Das ganze Leben in zwei Tragetaschen - Udo Fehring - E-Book

Das ganze Leben in zwei Tragetaschen E-Book

Udo Fehring

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Beschreibung

Der zehnjährige Tim lebt mit seinen gutbürgerlichen Eltern in London. Eines Tages macht er Bekanntschaft mit Tony, einem Obdachlosen. Die beiden freunden sich an, was Tim versucht, seinen Eltern gegenüber geheim zu halten. Als Tims Mutter ihn wegen seines plötzlichen und ungewöhnlichen Heißhungers auf Obst zur Rede stellt und von Tony erfährt, reagiert sie erbost. Sein Vater verhängt Hausarrest. Aber Tim lässt sich davon nicht abschrecken. Wird er es schaffen, für diese Freundschaft gegen Vorurteile und Klischees seines Umfeldes anzukämpfen? Der Song "Streets of London" (Ralph McTell, 1974) inspirierte den Autor zu dieser Geschichte. Sie erzählt von einer ungewöhnlichen Freundschaft, der unerschütterlichen Hoffnung eines Jungen und dem Aufeinanderprallen zweier absolut unterschiedlicher Welten. Es ist nicht nur ein Kinderbuch, sondern auch ein Buch, von dem Erwachsene menschlich noch eine Menge lernen können…

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Das Buch ist eine komplett überarbeitete Neuauflage meines ersten eigenes Buches „Streets of London“ aus dem Jahr 2011.

Texte: © 2025 Copyright by Udo Fehring

Verantwortlich

für den Inhalt:

Udo Fehring

Gierather Str. 82

51469 Bergisch Gladbach

[email protected]

Ein weiser Spruch (Netzfund)

1. Kapitel

„Bis später, Mum“, sagte Tim, „ich muss mich beeilen, wenn ich noch rechtzeitig zum Konzert kommen möchte!“

„Okay“, antworte seine Mutter Donna, „aber pass auf, dass sie Dich nicht klauen.“

Tim schlug die Türe hinter sich zu und marschierte schnurstracks an der Strand Road entlang.

Tim war ein lebendiger und aufgeweckter Junge von zehn Jahren und lebte seit ein paar Monaten mit seiner Familie in der Londoner Innenstadt. Sie hatten dort ein hübsches kleines Häuschen mit einem kleinen Vorgarten bezogen. Tims Vater, Curtis, war nämlich versetzt worden zur Hauptstelle der England Savings Bank. Vorher war er Leiter einer Filiale in der Nähe von Southhampton gewesen. Nun wohnten sie also schon ein paar Monate in London. Curtis hatte noch zwei Monate Probezeit an seiner neuen Arbeitsstelle. Und da er in der Probezeit Urlaubssperre hatte, musste diesmal der obligatorische Sommerurlaub an der Mittelmeerküste ausfallen. Tims Freunde waren dagegen alle weggefahren während der Ferien. Frank war mit seiner Familie auf Teneriffa, Luther war mit seiner Mutter nach Südtirol gefahren und Harald war wie jedes Jahr mit seinen Eltern und Großeltern an die Atlantikküste nach Frankreich gefahren.

Tim war also in den Ferien auf sich allein gestellt. Zur Mittagszeit ging er immer alleine zum Konzert, wie er es nannte. Damit meinte er das Glockenspiel von Big Ben, das jeden Mittag Punkt zwölf begann. Tim war so fasziniert von diesem Glockenspiel, dass in den Ferien noch kein Tag vergangen war, an dem er nicht zuhörte und zusah.

Mittlerweile war er am Regierungsviertel in Whitehall angelangt. Es gehörte ebenfalls zu seinen Ritualen, dass er vor den Wachsoldaten von Downing Street stehenblieb und versuchte, sie durch Grimassen zum Lachen zu bringen. Doch das war ihm genau wie heute bisher noch nie gelungen. Er wechselte die Straßenseite der vierspurigen Strand Road, auf der zur Mittagszeit so gut wie kein Verkehr war. Er schlenderte noch an zwei Ministerien vorbei, ehe er zum Themseufer abbog. Er betrachtete dann immer eine Zeitlang die riesigen Handelsschiffe, die schwerbeladen die Themse stromabwärts fuhren. Nach einiger Zeit erreichte er die Waterloo Bridge. Dort flitzte er dann meistens hinter dem großen Brückenpfeiler die Treppe hinauf. An dem Brückenpfeiler saß an der gleichen Stelle immer ein alter Mann auf seiner Wolldecke. Anfangs hatte Tim etwas Angst vor dem Mann und machte einen großen Bogen um ihn. Denn der alte Mann blickte Tim meist sehr böse an, wenn der an ihm vorbeiging. Hinzu kam noch, dass der alte Mann mit seiner Wollmütze, die er trotz des sommerlichen Temperaturen tief in sein furchiges Gesicht gezogen hatte, sehr geheimnisvoll wirkte.

2. Kapitel

In der zweiten Ferienwoche hatte sich Tims Angst vor dem alten Mann gelegt. Ab und an warf er nun ein paar Cent in die kleine Pappschachtel, die der Mann vor sich hingestellt hatte.

Eines Tages, Tim hatte gerade wieder 10 Cent in die Schachtel geworfen, sprach ihn der alte Mann an: „Hast Du keine Angst, hier jeden Tag so ganz alleine herzukommen?“

Tim zuckte vor Schreck zusammen, denn damit hatte er nun beim besten Willen nicht gerechnet. Ihm stockte der Atem dabei und er brachte zuerst keinen Ton hervor.

Der alte Mann fragte nochmal dasselbe. Tim hatte sich etwas gefasst, brachte aber immer noch keinen Ton hervor. Dafür schüttelte er kräftig mit dem Kopf.

„Was machst Du denn immer zur Mittagszeit hier? Musst Du nicht zuhause zum Mittagessen sein?“, hakte der Mann nach.

Tim war nun wieder in der Lage zu sprechen und entgegnete: „Nein, wir essen erst später, wenn mein Papa von der Arbeit kommt. Mittags höre ich immer das Glockenspiel von Big Ben, das gefällt mir so gut.“

Der alte Mann nickte verständnisvoll. „Ja, das mag ich auch so gerne. Deshalb habe ich mir auch genau diesen Platz hier ausgesucht. So bin ich immer hautnah dabei und es gibt keine Gefahr für mich, es zu verpassen.“

“Aber ist das nicht langweilig, dass Du immer am gleichen Platz bist? Schläfst Du denn auch hier?“

Tim sah sonst immer viele Obdachlose, wenn er zur Schule ging. Die meisten versammelten sich vor der Victoria Station, von wo aus er täglich zur Schule fuhr. Diese Männer und Frauen taten ihm jedes Mal sehr leid, besonders im Winter, wenn es bitterkalt war.

Tims Erinnerungen hörten abrupt auf, als plötzlich das Glockenspiel von Big Ben begann. Es hörte sich hier unter der Brücke durch den Hall, der von den Betonwänden und -pfeilern zurückkam, noch beeindruckender an, als wenn er direkt neben dem Glockenturm stand. Tim und der alte Mann lauschten dem Glockenspiel, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Beide hatten die Augen geschlossen und man sah ihnen an, wie sehr sie das Spiel genossen.

Nachdem der letzte Ton gespielt war, verharrten beide zunächst in ihrer Haltung, als würde in ihnen die Melodie noch nachklingen.

Plötzlich stieß Tim die Augen auf: „Ich muss nun nach Hause, sonst macht sich meine Mutter Sorgen. Ich komme morgen wieder vorbei.“

Und noch bevor der alte Mann etwas erwidern konnte, war Tim auch schon unten am Ufer verschwunden.

Am nächsten Tag machte sich Tim etwas früher als sonst auf den Weg und packte auch noch zwei Äpfel ein. Seine Mutter Donna wunderte sich darüber, denn bisher waren alle ihre Versuche fehlgeschlagen, ihm irgendwelches Obst schmackhaft zu machen. Sie hatte die stille Hoffnung, dass er nun vielleicht doch zur Einsicht gekommen war, dass etwas Gesundes gar nicht verkehrt war. Er gab ihr noch einen Kuss auf die Wange und verschwand sodann durch die grünlackierte Haustüre. Tim rannte das ganze Stück bis zur Waterloo Bridge. Heute hatte er keine Zeit, die Wachsoldaten zu ärgern oder den Schiffen hinterherzusehen. Irgendwie hatte er den alten Mann schon ein bisschen in sein Herz geschlossen, obwohl er noch nicht einmal seinen Namen kannte. Völlig außer Atem kam er bei ihm an. Sogleich hielt er ihm die beiden Äpfel entgegen und sagte: „Da, die sind für Dich, da sind viele Vitamine drin, die gut für Deine Gesundheit sind.“ Den gleichen Spruch hatte seine Mutter ihm auch immer vorgebetet, wenn sie wollte, dass er einen Apfel isst, aber bei ihm war er leider nie auf fruchtbaren Boden gefallen.

Der alte Mann bedankte sich herzlich und steckte sie in seine Manteltaschen.

„Ich bin übrigens Tony. Verrätst Du mir denn auch Deinen Namen?“, erkundigte er sich bei Tim.

Der zögerte nicht lange: „Ich heiße Tim, Tim Brown.“

„Tim?“, murmelte Tony und schien plötzlich mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein, ähnlich wie am vorangegangenen Tag, als das Glockenspiel erklang.

Dann schien er wieder in die Realität einzutauchen und sagte zu Tim: „So hieß auch einst mein bester Freund. Wir hatten zusammen einen kleinen Kahn, mit dem wir immer mit verschiedensten Ladungen die Themse entlang geschippert sind.“

„Und wo ist der Kahn jetzt? Und was ist aus Deinen Freund Tim geworden?“

Tony machte nun ein trauriges Gesicht: „Den Kahn mussten wir verkaufen. Die anderen Reeder hatten bald immer größere Schiffe und konnten so mehr Waren zu einem günstigeren Preis befördern. Da konnten wir mit unserem kleinen Kahn nicht mehr mithalten und mussten das Schiff verkaufen. Meinen Freund Tim habe ich seitdem nie mehr wiedergesehen. Er wollte irgendwie aufs europäische Festland und da bei einer großen Reederei anheuern. Ja, die Schifffahrt war unser Leben und wenn man einmal daran geschnuppert hat, kommt man so schnell nicht wieder davon los. Es war schon komisch: Du hattest irgendwie ein Zuhause, aber doch auch wieder keines. Jetzt ist es bei mir nicht anders.“

„Aber hast Du nie versucht, noch einmal bei einer anderen Reederei anzuheuern?“

„Doch, und wie, aber mit 50 Jahren und einem schweren Rückenleiden hatte ich keine Chance gegen die flotten jungen Burschen. Da hat mir auch meine Erfahrung nicht groß geholfen, Die wollen alle nur junge und belastbare Arbeitskräfte und keine alten Eisen wie mich.“

Tim setzte sich zu ihm auf die Wolldecke und lehnte sich an ihn. Tony strahlte eine Geborgenheit aus, die er sonst nur bei seinen Eltern erfahren hatte.

„Und wie lange lebst Du schon hier unter der Brücke?“

„Im Oktober werden es fünf Jahre. Aber ich bin ganz zufrieden hier. Im Winter ist es manchmal zwar lausig kalt, aber ansonsten ist das ein sehr schöner Platz. Und das Beste ist, direkt unterhalb von Big Ben. Manch einer würde ein Vermögen dafür ausgeben, um in solch exklusiver Wohnlage zu leben. Und dabei noch so günstig wie ich.“

Tony fing an, laut zu lachen und Tim tat es ihm gleich. Beide klopften sich auf die Schenkel und hatten einen Riesenspaß. Tony war echt witzig, fand Tim.

Tim schaue auf seine Uhr. Zwei Minuten vor 12! Gleich sollte wieder ihr Privatkonzert beginnen. Beide schlossen ihre Augen, als der erste Ton erklang, als hätten sie schon ihr eigenes Ritual.

Nach dem Glockenspiel machte sich Tim nach einer herzlichen Verabschiedung schnell wieder auf den Nachhauseweg, damit seine Mutter Donna ja keinen Verdacht schöpfte. Tim hatte nämlich Sorge, dass seine Eltern die ganze Situation missverstehen könnten und ihm die Besuche von Big Ben und besonders von Tony verbieten würden.

3. Kapitel

An den nächsten Tagen ging Tim noch früher los, um Tony zu besuchen. Und jedes Mal, bevor er das Haus verließ, griff er in die Obstschale, um zwei große rote Äpfel einzupacken. Donna konnte sich keinen Reim darauf machen. Tim konnte doch kaum zwei solch große Äpfel verputzen in der Zeit, in der er weg war, noch dazu, wo er sonst ja immer einen großen Bogen um frisches Obst gemachte hatte. Donna beschloss deshalb, ihn am Wochenende deshalb zur Rede zu stellen. Denn wenn sie eins nicht leiden konnte, so waren das Heimlichkeiten.

Am Samstag also, als Tim um halb eins wieder nach Hause kam, bat sie ihn, sich neben sie zu setzen. Tim schwante Böses und er trottete gesenkten Kopfes zu seinem Stuhl im Esszimmer. Er überlegte vor sich hin. Hatte er nicht alles getan, um sein Geheimnis für sich zu behalten?

Donna nahm seine kleine Hand und sagte: „Tim, Du weißt, Du kannst mir alles sagen und ich würde Dir bestimmt nicht böse sein, egal was ist. Nur Du weißt auch, dass ich es absolut nicht mag, wenn Du mir etwas verheimlichst.“

Tim konterte sogleich mit einer Gegenfrage: „Was sollte ich Dir denn verheimlichen?“

„Also Tim, denkst Du wirklich, ich merke nicht, dass etwas nicht stimmt. Seit einigen Tagen gehst Du immer früher aus dem Haus und nimmst jedes Mal zwei Äpfel mit, was Du sonst nie gemacht hast. Und auch sonst! Du kannst mir glauben, als Mutter merkt man direkt, wenn sich sein Kind verändert.“

Tim hatte angefangen, an seinen Fingernägeln zu kauen. Das machte er immer dann, wenn er nicht weiterwusste, es war sozusagen eine kleine persönliche Auszeit.

Dann sagte er, wobei er versuchte, jegliche Emotionen zu unterdrücken: „Ich habe einen neuen Freund!“

„Aber das ist doch toll“, entfuhr es Donna. „Warum bringst Du ihn denn nicht mal mit zum Spielen?“

„Da gibt es ein kleines Problem“, stellte Tim fest.

Donna legte die Stirn in Falten und hakte nach: „Und das wäre?“

„Er ist aus dem Alter raus.“

---ENDE DER LESEPROBE---