicht zu Ende ist. Tabitha war diejenige, die Schluss gemacht hat, aber Ramsay hat sich weitaus schneller davon erholt als sie – sofort, genau genommen. In den drei Jahren ihres Zusammenseins hat Tabitha ihm oft im Scherz vorgehalten, er wünsche sich eine Jüngere, was er stets bestritt. Und doch ist Caylee – ein Name, der zu einem Hundespielzeug passt, findet Tabitha – erst zweiundzwanzig.

Tabitha war mit zweiundzwanzig hochschwanger. Sie hatte nie die Chance, einen Sommer als Barkeeperin zu verbringen oder sich ein Tattoo stechen zu lassen; sie hatte nie Gelegenheit, aus dem Modeimperium ihrer Mutter auszubrechen und ihre eigenen Leidenschaften zu verfolgen – Immobilien, Architektur, Inneneinrichtung. Und als sie dann fünfundzwanzig war, erlebte sie eine Tragödie, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Ramsay wusste Bescheid über Julian, und er wusste, dass da eine Lücke war, die sich nie mehr schließen ließ – das glaubte Tabitha jedenfalls. Aber an einem eisigen Abend im letzten Februar, an dem sie beide nüchtern waren – sodass Alkohol nicht daran schuld sein konnte –, sagte Ramsay: Deine einzige Möglichkeit, diese Traurigkeit zu überwinden, ist ein Neuanfang. Lass uns ein Kind haben.

Es hatte keinen Sinn, ihm zu antworten. Er verstand sie nicht. Er würde sie nie verstehen, wurde Tabitha klar. Sie fertigte ihn mit einem »Wir beide wünschen uns einfach was Unterschiedliches« ab, und zwei Tage später zog er aus.

Die Party ist nicht übel. Gast und Gastgeberin sind aus Tallahassee, daher finden sie es in New England immer etwas frisch und haben ihren weiblichen Gästen einen Stapel Kaschmirdecken in optimistischen Sommerfarben – Orange, Pink, Aquamarin – zur Verfügung gestellt. Es gibt einen endlosen Vorrat an sehr kaltem Laurent-Perrier-Rosé und eine Rundum-Beschallung mit Sinatra und Dean Martin, die Tabitha einfach liebt. Da sie keine Jugend hatte, hat sie den Geschmack ihrer Mutter Eleanor übernommen. Eleanor ist nach allgemeinen Maßstäben eine kultivierte Frau, allerdings einundsiebzig, und manchmal fürchtet Tabitha, dass sie nicht nur ihre eigene Jugend übersprungen hat, sondern gleich noch ihr mittleres Alter dazu und direkt in der Ära der Hüftprothesen und Hörgeräte gelandet ist.

Während Ramsay vor dem Auszug seine Sachen packte, hielt er ihr eine Rede, in der er jede einzelne von Tabithas Schwächen und Fehlern aufzählte.

Sie sei ungeheuer snobistisch. Sie sei verklemmt. Sie gebe jeder Laune, jedem Wunsch ihrer Mutter nach; sie habe ihr ganzes Erwachsenenleben im Schatten dieser Frau verbracht. Sie sei eine unermüdliche Handlangerin für Eleanor Roxie-Frost Designs GmbH, und trotzdem verliere die Boutique auf Nantucket jedes Jahr Geld! Tabitha besitze keinen Geschäftssinn; sie habe den Laden heruntergewirtschaftet. Ramsay selbst habe ihr vierzigtausend Dollar geliehen, damit sie das Sortiment der Boutique über die Marke ELF hinaus erweitern könne. »Und vergiss nicht: Das Geld schuldest du mir immer noch«, sagte Ramsay.

»Ich weiß«, entgegnete Tabitha, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass Ramsay wusste, wie lange sie mit einem Kind, das noch das College vor sich hatte, für die Rückzahlung brauchen würde.

Eine letzte spitze Bemerkung brachte Ramsay aber an. »Wie gut, dass du keine weiteren Kinder willst«, sagte er. »Du bist eine hundsmiserable Mutter, Tabitha.«

Sie wusste, dass er wütend und verletzt und todunglücklich war, doch die ungepufferte Grausamkeit dieser Aussage zwang sie zu erwidern: »Wie kannst du es wagen?«

»Vielleicht bekommst du deine Tochter ja unter Kontrolle, wenn ich weg bin«, sagte er.

Das Essen auf dem Boot ist köstlich – Lammkoteletts, Hummer-Maiskrapfen, Gougères, Russische Eier. Tabitha bedient sich mit Bedacht – Ramsay war so nett, die sieben Kilo nicht zu erwähnen, die sie in den letzten drei Jahren zugenommen hat –, während sie die Menge nach einem geeigneten Gesprächspartner absucht. Ramsay hat nicht Unrecht, was ihren fehlenden Geschäftssinn anbelangt. Was sie mehr als alles andere braucht, ist entweder ein Lotteriegewinn oder ein Sugardaddy.

Die Auswahl an Bord ist spärlich. Alle Männer hier sind älter und wirken gut betucht, aber sie sind auch verheiratet – und überwiegend aus Tallahassee, was sie von vornherein ausschließt.

Tabitha lässt sich an der Bar ihr Sektglas auffüllen, dann macht sie sich allein zum Bug des Bootes auf. Sie umrunden gerade den Leuchtturm von Brant Point, und der Blick, der sich ihnen bietet, ist so herrlich, dass er Tabitha den Atem verschlägt, obwohl sie ihn Hunderte Male genossen hat. Sie stützt ihre Ellbogen auf die Reling und schließt die Augen.

Sie ist keine hundsmiserable Mutter. Ainsley befindet sich bloß in einem schwierigen Alter, und sie ist von Natur aus rebellisch. Wenn man Tabitha aber ihre intimsten, ehrlichsten Gedanken entlocken würde, müsste sie einräumen, dass sie mit Ainsley ein Monster geschaffen hat. Nach Julians Tod steckte Tabitha ihre ganze Energie in die Erziehung ihrer Tochter. Sie wurde eine Helikoptermutter – in zweiter Generation –, die jeden Schritt Ainsleys kontrollierte, wie Eleanor es bei ihr getan hatte. Doch als ihre Tochter erwachsen wurde, geschah das rasant. Sie wurde ein unbändiges Fohlen, und Tabitha spürte, wie ihr die Zügel entglitten. Um Ainsley an sich zu binden, unterstützte und ermutigte Tabitha sie bei ihrem Versuch, das populärste, weltgewandteste Mädchen an der Nantucket High School zu sein. Tabitha kaufte ihr das Make-up und die Zweihundert-Dollar-Jeans, Tabitha ließ sie von sich aus abends länger ausgehen. Daran, dass Ainsley jetzt so ein Pulverfass ist, ist niemand anders schuld als Tabitha.

Draußen auf dem Meer zu sein fördert immer diese Gedanken zutage. Tabitha hätte an Land bleiben sollen.

Plötzlich steht ein Mann neben ihr. Er trägt eine Uniform.

Er streckt die Hand aus. »Ich bin Peter«, sagt er. »Der Kapitän.«

»Tabitha Frost«, sagt sie. »Wenn Sie der Kapitän sind, wer lenkt dann das Boot?«

Peter lacht. »Mein Erster Maat. Ich habe ihn gebeten, ein Weilchen zu übernehmen, damit ich runterkommen und mit Ihnen plaudern konnte. Würden Sie mir gern helfen, diese Schönheit zu steuern?«

Als sie nebeneinander am Steuerrad des Boots stehen – jedes Mal, wenn jemand von der Crew hereinspaziert kommt, schickt Peter ihn, mehr Sekt oder noch einen Teller Hors d’œuvres für Tabitha zu holen –, spult er seine Lebensgeschichte vor ihr ab. Küstenwache mit neunzehn, erste Hochzeit mit zweiundzwanzig, zwei Söhne (namens PJ und Kyle), geschieden mit dreißig, Exfrau Nummer 1 lebt in Houston.

Tabitha fragt sich, wie viele Exfrauen es insgesamt gibt. Die Musik, stellt sie fest, ist jetzt in den Top 40 angelangt – bei den Sachen, die Ainsley hört, wenn sie gute Laune hat –, und Tabitha sieht genau vor sich, wie der Sekt allen zu Kopf steigt und die Gäste aus Tallahassee ihre Körper auf eine merkwürdige, peinliche Art verrenken, die sie wohl für Tanzen halten.

»Erzählen Sie weiter«, fordert sie Peter auf.

Zweite Eheschließung mit zweiunddreißig. Die Tochter aus dieser Verbindung ist eine Senkrechtstarterin, neunzehn und im zweiten Jahr an der Northwestern; Exfrau Nummer 2, die Mutter, leitet einen exklusiven Campingplatz auf der Upper Peninsula of Michigan.

Mit fünfunddreißig hatte Peter dann eine Art Midlife-Crisis. Er zog nach Maui, wo er zehn Jahre lang Kapitän eines Walbeobachtungsschiffs war, mit einer Einheimischen namens Lupalai zusammenlebte und zwei weitere Kinder bekam – einen Jungen und ein Mädchen, vierzehn und elf –, obwohl er und Lupalai nie verheiratet waren. Er schickt Schecks, behauptet er, hat die Kinder jedoch nicht mehr gesehen, seit er vor fünf Jahren zurück in den Osten gezogen ist. Er arbeitet in der fünften Sommersaison als Kapitän der Belle, und im Winter fliegt er auf die Bahamas, wo er einen Bareboat-Charterbetrieb leitet.

»Im April habe ich meinen Fünfzigsten gefeiert«, sagt er. »Was ist mit Ihnen?«

»Ich bin neununddreißig«, sagt Tabitha.

Captain Peter lacht. »Das müssen Frauen ja wohl sagen.«

»Nein«, sagt Tabitha. »Ich bin wirklich neununddreißig. Im Dezember werde ich vierzig.«

»Oh«, sagt der Kapitän. Er wirkt überrascht, und Tabithas Laune verdüstert sich. Sie sieht älter aus; sie gibt sich älter. Sie trägt ein weißes Hemdkleid aus Leinen mit einem Obi. Es ist seit dreißig Jahren der Eckpfeiler von Eleanors Kollektion und heißt einfach »das Roxie«. Es soll eine klassische Zeitlosigkeit vermitteln, und das tut es sicherlich auch, aber es ist weder jugendlich noch sexy. Tabitha hätte den paillettenbesetzten Haute-Hippie-Minirock mit der knallrosa Bluse von Milly anziehen sollen, doch sie fürchtete, das würde zu bemüht wirken. Stattdessen sieht sie aus, als sei sie unterwegs zum Frühstücksbüfett und wolle dann eine Partie Bridge spielen.

Der Kapitän sagt etwas, das Tabitha nicht versteht.

»Wie bitte?«

»Möchten Sie was mit mir trinken, nachdem wir angelegt haben? Ich werde das alte Mädchen gleich wenden, deshalb müssen Sie runter an Deck.«

Tabitha zupft an ihrem Obi. Sie fühlt sich verfolgt und verstoßen zugleich. Möchte sie mit dem Kapitän was trinken gehen? Sie weiß nicht recht. Er ist offensichtlich ein schlimmer Finger. Wahrscheinlich stellt er jeder halbwegs attraktiven Frau nach, die an Bord kommt. Er ist fünfzig und lebt immer noch von Saison zu Saison. Entweder mietet er sich dann irgendwo auf der Insel ein Cottage, oder er wohnt in einer Unterkunft, die der Westmoor Club zur Verfügung stellt. Sicher besitzt er keine Immobilie; vielleicht fährt er einen kleinen Pick-up. Ein solches Leben ist okay, bis man … wie alt ist? Tabitha entscheidet sich willkürlich für achtundzwanzig. Danach ist es an der Zeit, erwachsen zu werden. Und für wie viele Kinder muss Captain Peter Unterhalt zahlen? Tabitha hat den Überblick verloren. Vier? Fünf? Wenn Eleanor hier wäre, würde sie sofort ihr Veto gegen den Kapitän einlegen. Eleanor missbilligte auch Wyatt, weil er Anstreicher war, und Eleanor wollte, dass Tabitha einen Akademiker heiratete – einen Anwalt oder Börsenmakler. Jetzt, da Wyatt ein großer Malerbetrieb gehört, der das gesamte Cape und die South Shore von Plymouth bis nach Braintree versorgt, ist Eleanor ihm freundlicher gesinnt. Sie vergöttert Ramsay, der für die Versicherungsfirma seiner Familie in der Main Street tätig ist. Ramsay trägt einen Schlips zur Arbeit, und seine Familie ist Mitglied im Nantucket Yacht Club.

Dieser Typ hier, Captain Peter, ist nicht die Sorte Mann, mit der Tabitha sich je einlassen würde. Er ist die Sorte Mann … mit der Harper sich zusammentäte. Harper hat keine Ansprüche. Ihre Erwartungen – an alles im Leben – sind nicht nur gering, sondern praktisch nicht existent.

Tabitha sollte sich herzlich für sein Angebot bedanken.

»Haben Sie jemals jemanden verloren?«, fragt sie.

»Jemanden verloren?« Peter scheint verwirrt zu sein und ganz erpicht darauf, sich wieder dem Steuer zu widmen.

»Wir können später darüber reden«, sagt Tabitha. »Ich würde gern noch was trinken gehen.«

Auf dem Weg zum Nautilus bereut Tabitha ihre Entscheidung. Auf ihrem Handy ist eine Nachricht von Ainsley, die lautet: Wann kommst du nach Hause? Ainsley hat eine Woche Stubenarrest, nachdem sie mitten in der Nacht ohne Erlaubnis und, noch ungeheuerlicher, ohne Führerschein eine Spritztour mit Tabithas FJ40 unternommen hatte. Tabitha entdeckte die Missetat letzten Sonntagmorgen, als sie ins Auto stieg, um zum Sonnenaufgangsyoga zu fahren. Der Benzintank war leer, und das Wageninnere stank nach Zigaretten. Tabitha weckte Ainsley und verlangte ein Geständnis, das Ainsley ihr ohne viel Getue lieferte.

»Ja, ich habe das Auto genommen. Ich bin zu Emma gefahren.«

Emma!

Tabitha und Ainsley wohnen in der Remise hinter Eleanors stattlichem Anwesen in der Cliff Road, und Ainsleys Freundin Emma – deren Foto im Lexikon neben dem Eintrag schlechter Einfluss zu sehen sein müsste – lebt am Ende des Jonathan Way in Tom Nevers, etwa so weit entfernt, wie es zwei Orte auf Nantucket nur sein können. Tabitha erschauerte bei der Vorstellung, dass Ainsley beim Fahren ohne Führerschein einen Unfall hätte haben können. Wenn sie nun jemanden angefahren oder gar getötet hätte? Tabitha wäre verklagt worden, ebenso Eleanor. Die Firma wäre finanziell ruiniert worden. Und doch zeigte Ainsley keine Schuldgefühle. Als sich Tabitha aber Ainsleys Telefon von deren Nachttisch schnappte, war ihre Aufmerksamkeit geweckt. Wie der Blitz sprang sie aus dem Bett, jagte ihre Mutter durchs Haus und versuchte, ihr das Gerät zu entreißen. In ihrer Aufregung verpasste sie Tabitha einen Kratzer im Gesicht, und Tabitha reagierte so überrascht – ihr eigenes Kind hatte nach ihr geschlagen –, dass sie das Telefon fallen ließ. Ainsley forderte es zurück.

»Ich brauche es«, sagte sie. »Du kommst ja vielleicht ohne soziale Kontakte zurecht, ich aber nicht.«