Das gefallene Imperium 10: Um jeden Preis - Stefan Burban - E-Book

Das gefallene Imperium 10: Um jeden Preis E-Book

Stefan Burban

0,0

Beschreibung

Nach der Schlacht im Argyle-System ziehen sich die Nefraltiri und ihre zerschlagenen Armeen zum Riss zurück. Die Republik und ihre Verbündeten folgen ihnen, den sicheren Sieg schon vor Augen. Doch die Nefraltiri geben sich nicht so leicht geschlagen. Während Menschen und Drizil gemeinsam darum ringen, die Kontrolle über zwei für den Feind wichtige Systeme mit den dort installierten Obelisken zu gewinnen, führen die Hinrady einen überraschenden Schlag hinter den Frontlinien gegen die Kernwelten der Republik durch. Nach einem für beide Seiten verlustreichen Gefecht gelingt ihnen der unwahrscheinliche Coup: Sie erlangen Kontrolle über weite Teile der republikanischen Industrie- und Werftwelt Vector Prime. Die Republik kratzt in aller Eile an Truppen und Schiffen zusammen, was ihr noch zur Verfügung steht, um die Verteidigung von Vector Prime zu stärken. Die Legionäre rücken gegen eine feindliche Übermacht aus, ihr eigenes Ende vor Augen. Doch die republikanischen Legionen sind entschlossen, die Stellung zu halten – um jeden Preis …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 477

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Prolog

Teil I. Das letzte Aufgebot

1

2

3

4

Teil II. Offensive gegen den Riss

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Teil III. Auf der anderen Seite

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

Epilog

Weitere Atlantis-Titel

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Oktober 2021 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild: Giusy Lo Coco Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-799-4 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-804-5 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Prolog

Mission ohne Wiederkehr Ehemalige Drizilwelt Tau’irin-System Feindlich besetztes Territorium3. Februar 2899

»Varus, gib mir meine Legionen wieder«

9 nach Christus, Kaiser Augustus nach der Niederlage gegen die Germanen

Der Angriffskreuzer TRS Sevastopol materialisierte knapp außerhalb des Schwerkraftfeldes des Tau’irin-Systems. Commodore Anatolij Sorokin musterte mit ernster Miene die Anzeigen auf dem taktischen Hologramm.

Sein XO, Commander Mischa Koroljow ließ sein Pad keine Sekunde aus den Augen. Die Sensoren sammelten nonstop Daten, die nahezu ohne zeitliche Verzögerung auf dem Gerät eingespeist wurden. Der Erste Offizier leitete sie wiederum an seinen Kommandanten weiter.

Die Sevastopol befand sich auf einer gefährlichen und äußerst sensiblen Mission. Sie operierte allein und weit abseits jeglichen Nachschubs und sämtlicher Verstärkung, die Drizil oder Republik bieten konnten. Tarnung und verdecktes Vorgehen waren daher unumgänglich und von essenzieller Bedeutung. Nicht nur das Leben von Sorokins Besatzung hing davon ab, sondern vielleicht sogar der Ausgang des Krieges.

Sorokins Kreuzer war eines von fünfzig Schiffen, die ausgesandt worden waren, den neuen Obelisken ausfindig zu machen, mit dem die Nefraltiri es geschafft hatten, den Riss erneut zu stabilisieren und feindliche Verstärkung hindurchzubringen. Es waren diese frischen Einheiten gewesen, die vor einem halben Jahr beinahe die gesamte menschliche Front überwältigt hatten. Der Obelisk musste gefunden werden, wollte die Allianz aus Republik und Drizil den Krieg noch gewinnen.

Sorokin und jedes Mitglied seiner Besatzung waren sich darüber im Klaren, was für eine Verantwortung auf ihren Schultern lastete. Sie durften sich auf keinerlei Kämpfe einlassen. Falls Hinrady oder Nefraltiri von ihrer Anwesenheit erfuhren, war das ihr Tod und damit das vorzeitige Ende ihrer Mission. Daher fuhren sie unter ständiger Funkstille. Sie unterhielten keinen Kontakt zu anderen Schiffen mit vergleichbarem Auftrag, zu verbündeten Einheiten oder zum militärischen Oberkommando der Republik. Die Männer und Frauen der Sevastopol waren buchstäblich isoliert.

Ja, sie wussten noch nicht einmal, ob der Obelisk von einem der anderen Schiffe bereits gefunden worden war. Alles, was ihnen zu tun übrig blieb, war, ihrem Flugplan zu folgen und die für sie ausgewählten Systeme abzuklappern. Anschließend war die Rückreise nach Vector Prime geplant, wo sich derzeit eine große Flotte für die letzte Phase des Krieges versammelte.

Sorokin seufzte. Sie waren bereits ein halbes Jahr unterwegs und hatten in dieser Zeit elf feindlich besetzte Systeme aufgeklärt – ohne Erfolg. Der Obelisk war nicht aufzufinden.

Die Art der Mission ging an die Substanz. Sorokin war weder blind noch taub. Seine Leute wurden zunehmend gereizt und mürrisch. Ein halbes Jahr ohne Kontakt zu den Familien oder auch nur anderen Menschen, die nicht zur Sevastopol gehörten, war hart.

Sorokin ließ regelmäßig Filmabende abhalten und hatte sogar eine verkleinerte Form der olympischen Spiele an Bord veranstaltet. Er tat alles, um seine Leute aus dem Alltagstrott ihres Dienstes herauszureißen und ein klein wenig Unterhaltung zu bieten. Das war enorm wichtig. Andernfalls bestand die sehr reale Gefahr, dass die Stimmung an Bord irgendwann explodierte.

Sorokin warf seinem XO einen amüsierten Seitenblick aus dem Augenwinkel zu. Die olympischen Spiele waren dessen Idee gewesen. Der Mann war äußerst findig, wenn es darum ging, die Besatzung auf andere Gedanken zu bringen. Der Commodore wusste nicht, was er ohne den Mann getan hätte. Sein Blick richtete sich abermals auf das taktische Hologramm vor ihm. Eine Vielzahl an Symbolen war zu erkennen. Das allein war aber noch kein Indiz für die Wichtigkeit Tau’irins. In der Vergangenheit waren nur drei von Sorokins Zielsystemen unbewohnt gewesen. Die anderen hatten vor Aktivität von Hinradyschiffen geradezu floriert. Nur noch Tau’irin stand auf ihrer Liste. Danach hieß es: ab nach Hause.

Sorokin glaubte nicht, dass sich dieses System wesentlich von den anderen unterschied, die sie besucht hatten. Elf Mal hatten sie eine Niete gezogen. Warum sollten sie ausgerechnet beim zwölften fündig werden?

Sorokin freute sich bereits auf die Heimreise, auch wenn dies bedeutete, unverrichteter Dinge nach Hause zurückzukehren. Möglicherweise war eines der anderen Schiffe erfolgreicher gewesen und die hohen Offiziere planten bereits die letzte Offensive zur Vertreibung des Feindes.

Sorokin schweifte mit seinen Gedanken zum Filmabend ab, der heute stattfinden sollte. Auf dem Programm stand Casablanca, ein Streifen, den er bestimmt schon zwanzig Mal gesehen hatte. Doch er mochte ihn immer noch ganz gern.

Sorokin blinzelte für einen Moment verwirrt, als die Sensoren einen tiefen Warnton ausstießen und auf seinem Hologramm einen Teil des dritten Planeten in bedrohliches Rot tauchten. Koroljow war nur einen Atemzug später an seiner Seite. Der XO hatte die Augen weit aufgerissen und wirkte ähnlich verblüfft wie der Kommandant.

»Ist es das, wofür ich es halte?«, wollte Koroljow wissen.

»Starke Energieanzeigen, die von diesem Planeten ausgehen«, meinte Sorokin und deutete auf das Hologramm. »Das ist … interessant.«

Koroljow nickte. »Stärkere habe ich nie zuvor gesehen.« Er stutzte. »Bis auf den Riss damals.«

Sorokin strich sich über das Kinn. »Ja, ich erinnere mich.« Er runzelte die Stirn und sah zum XO auf. »Könnten wir in den letzten Zügen unseres Auftrags tatsächlich noch erfolgreich sein?«

Koroljow wirkte über diese Aussichten nicht unbedingt erfreut. In dessen Gesicht arbeitete es fieberhaft. Schließlich seufzte er. »Das werden wir von hier aus nicht feststellen.«

»Nein«, gab der Commodore ihm recht. »Dazu müssen wir näher – noch viel näher – ran.«

»Navigation, wir brauchen einen Kurs, der uns unbemerkt dem dritten Planeten näherbringt.«

Bei der jungen an der Navigation diensthabenden Frau handelte es sich um einen Lieutenant Junior Grade mit Namen Michelle Walsh. Sie war erst kurz vor Antritt der Mission auf die Sevastopol versetzt worden. Anfangs war Sorokin nicht begeistert darüber gewesen, seinen erfahrenen Navigator durch einen – wie er es damals ansah – Frischling ersetzen lassen zu müssen.

Das vergangene halbe Jahr hatte hingegen gezeigt, dass, wer auch immer diese Versetzung veranlasst hatte, sich dabei durchaus etwas gedacht hatte. Trotz ihres Alters von gerade mal achtundzwanzig war Michelle – oder einfach nur kurz Micky – Walsh eine exzellente Offizierin und in ihrem Metier durchaus bewandert. Sie verfügte über ein fast intuitives Gespür für den Raum und die Wege, die durch ihn hindurchführten. Ihr letzter kommandierender Offizier hatte diesbezüglich in Walshs Akte sogar das Wort magisch verwendet.

Was Sorokin beim anfänglichen Lesen der Akte als ziemlich überspitzt, wenn nicht gar übertrieben empfunden hatte, kam ihm nun tatsächlich nah an der Wahrheit vor. Diese Frau war wirklich erstklassig in ihrem Job.

»Ich habe einen, Commodore«, gab sie nach einigen Minuten bekannt.

»Zeigen Sie her«, bat Sorokin und auf seinem taktischen Hologramm baute sich eine schematische Darstellung des Systems auf. Eine rote Linie zog sich durch den Raum und kreuzte einige stellare Objekte gefährlich nahe.

»Sind Sie sicher, dass das der einzige Weg ist, Walsh?«

Die Frau drehte sich um. »Wenn Sie keinen Kampf riskieren wollen, dann ja. Das System wimmelt vor Hinradyraumern.«

Sorokin wechselte einen langen Blick mit seinem XO, bis dieser die Achseln zuckte. »Wir können auch nach Hause fliegen.«

Die halb im Scherz gemachte Bemerkung rief unterdrücktes Prusten unter der Brückenbesatzung hervor. Sorokin rief die Männer und Frauen nach einigen Augenblicken mit einem strengen Blick zur Ordnung. »Ich wünschte, das wäre möglich«, erwiderte er. »Ich wünschte wirklich, das wäre möglich.« Er stieß einen Schwall Luft aus, bevor er sich erneut Walsh zuwandte. »Wir machen es so. Bringen Sie uns rein.«

»Aye, Sir«, bestätigte die Navigatorin und wandte sich abermals ihrer Station zu. Die Sevastopol nahm Fahrt auf und die nächsten Stunden wurden zum Spießrutenlauf. Walsh tat alles in ihrer Macht Stehende und griff auf jeden Trick, jede Kriegslist und jede Täuschung zurück, die sie im hintersten Winkel ihres Hirns ausgraben konnte, um die Annäherung der Sevastopol zu verschleiern.

Der Angriffskreuzer umrundete mehrere Monde und sogar einen der Planeten in einer derart engen Umlaufbahn, dass die Panzerung durch die Reibung bereits zu glühen anfing. Walsh nutzte sogar den Schweif eines Kometen als Deckung, der zufällig das System passierte. Der Anflug dauerte gut und gerne fünfzehn Stunden. Die Sevastopol kam schließlich in den ausgehöhlten Trümmern eines Schwarmschiffes zum Stehen, das hier während der erbitterten Kämpfe vor so vielen Jahren zerstört worden war.

Die Zerstörung dieses Schiffes war einer der wenigen Erfolge gewesen, die die Drizil beim Rückzug aus Tau’irin errungen hatten. Der Nefraltiri war dabei getötet worden. Aus diesem Grund hatten die Hinrady keinerlei Interesse mehr an dem Schiff. Es trieb zwischen dem dritten und vierten Planeten als Teil eines großen Trümmerfelds aus mindestens zweihundert Schiffen dahin. Erneut bewies Walsh ihr intuitives Geschick an der Navigation, als sie die Sevastopol durch eine der größeren Breschen in der Außenhülle steuerte, ohne den scharfkantigen Rändern auch nur nahe zu kommen.

»Commodore Sorokin«, erhob sie das Wort. »Geschwindigkeit bei annähernd null. Manövriertriebwerke werden eingesetzt, um uns an Ort und Stelle zu halten.«

»Sehr gut gemacht, Lieutenant«, lobte der Commodore. An seinen XO gewandt, fügte er hinzu: »Lassen Sie mal sehen, was wir hier haben. Aber nur passive Sensoren.«

Koroljow nickte. Wenn man nur auf eingehende Signale angewiesen war, dauerte das Ganze natürlich länger als mit aktiven Sensoren. Die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, war jedoch erheblich geringer.

Zunächst erhielten sie lediglich die bereits bekannten erhöhten Energie- und Strahlungswerte. Dann jedoch runzelte Koroljow die Stirn. »Erste Echtzeitbilder kommen herein«, informierte er seinen Kommandanten. Der XO hatte kaum ausgesprochen, da wurden auf dem Hologramm mehrere Aufnahmen des dritten Planeten eingeblendet. Sorokin beugte sich unwillkürlich vor.

»Heiliger Strohsack!«, staunte er.

Koroljow stützte sich auf die linke Lehne des Kommandosessels, während auch er die Aufnahmen mit kundigem Blick betrachtete. Er nickte langsam. »Es befinden sich mindestens drei voll ausgerüstete Jägerbasen in der Umlaufbahn des Planeten. Der Größe nach zu urteilen, könnte jede von ihnen tausend Kampfmaschinen in die Schlacht schicken. Außerdem orten wir allein in unmittelbarer Nähe von Tau’irin III fünf Geschwader Hinradyjagdkreuzer. Die beschützen da was. Definitiv.«

Ein weiteres Bild wurde eingespeist und sowohl Sorokin als auch sein XO sogen kollektiv die Luft ein. Das Bild zeigte den Nordpol des Planeten. Von der Oberfläche ging ein Energiestrahl aus, der problemlos die Sevastopol und vermutlich auch einen Dreadnought hätte verschlucken können. Der Strahl war durchgängig und wurde durch geothermale Energie gespeist. Die Nefraltiri hatten den Kern des Planeten angebohrt, um eine nahezu unerschöpfliche Energiequelle für ihren Obelisken zu erhalten.

Sorokin schüttelte leicht den Kopf. »Wie haben wir die Nefraltiri je schlagen und zurücktreiben können, ein Volk, das zu etwas Derartigem imstande ist?«

»Wir hatten richtig Schwein«, meinte Koroljow.

»Vermutlich«, antwortete der Commodore. Er räusperte sich. »Also gut. Wir haben unsere Mission erfüllt. Zeit zu verschwinden.«

»Mir soll’s recht sein«, gab der XO sein Einverständnis bekannt.

»Feindannäherung«, zischte der taktische Offizier der Sevastopol plötzlich. »Vier Schiffe, nähern sich auf unterschiedlichen Vektoren.«

»Sensoren aus!«, befahl Sorokin knapp. »Alle Energie auf Minimalleistung herunterfahren.«

Die Männer und Frauen der Sevastopol beeilten sich, der Forderung ihres Kommandanten nachzukommen. Bereits wenige Sekunden später hätte der Angriffskreuzer genauso gut ein Schwarzes Loch im All sein können.

Sorokin starrte angestrengt durch das Brückenfenster. Die Sevastopol befand sich in einer Position, von der aus er einen guten Blick durch die Gefechtsschäden des Schwarmschiffes hinaus ins All hatte.

Ein Jagdkreuzer kam in Sicht. Das Feindschiff wirkte aus der Nähe sogar noch bedrohlicher. Es erschien wie ein Hai, der durch Blut im Wasser Witterung aufgenommen hatte. Der Hinradykreuzer verringerte seine Geschwindigkeit und verharrte abwartend in der Nähe des Schwarmschiffes.

Sorokin hatte momentan keine Sensoren zur Verfügung, aber auch so war ihm durchaus klar, dass die feindliche Besatzung im Augenblick die Umgebung einem intensiven Scan unterzog. Er hoffte nur, das Metall, aus dem das Schwarmschiff bestand, würde ihnen einen gewissen Schutz bieten. Es handelte sich um ein Mineral, das weder Menschen noch Drizil kannten und das über gewisse energiedämpfende Eigenschaften verfügte. Sorokin betete inständig, es würde reichen.

»Ich frage mich, was die misstrauisch gemacht hat«, wollte sein XO wissen.

»Ihre Sensoren waren schon immer leistungsfähiger als unsere«, entgegnete Sorokin, ohne den Blick von dem Feindschiff zu nehmen. »Vielleicht haben sie unsere Antriebssignatur aufgefangen.« Die Minuten dehnten sich schier endlos. Sorokin knirschte unbewusst mit den Zähnen.

Na los! Mach schon! Flieg weiter!, beschwor er immer wieder den feindlichen Kommandanten in Gedanken. Ein zweiter Jagdkreuzer kam oberhalb des ersten in Sicht. Sorokin hielt unbewusst den Atem an. Doch dann nahmen beide wieder langsam Fahrt auf und glitten in entgegengesetzte Richtungen davon. Sorokin stieß erleichtert den Atem aus und die Brückenbesatzung atmete kollektiv auf.

In diesem Moment schnitten die ersten Energiestrahlen durch die zertrümmerte Außenhülle des Schwarmschiffes. Ohne dessen Schutz wäre die Sevastopol wohl augenblicklich zerstört worden. Doch auch so war der angerichtete Schaden verheerend.

Ein Dutzend Warnungen zuckten über Sorokins taktisches Hologramm. Jede einzelne davon forderte seine unbedingte und sofortige Aufmerksamkeit.

»Volle Energie auf Antrieb und Waffen!«, schrie der Commodore. »Walsh, bringen Sie uns hier raus, zum Teufel!«

Die Finger der Navigatorin tanzten über ihre Tastatur. Das Licht auf der Brücke wurde schlagartig heller, als alle wichtigen Systeme erneut mit Energie beschickt wurden. Es ging jedoch sogleich wieder aus und die rote Gefechtsbeleuchtung setzte ein, damit die Offiziere die Bildschirme besser lesen konnten.

Die Frontbewaffnung der Sevastopol feuerte in Flugrichtung und vergrößerte die Bresche in der Außenhülle des Schwarmschiffes. Der Angriffskreuzer machte einen Satz, als die Antriebsaggregate aufflammten, und schoss durch die Öffnung hinaus ins All. Praktisch von der ersten Sekunde an stand das terranisch-republikanische Schiff unter schwerem Beschuss.

Die Sevastopol wich nach steuerbord aus und entging damit knapp einer Salve, die sehr wohl das Ende des Angriffskreuzers hätte bedeuten können. Die Energiestrahlen hinterließen Brandspuren und sogar tiefe Kerben an der Panzerung.

Der taktische Offizier erstellte einen Beschussplan und nur Sekunden später ließ die Sevastopol ein Lichtgewitter gegen den Feind los. Mehrere Jagdkreuzer in unmittelbarer Nähe wurden getroffen. Keiner derart schwer, dass er aus dem Gefecht geworfen wurde, aber das war auch gar nicht Sinn und Zweck der Übung. Sorokin wollte einfach nur den Weg freiräumen. Die Feindschiffe wichen dem Beschuss aus und der terranische Kreuzer schlüpfte durch die Lücke.

Hinter dem Angriffskreuzer vergingen die Überreste des Schwarmschiffes unter dem unbarmherzigen und konstanten Beschuss der Hinrady. Ein Dutzend Jagdkreuzer nahm die Verfolgung des flüchtenden republikanischen Kampfraumers auf.

Walsh bewies ein weiteres Mal ihr unfassbares Geschick an der Navigation. Sie tauchte unter gegnerischen Energiestrahlen hinweg oder zwischen ihnen hindurch. Sie verschaffte Schiff und Besatzung kostbare Zeit. Währenddessen arbeiteten Sorokin und Koroljow verzweifelt an einem Fluchtplan.

Das taktische Hologramm füllte sich mit erschreckender Geschwindigkeit mit roten Symbolen. »Sie schneiden uns jeden Fluchtweg ab«, kommentierte Koroljow unnötigerweise. Sorokin sah das selbst. Er hatte schließlich Augen im Kopf. Er presste seine Lippen aufeinander.

Die Geschütze der Sevastopol feuerten ohne Pause. Eine Torpedobreitseite erwischte einen Jagdkreuzer direkt voraus, zertrümmerte die Bugpanzerung und einen Teil der Bewaffnung. Die Explosionen pflanzten sich sogar bis ins Innenleben fort und brachen sich an Steuerbord wieder einen Weg ins Freie.

In Sorokins Verstand reifte die Andeutung eines Planes heran. Er war irrsinnig, aber alles, was ihnen zu tun übrig blieb. Wenn der Feind jede Fluchtroute in die Republik blockierte, dann stand ihnen quasi nur noch ein anderer Weg offen.

Der Commodore gab mehrere Zahlenfolgen über sein taktisches Hologramm ein und schickte es an die Navigatorin. Walsh drehte sich zu ihm um. Ihre Augenbrauen berührten fast ihren Haaransatz.

Sorokin nickte wortlos. Die Miene der Navigatorin änderte sich von schockiert zu entschlossen. Sie erwiderte die Geste und drehte ihren Sessel zurück. Sie gab einen neuen Kurs ein.

Koroljow hatte den Vorgang über die Schulter Sorokins aufmerksam beobachtet. »Das ist verrückt«, meinte er. »Ich hoffe, das wissen Sie.«

Sorokin neigte angespannt den Kopf. »Uns bleibt keine Wahl. Wenn der Feind jeden Pfad in die Republik versperrt, dann gehen wir eben auf Gegenkurs und springen tiefer ins feindliche Territorium. Von dort aus finden wir vielleicht einen Weg zurück. Wenn wir weiter versuchen, uns hier den Weg freizukämpfen, dann schießt man uns früher oder später in Stücke.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, wurde die Sevastopol mehrfach im Bereich der Achtersektion getroffen. Das Schiff bockte für einen Moment, doch die Fluglage stabilisierte sich abermals. Das Metall quietschte vor Überbeanspruchung. Sorokin sah sich nervös um. »Eher früher«, fügte er hinzu.

Die Sevastopol ging auf Kurs zum dritten Planeten. Wenn es ihnen gelang, diesen als Deckung zu benutzen und dann zur Sonne vorzustoßen, konnten sie den Gegner möglicherweise mit dem Manöver überraschen und einen Sprung tiefer ins vom Feind besetzte Territorium einleiten. Das waren viele vielleicht, möglicherweise oder unter Umständen. Doch ihre Alternativen waren begrenzt.

Koroljows Pad gab einen weiteren Warnton von sich und fesselte damit die Aufmerksamkeit des XO. Dieser sah mit aschfahlem Gesicht auf. »Zwei der Jägerbasen schleusen Kampfmaschinen aus. Sie beziehen direkt in unserer Flugbahn Position.«

Sorokin fluchte. »Abwehrmaßnahmen einleiten.« Die Punktverteidigungslaser eröffneten das Feuer und woben ein tödliches Netz in den Raum vor dem Angriffskreuzer. Fast zwei Dutzend Feindjäger verhedderten sich darin und es blieb nicht viel mehr von ihnen übrig als kurzzeitig aufflammende Explosionen und in alle Richtungen spritzende Trümmer.

Die Hinradypiloten waren jedoch beileibe keine Stümper. Wer den anfänglichen Angriff der Sevastopol überlebte, hatte gute Chancen, noch ein Weilchen länger mit dem Leben davonzukommen. Die Feindjäger wichen den Energiestrahlen der PVL behände aus. Nur hin und wieder hatte einer von ihnen das Pech, eine der Strahlbahnen zu kreuzen. Das Ergebnis war das schnelle und unrühmliche Ende eines weiteren Primaten. Die Anzahl gegnerischer Jäger auf ihrer Flugbahn blieb aber weiterhin hoch. Um genau zu sein, geradezu furchterregend hoch.

Die Kampfmaschinen eröffneten das Feuer. Jäger voraus, Jagdkreuzer hinter ihnen. Die Sevastopol und deren Besatzung fand sich unversehens im Kreuzfeuer wieder. Auch Walshs Künste an der Navigation kamen an ihre Grenzen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als durch diesen Orkan hindurchzupflügen.

Die Schadensmeldungen gingen praktisch im Minutentakt auf Sorokins Hologramm ein. Nun aber mehrten sich auch Verlustmeldungen. Zwei Decks erlitten explosive Dekompression, als sie zum Vakuum hin geöffnet wurden. Auf einen Schlag verlor Sorokin mehr als siebzig seiner Leute.

»Schadenskontrolle nach Deck acht und elf«, ordnete er an. »Wir müssen die Lecks unbedingt versiegeln.«

»Notkraftfelder nicht in Funktion«, gab sein XO zurück.

Das war übel. Es würde die Arbeit der Schadenskontrollteams zusätzlich erschweren. Zumindest die Verluste würden sich auf diesen Decks nicht weiter erhöhen. Wer es bis jetzt in einen Sicherheitsbereich oder zu einer Schutzausrüstung geschafft hatte, würde voraussichtlich überleben. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass ihnen die Zeit davonlief.

Die Sevastopol und die angreifende Jägerfront trafen aufeinander. Der Angriffskreuzer verteidigte sich in alle Richtungen. Die Hinrady verloren eine ganze Reihe von Kampfmaschinen. Einige durch die PVL, andere zerschellten an der Außenhülle des Kampfschiffes. Sorokin vermochte nicht zu sagen, ob sich dies um beabsichtigte Kamikazeangriffe handelte oder die Piloten nicht rechtzeitig ausweichen konnten. Wie dem auch sei, sie richteten eine Menge Schaden an.

Es gab allerdings einen Lichtblick. Die feindlichen Jagdkreuzer blieben zusehends hinter ihnen zurück. Diese Schiffe waren schwer bewaffnet, doch ihre Geschwindigkeits- sowie Beschleunigungswerte lagen ganz leicht unter denen eines republikanischen Angriffskreuzers. Die Sevastopol baute langsam, aber sicher Vorsprung auf.

Der Jägerangriff endete. Sorokins Schiff kam auf der anderen Seite der gegnerischen Front heraus und die Kampfmaschinen der Hinrady drehten sowohl nach backbord wie auch steuerbord ab. Die Sevastopol fand sich in einer Blase relativer Ruhe wieder. Sorokin war klar, dies würde nicht lange anhalten. Die Jäger formierten sich lediglich zu einem erneuten Angriff und die feindlichen Basen in der Umlaufbahn waren schon dabei, weitere Geschwader ins All abzusetzen. Sie mussten ihren Vorsprung nutzen, so gut es ging.

Sorokin markierte die nächste Jägerbasis als Primärziel. Der taktische Offizier reagierte und feuerte eine volle Torpedobreitseite gegen die Raumstation ab. Die Panzerung des Gebildes wurde auf ganzer Fläche von Explosionen eingehüllt. Sorokin wusste, es würde die Basis kaum beeinträchtigen, wohl aber die Besatzung eine gewisse Zeit beschäftigen, bis die Schäden gesichtet waren.

Die Sevastopol steuerte mit Vollschub die Rückseite des dritten Planeten an. Die Hinradykriegsschiffe blieben immer weiter hinter ihnen zurück. Der republikanische Kreuzer nutzte die Umrundung des Planeten wie ein Katapult und gewann dadurch zusätzlich an Geschwindigkeit. Es handelte sich dabei um ein sogenanntes Swing-by-Manöver. Wenn alles lief, wie Sorokin sich das vorstellte, dann würden sie Richtung Sonne katapultiert, was auch die Zeit reduzierte, die sie normalerweise benötigten, um Sprunggeschwindigkeit zu erreichen. Sorokin war überzeugt, er könne Schiff und Besatzung aus dem Gefahrenbereich bringen.

Eine trügerische Hoffnung. Er war nicht einmal nahe dran. Energiestrahlen schnitten tief in die Panzerung der Sevastopol und drangen in sensible Bereiche des Schiffes vor. Dabei verdampften sie eine große Anzahl Besatzungsmitglieder.

Das Schiff wurde praktisch in zwei Teile geschnitten und nur noch durch einige wenige zerschmolzene Verstrebungen zusammengehalten.

Gleichzeitig meldete sein Hologramm mehrere auf der Rückseite des Planeten in Stellung gegangene feindliche Kampfschiffe. Die Hinrady hatten sie wie bei einer Treibjagd vor sich hergescheucht und in eine Position manövriert, aus der es kein Entrinnen mehr gab.

Sorokin wusste, was er zu tun hatte. »Lieutenant«, wandte er sich an den taktischen Offizier. »Packen Sie alles an gesammelten Daten in eine hyperraumfähige Sonde und schießen Sie sie raus.« Er wandte sich zur Seite. »XO, Schiff evakuieren.«

Koroljow erstarrte für eine Sekunde, nickte dann aber verstehend. Aus dieser Falle gab es kein Entrinnen. Nur einen Augenblick später hallte der Evakuierungsalarm über die Brücke und durch sämtliche Korridore des Angriffskreuzers. Eine blecherne Computerstimme gab parallel hierzu Anweisungen.

»Alle Mann sofort von Bord! Alle Mann sofort von Bord! Rettungskapseln und Shuttles stehen ausreichend zur Verfügung. Folgen Sie dem Protokoll! Alle Mann von Bord!« Von diesem Moment an wiederholte sich die Ansage nur noch endlos.

Der taktische Offizier schoss die Sonde aus einem der Hecktorpedorohre.

Sorokin schnallte sich los. Sein taktisches Hologramm flackerte, fiel aus, kam wieder, flackerte erneut und stabilisierte sich abermals. Es war kaum etwas Sinnvolles zu erkennen. Dennoch hielt Sorokin inne und beobachtete, wie die Sonde die gegnerischen Linien durchstieß und konstant Geschwindigkeit aufbaute. Es würde noch gut sechs Stunden dauern, bis sie von hier aus endlich aus dem System springen konnte. Sorokin betete inständig dafür, dass sie es schaffte. Falls die Informationen an Bord der Sonde den republikanischen Raum erreichten, dann waren die heute erbrachten Opfer nicht umsonst gewesen. Falls sie zerstört wurde, dann hatte der Verlust der Sevastopol nicht den geringsten Sinn erbracht.

Koroljow packte seinen Commodore am Kragen und zerrte ihn mit sich. Für die Brückencrew gab es ein separates Evakuierungsdeck. Marines in ihren leichten, für den Einsatz im All entwickelten Rüstungen erwarteten sie und die Rüstungen der Brückenbesatzung standen schon bereit. Sorokin, Koroljow, Walsh und der taktische Offizier schlüpften in die Armierung und verschlossen die Panzerung. Die Versiegelung auf dem Rücken rastete mit mechanischem Klicken ein.

Die Brücke wurde getroffen und aus ihrer Verankerung gerissen. Sorokin aktivierte seine magnetischen Stiefel. Zwei Mitglieder seiner Crew hatten weniger Glück. Sie wurden in die Kälte des Alls gerissen, noch bevor sie ihre Rüstungen erreichten.

Die Marines führten die Überlebenden durch das entstandene Vakuum zu der für sie zuständigen Evakuierungsstelle. Ein Shuttle wartete mit verheißungsvoll geöffneter Luke. Einer der Marines stand in der Öffnung und winkte aufgeregt mit einem Arm. Der Mann sagte kein Wort, aber die Körpersprache war unmissverständlich. Sie sollten sich gefälligst beeilen.

Nacheinander drängten sie sich durch die Luke. Sitze gab es keine, um möglichst viele Menschen aufzunehmen. Stattdessen hielten sich die Männer und Frauen an einer Deckenverstrebung fest und verriegelten den entsprechenden Arm. Kaum war der Letzte von ihnen an Bord, schloss sich die Luke und das Shuttle steuerte aus dem kleinen Hangar.

Sorokin wartete die ganze Zeit auf den einen letzten feindlichen Schuss, der ihr kleines Vehikel vom Himmel pusten und sie alle ins Jenseits schicken würde. Doch nichts dergleichen geschah. Sie steuerten unbehelligt die Oberfläche an. Rettungskapseln und vereinzelte Shuttles begleiteten sie. Die Hinrady eröffneten die Jagdsaison. Systematisch benutzten sie die fliehenden Menschen für Zielübungen. Unmittelbar neben Sorokins Shuttle wurde eine Kapsel atomisiert, gefolgt von einer zweiten und einer Landefähre. Er fragte sich, wie viele von ihnen es wohl bis zur Oberfläche schaffen würden.

»Commodore?«, hörte er die Stimme des Piloten in seinem Helm. »An Steuerbord.«

Sorokin beugte sich vor und spähte durch eines der Bullaugen. Er hatte einen Logenplatz beim Absturz seiner geliebten Sevastopol. Die beiden größten Trümmerstücke stürzten an seinem Fluchtshuttle vorbei und traten in die Atmosphäre von Tau’irin ein. Sie zogen einen roten Schweif hinter sich her. Sorokin musterte missmutig die Welt, auf der sie nun für eine ungewisse Zeit Zuflucht finden mussten. Es war fraglich, ob sie dort länger überleben konnten. Tau’irin war eine Welt bedeckt von Schnee und Eis.

Teil I. Das letzte Aufgebot

1

Vector Prime – militärisches Aufmarschgebiet für Operation Grabstein25. Februar 2899

»Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.«

Victor Hugo

Major Andreas Rinaldi hätte gern behauptet, Master Sergeant Tian Chung wäre schwierig zu finden gewesen. Man musste jedoch neuerdings nur die schäbigsten, von allerhand zwielichtigem Gesindel besuchten Kneipen abklappern. Irgendwann würde man zwangsläufig auf den Legionär stoßen.

Rinaldi verzog angewidert die Miene, als ihm der Gestank von billigem Fusel, dem aufdringlichen Parfum von Damen zweifelhaften Rufes sowie Erbrochenem in die Nase stieg. Von allen Kneipen in Cibola war diese Spelunke ohne Zweifel die heruntergekommenste.

Der Major blieb auf der obersten Stufe am Eingang stehen und verschaffte sich erst einmal einen Überblick. Links von ihm war gerade eine Schlägerei dabei auszubrechen, aber niemand – insbesondere die Security – schien sich sonderlich für diesen Umstand zu interessieren. Rinaldi versicherte sich schnell, dass Chung nicht mit von der Partie war, und ignorierte den Kampf dann ebenso.

In dem Dämmerlicht, das hier herrschte, konnte man kaum fünf Meter weit sehen, aber Rinaldi meinte, den breiten Rücken des Master Sergeants an der Bar zu erkennen. Der Major setzte sich in Bewegung und arbeitete sich durch die Masse an Leibern, die in der Mitte des Etablissements zu schrillen Klängen in ekstatischen Verrenkungen tanzten – und das, obwohl diese sogenannte Kneipe gar keine Tanzfläche besaß.

Rinaldi ignorierte die Offerten mehrerer junger Damen und ließ sein Ziel nicht aus den Augen. Als er die Bar endlich erreichte, stellte er zu seiner grenzenlosen Erleichterung fest, dass er tatsächlich den Master Sergeant vor sich hatte – und dieser war sternhagelvoll.

Rinaldi zog sich einen Barhocker heran und setzte sich leger. Er beobachtete Chung eine Weile, wie dieser schweigsam einen Schnaps nach dem anderen kippte. Rinaldi war überzeugt, dass Chung seine Anwesenheit bereits bemerkt hatte, aber noch nicht geruhte, diese zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich hielt der Unteroffizier es nicht länger aus und warf seinem Major einen scharfen Seitenblick zu.

»Wie lange hat es gedauert, bis Sie mich gefunden haben?«

Rinaldi zuckte mit den Achseln. »Länger, als ich eigentlich zugeben möchte.« Er deutete auf das letzte leere Glas, das vor Chung auf dem Tresen stand. »Harter Tag?«

Chung schnaubte. »Hartes Leben.«

Rinaldi nickte verstehend. »Hernandez.«

»Corporal Hernandez«, versetzte Chung scharf. »Francine«, fügte er leiser hinzu.

Rinaldi senkte den Kopf. »Es ist schwer, jemanden zu verlieren. Glauben Sie mir, ich weiß das. In den letzten Jahren musste ich viele Briefe an unzählige Angehörige schreiben. Und ja, ich habe es manchmal wirklich satt, gute Männer und Frauen in Leichensäcken nach Hause zu schicken.« Er bedachte das nächste Glas, das Chung sich schnappte, mit finsterem Blick. »Aber ich habe mich niemals derart gehen lassen.«

Ungerührt über die unverblümte Äußerung, kippte Chung den Inhalt in einem Zug hinunter. Rinaldi verzog schmerzhaft berührt die Miene. Er wusste genau, was Chung sich da Glas um Glas einverleibte. Unter Soldaten nannte man den Drink Supernova. Das sagte eigentlich schon alles. Nach allen gängigen Regeln der Physik hätte sich Chung schon längst Speiseröhre und Magen mit dem Zeug verätzen müssen.

»Der wievielte ist das heute schon?«

Chung zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, der dritte, glaube ich.«

Rinaldi warf einen fragenden Blick Richtung Barkeeper. Dieser machte mit beiden Händen eine eindeutige Geste. »Laut ihrem Freund da drüben wohl eher der neunte.«

Abermals zuckte Chung mit den Achseln. »Ich bin am Feiern. Ich feiere das Leben meiner gefallenen Kameradin.« Chung hob das zehnte Glas mit diesem Teufelszeug und prostete damit niemand Besonderem zu. »Auf dich, Francine!« Erneut stürzte er das Glas in einem Zug hinunter. Rinaldi wurde schon vom Zusehen schlecht.

Der Master Sergeant hob die Hand, um ein elftes Glas zu ordern, aber Rinaldi kam ihm zuvor. »Das reicht jetzt.« An den Barkeeper gewandt, fragte er: »Haben Sie auch Kaffee?«

Der Mann grinste schmutzig. »Klar. Mit oder ohne Schuss?«

Rinaldi warf dem Kerl einen vernichtenden Blick zu. »Schwarz. Das Letzte, was er braucht, sind noch mehr Promille. Ich bin mir nicht einmal jetzt sicher, ob er überhaupt noch Blut im Alkohol hat.«

Chung wandte sich seinem Vorgesetzten zu, wobei er fast vom Hocker gefallen wäre. »Normalerweise hege ich für Sie den größten Respekt, Major«, lallte er. »Aber da ich gerade dienstfrei habe – vergeben Sie mir bitte meine Offenheit –, warum verpissen Sie sich nicht einfach?«

Rinaldi stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus. »Dienstfrei oder nicht, für das allein könnte ich Sie für ein paar Tage ins Loch werfen lassen.«

»Warum machen Sie es dann nicht einfach?«

Rinaldi wurde ernst. »Weil es nicht meine Art ist, jemanden zu bestrafen, der trauert.«

»Ich trauere nicht.«

»Oh, doch. Und ich kann Sie gut verstehen.«

Der Barkeeper stellte eine Tasse dampfenden heißen Kaffees vor die beiden auf die Theke. Rinaldi schnupperte misstrauisch an dem Duft, der davon aufstieg. »Falls da auch nur ein Tropfen Alkohol drin ist, dann komme ich rüber und flöße dir eine ganze Kanne von dem Zeug ein.«

Der Barkeeper wollte erst über die Bemerkung lachen. Nach einem Blick in Rinaldis Gesicht war der Mann jedoch gar nicht mehr sicher, dass der Major tatsächlich einen Scherz gemacht hatte.

»Ist sauber«, war alles, was er anschließend erwiderte.

Rinaldi schob die Tasse auffordernd in Chungs Richtung. Er duldete keinen Widerspruch. Das war beiden klar. »Trinken!«, befahl er.

Chung betrachtete missmutig die Tasse, nahm sie dann aber auf, pustete etwas auf das Gebräu und nahm einen vorsichtigen Schluck, gefolgt von einem etwas längeren. Er stellte die Tasse ab. Nun, da kein Alkohol mehr nachgeschoben wurde, setzte das Selbstmitleid ein, das jeder kannte, der schon einmal mit einem harten Trinker zu tun gehabt hatte.

»Sie war nicht nur eine Soldatin unter meinem Kommando«, sagte Chung.

Rinaldi nickte. »Sie war etwas ganz Besonderes.«

»Sie war Freundin, Kameradin, langjährige Weggefährtin – und jetzt ist sie tot.«

Rinaldi meinte, aus den Worten des Mannes eine gewisse Richtung herauszuhören. Daher beschloss er nachzuhaken. »Hatten Sie was miteinander?«

Chungs Blick flog hoch. »Nein, um Himmels willen! Das meinte ich ganz und gar nicht. Wir waren einfach nur die besten Freunde. Da passt Sex nicht rein. Außerdem haben wir uns gegenseitig öfter den Arsch gerettet, als ich zählen kann. So was schweißt zusammen – und turnt richtig ab. Aber mal wirklich so richtig.«

Jetzt wusste Rinaldi, worauf der Sergeant hinauswollte. »Es war nicht Ihre Schuld«, wagte er einen mitfühlenden Vorstoß.

Chung nahm einen weiteren Schluck Kaffee, bevor er antwortete. »Ich habe sie sterben lassen, Major. Ich ließ sie in den Fängen dieses Hinrady zurück und er brach sie einfach entzwei wie einen morschen Zweig. Ohne Zögern. Ohne Mitleid. So sind diese … diese Tiere. Reine Tötungsmaschinen.«

»Falls es Ihnen ein Trost ist, kein Hinrady hat Argyle II lebend verlassen. Nach dem Eintreffen der Drizil wurde der Planet systematisch gesäubert. Francines Mörder ist tot.«

»Das tröstet mich überhaupt nicht.«

»Kann ich nachvollziehen.« Rinaldi sah zu, wie Chung die Tasse vollständig leerte. »Und? Wieder auf dem besten Weg, nüchtern zu werden?«

Chung grinste über das ganze Gesicht. »Noch lange nicht.«

»Das hatte ich befürchtet.« Mit erhobener Hand orderte Rinaldi eine zweite Tasse, die auch prompt geliefert wurde.

»Sie geben nicht auf, oder?«, meinte Chung, während er die zweite Tasse mit ebenso großem Widerwillen betrachtete wie die erste.

»Ganz sicher nicht«, gab der Major zu. »Sie sind mein bester Unteroffizier. Ich werde Sie nicht hängen lassen.«

»Ich wünschte, Sie würden es.«

»Das können Sie getrost vergessen.«

»Sie sind eine Nervensäge«, versetzte Chung, allerdings ohne jegliche Aggression. Er wirkte lediglich müde und ausgelaugt. Es war eine Müdigkeit des Geistes, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Daran konnte auch der Kaffee nichts ändern.

Rinaldi seufzte. »Was wäre denn die Alternative gewesen, Chung? Sie mussten Ihre Leute da raus bringen. Sie haben Ihren Trupp gerettet. Es hieß vier Leben abwägen gegen eines. Und Sie haben die korrekte Entscheidung getroffen. Ich hätte sie auch gefällt. Jeder gute Soldat hätte das.«

»Ich weiß. Das macht das Verlustgefühl nicht weniger schmerzhaft. Und die Schuld, die meine Eingeweide immer wieder zusammenzieht.«

»Das wird noch eine Weile anhalten«, gab Rinaldi zurück. »Vielleicht vergeht es nie. Aber Sie werden lernen, damit umzugehen. Oder Sie zerbrechen daran. Sie haben schon früher Legionäre im Gefecht verloren.«

Chung schüttelte den Kopf. »Das hier ist anders. Diesmal habe ich das Gefühl, es wäre meine Schuld gewesen. Das wiegt schwerer.«

»Das tut es«, erwiderte Rinaldi. »Aber Sie werden sich gefälligst zusammenreißen. Das ist ein Befehl.«

Chung erstarrte für einen Moment. Er richtete sich auf, wobei er beinahe vom Hocker rutschte. Rinaldi half ihm, aufrecht zu bleiben. Chung salutierte vor dem Offizier und erklärte: »Ja, Sir.«

Rinaldi wusste, es würde nicht einfach sein, Chung von dessen selbstzerstörerischen Weg abzubringen, aber es war zumindest ein Anfang.

»Wie geht es Kara?«, wollte der Major wissen. Kara Mitchell war beim selben Angriff schwer verwundet worden, der Francine Hernandez das Leben gekostet hatte. Ihr Rückgrat hatte einiges abbekommen.

Chung seufzte. »Es gab Komplikationen.«

Rinaldi wurde hellhörig. »Welcher Art?«

»Einige der Komponenten, die man ihr ins Rückgrat gepflanzt hat, damit sie wieder gehen kann, wurden abgestoßen. Jetzt prüft man, ob sich vielleicht andere anpassen lassen. Falls das nicht funktioniert, wird sie ihre Beine nie wieder richtig benutzen können. Sie befindet sich gerade im Militärkrankenhaus hier auf Vector Prime.«

»Das tut mir sehr leid«, antwortete Rinaldi ehrlich. Chung erwiderte nichts darauf. Der Major überlegte. »Das ist in mehr als einer Hinsicht ärgerlich. Das bedeutet, ihr Trupp besteht gerade aus lediglich drei Mann.«

Chung nickte. »Lassen Sie es sich bloß nicht einfallen, mir Ersatz zu schicken. Kara wird wiederkommen und für Francine will ich noch keinen. So weit bin ich noch nicht.«

»Keine Sorge. Ersatz ist für Ihren Trupp auch nicht vorgesehen. Dafür haben wir gerade gar keine personellen Mittel. Ich meinte das anders.« Rinaldi beobachtete zufrieden, wie Chung auch die zweite Tasse Kaffee leerte. Der Sergeant war zwar nicht nüchtern, aber wesentlich klarer im Kopf als bei Rinaldis Ankunft. Er klopfte dem Unteroffizier auffordernd auf die Schulter. »Lassen Sie uns gehen.«

Chung folgte seinem Major ohne Widerstand. »Und wie meinten Sie das jetzt genau?«, brüllte der Sergeant über den Lärm hinweg.

»Dass Ihnen für die nächste Operation lediglich ein Trupp mit eingeschränkter Stärke zur Verfügung steht.«

Chung runzelte die Stirn. »Operation? Was für eine Operation?«

Rinaldi wandte sich seinem Untergebenen lächelnd zu. »Hat es Ihnen noch niemand gesagt?«

Chung schüttelte verständnislos den Kopf. Rinaldis Lächeln wurde breiter. »Wir fliegen zurück nach Sultanet.« In das Gebaren des Majors mischte sich grimmige Entschlossenheit. »Wir gehen nach Hause.«

Präsident Mason Ackland beobachtete mit leuchtenden Augen, wie über ihm Raketen in den Himmel schossen, dort explodierten und leuchtende Muster ans Firmament malten. Die Pyrotechniker hatten ganze Arbeit geleistet, sehr zum Vergnügen der anwesenden Gäste.

Eine Ansammlung von Geschossen erregte besonders viel Aufmerksamkeit. Sie erzeugten einen Schriftzug über den Dächern von Cibola. Er besagte: Willkommen zurück!

Einfach gewählte Worte, aber sie sagten sehr viel aus. Die Veranstaltung feierte den Anschluss der Konföderation demokratischer Systeme, der Kooperative und anderer kleinerer Sternennationen an die Terranisch-Republikanische Liga. Nach langer Zeit war die Menschheit endlich wiedervereinigt. Gerade rechtzeitig, um den letzten Kampf gegen die Nefraltiri und ihre Sklaven gemeinsam zu führen.

Zwei Männer gesellten sich zu ihm, beide mit einem Glas sprudelnden Champagners in der Hand. General a. D. Carlo Rix und Vizeadmiral Elias Garner wirkten beide sehr zufrieden mit sich. Diese Männer hatten maßgeblich dazu beigetragen, dass dies alles in relativ kurzer Zeit zustande gekommen war. Anschlussgespräche dauerten eigentlich Jahre, manchmal Jahrzehnte. Doch in diesem Fall war alles innerhalb eines halben Jahres über die Bühne gegangen. Die Erfordernisse des Krieges hatten die Entscheidungsträger zur Eile ermahnt. Und das Ergebnis konnte man nun hier bewundern.

Ackland sah sich vielsagend um. Das ganze Dach des Hotels, in dem er zurzeit residierte, wimmelte nur von Würdenträgern und Offizieren sowohl der Republik als auch der neu angeschlossenen Nationen. Sogar einige Drizil waren gekommen, um das Fest mit ihren Verbündeten zu begehen. Für viele der menschlichen Offiziere war es noch ungewohnt, die Uniform der Republik zu tragen. Bei manchen erweckte es sogar den Eindruck, sie sei noch ein paar Nummern zu groß. Die Gesichter einiger weniger wirkten mürrisch, als trauerten sie ihrer Vergangenheit nach. Diese Reaktionen blieben aber zum Glück die Ausnahme. Im Großen und Ganzen herrschte eine gelöste, heitere Stimmung. Eine Stimmung, die einen neuen Aufbruch versprach.

Ein Kellner kam mit einem Tablett voller Häppchen vorbei, doch alle drei Männer lehnten dankbar ab, woraufhin der Bedienstete sich auf der Suche nach anderen Abnehmern davonmachte.

Masons Miene verlor etwas von ihrer Heiterkeit, als er Garner musterte. »Ist alles vorbereitet?«

Dieser nickte grimmig und nicht ohne Vorfreude in den aufblitzenden Augen. »Wir führen den Sprung nach Sultanet in fünf Tagen aus. Gleichzeitig schlagen drei weitere Verbände gegen vom Feind besetzte Systeme los. Indem wir den Gegner auf dem gesamten Frontverlauf bedrängen, setzen wir ihn unter Druck und zwingen ihn vielleicht sogar zum Rückzug. Aber eines ist mal sicher: Es geht jetzt nur noch in eine Richtung und keinen Fußbreit mehr zurück.«

»Wollen wir’s hoffen.« Mason verweigerte sich Garners Euphorie. Viel zu oft hatten die Nefraltiri mit Überraschungen aufgewartet und ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber dieses Mal schien der Vorteil tatsächlich auf ihrer Seite zu liegen.

»Was meint Cest zu alldem?«, wollte der Präsident wissen.

Carlo Rix schnaubte und warf dem Professor einen kurzen Blick zu, der sich angeregt mit mehreren Wissenschaftlern der ehemaligen Kooperative unterhielt und die Party sichtlich genoss. Carlo wandte sich erneut dem Präsidenten zu. »Er ist überzeugt, dass die Inkubationszeit reichen müsste. Hinrady und Jackury sollten sich bereits massenhaft angesteckt haben. Theoretisch müssten wir leichtes Spiel haben.«

»Theorie und Praxis stimmen nur selten überein«, gab Mason zu bedenken. »Uns war von Anfang an klar, dass wir niemals alle mit dem Virus erwischen konnten. Es wird Widerstand geben. Niemand darf sich vormachen, es würde ein Spaziergang werden.«

Carlo schüttelte den Kopf. »Es ging nie darum, alle zu infizieren. Uns muss ein adäquater Anteil genügen. Ihre Verteidigung muss geschwächt werden, damit wir ihre Linien durchbrechen können. Möglichst auf breiter Front. Cest meint, wir wären an einem kritischen Punkt angelangt. Ein hoher Anteil der Nefraltiristreitkräfte liegt jetzt bereits im Sterben oder ist schon tot, aber der Gegner konnte noch nicht in ausreichendem Umfang Nachschub an Truppen, Waffen und Schiffen generiert haben. Es heißt: jetzt oder nie!«

»Wir haben ein halbes Jahr gewartet«, warf Garner verkniffen ein. »Und in dieser Zeit gab es keinerlei Angriffe der Hinrady mehr. Nach ihren Erfolgen sowie dem Einmarsch auf republikanisches Territorium ist das ein äußerst untypisches Verhalten. Ich sehe das wie Rix: jetzt oder nie! Das ist unsere Chance. Vielleicht die letzte, die wir noch bekommen.«

Carlo schüttelte den Kopf. »Die feindliche Passivität könnte eher etwas mit unserem Sieg auf Argyle II zu tun haben. Die Analysten meinen, wir könnten den Hinrady dabei durchaus militärisch das Rückgrat gebrochen haben.«

Garner verzog die Miene. »Kann ich mir nicht vorstellen. So viel Glück werden wir kaum haben. Ich setze bevorzugt auf Cests Forschungen. Lassen Sie uns zuschlagen, Herr Präsident. Wir nutzen Argyle als Sprungbrett und schlagen gleichzeitig gegen mehrere wichtige Systeme los. Das bringt unseren Feind definitiv in die Defensive.«

Mason ließ sich das Gesagte beide Männer durch den Kopf gehen und neigte schließlich den Kopf zur Seite. »Wie ich das sehe, werden wir lediglich Antworten erhalten, wenn wir das nächste Mal auf feindliche Kräfte stoßen. Bis dahin bleibt alles reine Spekulation.« Garner hatte mit voller Absicht auf die Entsendung von Aufklärungsdrohnen verzichtet, um den Gegner nicht vorzuwarnen, dass etwas Großes im Gange war. Sie würden also tatsächlich erst während des Angriffs verlässliche Informationen erhalten.

»Meine Herren«, erläuterte Mason. »Egal, was nun geschieht, der Krieg neigt sich dem Ende entgegen.« Er hob sein Champagnerglas zum Salut. »Und egal, wie dieser grausame Konflikt auch ausgehen mag, es war mir eine Ehre, ihn an Ihrer Seite auszufechten. Und wenn uns das Glück weiter hold ist, werden wir die Nefraltiri und ihre Speichellecker bald zurück in ihr eigenes Universum treiben. Ich danke Ihnen beiden für Ihren Einsatz in diesem Krieg. Ich wüsste nicht, was ich ohne Ihren Rat getan hätte.« Die beiden Männer hoben ebenfalls ihre Gläser.

»Der Kampf wird bald vorbei sein«, beschied Carlo Rix. »Welche Seite der Gott des Krieges präferiert, das müssen wir sehen, sobald sich der Pulverdampf verzogen hat.«

2

Der Kampfverband unter Führung von Vizeadmiral Elias Garner führte einen Gefechtssprung nach Sultanet aus und fand sich praktisch vom ersten Augenblick an inmitten feindlicher Schiffe wieder. Es waren mehr als zweihundert.

Garners anfängliche Sorge wich schnell Verwunderung und wurde anschließend ersetzt durch Schadenfreude. Die Jagdkreuzer der Hinrady zeigten in der Mehrzahl keine Reaktion auf die Anwesenheit terranischer Schiffe. Nur einige wenige führten Manöver aus. Aber auch diese wirkten unkoordiniert und erinnerten keineswegs an die komplexen Taktiken, wie Hinrady sie normalerweise an den Tag legten.

Garner lächelte grimmig. »XO, Angriffsplan Omega ausführen«, war alles, was der Admiral von sich gab. Commander Harald Kessler nickte und gab die Anweisung mittels Pad an die Angriffsflotte weiter. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die Träger schleusten in schneller Folge Geschwader von Vindicators und Mammoth II aus, die sich professionell und diszipliniert zum Angriff formierten.

Die Großkampfschiffe nahmen parallel den Kampf auf. Die terranischen Besatzungen ließen ihrer Wut freien Lauf. Geschützpforten öffneten sich und Torpedos sowie Raketen regneten auf den nahezu wehrlosen Gegner. Ein Lichtgewitter Tausender Energiewerferbatterien fuhr durch die feindlichen Schiffe und schnitt tief in die Panzerung.

Die Hinrady leisteten – wenn überhaupt – nur sporadische Gegenwehr. Vereinzelt wurde das Feuer erwidert, doch es richtete kaum Schaden an. Die republikanischen Einheiten jedoch kannten weder Gnade noch Zurückhaltung. Innerhalb kürzester Zeit brachen die Kampfschiffe unter schwerer Jäger- und Bomberdeckung zum Planeten Sultanet durch. Sie hinterließen dabei einen Friedhof zerstörter Hinradyschiffe. Explosionen blühten im Sekundentakt auf. Garners Verbände gingen kein Risiko ein. Die Verschlagenheit der Primatenkrieger war ihnen noch lebhaft in Erinnerung. Daher ließen sie kein Feindschiff auch nur halbwegs intakt hinter sich zurück. An jenem Tag büßten die Sklaven der Nefraltiri für den Mord an unzähligen unschuldigen Menschen und Drizil.

Die Schlacht, falls man sie denn so nennen wollte, dauerte weniger als dreißig Minuten. In diesem Zeitraum verloren die Hinrady fast zweihundertfünfzig Schiffe. Die Terraner büßten lediglich drei Jäger und einen Bomber ein. Das war alles. Garner konnte sein Glück kaum fassen. Die Offensive verlief glänzender, als selbst die positivsten Prognosen vorhergesagt hatten.

Die Flotte stieß zum Hauptplaneten vor, der von einer Kampfgruppe aus etwa dreißig noch funktionstüchtigen Jagdkreuzern mit offenbar nicht infizierten Hinradybesatzungen verteidigt wurde.

Garner schüttelte leicht den Kopf. Es gab eine klar definierte Grenze zwischen Mut und schierer Sturheit. Die Hinrady mussten wissen, dass sie nicht die geringste Chance hatten. Dennoch hielten sie im Namen ihrer Meister die Stellung bis zum bitteren Ende.

Garner und dessen Gefolge war dies nur recht. Sie hatten nicht die geringste Absicht, Nachsicht walten zu lassen. Dafür bestand auch kein Grund nach allem, was geschehen war.

Die Hinrady schleusten ihre Jäger aus und diese bildeten vor der eigentlichen Formation eine Abwehrlinie.

Garners Verband verfügte über zwölfhundert Schiffe und konnte Hunderte Jäger ins Gefecht werfen. Der Admiral neigte nicht zu Arroganz oder Überheblichkeit, nicht wenn es darum ging, einen Feind einzuschätzen. Doch dieses Mal war er von vornherein sicher, dass der Ausgang der Konfrontation bereits feststand.

Master Sergeant Tian Chung hörte, wie sich irgendwo hinter ihm jemand lautstark übergab. Die Geräusche waren nicht dazu angetan, seine eigene Übelkeit zu ignorieren.

Rinaldi hatte ihm die strikte Order gegeben, die Hände vom Alkohol zu lassen. Und … nun ja … Tian war in dieser Hinsicht nicht unbedingt der folgsame Typ. Sein Hals fühlte sich an wie ein Reibeisen und sein Kopf dröhnte, als wäre ein Hochgeschwindigkeitszug darüber hinweggerollt.

Die Legionäre saßen eingezwängt in ihren Sitzen an Bord des Truppentransporters. Zu Tians Rechter saß Nico Keller und zu seiner Linken Antonio Jimenez. Der deutliche Verdacht überkam ihn, Rinaldi hatte die beiden Soldaten dazu angestiftet, für Tian die Kindermädchen zu spielen. Er wusste nicht, ob er darüber insgeheim erleichtert oder doch eher sauer reagieren sollte.

Um sich abzulenken, klinkte Tian sich in die Helmkamera des Piloten ein. Dieser besaß einen ungehinderten Blick auf die Geschehnisse außerhalb des Truppentransporters.

Im ersten Moment, nachdem die Verbindung etabliert war, spürte der Sergeant eine Sekunde der Desorientierung. Sie legte sich aber schnell und Tian fand sich inmitten einer blutigen Schlacht wieder.

Knapp oberhalb des Cockpits des Transporters zog ein Dreadnought majestätisch vorüber, den er als die Sir Francis Drake identifizierte.

Garners Flaggschiff bezog eine Position zwischen den angreifenden Truppentransportern und den noch aktiven Hinradyeinheiten. Während Tian zusah, zerlegten die Bordgeschütze des Kriegsschiffes nacheinander drei feindliche Jagdkreuzer. Nach einer oberflächlichen Begutachtung bemerkte Tian, dass sich in unmittelbarer Nähe des Orbits keine feindlichen Einheiten mehr befanden, die über Bedrohungspotenzial verfügten. Dafür gab es eine Menge Trümmer. Viele davon waren noch als Teile feindlicher Schiffe identifizierbar.

Weitere terranische Einheiten nahmen nahe dem Orbit Gefechtsstellungen ein, um den Planeten zu sichern. Widerstand gab es zu diesem Zeitpunkt kaum noch. In der Ferne konnte Tian das Aufblitzen von Geschützfeuer und Laserentladungen ausmachen. Teile terranischer Verbände waren dabei, den Gegner vor sich herzutreiben. Oder besser gesagt das, was von den hiesigen Wachgeschwadern noch übrig war. Wenn es am Boden genauso aussah, würde dies eine extrem kurze Offensive werden.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, vernahm er plötzlich eine bekannte Stimme in seinem Helm.

»Major«, grüßte er Rinaldi in rauem Tonfall. Der Kohortenkommandeur hatte sich unbemerkt in seine Verbindung eingeklinkt. »Ähm … ja«, ging der Sergeant erst danach auf den Kommentar seines Befehlshabers ein. »Sehr beeindruckend. Haben wir Informationen, wie es auf dem Boden aussieht?«

»Keine verlässlichen«, gab Rinaldi zu. »Aber wenn das Virus dort genauso gehaust hat wie unter diesen Besatzungen, dann hat das Ganze wenig mit einer Schlacht, sondern vielmehr mit Aufräumarbeiten zu tun.«

Tian schnaubte, was Rinaldis Zögern zur Folge hatte. Wie alle hatte auch Tian mittlerweile zumindest Gerüchte über das von Cest entwickelte Virus gehört. Er war aber nicht ganz sicher, was er davon halten sollte und wie viel Wahrheitsgehalt in den Gerüchten steckte.

»Sie sind nicht mit der Vorgehensweise einverstanden?«, hakte der Major nach.

Tian dachte eine Weile über die Frage seines Kommandanten nach. »Doch, schon. Ich frage mich nur ernsthaft, ob es wirklich derart einfach sein kann. Ich warte die Ganze Zeit darauf, dass die Flohteppiche noch ein letztes Ass aus dem Ärmel ziehen.«

»Auch denen muss irgendwann mal das Glück ausgehen. Und wir brauchen einen Vorteil, um diesen Krieg endlich zu gewinnen.«

Tian dachte an Francine zurück. Die Wut hielt ihn fest in seinem Griff. Er hörte immer noch das Knacken ihrer Knochen über Funk, als sie sich im unerbittlichen Griff ihres Peinigers befunden hatte. Und seine Stellvertreterin war nur eines von vielen, vielen Opfern, die dieser Krieg gefordert hatte. Es wurde wirklich allerhöchste Zeit, ihn zu einem Ende zu bringen. Und Tian war überaus stolz, Teil dessen sein zu dürfen.

Ein Energiestrahl fegte von der Oberfläche herauf und trennte einen Truppentransporter sauber wie mit einem Skalpell in der Mitte durch. Beide Bruchstücke fielen an Tians Schiff vorbei Richtung Oberfläche. Legionäre und Ausrüstung stürzten aus dem Wrack heraus.

»Anscheinend sind einige Hinrady noch übrig«, meinte Rinaldi. Dessen Stimme hörte sich seltsam kühl und unbeteiligt an. Tian fragte sich, ob er sich für andere auch derart abgeklärt eiskalt anhörte. Vielleicht. Unter Umständen brachte das der Krieg so mit sich.

Weiteres Abwehrfeuer schlug den angreifenden terranischen Bodentruppen entgegen, jedoch wesentlich weniger, als es Piloten und Legionäre von früheren Operationen her gewohnt waren. Der Pilot von Tians Transporter schaltete für einen Moment den Antrieb vollständig aus und ging mit dem Schiff in den freien Fall über, um dem Gegner das Zielen zu erschweren.

Tians Magen machte einen Satz. Diesen Teil einer Landeoperation hasste er am meisten. Man wusste nie, würde der Sturz enden oder mit dem Aufprall auf dem Boden einhergehen. Doch auch dieses Mal ging alles glatt. Erst wenige Hundert Meter über dem Boden fing der Pilot den kontrollierten Absturz auf, indem er den Antrieb reaktivierte und auf vollen Gegenschub ging. Der Rest war nur noch Routine.

Das Schiff sank sanft herab, bis es knapp fünf Meter über dem Boden schwebte. Die Luken gingen zischend auf.

Rinaldi erhob sich und nahm das Nadelgewehr auf. »Zeit, dass wir unseren Sold verdienen. Und wollen wir hoffen, dass dies der Anfang vom Ende für die Nefraltiri und ihre Gefolgsleute sein wird.«

Die erste terranische Einheit, die nach dem Fall von Sultanet wieder den Fuß auf den Boden des republikanischen Planeten setzte, war die 5. Fernaufklärungslegion unter dem Kommando von Lieutenant Colonel Amanda Carter.

Es gab keinen nennenswerten Widerstand. Nichts, was man in diese Kategorie einordnen mochte. Carter machte ein paar vorsichtige Schritte und wunderte sich im selben Moment, warum der Boden unter ihren Stiefeln knirschte. Sie sah nach unten und erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf den Leichen von Jackury stand. So weit das Auge reichte, war die Ebene übersät mit den toten Insektoiden. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, es handele sich um ein gigantisches Schlachtfeld. Nur, dass es keinerlei Anzeichen von Waffeneinsatz gab. Die Jackury, so schien es, waren schlichtweg tot vom Himmel gefallen.

Carter gab ihren Leuten mittels Handzeichen Befehle und die Legionäre der 5. FAL schwärmten gehorsam aus, ständig mit einem Hinterhalt rechnend. In der Ferne zeichneten sich die Ruinen der Stadt Orel ab. Die Metropole hatte furchtbar gelitten. Carter erinnerte sich noch gut. Ihre Legion hatte bei der Verteidigung geholfen. Es war eine der Städte gewesen, die man mit knapper Not hatte zum überwiegenden Teil evakuieren können, bevor sie an den Feind gefallen waren. Nicht alle Bevölkerungszentren Sultanets hatten dieses Glück gehabt.

Weitere Truppentransporter landeten. Die republikanischen Legionen nahmen Aufstellung und schlossen sich dem Vormarsch an. Carter konnte sich nicht helfen, aber sie war irgendwie enttäuscht. Sie hatte sich die Rückeroberung Sultanets anders vorgestellt. In gewissem Sinne … ruhmreicher. Glanzvoller. Und vor allem hatte sie sich darauf gefreut, einige dieser Mistviecher eigenhändig ins Jenseits befördern zu dürfen. Nun blieb ihr Rachedurst ungestillt. Im Gegenzug musste man aber eingestehen, dass die Leben Tausender Legionäre geschont wurden, die andernfalls beim Sturm auf die feindlichen befestigten Stellungen ihr Leben gelassen hätten.

Sie passierten einige Positionen, die mit Hinrady bemannt waren. Auch diese waren leblos über ihren schweren Waffen zusammengesunken. Im Gegensatz zu den Jackury hatten diese Sklavensoldaten jedoch kein leichtes Ende gehabt. Die Körper der Primaten sahen aus, als hätten sich die Krieger in Todeszuckungen die Panzer vom Körper geschält. Ihre Gliedmaßen wirkten seltsam verrenkt.

Carter betrachtete die Leichen nur mit mäßigem Mitleid. Ihrer Meinung nach war es nicht mehr, als diese völkermordenden Bastarde verdienten.

Mit einem wortlosen Befehl bedeutete sie ihren Leuten, die toten Hinrady auf Lebenszeichen zu untersuchen. Jeden einzelnen. Jackury waren der Täuschung nicht fähig, aber bei den Primaten musste man mit jeder Teufelei rechnen.

Carter sah nach oben, während weitere Schiffe voller republikanischer Soldaten landeten. Die Offizierin seufzte. Wenn alles weiter so glattging, würde der Planet noch vor Anbruch der Nacht vollständig gesichert sein.

Einer der Bunker erwachte zum Leben. Das schwere Raumabwehrgeschütz gab einen einzelnen kohärenten Strahl ab, der den Bunker für eine Sekunde mit einem republikanischen Transporter verband. Die Antriebssektion des Schiffes explodierte. Das Heck brach nach oben aus und die Schnauze des Transporters bohrte sich mit voller Wucht in den Boden. Cockpit und weite Teile der Mannschaftsabteile falteten sich zusammen, wie man es sonst nur von der Kunst des Origami her kannte. Nur Sekunden später explodierte der Frachter.

Legionäre entlang der gesamten Front gingen kollektiv in Deckung. Carter bedeutete ihrem Sergeant, einen Trupp zur Erstürmung des Bunkers zu führen.

Sergeant Daniel Thorpe verstand, was von ihm erwartet wurde. Er formierte einen Stoßtrupp, bestehend aus dreißig Mann, und griff den Bunker an, während der Rest der Legion Feuerschutz gab. Auf die feindliche Stellung prasselten unzählige Projektile ein. Carter aktivierte einen Befehlskanal.

»Hier Ghost eins-sechs! Ghost eins-sechs an Anflugüberwachung. Alle Schiffe in meinem Sektor umleiten. Aktive feindliche Raumabwehr. Ich wiederhole: Aktive feindliche Raumabwehr in meinem Sektor.«

Es antwortete ihr niemand, aber hoch über ihrem Kopf registrierte sie, wie die anfliegenden Truppentransporter urplötzlich abdrehten und schnell das Weite suchten, in der Hoffnung, das Schussfeld des Geschützes zu verlassen, bevor es wieder aufgeladen war.

Die Batterie feuerte erneut, traf aber nichts. Die Transporter hatten sich bereits zerstreut und flogen dabei fieberhaft Ausweichmanöver.

Thorpe hatte mittlerweile die Geschützpforte erreicht, aus dem die Laserbatterie ragte. Es handelte sich um die einzige Schwachstelle des Bunkers.

Carter beobachtete angespannt, wie ihr Sergeant einen Sprengsatz bereit machte und ihn mit einer weit ausholenden Bewegung ins Innere des Bunkers warf. Anschließend zog sich der Sturmtrupp eilig zurück. Nur Augenblicke später zerriss eine heftige Detonation Bunker, Geschütz und dessen Besatzung. Flammen leckten aus dem Inneren des zerstörten Gebildes.

Carter und die Legionäre erhoben sich wieder. Die Offizierin öffneten einen allgemeinen Kanal. »Lasst euch das allen eine Lehre sein. Auch wenn ein Flohteppich tot wirkt, heißt das noch lange nicht, dass er tatsächlich tot ist.«

Sie gab ihren Truppen mit einem Wink zu verstehen, dass es weiterging. Die Stadt Orel kam immer näher. Es dauerte kaum eine Stunde, bis sie die ersten Gebäude erreichten. Zu ihrer Überraschung fanden sich noch überall deutliche Spuren des Abwehrkampfes, den sie vor einem halben Jahr so verzweifelt geführt hatten.

Flashbacks der Kämpfe traten ungewollt vor ihr geistiges Auge. Und mit ihnen Gesichter von Männern und Frauen, die sie verloren hatte. Menschen, die sie geschätzt hatte und die nie wiederkehren würden. Die 5. FAL hatte fast die Hälfte ihrer Leute auf der Oberfläche von Sultanet gelassen.

Zu ihrer Rechten erhob sich unvermittelt ein totgeglaubter Hinrady. Der Flohteppich richtete sich zu voller, beeindruckender Größe auf, brüllte sie mit weit aufgerissenem Maul an und machte Anstalten, sie anzugreifen. Carter reagierte blitzschnell. Instinktiv fuhr sie ihre rechte Armklinge aus, wirbelte um die eigene Achse und schlug dem Hinrady den Kopf von den Schultern, mitsamt dem klobigen Helm.

Der Körper stürzte ihr vor die Füße und sie betrachtete sowohl ihn als auch die blutverschmierte Klinge an ihrem rechten Unterarm wie etwas, das eigentlich nicht dorthin gehörte. Sie zog die Klinge zurück in die Scheide, ohne diese zu säubern.

Thorpe trat zu ihr. Er öffnete seinen Helm und betrachtete sie eine Weile mit seltsamem Gesichtsausdruck, bevor er die Lippen zu einem breiten Grinsen verzog.

»Und?«, wollte er wissen. »Fühlen Sie sich jetzt besser?«

Carter dachte einen Moment über die Frage nach und seufzte schließlich. »Geht so«, erwiderte die Offizierin lapidar.

Ein weiteres Geräusch ließ beide Legionäre mit angelegten Waffen herumfahren. Carter warf ihrem Sergeant einen kurzen Blick zu. Dieser nickte. Er würde ihr Deckung geben. Die Legionärin tastete sich langsam vor. Das Geräusch kam von einem alten, halb ausgebrannten Schulbus, der am Straßenrand stand.

Besser gesagt, es kam von irgendwo unter dem Bus. Carter schloss ihren Helm und lud ihr Nadelgewehr durch. Sie vernahm, wie ein neues Projektil durch den Mechanismus in die Kammer geschoben wurde.

Sie zählte langsam bis drei, fiel auf die Knie und machte sich bereit, alles zu töten, was dort unten lauern mochte. Sie hielt mitten in der Bewegung inne. Carter hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

»Colonel? Alles in Ordnung?«, wollte Thorpe wissen.

Carter schüttelte den Kopf. »Das müssen Sie sich selbst ansehen.«

Der Sergeant hockte sich neben sie nieder und folgte dem Blick seiner Vorgesetzten. »Das glaube ich jetzt nicht«, keuchte er.

Carter nickte. Unter dem Bus kauerten zwei kleine Kinder. Sie klammerten sich ängstlich an einen Mann und eine Frau, bei denen es sich wohl um die Eltern handelte. Carters Blick glitt an den vieren vorbei. Der Straßenbelag war aufgerissen und damit der Weg in die Kanalisation freigelegt. Hinter der Familie waren weitere Zivilisten zu sehen. Allesamt ausgemergelt mit vor Furcht geweiteten Augen und kaum mehr als Lumpen am Leib. Viele standen am Rande der Unterernährung.

»Nehmen Sie sofort Kontakt zur Flotte auf«, ordnete Carter an. »Wir brauchen dringend Nahrung, Wasser, Medikamente und Hilfspersonal. Am besten auch noch ein paar Feldlazarette. Sagen Sie ihnen, es gibt Überlebende auf Sultanet.«

3

Der Hinradytrupp bewegte sich mit beeindruckender Vorsicht durch die Eiswüste von Tau’irin. Die Primatensoldaten rechneten zu jedem Zeitpunkt mit einem Hinterhalt. Ihre Disziplin war vorbildlich. Es half ihnen trotzdem nichts.

Der Boden unter den Hinrady explodierte förmlich und zwanzig Marines in Panzeranzügen brachen daraus hervor. Sie nutzten keine Nadelgewehre, um Munition zu sparen. Ihre Klingen sprangen aus den Unterarmschienen und wie eine Meute hungriger Hyänen fielen sie über ihre überraschten Gegner her. Der Kampf dauerte weniger als eine Minute, bis auch noch der letzte Hinrady am Boden lag. Das Blut der gegnerischen Krieger bedeckte dampfend den Schnee unter ihren Körpern.

Der Anführer der Marines gab ein kurzes Zeichen, einen einzelnen Impuls über das Komgerät. Die Überlebenden der Sevastopol