Inselwinter - Elin Hilderbrand - E-Book
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Inselwinter E-Book

Elin Hilderbrand

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Beschreibung

Puderzuckerschnee, Lichterfunkeln und Glühweinduft – es weihnachtet sehr auf Nantucket. Wie in jedem Jahr kommen die Quinns im Winter Street Inn, der kleinen Pension der Familie, zusammen, und es gibt Grund zu feiern: Familienoberhaupt Kelley und seine Exfrau Margaret sind einander wieder nähergekommen, ihr Sohn Kevin ist frischgebackener Vater, und auch Tochter Ava hat endlich die Liebe gefunden. Doch plötzlich steht Kelleys zweite Ehefrau, Noch-Gattin Mitzi, vor der Tür – und drei unter dem Mistelzweig sind eindeutig einer zu viel ... Nur ein Weihnachtswunder kann das Fest der Quinns jetzt noch retten.

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Seitenzahl: 298

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Buch

Weihnachtszeit auf Nantucket: Wie in jedem Jahr kommen die Quinns im Winter Street Inn, der kleinen Pension der Familie, zusammen – und es gibt Grund zu feiern: Familienoberhaupt Kelley und seine Exfrau Margaret sind einander wieder nähergekommen, ihr Sohn Kevin ist frischgebackener Vater, und auch Tochter Ava hat endlich die Liebe gefunden. Doch plötzlich steht Kelleys zweite Ehefrau, Nochgattin Mitzi, vor der Tür – und drei unter dem Mistelzweig sind eindeutig einer zu viel …

Mehr Informationen zur Autorin

und ihren Werken finden Sie am Ende des Buches.

ELIN HILDERBRAND

Inselwinter

Roman

Übersetzt

von Almuth Carstens

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Winter Stroll« bei Reagan Arthur Books/Little, Brown

and Company in der Hachette Book Group, New York.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstveröffentlichung November 2016

Copyright © der Originalausgabe

2015 by Elin Hilderbrand

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

U2 / Schlitten: GettyImages / STOCK48

Redaktion: Dr. Ann-Catherine Geuder

LT · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-18622-7V001

www.goldmann-verlag.de

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Dieser Roman ist dem Andenken an

Grace Caroline Carballo MacEachern

(10. März 2006 – 5. Dezember 2014) gewidmet

sowie ihren Eltern, meinen allerliebsten Freunden

Matthew und Evelyn MacEachern.

Die Liebe überwindet alles.

FREITAG, 4. DEZEMBER

MITZI

Sie verlässt das Hotel durch die Hintertür und zündet sich eine Zigarette an. George weiß, dass sie raucht, weigert sich jedoch, ihr dabei zuzusehen – also muss sie es schnell und heimlich tun. Wenn sie länger als zehn Minuten weg ist, schickt er einen Suchtrupp aus, der meistens aus ihm selbst und seinem Jack-Russell-Terrier Rudy besteht, manchmal aber auch aus einer oder mehreren der Frauen, die in der Hutmacherei arbeiten. George glaubt, Mitzi könnte sich etwas antun. Oder ihn womöglich mit jemandem betrügen, wie sie auch ihren Ehemann Kelley betrogen hat, und mit ihm durchbrennen.

Für Mitzi ist eine Affäre in ihrem Zustand undenkbar. Und sich etwas anzutun, käme ihr überflüssig vor; sie erleidet schon jetzt den schlimmsten Schmerz, den ein Mensch durchleben kann.

Bart Bart Bart Bart Bart.

George behauptet, sie zu verstehen, aber er hat nie ein Kind gehabt, wie also könnte er?

Nikotin ist Gift. Und doch gehören Zigaretten, seit Bart vermisst wird, zu den beiden Dingen, mit denen es Mitzi besser geht. Das zweite ist Alkohol. Sie hat eine Vorliebe für einen Tequila namens Casa Dragones entwickelt, der in einen eleganten, schmalen türkisgrünen Karton verpackt ist und in dem einzigen Geschäft mit Edelspirituosen, das es in Lenox gibt, fünfundachtzig Dollar kostet.

Mitzi fragt sich, ob eine der Spirituosenhandlungen auf Nantucket wohl Casa Dragones führt. Murray’s vielleicht? Sie hätte jetzt gern ein paar Schlucke, um den Schmerz ein bisschen zu lindern.

Als Bart sich vor achtzehn Monaten bei den Marines verpflichtete, nahm Mitzi naiverweise an, der sogenannte Krieg gegen den Terror sei vorbei. Osama bin Laden war getötet und seine Leiche im Meer versenkt worden. Mitzi ging davon aus, dass Barts Einsatz in Afghanistan dazu dienen sollte, einem vom Krieg geschundenen Volk wieder auf die Beine zu helfen. Sie dachte, er würde Brunnen graben und Schulen neu aufbauen. Sie stellte sich vor, wie er mit Kindern arbeitete – ihnen Stifte und Kaugummi schenkte und anstößige Wendungen aus irgendwelchen Rap-Songs beibrachte. Aber Bart war noch keine vierundzwanzig Stunden im Land gewesen, als sein aus fünfundvierzig Soldaten bestehender Konvoi gefangen genommen wurde.

Inzwischen gilt er seit fast einem Jahr als vermisst.

Das Verteidigungsministerium glaubt, dass die für die Entführung verantwortliche extremistische Gruppe der Beleh ist, was auf Afghanisch »ja« bedeutet. Sie ist noch nie öffentlich in Erscheinung getreten; man weiß nur, dass ihre Mitglieder jung sind – die meisten erst Teenager – und sehr bösartig. Ein Beamter soll gesagt haben: »Gegen diese Jugendlichen sind ISIS und Taliban die reinsten Chorknaben.« Und anscheinend sind sie auch Zauberkünstler, denn obwohl das US-Militär in Sangin und der umliegenden Provinz drei Aufklärungsmissionen durchführte, weiß man immer noch nicht, wohin die Marines verschleppt wurden.

Mitzi kann nicht mehr fernsehen oder die Zeitung lesen; sie schafft es kaum, ihren Computer einzuschalten. Wenn es entscheidende Neuigkeiten über den Verbleib von Barts Konvoi gibt, wird das Verteidigungsministerium Kelley und Mitzi direkt kontaktieren.

Georges Ratschlag ist: Versuch, nicht daran zu denken. So geht man am Nordpol wohl mit Schicksalsschlägen um. Man ignoriert sie.

Mitzi hat aufgeraucht, drückt die Zigarette auf der Sohle ihres Clogs aus und wirft eine Pfefferminzpastille ein – warum, weiß sie selbst nicht recht. George küsst sie nicht mehr, und Sex haben sie selten. George ist schon älter und benötigt die Hilfe einer Pille beim Geschlechtsverkehr, und Mitzi gelingt es nicht, sich auch nur für eine halbe Stunde fallen zu lassen. Sie ist ebenfalls eine Gefangene – ihrer Sorge, ihrer Angst, ihrer Unruhe und ihrer schlechten Angewohnheiten.

Sie holt ihr Handy hervor und ruft Kelley an.

»Hallo?«, sagt er. Seine Stimme klingt kräftig, beinahe fröhlich; im Hintergrund hört Mitzi Weihnachtsmusik, »Carol of the Bells«. Mitzi hat einige Schwierigkeiten mit Kelley, aber die größte ist, dass er sich anscheinend manchmal gar nicht mehr daran erinnert, dass ihr Sohn vermisst wird. Er behandelt Barts Verschwinden mit einem Gleichmut, den Mitzi irritierend findet. Typisches Beispiel: Im Moment scheint er Weihnachtslieder zu hören! Und vermutlich bereitet er sich darauf vor, Champagnercocktails für die Gäste zu mixen. Es ist das Wochenende des Adventsbummels – das auf Nantucket weihnachtlicher ist als Weihnachten selbst. Die Stadt durchzieht der berauschende Geruch von Fichtengrün, salziger Luft und Holzrauch. Als die Fähre am frühen Nachmittag Brant Point umrundete und Mitzi den riesigen Kranz mit seinen Lichtern am Leuchtturm hängen sah, fiel ihr für einen Augenblick wieder ein, wie sehr sie die Feiertage auf dieser Insel liebte.

Doch dann senkte sich die Realität wie eine dunkle Decke auf sie herab.

»Kelley«, sagt sie jetzt. »Ich bin hier.«

»Hier?«, fragt Kelley.

»Auf Nantucket«, sagt Mitzi. »Übers Wochenende. Wir wohnen im Schloss.«

»Um Himmels willen, Mitzi«, sagt Kelley. »Warum?«

Warum? Warum? Warum? Sie und Kelley haben sich darauf geeinigt, dass es für alle das Beste wäre, wenn Mitzi in der Weihnachtszeit bei George in Lenox bleiben würde.

»Du hast deine Entscheidung getroffen«, sagte Kelley, als Mitzi einmal erwähnte, besuchsweise nach Nantucket zurückkehren zu wollen. »Du hast dich für George entschieden.«

Ich habe mich für George entschieden, denkt Mitzi. Zwölf Jahre lang hatten sie und George über Weihnachten eine Liebesaffäre gehabt, wenn George mit seinem alten Feuerwehrauto auf die Insel gekommen war und sich für das Winter Street Inn als Santa Claus verkleidet hatte. Im letzten Jahr spitzte sich die Sache zu, und Mitzi beschloss, Kelley für George zu verlassen. Bart war gerade in seinen Einsatz entsandt worden und Mitzis Urteilsvermögen geschwächt. Mehr als alles andere wollte sie den Gegebenheiten entfliehen, sich in eine Fantasiewelt voller Schlittenglocken und Elfen zurückziehen.

Es war ein riesengroßer Fehler gewesen. Jetzt, da Mitzi tagein, tagaus mit George zusammen ist, hat sich der Zauber abgenutzt. Wer möchte schon am St. Patrick’s Day oder am vierten Juli Santa Claus um sich haben? Niemand. Santas Sexappeal ist dem Monat Dezember vorbehalten. An guten Tagen verspürt Mitzi eine schwesterliche Zuneigung für George; an schlechten ist sie von bitterer Reue erfüllt.

»Ich musste einfach kommen«, sagt sie jetzt. »Ich habe die Insel so sehr vermisst, und ich weiß, dass Kevin und Isabelle am Sonntag das Baby taufen lassen.«

»Woher?«, fragt Kelley. »Von wem weißt du das?«

Mitzi zermalmt ihre Pfefferminzpastille. Sie will ihre Quelle nicht preisgeben.

»Ava hat es dir bestimmt nicht erzählt«, sagt Kelley. »Und Kevin oder Isabelle auch nicht. Und Patrick ist im Gefängnis.«

Gleich kommt er drauf, denkt Mitzi.

»Jennifer!«, sagt Kelley. »Du weißt es von Jennifer. Ich fasse es nicht, dass sie noch mit dir spricht. Sie ist wirklich der netteste Mensch auf der Welt, genau wie wir immer vermutet haben.«

»Jennifer und ich sitzen im selben Boot«, sagt Mitzi. »Sie hat ihren Ehemann verloren und ich meinen Sohn.«

»Sie hat ihren Mann nicht verloren«, sagt Kelley. »Patrick ist im Gefängnis, nicht tot. Und« – an dieser Stelle räuspert Kelley sich – »Bart auch nicht, Mitzi.«

Mitzi kneift die Augen zusammen. Sie kann nicht erklären, wie wichtig es ihr ist, das von Kelley zu hören. Bart ist nicht tot. Das heißt, dass Bart lebt. Er ist irgendwo. Die Beleh-Leute sind Feinde, über die man nichts weiß, abgesehen von ihrem zarten Alter. Manche Nächte übersteht Mitzi nur, wenn sie sich vorstellt, wie Bart und die anderen Marines mit ihren Pendants vom Beleh Fußball oder Karten spielen.

Als Mitzi George diese Vision mitteilte, gab er ihr einen aufmunternden Klaps und sagte: »So ist es richtig, Mrs Claus.«

Mitzi hat über einen vom Verteidigungsministerium angebotenen Service mit zweien der Mütter der anderen vermissten Soldaten Brieffreundschaft geschlossen, und obwohl die beiden in ganz anderen Milieus zu Hause sind als sie – die eine ist eine christliche Fundamentalistin aus Tallahassee, Florida, die zweite lebt in der Flatbush Avenue in Brooklyn, beide sind schwarz –, geben ihre E-Mails Mitzi Kraft und ein Gefühl der Gemeinschaft. Es existieren mindestens zwei andere Menschen auf der Welt, die genau wissen, was Mitzi empfindet.

»Kann ich zur Taufe kommen?«, fragt sie. »Bitte?«

Kelley schnauft laut. »Das möchte ich eigentlich nicht. Du hast mich verlassen, du hast mich betrogen, du hast mich hintergangen, du hast mir das Herz gebrochen, Mitzi.«

»Ich weiß«, sagt sie. »Es tut mir leid.«

»Wenn es eine einmalige Sache gewesen wäre, hätte ich es vielleicht verstanden. Aber zwölf Jahre? Das war vorsätzlicher, geplanter, langjähriger Betrug, Mitzi.«

»Ich weiß«, sagt Mitzi. Sie haben dieses Thema im letzten Jahr Dutzende Male durchgekaut, und Mitzi hat festgestellt, dass es am besten ist, Kelley einfach zuzustimmen, statt sich zu verteidigen.

»›Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen‹, Lukas, Kapitel 2, die Verkündigung an die Hirten«, sagt Kelley. »Das ist in diesem Jahr mein Weihnachtsmotto, und deshalb erlaube ich dir, zur Taufe zu kommen. Sie findet am Sonntag um elf Uhr statt. Ich reserviere dir und George zwei Plätze in unserer Bank.«

»Danke«, sagt Mitzi. Sie wäre auch ohne Kelleys Einwilligung zu der Taufe gegangen, doch so fühlt es sich besser an. Und zwei Plätze in der Familienbank sind mehr, als sie sich erträumt hat.

»Gern geschehen«, sagt Kelley. »Vergiss, was ich über Jennifer gesagt habe. Ich bin der netteste Mensch auf der Welt.«

In dem Moment, als Mitzi auflegt, tritt George durch die Hintertür des Hotels.

»Ich hab schon überall nach dir gesucht«, sagt er und wedelt mit zwei Tickets. »Bist du bereit für die Adventsschmuck-Besichtigungstour?«

Bart Bart Bart Bart Bart. Mitzi sagt seinen Namen im Geiste immer fünfmal hintereinander auf wie ein Gebet.

Eine von Mitzis Brieffreundinnen, Gayle aus Tallahassee, stützt sich auf ihren Glauben an Gott, um ihren Alltag zu bewältigen. Sie arbeitet in einer Kinderarztpraxis, und der Umgang mit kranken Kindern und deren Eltern hilft ihr, sich von ihrem Sohn KJ abzulenken. Mitzis andere Brieffreundin, Yasmin aus der Flatbush Avenue, bleibt meistens den ganzen Tag über im Bett. Sie räumt ein, dass sie es einfach nicht schafft, zur Normalität zurückzukehren. Ihren Job als Sicherheitsbedienstete im Barclays Center hat sie aufgegeben. Es fällt ihr schwer, etwas anderes zu tun, als sich im Fernsehen Realityshows anzuschauen.

Mitzi ordnet sich irgendwo zwischen diesen beiden Frauen ein. Als sie George Adventsschmuck-Besichtigungstour sagen hört, denkt ein Teil von ihr: Oooooh, wie weihnachtlich! Sie hat sich immer gewünscht, daran teilzunehmen, konnte sich am Freitag des Adventsbummel-Wochenendes aber nie freimachen. Jetzt, da sie keine Pension und keine Gäste mehr hat, ist es endlich möglich. Doch dann denkt der andere Teil von ihr: Adventsschmuck-Besichtigungstour? Wie kann sie die festlich dekorierten Häuser anderer Leute bewundern – die Fichtenzweige, die Kerzen, die kostbaren Familienerbstücke –, wenn Bart vermisst wird?

Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Sie wird die Tour mitmachen. Aber zuvor wird sie George dazu bewegen, dass er diesen Tequila auftreibt.

AVA

Scott Skyler hat es geschafft! Er hat den hässlichsten Weihnachtspullover aller Zeiten gefunden.

Er zeigt ihn Ava in seinem Büro, nachdem alle Kinder und die meisten Mitarbeiter für den heutigen Tag die Schule verlassen haben. Er bittet sie, die Augen zu schließen, während er ihn anzieht. Und dann, das spürt sie, macht er das Licht aus. Scott und Ava sind seit einem Jahr wild aufeinander, haben sich jedoch nie getraut, in der Schule Sex zu haben. Im Frühling haben sie sich auf Avas Klavierbank ungestüm geküsst, was fast dazu führte, dass … Aber dann bremsten sie sich. Im Sommer sind sie zusammen aufs Schuldach gestiegen, um sich die Sterne anzusehen, und hätten beinahe … Aber dann bremsten sie sich.

»Okay«, sagt Scott. »Kannst sie wieder aufmachen.«

Ava schreit auf – halb vor Entsetzen, halb vor Begeisterung. Es ist ein roter Wollpullover, auf den vorn ein bauschiger weißer Weihnachtsbaum aus Tüll aufgenäht ist, an dem echte Lichter blinken und blitzen. Ava fängt an zu gackern. Die Wirkung des Pullovers wird noch gesteigert durch Scotts ausdruckslose Miene; jemand muss schon so stattlich sein und gebieterisch auftreten wie er, um ihn richtig in Szene zu setzen.

Nathaniel hätte in diesem Pullover lächerlich ausgesehen, glaubt Ava. Und außerdem besäße er nicht genug Selbstironie, um ihn zu tragen.

Ein Jahr später und sie denkt immer noch an Nathaniel. Er ist im Frühjahr nach Martha’s Vineyard gezogen, um auf Chappaquiddick für irgendwelche wahnsinnig reichen Leute ein Haus zu bauen, und an klaren Tagen schaut Ava blinzelnd auf den Horizont und fragt sich, wie es ihm wohl geht – ob es ihm dort besser gefällt als auf Nantucket, ob er inzwischen das Martha’s-Vineyard-Äquivalent von Ava Quinn kennen gelernt hat und ob er je zurückkommen wird.

Sie küsst Scott. Er ist einfach der Beste, Zuverlässigste, Tollste, weil er eingewilligt hat, ihr bei der Planung der Weihnachtssänger-im-hässlichen-Weihnachtspullover-Party am heutigen Abend zu helfen. Avas Pullover ist gelb mit einem vorn aufgestickten Bild von Jesus, auf dessen weißer Tunika GEBURTSTAGSKIND steht. Ava war stolz auf ihren Pullover – bis sie den von Scott gesehen hat.

Um sieben Uhr abends versammeln sich Ava und Scott und ihre Mitstreiter vor dem Our Island Home, Nantuckets Pflegeheim. Avas beste Freundin Shelby, die Schulbibliothekarin – eindeutig schwanger –, ist ebenso dabei wie Roxanne Oliveria, Englischlehrerin an der Highschool.

Roxanne hat die Tatsache, dass dies eine Weihnachtssänger-im-hässlichen-Weihnachtspullover-Party ist, entweder vergessen oder ignoriert, denn sie trägt einen verführerischen roten Wickelpullover aus Mohair, der ihre Silikonbrüste betont. Hmmmm, Roxanne, denkt Ava. Roxanne Oliveria, von ihren Schülern »Mz O« genannt – wobei sie das O genüsslich in die Länge ziehen, um einen Orgasmus anzudeuten –, ist italienischer Herkunft und hat herrlich dichte dunkle Haare, einen bräunlichen Teint und einen Schönheitsfleck à la Sophia Loren.

Obwohl Ava nicht in derselben Schule arbeitet, hat sie jede Menge Tratsch über Mz Ohhhhh gehört. Mz Ohhhhh hat zwei geplatzte Verlobungen hinter sich und ist mit vierzig Jahren immer noch unverheiratet. Bei den Teenagern ist sie als »Raubkatze« bekannt, da sie jüngere Männer vorzieht. Sie war mal mit dem damals erst siebenundzwanzigjährigen sportlichen Leiter des Nantucket Boys & Girls Club zusammen und verhält sich den Letztklässlern des Footballteams gegenüber ein wenig unpassend.

Ava zieht Scott beiseite. »Wieso ist Roxanne mit von der Partie?«

»Ich hab sie eingeladen«, sagt Scott. Dann bemerkt er Avas Gesichtsausdruck und setzt schnell zu einer Erklärung an. »Ich hab sie zufällig im Flur des Schwimmbads getroffen und bin einfach irgendwie damit rausgeplatzt, ohne nachzudenken.«

»Schwimmt sie auch?«, fragt Ava.

»Äh … ja«, sagt Scott.

Schwimmen ist Scotts Lieblingsmethode, fit zu bleiben. Er war Rückenschwimmer in der Schwimmstaffel der University of Indiana, mit der er auch zwei Titel gewann, eine wenig bekannte Tatsache, die Ava sehr an ihm schätzt. Aber jetzt malt sie sich aus, wie er Seite an Seite mit Roxanne seine Bahnen schwimmt. Bewundert er ihre Züge, ihre Rollwenden, ihre künstlichen Brüste im Badeanzug?

Ava holt tief Luft und denkt: Fa-la-la-la-la la-la-la. Wie sie bereits in ihrer Beziehung mit Nathaniel feststellen musste, neigt sie zur Eifersucht. Doch sie wird diesem Gefühl jetzt nicht nachgeben und sich nicht den Spaß an der Party verderben lassen. Kommt nicht infrage.

Sie lächelt Roxanne strahlend an und reicht ihr ein Gesangsheft. »Hier, bitte!«

»Oh, das brauche ich nicht«, sagt Roxanne. »Ich singe nicht. Scott hat mich nur als Augenschmaus eingeladen.«

Als Augenschmaus?, denkt Ava und nimmt das Heft wieder an sich. Sie hat gewissenhaft achtzehn Exemplare davon auf dem Schulcomputer ausgedruckt, mit roter Bastelpappe gebunden und mit Buchstaben aus Goldflitter beschriftet.

Sie tritt wieder zu Scott und piekst ihn mitten in seinen Tüllweihnachtsbaum. Es sieht aus, als hätte er eine winzige Ballerina verschluckt. »Roxanne sagt, du hättest sie als Augenschmaus eingeladen!«

Scott lacht nervös. »Dein Bruder ist hier«, sagt er.

Noch mal Glück gehabt. Aber Ava wird Roxanne im Auge behalten.

»Hey, Schwesterherz«, sagt Kevin und umarmt Ava. »Von mir aus kann’s mit dem Singen losgehen!« Herrlich, Kevin ist in einem von Mitzis alten Pullovern aufgetaucht, den er in einem Karton auf dem Dachboden entdeckt hat. Der Pullover ist so alt, dass Mitzi ihn nicht mitgenommen hat, als sie mit ihrem Santa-Claus George durchbrannte. Er ist vorn mit tanzenden Rentieren bestickt, die Zylinder mit Zuckerstangenstreifen tragen, und reicht Kevin knapp über die Brust bis zur Mitte seines Bauches und zu den Ellbogen.

Auf Kevin folgt ihre Schwägerin Jennifer in einem blauen Mohairpullover mit einem Wichtel vorne drauf, der Lass mich heute Nacht dein Butzemann sein sagt. Jennifer ist mit ihren und Patricks drei Söhnen, die momentan zu Hause sind und für ihr Alter unpassende Videospiele spielen, übers Wochenende auf Nantucket. Es war sehr nett von Jennifer zu kommen, wenn man bedenkt, dass Patrick zurzeit wegen Insiderhandels in einem Gefängnis in Shirley sitzt und erst im Juni entlassen wird. Aber Jennifer ist Familie äußerst wichtig, deshalb hätte sie die Taufe auf keinen Fall versäumt. Manche Frauen, das weiß Ava, wären vor lauter Selbstmitleid zusammengebrochen, doch zu denen gehört Jennifer nicht. Jennifer zieht ihren Butzemann-Pullover an.

Ava packt Jennifer am Arm. »Staatsfeind Nummer eins ist heute Abend Roxanne, die mit den Titten.«

»Alles klar«, sagt Jennifer.

Jennifer ist die beste Schwägerin der Welt. Sie ist eine Kämpferin, und wenn es um einen Krieg Frau gegen Frau geht, sitzt sie immer mit einer Handgranate neben Ava im Schützengraben, bereit, den Stift abzuziehen.

»Zeig sie mir«, sagt Jennifer. »Nein, musst du nicht. Ich hab sie schon erkannt.«

Weitere Lehrer und andere Mitarbeiter der Schule schließen sich ihnen an, bis sie insgesamt neunzehn Personen sind. Ava fehlt ein Weihnachtsliederheft, daher beschließt sie, sich ihres mit Scott zu teilen.

Als Musiklehrerin gibt sie mit einem Summen die Tonart jeden Liedes vor.

God Rest Ye Merry, Gentlemen.

The Holly and the Ivy.

Chestnuts Roasting.

Die Weihnachtssänger in den hässlichen Pullovern wandern singend und lächelnd durch die Flure von Our Island Home und winken den Gebrechlichen und Bettlägerigen zu, bis sie den Gemeinschaftsraum erreichen, wo sich eine kleine Gruppe von Bewohnern versammelt hat. Einige dieser Senioren klatschen und singen mit, und ein besonders munteres Pärchen, Bessie und Phil Clay, steht auf, um zu tanzen. Und plötzlich tanzt Roxanne Oliveria mit ihnen, was Ava zunächst empört, doch dann merkt sie schnell, wie sehr Phil sich darüber freut und Bessie ebenfalls, die sich erschöpft in ihren Rollstuhl sinken lässt, während Phil ein paar Runden mit Roxanne dreht.

Sleigh Ride.

Herbei, o ihr Gläubigen

Und dann – seufz – »Jingle Bells«. Ava mag das Lied noch weniger als letztes Jahr, aber Weihnachten ohne »Jingle Bells« ist wie Halloween ohne Kürbislaternen oder der Valentinstag ohne Rosen und so weiter. Ava hat sogar alle Weihnachtssänger mit winzigen Glocken ausgestattet, die sie zum passenden Zeitpunkt schütteln sollen. »Jingle Bells« ist das einzige Lied, das Roxanne mitschmettert, wenn auch falsch. Die Heimbewohner haben ihre helle Freude daran und singen selbst mit. Wie alt man auch wird, den Text von »Jingle Bells« vergisst man nie.

Die Bewohner des Our Island Home applaudieren den Weihnachtssängern stürmisch, und Ava und die anderen verbeugen sich. Scott schüttelt einigen ihrer Lieblingssenioren die Hand. Er verteilt im Our Island Home jeden Freitag ehrenamtlich das Abendessen, und mittlerweile spielt Ava dazu immer Klavier. Sie genießt diese Tätigkeit und hat sich inzwischen sogar ein Cole-Porter-Liederbuch gekauft. Viele der alten Leute hier sind traurig und einsam oder fühlen sich vernachlässigt – und Musik verleiht ihnen, fast mehr als alles andere, neuen Schwung.

Es war nett von Roxanne, mit Phil Clay zu tanzen, wird Ava klar. Roxanne hat christlich gehandelt.

Sie steigen ins Auto, um in die Stadt zu fahren. Ava hat bewusst dafür gesorgt, dass Roxanne nicht mit ihnen fährt, sondern mit Shelby und ihrem Mann Zack und Zacks Freund Elliott, der in einer Bruce-Springsteen-Coverband Saxofon spielt. Elliott und Roxanne würden ein gutes Paar abgeben – welche Frau hätte nicht gern eine Verkörperung von Clarence Clemons an ihrer Seite? –, aber er ist zu alt, nämlich fast fünfzig.

Ava und Scott fahren mit Kevin, der heute »nichts trinkt«, damit er sich ab Mitternacht um Baby Genevieve kümmern kann. Doch dann reicht er Ava einen Flachmann, und sie nimmt einen Schluck: Jameson. Natürlich.

Ihre Familie!

»Freust du dich auf die Taufe?«, fragt sie ihn.

»Na ja, ich wünschte, Patrick und Bart wären hier, klar. Es fühlt sich ein bisschen komisch an, als letzter Mann übrig zu sein.«

»Dad«, sagt Ava.

»Ja, aber Dad sieht nicht besonders gut aus. Ist dir das nicht aufgefallen?«

»Er hatte ein beschissenes Jahr«, sagt Ava. »Seine Frau hat ihn verlassen, und er hat beinahe die Pension verloren. Es war bestimmt schrecklich für ihn, dass Mom einspringen und sie retten musste.«

»Sie hat sie aber tatsächlich gerettet«, sagt Kevin. »Wir waren das ganze Jahr über ausgebucht. Und haben eine Warteliste!« Kevin hat das Tagesgeschäft der Pension übernommen und Isabelle das Housekeeping und das Kochen. Da sie beide unter einem Dach leben und arbeiten, können sie sich ihre Zeit mit Genevieve aufteilen. »Was nicht nur am Geld liegt.«

»Ich weiß«, sagt Ava. »Aber geholfen hat es schon.«

Margaret Quinn hat der Pension eine Finanzspritze von einer Million Dollar verpasst, die so wirksam war wie Adrenalin bei einem versagenden Herzen. Außerdem hat sie für das erste Wochenende jeden Monats ein Zimmer für sich selbst reserviert. An diesen Wochenenden steht sie den Gästen zur Verfügung. Sie hält sich in der Küche auf, hilft Isabelle bei der Zubereitung der pochierten Eier, schenkt Kaffee ein, zeichnet mit schwarzem Filzstift auf Landkarten Fahrradrouten ein. Und gelegentlich lässt sie sich über Kofi Annan, Papst Franziskus oder Raúl Castro aus. Die Hotelgäste wollen gar nicht mehr abreisen. Sie posten ihre Bilder bei Facebook und Instagram und twittern über das Winter Street Inn.

Margaret Quinn hat auf meine Karte gezeichnet! #familienerbstück #nantucket #winterstreetinn.

Kelley war Margaret dankbar für ihre Hilfe, das äußerte er sehr deutlich, aber weder Ava noch Kevin kamen dahinter, was genau sich zwischen ihren Eltern abgespielt hat. Margaret hatte ihr eigenes Zimmer – Zimmer zehn, früher Georges Zimmer –, doch Ava und Kevin wussten, dass im vergangenen Dezember zwischen Margaret und Kelley etwas gelaufen war. Und im letzten Jahr hat es immer wieder Situationen gegeben, in denen sie mehr zu sein schienen als einfach nur Freunde. Im Juli etwa unternahmen sie eine lange Radtour und kamen völlig durchnässt nach Hause, weil sie am Strand gelandet waren und beschlossen hatten, in voller Montur schwimmen zu gehen.

An manchen Wochenenden bekommt Margaret auch Besuch von Dr. Drake Carroll, Gehirnchirurg für Kinder. Dann übernachtet er bei ihr, und die beiden verhalten sich wie ein Liebespaar. An einem regnerischen Oktobertag sind sie nicht ein einziges Mal aus Zimmer zehn aufgetaucht. Und was empfindet Kelley dabei?

»Stört es dich, wenn Drake hier ist?«, hat Ava ihren Vater gefragt.

Kelley zuckte die Achseln. »Drake ist ein prima Typ. Und wir verdanken ihm jede Menge Gäste – die Eltern seiner Patienten, andere Ärzte. Ich kann mich über Drake nicht beklagen.«

Ava warf ihm einen skeptischen Blick zu, und Kelley sagte: »Es ist eine Situation, die viel Reife erfordert. Gott sei Dank wissen deine Mutter und ich uns wie Erwachsene zu benehmen.«

Scott parkt auf der Main Street, und Shelbys Mann Zack hält hinter ihm. Nantucket hat sich weihnachtlich herausgeputzt. Auf beiden Seiten des Kopfsteinpflasters sind Bäume mit bunten Lichtern zu sehen, jeder von einer Klasse der Grundschule geschmückt. Und am oberen Ende der Main Street steht der große Baum, der mit fast zweitausend Lichtern besteckt ist. Das Anzünden der Kerzen findet am Freitag nach Thanksgiving statt; dann versammelt sich die ganze Insel, so scheint es, hier auf der Straße und wartet auf den Moment, in dem die Lichter alle auf einmal angehen, ein echter Ahhhh-Moment, der den Zauber der Adventszeit einfängt. In diesem Jahr haben Ava und Scott Genevieve zum Kerzenanzünden mitgenommen. Scott trug Genevieve in ihrer Trage und hielt Händchen mit Ava, und Leute, die sie nicht kannten, dachten, sie sei ihr Baby, was Ava überraschenderweise freute. Später, als sie Genevieve wieder bei ihren sehnsüchtigen Eltern abgeliefert hatten, fragte Ava Scott: »Kannst du dir uns als Familie vorstellen?«

Und Scott erwiderte: »Davon träume ich jeden Tag.«

Alle Schaufenster sind erleuchtet und mit Schneemännern und Zuckerstangen, antikem Spielzeug und Modelleisenbahnen dekoriert. Ava atmet tief die kühle Luft ein, die schwach nach Fichtengrün duftet. Sie liebt nichts mehr als Weihnachten auf Nantucket. Sie glaubt an seinen Zauber.

»Scott!«, schreit Roxanne, die in ihren hochhackigen weißen Lederstiefeln mit dem flauschigen Pelzbesatz über das Kopfsteinpflaster wackelt. »Ich kann in diesen Schuhen nicht laufen. Du musst mir helfen.«

Ava verdreht die Augen. Nicht zu fassen, dass Roxanne so offen nach Scotts Aufmerksamkeit verlangt, obwohl sie weiß, dass er und Ava ein Paar sind. Aber Scott, ganz Gentleman und von Natur aus unfähig, jemanden abzuweisen, der in einer Notlage ist, so grotesk diese Notlage auch sein mag, bietet Roxanne einen Arm und Ava den anderen, und zu dritt bahnen sie sich ihren Weg über die Pflastersteine bis zum Bürgersteig, der aus Ziegeln besteht.

Erleichtert betritt Ava die Bar des Boarding House, in der es warm und gemütlich ist und die Gäste munter miteinander plaudern. Ava würde am liebsten gleich etwas trinken, doch sie haben sich darauf geeinigt, zwei Lieder zu singen, bevor sie bestellen.

Ava durchforstet ihr Heft nach kurzen Weihnachtsliedern. Aber Barry, der Platzwart der Highschool, der einen imposanten Bariton hat, schlägt »Rudolph« vor.

Bäh!, denkt Ava. Sie findet »Rudolph« abscheulich. Allerdings kann sie nicht bestreiten, dass es die Leute mitreißt. Und obwohl Ava auch dieses Lied aufrichtig hasst, geht sie im Anschluss zu »Winter Wonderland« über.

Die versammelte Menge applaudiert, und aus der hinteren rechten Ecke ertönt ein bewundernder Pfiff. Avas Nackenhaare sträuben sich. Diesen Pfiff kennt sie.

Sie sieht hinüber. Nathaniel sitzt allein an der Theke, eine Flasche Whales Tale vor sich, und winkt.

KELLEY

Bei Kelley haben sich Tausende Menschen gemeldet, die ihm hinsichtlich Bart alles Gute und viel Kraft wünschen und für ihn beten. Er hat E-Mails von alten Freunden in Perrysburg, Ohio, erhalten, von Gästen des Winter Street Inn, die er seit über zehn Jahren nicht gesehen hat, und von ehemaligen Kollegen, mit denen er vor Ewigkeiten bei J. P. Morgan in New York gearbeitet hat.

Was können wir tun, um zu helfen?

Die Antwort: Nichts.

Beten.

Benutzt Barts Verschwinden nicht als Vorwand dafür, eure Meinung über Al-Qaida, die Taliban oder ISIS zu äußern oder die Bush-Regierung oder die Obama-Regierung zu verunglimpfen.

Macht keine pauschalen Aussagen über arabische Länder oder Muslime.

Betet.

Nichts.

In Margarets Fall ist Nichts nicht ganz zutreffend. Sie hat als Einzige von allen, die Kelley kennt, konkret gehandelt. Als Chefsprecherin der CBSEvening News zählt sie zu den einflussreichsten Personen Amerikas und hat einen direkten Draht zu jedermann – einschließlich des Präsidenten der USA. Das Oval Office hat Margaret versichert, dass »jeder mögliche Schritt« unternommen werde, um die vermissten Soldaten zu finden. Außerdem hat sie in Afghanistan einen Pressekontakt namens Neville Grey, der sie als Erster über den Beleh informierte, von dem in Amerika noch niemand gehört hatte.

Als Margaret Neville nach seinem Bauchgefühl bezüglich des vermissten Konvois fragte, antwortete er: Höchstwahrscheinlich Leute vom Beleh. Die sind eine unbekannte Größe. Wir wissen nur, dass es sich um Jugendliche handelt, die aus ihren Familien gerissen und mit äußerster Brutalität trainiert wurden. Das Verteidigungsministerium hat drei Aufklärungsmissionen in die umliegende Region entsandt, die aber alle nichts ergeben haben. Es scheint, als hätten sich diese Teenager in Luft aufgelöst. Das Armeefahrzeug war unbeschädigt, das Benzin abgesaugt, Gepäck und Proviant ebenfalls verschwunden. Diese Art der Entführung ist höchst ungewöhnlich – warum die Soldaten nicht einfach mit einer Sprengfalle in die Luft jagen? Ich glaube, dass sie noch am Leben sind und irgendwo festgehalten werden, um später als Druckmittel eingesetzt zu werden. Das Pentagon wird der Sache auf den Grund gehen. Man verliert nicht einfach fünfundvierzig Marines.

Margaret hat Kelley diese Überlegungen mitgeteilt. Aber keine Gewissheit zu haben ist, als würde man im Fegefeuer schmoren – es ist die Hölle oder fast, immerhin gibt es ja noch Hoffnung.

Hoffnung.

Kelley beschließt am Freitagnachmittag des Adventsbummel-Wochenendes, als Antwort auf die vielen Anfragen einen Brief zu verfassen, den er statt der üblichen Weihnachtskarte des Winter Street Inn verschicken will. So eine Karte – die stets eine Collage von fröhlichen Fotos aus der Pension war, aufgenommen im Laufe des letzten Jahres – wäre unangemessen. Besser ist ein Brief. Kelleys Mutter Frances Quinn pflegte zu Weihnachten immer einen Brief zu schreiben, den sie den Karten beifügte, die sie versandte – eine Gewohnheit, die Kelley, ehrlich gesagt, sehr demütigend fand. Nach heutigen Begriffen könnte man Frances Quinn als distanzlos bezeichnen. Ihrer eigenen Meinung nach war sie eine irisch-amerikanische Matriarchin, die »sagt, was Sache ist« und »aus ihrem Herzen keine Mördergrube macht«. Frances hatte ihre Vorlieben und Voreingenommenheiten, die sie in diesem Brief offen zeigte; die eklatanteste war ihre Bevorzugung von Kelleys Bruder Avery. Jedes Jahr war Avery der erste Abschnitt gewidmet (obwohl er anderthalb Jahre jünger war als Kelley), und ihm wurde ausführlicheres und überschwänglicheres Lob zuteil. Avery hat in jedem Fach eine Eins. Avery ist Starting Guard des Basketballteams der ersten Highschoolklassen. Avery ist Präsident der National Honor Society, womit er dem Namen der Familie alle Ehre macht.

Der Abschnitt über Kelley tendierte immer zum Negativen. In einem Jahr schrieb Frances zum Beispiel: Kelley hatte im letzten Zeugnis eine Zwei minus in Biologie. Es ist schwer für Richard und mich mit anzusehen, dass jemand, der so talentiert ist, nicht sein volles Potenzial ausschöpft. Kelley ist oft schlecht gelaunt und Meister darin, die Treppe hochzupoltern und mit Türen zu knallen. Mindestens einmal wöchentlich erwägen Richard und ich, ihn zur Adoption freizugeben oder zu ermutigen, Austauschschüler in Timbuktu zu werden.

Kelley erinnert sich, wie empört er darüber war. Adoption? Timbuktu?

Sei nicht so empfindlich, sagte Frances. Das sollte doch nur ein Witz sein.

Über Avery hätte Frances so einen Witz allerdings nie gemacht. Sie war so stolz auf ihn, als er in seinem letzten Jahr am Oberlin College verkündete, dass er schwul sei, und als er danach beschloss, mit seinem Freund Marcus zusammenzuziehen. Avery und Marcus wohnen in einem fantastischen Brownstone in der West 4th Street in Greenwich Village, und am Wochenende gehen sie gern aus. Richard und ich urteilen nicht; wir möchten einfach, dass Avery glücklich ist – obwohl ich Angst habe, dass er nicht genug schläft!

Kelley und Avery scherzten auch noch über Frances’ alljährlichen Weihnachtsbrief, als Avery, an AIDS erkrankt, in seinem fantastischen Brownstone in der West 4th Street im Sterben lag. Es war das Letzte, über das sie miteinander lachten.

Mom hat mich mehr geliebt, sagte Avery.

Keine Frage, sagte Kelley.

Der Weihnachtsbrief, sagte Avery.

Der Weihnachtsbrief, stimmte Kelley zu. Ich hab es nicht mal auf den Spitzenplatz geschafft, als ich an der Columbia Business School angenommen wurde, weil man dich im selben Jahr für einen Tony nominiert hat.

Pech gehabt, sagte Avery.

Kelley schwört sich, allen seinen vier Kindern denselben Stellenwert einzuräumen, und er wird sie in der Reihenfolge ihres Alters präsentieren, Bart also als Letzten.

Liebe Familie, liebe Freunde,

Frohe Weihnachten 2015! [Kelley verbringt ein paar Minuten damit, über das Ausrufezeichen nachzusinnen. Es kommt ihm angesichts der Ereignisse in der Familie Quinn als zu optimistisch vor, doch die Verwendung eines Punktes ließe den Satz öde und ausdruckslos erscheinen. Frohe Weihnachten 2015. Er beschließt, es fürs Erste bei dem Ausrufezeichen zu belassen.]

Es war ein hartes Jahr für die Quinns, aber ich möchte euch allen gleich zu Beginn für die guten Wünsche und aufmunternden Zuschriften danken, die uns erreichten. Sie bedeuten uns in diesen schwierigen Zeiten mehr, als ihr euch vorstellen könnt.

Für diejenigen von euch, die es noch nicht wissen: Mitzi und ich haben uns nach einundzwanzig Ehejahren getrennt. [Kelley fragt sich, ob es wohl egozentrisch wirkt, wenn er mit Neuigkeiten über sich selbst anfängt. Doch dies ist eine wichtige Information, die »Familie und Freunde« erfahren müssen. Die meisten E-Mails und Facebook-Nachrichten, die er erhalten hat, wenden sich an Kelley und Mitzi als Paar, und er fühlt sich genötigt, diesem Missverständnis ein Ende zu bereiten. Sie sind seit fast einem Jahr getrennt!] Mitzi ist nach Lenox, Massachusetts, gezogen, mit einem Mann namens George Umbrau, an den sich manche von euch sicher als den Santa Claus des Winter Street Inn erinnern werden. [Kelley zögert und liest den Satz noch einmal. Er wird Freunde und Familie ihre eigenen Schlüsse ziehen lassen.] Das Positive an Mitzis Weggang ist die Rückkehr von Margaret Quinn in mein Leben (ja, die Margaret Quinn: Chefsprecherin der CBSEvening News, meine erste Ehefrau, Mutter meiner drei älteren Kinder). Margaret hat das Winter Street Inn im letzten Jahr oft besucht und dringend benötigte emotionale und finanzielle Unterstützung geleistet. [Er streicht »und finanzielle«, denn er spürt, wie sich der Schatten von Frances Quinn anschleicht; keiner muss von der Million Dollar wissen.] Margaret ist Gesicht und Stimme unserer Nation, aber auch eine liebende Mutter und meine geschätzte Freundin.

Patrick wurde im Januar dieses Jahres in seiner Eigenschaft als Leiter der Abteilung außerbörsliche Beteiligungen bei Everlast Investments wegen Insiderhandels verurteilt. Jetzt büßt er in einem Gefängnis in Shirley, Massachusetts, seine Haftstrafe von achtzehn Monaten ab und soll im Juni entlassen werden. Seine reizende Frau Jennifer, die in seiner Abwesenheit die Stellung hält, arbeitet erfolgreich als Innenausstatterin und zieht ihre drei Söhne groß, Barrett, Pierce und Jaime, elf, neun und sieben Jahre alt, die alle Lacrosse spielen. Zu ihren sonstigen Leidenschaften gehören ihre PlayStation 4 und Fantasy-Fußball, ein Phänomen, das ich immer noch nicht verstehe.

Kevin ist dieses Jahr Vater geworden! Er und seine Freundin Isabelle haben am 27. August eine Tochter bekommen, Genevieve Helene Quinn, was Margaret und mich sehr glücklich gemacht hat. Unsere erste Enkelin! [Kelley fragt sich, ob er diese letzte Bemerkung löschen soll. Es ist aufregend, nach drei Enkeln eine Enkelin zu haben, aber natürlich möchte er Jennifer nicht vor den Kopf stoßen. Schließlich vergöttert er die Jungen und ist begeistert über den Fortbestand des Namens Quinn. Ebenso wenig will er Kevin verletzen. Über einen vierten männlichen Nachkommen hätten Kelley und Margaret sich genauso sehr gefreut. Und doch, ein Mädchen ist spannend, besonders für Margaret, die schon davon spricht, dass sie sich mit Genevieve, wenn sie älter ist, den Nussknacker