16,99 €
Geschichten, die uns die Augen öffnen für die unbekannten Seiten unserer Heimat.
Wenn Deutsche das Besondere und Exotische suchen, dann reisen sie in ferne Länder. Dabei müssten sie nur über den Zaun schauen, nur um die Ecke biegen, und schon würden sie die unglaublichsten Entdeckungen machen. Denn mitten in Deutschland findet man flüssiges Gold, kann sich in seltsame Tänze einreihen oder einer Krönung beiwohnen. Es ist erstaunlich, welch geheime Welt ans Licht kommt, wenn man sich den Deutschen mit so liebevoller Geduld und freundlicher Neugier nähert, wie Wladimir Kaminer es tut. Und weil er dazu noch einen besonderen Sinn für Humor hat, beobachtet er ebenso viel Erheiterndes wie Erstaunliches. Seine Geschichten über das geheime Leben der Deutschen öffnen die Augen für gänzlich unbekannte Seiten von Land und Leuten.
»Viele Menschen geben eine Menge Geld für Fernreisen aus, sie wollen Exotisches erleben, dabei verpassen sie das wahre Abenteuer vor der eigenen Haustür. Um die Welt zu verstehen, musst du nicht ihr Ende suchen, sondern die Stelle, wo sie anfängt.« Wladimir Kaminer
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wenn Deutsche das Besondere und Exotische suchen, dann reisen sie in ferne Länder. Dabei müssten sie nur über den Zaun schauen, nur um die Ecke biegen, und schon würden sie die unglaublichsten Entdeckungen machen. Denn mitten in Deutschland findet man flüssiges Gold, kann sich in seltsame Tänze einreihen oder einer Krönung beiwohnen. Es ist erstaunlich, welch geheime Welt ans Licht kommt, wenn man sich den Deutschen mit so liebevoller Geduld und freundlicher Neugier nähert, wie Wladimir Kaminer es tut. Und weil er dazu noch einen besonderen Sinn für Humor hat, beobachtet er ebenso viel Erheiterndes wie Erstaunliches. Seine Geschichten über das geheime Leben der Deutschen öffnen die Augen für gänzlich unbekannte Seiten von Land und Leuten …
Weitere Informationen zu Wladimir Kaminer sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches sowie unter www.wladimirkaminer.de.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Originalveröffentlichung August 2025
Copyright © 2025 by Wladimir Kaminer
Copyright © dieser Ausgabe 2025 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München unter Verwendung eines Autorenfotos von Dominik Butzmann
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ab • Herstellung: kh
ISBN 978-3-641-32610-4V002
www.wunderraum-verlag.de
Viele Menschen geben eine Menge Geld für Fernreisen aus, sie wollen Exotisches erleben. Dabei verpassen sie das wahre Abenteuer vor der eigenen Haustür. Um die Welt zu verstehen, musst du nicht das Ende der Welt suchen, sondern die Stelle, wo sie anfängt.
Wladimir Kaminer
Mein Lieblingsland
Was ist los in Göttingen?
Brandheiße News aus Baden-Baden
Walpurgis in Wernigerode
Hermanns Detmold
Das Dreckschweinfest in Hergisdorf
Bremens tolle Aussichten
Osten ohne Russen
Schuhplatteln und Dirndldrahn in Greimharting
Die Völker Hessens
Thüringens Dostoprimetschatelnosti
Die Kunst des Eierlegens auf Nordseeinsel
Bridschäbraad um Kaiserpfalz
Der Sinn des Lebens in Stuttgart 21
Auf Nutriajagd in Aurich
Panzer fahren in Mecklenburg-Vorpommern
Auf einen Schnack in Gurkenvenedig
Nebel malen in Worpswede
Die Künste des Schwarzwaldes
Die Hummertaube des heiligen Andreas
Hillesheim, die Krimihauptstadt Deutschlands
Essens Hochzeiten
Reinbeker Begegnungen
Zwischen Arnstadt und Holzhausen
Die Schwaben von Laichingen (eigentlich vom Polarkreis)
Die schönsten Blitzer Brandenburgs
Urlaub auf Hiddensee
Hafenfest in Wismar
Rügens Geheimnisse
Wer ist Berlin?
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mit den deutschen Volkshochschulen ein Projekt gestartet mit dem leicht irritierenden Titel »Traumland Deutschland«. Im Rahmen dieses Projektes sollten Menschen aus 32 Ländern, die nach Deutschland übergesiedelt oder geflüchtet waren, erzählen, was sie sich von ihrem Umzug versprochen und ob ihre Erwartungen sich erfüllt hatten. All diese Menschen lernten in Volkshochschulen Deutsch. Manche waren bereits weit fortgeschritten, andere lernten noch das Alphabet, doch es war allen klar: Ohne Sprachkenntnisse würden sie hier nicht weit kommen. Sie waren diszipliniert, fleißig und engagiert, was aber nicht hieß, dass sie gerne kooperierten.
Die Teilnahme an unserem Projekt war freiwillig, die Teilnehmer bekamen dafür nicht einmal eine bessere Note. Und doch haben viele ihre Geschichten eingereicht. Die meisten beschrieben, was an Deutschland falsch sei und was sie besser machen würden. Auf einmal bekam dieses Land, das ich so gut zu kennen glaubte, in meinen Augen eine ganze neue Dimension. Es war plötzlich ein Land mit tausend Gesichtern: Ein Libyer war davon fasziniert, dass die Züge in Deutschland immer pünktlich kamen, auf den Tag genau, und die Menschen trotzdem auf den Bahnhöfen schimpfen, wenn ihr Zug sich einige Stunden verspätete. »In meinem Land«, schrieb der Libyer, »kommen die Züge nie zu spät, weil es in meinem Land keine Züge gibt.«
Ein Syrer hatte als Jugendlicher in Damaskus das Magazin Deutschland in arabischer Sprache abonniert, eine Zeitschrift, die im Auftrag des Auswärtigen Amtes produziert und in 180 Ländern vertrieben wurde. Die Artikel darin hatte er nicht gelesen, er konnte damals kein Deutsch und sah sich nur die Fotos an. Er bewunderte die deutschen Burgen und Schlösser, die alten Mauern und Brücken. In seiner Vorstellung war dieses Land von Rittern und schönen Damen bewohnt, die aus kleinen Schlossfenstern ihren Verehrern zuwinkten. Als er zwei Jahrzehnte später wegen des Krieges nach Deutschland flüchtete, war er sehr enttäuscht, auf keine Ritter mehr zu treffen, auch die moderne deutsche Architektur entsprach nicht seinen Erwartungen. Die meisten Menschen in Deutschland wohnten nicht in Schlössern, sondern in kleinen grauen Häusern mit Fensterchen, durch die kaum eine Prinzessin schlüpfen konnte. Der Syrer hätte gerne Architektur studiert, um die fehlenden Schlösser zu bauen und das heutige Deutschland auf den Stand der gleichnamigen Zeitschrift von damals zu bringen.
Ein Inder ärgerte sich über Hundebesitzer in der Straßenbahn und über zu viele Ausländer. Eine Zugezogene aus Afghanistan meinte, Deutschland sei zwar ein absolutes Traumland, aber die rauchenden Frauen an öffentlichen Orten würden einem jeden Traum vergiften, das gehe gar nicht. Die Ukrainer und Russen beschwerten sich über den Müll auf den Straßen, und ein Brasilianer schrieb, er sei viel im Land herumgereist und zu dem Schluss gekommen, Deutschland sei aus seiner Sicht das perfekte Urlaubsland, total entspannt. Und das von einem Brasilianer! Wer hätte das gedacht.
Beim Lesen dieser Arbeiten verstand ich, dass ich Deutschland eigentlich überhaupt nicht kannte. Und so beschloss ich, meinen Urlaub ab sofort nur noch in Deutschland zu verbringen. Ich habe mehrere Jahre durchgehalten und viel über das Urlaubsland Deutschland gelernt. Warum fahren eigentlich Millionen Menschen jedes Jahr von hier weg? Sie sind leichtgläubig, sie denken, überall sei es besser, wo wir nicht sind. Sie schauen sich gerne Dokus über das Leben in fernen Ländern an, über Brasilien vielleicht, wo die Einheimischen angeblich das ganze Jahr über Karneval feiern, singen, tanzen und Zigarren drehen, weil sie sonst nichts zu tun haben. Zu Hause hingegen trampeln einem die Nachbarskinder auf dem Kopf herum, englische Geranien nicken auf den Balkonen, die Sonne kommt höchstens für zehn Minuten am Tag heraus und verzieht sich dann wieder.
Daraus entsteht diese verfluchte Reiselust, die uns aus dem Haus und ins Ungewisse treibt. Jahr für Jahr verlassen zigmillionen Deutsche ihre Heimat und fahren weit weg in den Urlaub, dorthin, wo Palmen wachsen, wo sich Menschen in farbenfroher Unterwäsche im Sand wälzen und ganze Horden zu lauter Musik rhythmisch mit dem Po wackeln. Dabei entgeht ihnen die schlichte Wahrheit, dass nicht Brasilien, sondern Deutschland ein Traumurlaubsland ist. In jeder Region, an jeder Ecke gibt es hier Sehenswürdigkeiten, Landschaften und Attraktionen für Groß und Klein in einer Vielfalt, die kein Palmenland zu bieten hat, die aber von vielen vorschnell auf Spreewaldgurken und Schloss Neuschwanstein reduziert werden.
Ich würde eine deutsche Urlaubsreise im Osten beginnen. Fahrt doch einmal an der Oder entlang, ans Oderhaff, in Richtung Schwedt. Alle Kinder der DDR kamen dort einmal durchs Oderluch. Und wer einmal durchs Oderluch kam, der lächelt nicht in der Karibik. Ihr werdet es euer Leben lang nicht vergessen. Man kann von dort aus nach Polen oder Tschechien fahren, aber da wollen wir gar nicht hin, das ist ja Ausland. Wir fahren lieber nach Cottbus in den Fürst-Pückler-Park, den schönsten Park der europäischen Aufklärung, wo Natur und Kultur einander guten Tag sagen. Von dort geht es weiter nach Görlitz, Weißwasser und zur Glaspyramide, aus der man, einmal eingetreten, nie wieder herausfindet. Dann nach Senftenberg zur Skihalle, wo man das ganze Jahr über Ski fahren kann, und keiner schaut zu. Der Ort ist besonders gut für Menschen geeignet, die sehr lange nicht oder überhaupt noch nie Ski gefahren sind.
Und wem es dort auf Dauer zu kalt wird: eine halbe Stunde Fahrt durch den Spreewald, wo die Riesengurken wachsen, und schon ist man in den Tropen. Wer im Tropical Islands einmal Pommes mit Mayo gegessen hat, muss nie nach Brasilien fliegen. Hier, auf einem ehemaligen sowjetischen Flugplatz in einer ehemaligen Luftschiffhalle, entstand mit Schweiß und harter Arbeit ein Paradies wie ein Garten Eden, nur besser: Palmen, Sand und warmes Wasser, dazu eine typisch tropische Küche: Würstchen, Pizza, Pasta mit Tomatensauce – und alle Mitarbeiter sprechen gut Deutsch. Früher gab es manchmal Beschwerden, weil man hier im Winter kalte Füße bekam, denn nach den Gesetzen der Physik steigt warme Luft dummerweise schnell nach oben. Aber dank moderner Technik haben die Betreiber dieses Problem inzwischen gelöst. Es zieht nicht einmal mehr in den deutschen Tropen, die Temperatur ist stabil, das Wetter immer gut, das Wasser angenehm und die Sauna gleich nebenan. Und wenn man ganz oben durch die Kuppel schaut, sieht man die beiden berühmten Brandenburger Wolken: eine kleine und eine große, sorgfältig wie von menschlicher Hand aus schneeweißem Papier geschnitten und auf den Himmel geklebt. Im Volksmund nennt man die zwei liebevoll »Hase und Wolf«.
Einmal fragte ich auf Facebook meine Leserinnen und Leser, wo sie in Deutschland gerne Urlaub machen würden, und bekam auf Anhieb viertausend Kommentare.
»Die Röhn bitte nicht vergessen, das Land der offenen Fernen! Wunderschöne Wanderwege in unvergleichlicher Natur und kulinarische Highlights laden zum Verweilen ein!«
»Kommt doch mal nach Koblenz, fahrt mit der Seilbahn zur Festung Ehrenbreitstein und schaut von dort oben aufs Deutsche Eck, wo Rhein und Mosel zusammenfließen.«
»Im Schwarzwald, meiner Heimat, haben wir eine unglaublich schöne Landschaft, nette Menschen und super Essen zu bieten. Da hier viele echt krassen Dialekt können (Deutsch ist aber meist auch kein Problem), kann man sich sogar wie im Ausland fühlen.«
»Manchmal habe ich den Eindruck, keine Sau kennt den Hunsrück! Dichte Wälder, wunderschöne Wanderwege (Stichwort: Traumschleifen!), tolle Ausflugsziele und, und, und … ach ja, und super Motorradstrecken!«
»Nichts ist mit dem Vogtland zu vergleichen«, schrieb jemand.
»Die Gegend um Bad Tölz ist recht schön. Das fanden schon Thomas Mann, der hier vor dem Ersten Weltkrieg eine Villa besaß, und Dee Dee Ramone, Bassist der Ramones, der zum Teil seine Jugend hier verbrachte.«
»In der Pfalz nichts wie ab in die Weinberge, und man ist einfach glücklich. Mit Blick auf die deutsche Toskana.« Es gab wohl auch schon einen Riesenstreit, ob nun die Pfalz oder Rheinhessen die wahre Toskana Deutschlands sei.
»Besucht Nürnberg, die wunderschöne, geschichtsträchtige, mittelalterliche Stadt mit der Kaiserburg, den vielen Türmen, roten Ziegeldächern und Mauern, probiert fränkische kulinarische Schmankerl (Schäufele mit Kloß, Drei im Weggla oder Saure Zipfel), und genießt Kultur ohne Ende. Hier in Franken gibt es die größte Brauereidichte Europas und, wie Kenner behaupten, das beste flüssige Gold. Erholen kann man sich wunderbar bei einer Wanderung in der Fränkischen Schweiz mit ihren markanten Felsformationen und Höhlen …«
»Mein Geheimtipp: Hannover. Grüne Stadt, nicht zu groß, nicht zu klein, ein riesiger Stadtwald, in dem man (einigermaßen) sicher Fahrrad fahren kann, und Kultur satt.«
Vor meinen Augen entstand ein neues Deutschland. Jeder hielt seinen Heimat- oder Wohnort für die beste und größte Sehenswürdigkeit des Landes. Thüringen, ostfriesische Inseln und Saarland kamen auch nicht zu kurz. Ich möchte dieses Traumland besser kennenlernen, am besten jenseits der bekannten Touristenrouten, hinter die Kulisse schauen, wie die Menschen hier leben, am Meer, in den Bergen und im Wald, überlegte ich und fuhr los.
Manche Städte Deutschlands sehen zu jeder Jahreszeit leer aus, von der Bevölkerung verlassen. Wie oft bin ich schon einsam durch Fußgängerzonen gelaufen, immer in der Hoffnung, auf eine Ansammlung von Menschen zu treffen, vorbei an Geschäften, die nicht sonderlich einladend wirkten: Augenoptik, Hörgeräte, Apotheke, Sparkassenfiliale. Nirgendwo spielte Musik, kein Hund bellte, niemand bettelte. Nur aus der Ferne hörte man das monotone Brummen einer unsichtbaren Baustelle, und ein paar fette Tauben auf den Tischen vor einer Konditorei schauten mich misstrauisch an. »Was bist du denn für ein Vogel, und was machst du hier? Brauchst du ein Hörgerät? Suchst du eine neue Brille? Wenn nicht, dann nichts wie weg hier.«
Es gibt aber auch Städte in Deutschland, die zu jeder Jahreszeit überbevölkert wirken. Und damit meine ich nicht nur Berlin oder Hamburg. Zu diesen Städten gehört beispielsweise Göttingen, die Stadt der Wissenschaft, die immer voll ist und das nicht nur mit Wissenschaftlern. Möglicherweise hat es damit zu tun, dass dort viele Studenten leben, die ständig Besuch von ihren Eltern und weiteren Verwandten oder von anderen Studenten bekommen. Außerdem sind die Lebenshaltungskosten in Göttingen vergleichsweise niedrig, und die Menschen sind anderen Kulturen gegenüber tolerant. Auf jeden Fall haben die Göttinger ihre Fußgängerzone sehr menschenfreundlich konzipiert. Statt mit Hörgeräten und Versicherungen wird hier hauptsächlich mit Pommes, Eis und Bier gehandelt. Es ist jedes Mal ein Abenteuer, hier spazieren zu gehen. Das letzte Mal habe ich in der Fußgängerzone sogar unfreiwillig an einer politischen Demo teilgenommen, Menschen aus Belutschistan kennengelernt, beinahe Prügel bezogen und gegen ein Kind im Schach verloren. Und zwar alles gleichzeitig.
Es war ein Samstag mitten in einem sehr heißen Sommer, und in der Fußgängerzone konnte man sich kaum bewegen. Ein Eiscafé neben dem anderen und alle bis auf den letzten Stuhl besetzt. Eiscafés sind Saisongeschäfte, sie müssen in dem kurzen deutschen Sommer ihren Jahresumsatz machen, und wenn die Sonne scheint, geben sie alles. Also hatten sie Tische und Stühle mitten auf den Gehwegen platziert und sich inspirierende Eiskreationen ausgedacht, darunter auch Kugeln von der Größe eines Kinderkopfes. Im Eiscafé Claudio wurde der Eisbecher »Göttingen« in einer Art Wanne serviert, in der alle vorhandenen Sorten mit sämtlichen vorhandenen Saucen vermischt und als Krönung mit dem schokoladigen Schriftzug »Göttingen« versehen wurden – ein mächtiges und für 9,99 Euro gleichzeitig preiswertes Kunstwerk, das auf die Vielfalt der Stadt hinweisen sollte. Etliche Großfamilien mit vielen Kindern hatten sich diese Kreation bestellt, waren aber schnell damit überfordert. Die Kinder liefen schreiend mit »Göttingen« im Gesicht zum nahen Brunnen, um dort ins Wasser zu springen, und bekleckerten unterwegs einige Passanten, die kein Eis mochten und sich mutig wie Eisbrecher den Weg durch die Eis-Straße bahnten.
Am Brunnen veranstaltete der Schachverein ESV Rot-Weiß Göttingen an mehreren Tischen seine Aktionstage »Chess in the City«. Der Nachwuchs spielte mit Freiwilligen, um die Akzeptanz von Schach in der Bevölkerung zu steigern und neue Mitglieder für den Verein zu gewinnen. Perfekt, dachte ich, jetzt spiele ich eine Runde Schach mit der Jugend. Mein Gegner sah tatsächlich aus wie ein Kind, auch wenn ich mich nicht traute, ihn nach seinem Alter zu fragen. Vielleicht war er ein Wunderknabe, dachte ich. Man konnte sich am Brunnen sowieso kaum unterhalten. Die Eis-Kinder schrien, und aus der Parallelstraße wanderte eine Gruppe von Straßenmusikanten auf uns zu, die für ihren Wochenendauftritt ein recht seltenes Instrument gewählt hatten. Es waren drei Dudelsackspieler, die schräg und laut eine entfernt schottisch anmutende Volksmusik zum Besten gaben und die Eiscafé-Besucher damit noch mehr beunruhigten.
Ich begann das Spiel souverän mit der Skandinavischen Verteidigung, eine Eröffnung, die ich kurz zuvor meinem Sohn abgeguckt hatte. Dann wurden wir von Menschen mit Turbanen und in Schlafanzügen umzingelt. Es war eine sehr laute Demonstration, die sich durch die Fußgängerzone zog und mithilfe einer Lautsprecheranlage alle Dudelsäcke übertönte. Die Männer trugen Plakate mit kreuzweise durchgestrichenen Atombomben und skandierten etwas in einer Sprache, die in der Fußgängerzone anscheinend niemand außer ihnen selbst verstand. Sie blieben ebenfalls am Brunnen stehen und verteilten Flugblätter an die Eiscafé-Besucher. Ich nahm mir gleich einen ganzen Stapel, um damit die Reste des Eisbechers »Göttingen« von meiner Kleidung zu entfernen, und erfuhr nebenbei, wofür oder wogegen die Menschen mit Turbanen demonstrierten. Es ging um die Unabhängigkeit Belutschistans und seine Befreiung aus pakistanischer Herrschaft. Auf den Flugblättern stand, Pakistan habe unerlaubte Atomtests in Belutschistan durchgeführt, die den Zweck hätten, Belutschistans Bevölkerung auszurotten.
Aus Göttingens Fußgängerzone waren plötzlich sehr viele Menschen verschwunden, einige wenige hatten in Geschäften Deckung gesucht. Die Eiscafé-Besucher waren zwar durchaus mit den Demonstranten solidarisch, wussten jedoch nicht, wie sie von ihren Tischchen aus diese Ungerechtigkeit beseitigen konnten, und wirkten stark überfordert. Sie machten sich ja schon Sorgen, dass ihre mit Eis verschmierten Kinder im Brunnen ausrutschen könnten. Die Familienväter gingen also ihre Kinder suchen, und die Belutschen konnten nicht weiterlaufen, weil die Dudelsackspieler ihnen den Weg versperrten. Einer schubste einen anderen direkt aufs Schachbrett, unsere Partie wurde unterbrochen, die Polizei kam, und es entwickelte sich eine unangekündigte Performance von Lebendschach am Brunnen. Der Traum des ESV Rot-Weiß Göttingen wurde wahr: Das Schachspiel kam direkt zu den Menschen, und die Menschen kamen direkt ins Spiel. Alles vermischte sich – die Kinder, die Spieler und die Figuren.
Mit ein paar geschickten Eingriffen könnte man hier eine wunderbare Lebendschach-Partie inszenieren, überlegte ich. Die Kinder aus dem Eiscafé könnten die Bauern spielen, die Dudelsackmusikanten wären die Türme, die Polizisten die Läufer, und die Turbanträger könnten die Rolle der Springer übernehmen. Das Schwierigste beim Lebendschach war schon immer, die Rolle des Königs und der Dame zu besetzen. Wer könnte sie spielen?
Meine Heimat, die Sowjetunion, hatte seit ihrer Geburt durch die Revolution eine große Leidenschaft für Lebendschach als Massensport entwickelt. Die letzte große Partie hatte allerdings vor etwa hundert Jahren stattgefunden, 1924, gleich nach Lenins Tod. Achttausend Menschen waren dabei, als das Spiel auf dem zentral gelegenen Palastplatz in St. Petersburg, das gerade frisch in Leningrad umbenannt worden war, seinen Lauf nahm. Die Bolschewiken waren für ihre Vorliebe für riesige Massenveranstaltungen bekannt. An dem Lebendschach-Turnier von 1924 nahmen für die eine Seite die Matrosen der Roten Flotte in ihren weißen Paradeuniformen teil. Ihre Gegner waren Deputierte des Petrograder Regiments der Heimatverteidigung, die schwarze Uniformen trugen. Die Springer saßen auf echten Pferden und waren von der Reiterarmee abkommandiert worden. Als Türme benutzte man Artilleriegeschütze, die von Soldaten auf Befehl der Großmeister auf das Spielbrett gerollt werden mussten.
Die Schachparty wurde zwischen den damals weltberühmten Großmeistern Pjotr Arsenjewitsch Romanowski und Ilja Leontjewisch Rabinowitsch gespielt. Sie saßen auf Holzpodesten zu beiden Seiten des Schlachtfeldes und gaben ihre Spielzüge per Telefon durch. Das Problem war damals dasselbe wie jetzt in Göttingen: Wer spielte den König und wer die Dame? Die Figur des schwarzen Königs wurde in St. Petersburg von zwei roten Kommandeuren und einem Fähnrich gebildet. Die Dame war ein Mädchen in rotem Kleid, das eine Sichel in der Hand hielt. Für die Weißen spielten zwei Seekapitäne den König, die Rolle der Dame hatte die Ehefrau von Rabinowitsch übernommen. Die Partie dauerte fünf Stunden und endete mit einem Remis auf Vorschlag der Weißen. In Göttingen dauerte das Spiel gefühlt den ganzen Tag und endete mit dem Sieg der örtlichen Polizeikräfte.
Die künstliche Intelligenz, die in meinem Telefon lebt, bohrt mir permanent Löcher in den Kopf, ich solle mir dringend eine Newsticker-App besorgen, um »immer bestens informiert« zu sein. Die App lockt mit dem Versprechen, mir »die aktuellsten Nachrichten in Realzeit« zu liefern. Eine unverschämte Übertreibung. Aber wenn es um die Zeit geht, muss es immer die neue und natürlich die reale sein, und Nachrichten bitte stets brandheiß und aktuell. Dabei wird die Bedeutung der Zeit von der KI völlig überschätzt. Auch wir Menschen werden nicht aktueller, wenn wir jeden Tag Nachrichten in uns hineinstopfen, getrieben von Neugier und der Angst, etwas Wichtiges zu verpassen. Wir bekommen davon höchstens schlechte Laune oder werden womöglich sogar krank.
Zum Glück jagen die Menschen nicht überall der Aktualität hinterher. Baden-Baden zum Beispiel hat eine ganz eigene Zeitrechnung. Stundenpläne und Kalender sind hier bedeutungslos, von Newstickern ganz zu schweigen. Die Chance, in Baden-Baden etwas zu verpassen, ist gleich null. Die Stadt lebt im Grunde im Rhythmus von drei großzügig bemessenen Jahreszeiten: Es gibt den prächtigen Frühling, wo es heißt, alle ab in den Park, in den Rosengarten, auf der Lichtentaler Allee die Beete bestaunen und den Blumenduft genießen. Dann folgt der heiße Sommer, den man im Dahliengarten auf schattigen Bänken verbringt. Und zum Schluss kommt der nasse nachdenkliche Winterherbst, wo sich alle zum Aufwärmen in der Therme zusammenfinden. Die Menschen werden hier hundert Jahre alt und bemerken es nicht einmal. Sie stehen über der Zeit. Deswegen hat die Wanduhr im Alten Bahnhof keine Zeiger, und die Einheimischen tragen ihre Uhr am Handgelenk nur als Schmuck, sie schauen nie drauf. Wenn sie dann hundert Jahre alt werden, bekommen sie eine Erinnerungspostkarte aus dem Rathaus und werden »aktuell informiert«: Sieh an, wie die Zeit vergeht.
Auf mich wirkt Baden-Baden immer wie ein Magnet. Jedes Mal, wenn ich in der Nähe bin, muss ich die Stadt besuchen, um die Zeitlosigkeit dort auszukosten. Ich gehe in den Park, setze mich auf eine Bank und betrachte die vorbeiziehende Gesellschaft – den Gang, die Kleider und die Frisuren. Vor allem die Frisuren. In Baden-Baden sind nämlich selbst die Pudel besser frisiert als die Berliner, obwohl oder gerade weil wir in der Hauptstadt die höchste Friseurdichte Deutschlands haben. Besonders in den Bezirken Neukölln, Kreuzberg und Wedding sind unzählige Barbershops rund um die Uhr im Einsatz, wobei die Barbiere oft minderjährig sind oder zumindest sehr jung aussehen. Die Shops bieten ihnen die Möglichkeit, sich bei flexiblen Arbeitszeiten ein bisschen Taschengeld zu verdienen. Einen Maschinenschnitt zu erlernen, ist nicht schwer. Dazu werden Ohren- und Nasenhaare wie versprochen mit alten orientalischen Techniken, manchmal auch einfach mit den Fingern entfernt, schnell und günstig. Mein Sohn geht seit Jahren zu einem solchen Barbier und lässt sich für fünf Euro »die Kanten schärfen«.
Die Shops verbreiteten sich schnell über ganz Deutschland und erfreuten sich großer Beliebtheit, bis eines Tages mitten im Sommer eine Berliner Zeitung die Schock-Schlagzeile brachte: »Hautpilz nach Barbershop-Besuch!« Der investigative Journalismus, der immer da ist, wo es brennt, versetzte das ganze Land in Panik und zeigte mit dem Finger auf die Barbiere. Angeblich hatten die sorglosen Bartabschneider ihre Kämme und Klingen nur unregelmäßig gereinigt. Die Nachricht platzte in das deutsche Sommerloch wie eine Bombe. Ein Pilzexperte warnte im Spiegel-Gespräch vor einer Pandemie. Die Provinzblätter der anderen Bundesländer zogen schnell nach, die Schlagzeilen häuften sich. »Hautpilz im Landkreis Lüneburg«, »Die Pilzschleuder Thüringens«, »Auch in Mannheim juckt es«, »Bamberg ist vom Pilz befallen« und »Bochums Barbiere wehren sich gegen Generalverdacht«. Allein vom Lesen dieser Schlagzeilen fingen die Menschen an, sich am Kopf zu kratzen. Mein Sohn war erstaunt von der ungeheuren Macht, die diese Nachrichten über die Köpfe der Menschen ausübten. Plötzlich war er der einzige Kunde im Laden.
Nur in Baden-Baden blieb man ahnungslos. Zwei Tage genoss ich die Badische Zeitung beim Frühstück im Hotel Zum Hirsch mit einer Mischung aus Staunen und Interesse. In diesen zwei Tagen berichtete die Badische Zeitung über das abenteuerliche Leben einer entlaufenen Wachtel in Lahr/Schwarzwald. »Anwohner um Schlaf gebracht«, lautete die Überschrift: »Entlaufene Wachtel sorgt für Polizeieinsatz«. Das arme Hühnchen hatte die halbe Nacht gegurrt, sich aber sehr gekonnt vor der Polizei versteckt und den Beamten eine Verfolgungsjagd durch das ganze Städtchen geliefert. Es wurde am frühen Morgen jedoch gefasst und zurück in die Wachtelfarm »zu ihren Freunden« gebracht, wie die Badische Zeitung berichtete.