Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger - Wladimir Kaminer - E-Book
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Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger E-Book

Wladimir Kaminer

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Beschreibung

Neue Geschichten des SPIEGEL-Bestsellerautors
Wladimir Kaminer.


Trotz ihrer 84 Jahre erkundet Wladimir Kaminers Mutter munter die Welt und erlebt dank ihrer unersättlichen Neugier mehr Abenteuer als alle anderen Familienmitglieder – ob beim Englischlernen, beim Verreisen oder beim Einsatz hypermoderner Haushaltsgeräte. Dabei sammelt sie eine Menge Erfahrungen, die sie natürlich nicht für sich behalten, sondern an die nächste Generation weiterreichen möchte. Schließlich ist Wladimir mittlerweile in einem Alter, in dem man gute Ratschläge zu schätzen weiß und Erziehungsarbeit langsam sinnvoll wird. Wladimir folgt den Eskapaden seiner Mutter daher mit großem Interesse, allzeit bereit, etwas zu lernen. Und sei es nur, sich nicht von einer sprechenden Uhr terrorisieren zu lassen ...

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Buch

Trotz ihrer 84 Jahre erkundet Wladimir Kaminers Mutter munter die Welt und erlebt dank ihrer unersättlichen Neugier mehr Abenteuer als alle anderen Familienmitglieder – ob beim Englischlernen, beim Verreisen oder beim Einsatz hypermoderner Haushaltsgeräte. Dabei sammelt sie eine Menge Erfahrungen, die sie natürlich nicht für sich behalten, sondern an die nächste Generation weiterreichen möchte. Schließlich ist Wladimir mittlerweile in einem Alter, in dem man gute Ratschläge zu schätzen weiß und Erziehungsarbeit langsam sinnvoll wird. Wladimir folgt den Eskapaden seiner Mutter daher mit großem Interesse, allzeit bereit, etwas zu lernen. Und sei es nur, sich nicht von einer sprechenden Uhr terrorisieren zu lassen …

Weitere Informationen zu Wladimir Kaminer sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches sowie unter www.wladimirkaminer.de

WLADIMIR

KAMINER

Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger

Ein Unruhestand in 33 Geschichten

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Manhattan-Bücher erscheinen imWilhelm Goldmann Verlag, München,einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH1. AuflageErstveröffentlichung August 2016Copyright © 2016 by Wladimir KaminerCopyright © dieser Ausgabe 2016by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenDie Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, MünchenUmschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign München,unter Verwendung eines Autorenfotos von Urban Zintel © 2016Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-16396-9V001www.manhattan-verlag.de

Personen, Tiere und Geräte, die eine wichtige Rolle im Buch spielen:

Die Familie:

Meine Mutter

Meine Tante aus Kreuzberg (die Schwester meines Vaters)

Meine Tante aus Donezk (die Tochter der Schwester meines Großvaters)

Meine Oma aus Odessa (die Mutter meines Vaters)

Die jüngere Schwester meiner Mutter (lebt in Moskau)

Der Freundeskreis meiner Mutter:

Die Kommunisten-Oma (ehemals Dissidenten-Tante)

Die Musik-Oma (war mit einem Schwaben verheiratet)

Die Reise-Oma (hat viele Freunde beim Reisebüro »Vorwärts!«)

Die Putzfrau Nina aus Litauen

Die Mitbewohner meiner Mutter:

Die psychisch labile Jagdkatze Wassilissa (springt nachts vom Schrank)

Eine rotbeinige Schildkröte namens Lena (ein lebendiges Geburtstagsgeschenk)

Der ständig verliebte Staubsauger Wasja

Eine sprechende Gesundheitsuhr

Ein Fahrradtrainer mit vergifteten Griffen

Ein Fernsehgerät mit 120 Programmen

Alle Kapitel sind nach Wünschen und Träumen meiner Mutter benannt

Fernsehen

Englisch lernen

In Rente gehen

Auf die Gesundheit achten

Kreuzworträtseln

Geld ausgeben

Erwachsene Kinder erziehen

Kochen für den Frieden

Die Welt verstehen

Sich an früher erinnern

Träumen

Schildkröten sammeln

Für Handwerker Bier kaufen

London sehen

Schwimmen gehen

Ski fahren

Sich modisch anziehen

Kinder füttern

Sauber machen

Sich wundern

Stufen zählen

Um die Wahrheit streiten

Drehbücher lesen

Sich Sorgen machen

Sport treiben

Sich über Politik ärgern

Halloween feiern

Kehrwochen ablehnen

Gute Noten nach Hause bringen

Richtig übersetzen

Das Christkind retten

Salate machen

Spazieren gehenAutor

Fernsehen

Solange ich zurückblicken kann, haben sich meine Eltern gestritten. Zuerst dachte ich, sie täten es aus Besserwisserei, denn immer ging es darum, wer recht hatte. Als sie auch nach vierzig Jahren Ehe nicht aufhörten zu streiten, wurde mir klar, dass es möglicherweise um etwas anderes ging. Denn nach so langer Zeit sollte es wirklich jedem egal sein, wer recht hatte. Meine Frau behauptete, die Streitereien meiner Eltern seien eine Form von Liebe, eine extreme Form der Zuneigung, in der Zärtlichkeiten durch Anfeindungen ersetzt würden. Zum Glück hat meine Mutter das nicht gehört.

»Es war schon immer mein Traum, allein zu leben«, sagte meine Mutter entschlossen, nachdem mein Vater gestorben war. »Endlich kann ich die Ruhe genießen. Du weißt, dein Vater hat mich ein Leben lang terrorisiert. Wir passten überhaupt nicht zueinander. Er ging immer so früh schlafen, dass ich keine einzige Fernsehserie zu Ende schauen konnte. Jahrelang musste ich jeden Krimi an der interessantesten Stelle ausmachen. Ich weiß bis heute nicht, wer in ›Die Rückkehr des Spions‹ der Verräter war. Das Einzige, was deinen Vater im Fernsehen interessiert hat, waren die Nachrichten und Sport. Danach machte er das Licht aus und schnarchte. Ich wäre auch gerne ins Ballett gegangen – ach, wie großartig ist die Ulanowa in ›Romeo und Julia‹ über die Bühne geschwebt. Ich habe ja viele gute Tänzerinnen gesehen, die hoch springen und sich gut drehen konnten, aber alle liefen über die Bühne, als würden sie zu spät zum Zug kommen. Nur die Ulanowa lief mit Herz. Aber sogar wenn ›Romeo und Julia‹ im Fernsehen tanzten, lief auf einem anderen Programm jedes Mal ein verfluchtes Eishockeyspiel, die einzige Sendung, die deinem Vater den Schlaf raubte. Es passte nie.«

In der Tat waren meine Eltern Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Meine Mutter liebte frische Luft, mein Vater schätzte die Wärme. Meine Mutter machte stets alle Fenster auf, mein Vater machte sie wieder zu. Meine Mutter ging gerne spazieren, mein Vater saß lieber in der Sauna oder lag auf dem Sofa. Meine Mutter mochte Kartoffelpüree, mein Vater aß Kartoffeln nur gebraten.

Besonders schwierig war es am Wochenende, wenn Papa nicht zur Arbeit gehen musste. Er war ein lauter, streitsüchtiger Mensch. Er terrorisierte die Katze, sodass sie sich ständig unter dem Stuhl verstecken musste. Er terrorisierte die Tauben auf dem Balkon und die Nachbarn, aber in erster Linie seine Frau.

»Was hast du schon wieder gekocht! So etwas Ekliges essen doch normale Menschen nicht! Du kannst überhaupt nicht kochen!« Und so weiter und weiter.

Meine Mutter hat fast jedes Wochenende geweint.

Nach dem Tod des Vaters wurde es in der Wohnung erst einmal sehr still. Meine Mutter saß bis spät in die Nacht vor dem Fernseher. Alle Fenster waren offen, frische Luft strömte durch die Wohnung. Nach einer Weile kam auch die Katze unter dem Stuhl hervor und machte es sich auf den Knien meiner Mutter bequem. Ab und zu sprang das Tier jedoch herunter und lief zum Balkon, denn die Tauben waren zurückgekommen.

Meine Mutter erholte sich von fünfundvierzig Jahren Ehe. Sie ging spät ins Bett, schlief lange und gut. Doch dieses stille Leben war leider nicht von Dauer. Zwei Wochen nach seinem Tod erschien ihr Papa im Traum.

»Was hast du schon wieder gekocht«, wütete er, »Kartoffelbrei! Das sieht ekelhaft aus.«

Meine Mutter verteidigte sich, sie habe ja nur für sich selbst gekocht. Der Vater wollte ihr aber wie immer nicht zuhören und schimpfte weiter. Sie haben sich furchtbar gestritten. Im Traum hat meine Mutter ihrem verstorbenen Ehemann zum ersten Mal Böses gewünscht, obwohl er schon tot war und ihm niemand mehr etwas anhaben konnte. Seitdem erschien er regelmäßig in Mutters Träumen. Die Ruhe verschwand aus der Wohnung, die Katze versteckte sich wieder unter dem Stuhl, die Tauben flogen weg, und meine Mutter rief mich vormittags an, um zu erzählen, welche Frechheiten der Verstorbene sich dieses Mal wieder erlaubt hatte.

»Das ist wohl mein Schicksal«, meinte sie, »mit diesem Menschen bis ans Ende meiner Tage zu streiten.«

Meine Frau sah ihre Liebestheorie bestätigt: »Du siehst doch selbst, sie können ohne einander nicht leben. Was kann das sein, wenn nicht Liebe?«, meinte sie.

»Erzähl das bloß nicht meiner Mutter«, bat ich meine Frau.

Meine Mama brauchte unbedingt Ablenkung. In einer russischsprachigen deutschen Zeitung las ich einen Bericht über ein neues erfolgreiches Modell, um russisches Fernsehen in Deutschland zu empfangen. Das Signal sollte nicht per Kabel empfangen werden, denn niemand wusste, wo diese russischen Kabel am anderen Ende aus der Erde kämen, und auch nicht per Satellit, denn die russischen Satelliten änderten manchmal von allein ihre Laufbahn und zeigten statt der Nachrichten irgendwelche Schweinereien. Das Signal sollte daher übers Internet kommen. Kartina.TV versprach 160 Kanäle mit Filmen und Serien aus der Zeit, als meine Eltern noch jung gewesen waren.

Hoffnungsfroh schenkte ich Mama Kartina.TV zu Weihnachten – jedoch mit schlechtem Gewissen. In der letzten Zeit hatte sie sich immer wieder beschwert, sie würde zunehmen, weil sie jetzt nur noch das kochte, was ihr selbst schmeckte. Ich sagte ihr, sie solle sich eben mehr bewegen und weniger vor der Glotze sitzen. Jemandem mehr Bewegung zu empfehlen und gleichzeitig 160 zusätzliche Fernsehprogramme mit Spielfilmen zu schenken ist, das gebe ich zu, nicht wirklich hilfreich. Mir schien es jedoch wichtiger, dass wieder Ruhe in das Leben meiner Mutter einkehrte.

Die ersten zwei, drei Tage nahm meine Mutter Kartina.TVmit Misstrauen auf. Sie brauchte etwas Zeit, um festzustellen, mit welchem Knopf welches Programm zu finden war. Danach war sie vom Sofa nicht mehr wegzukriegen. Alles, was sie in ihren Ehejahren verpasst hatte, holte sie jetzt nach.

»Stell dir mal vor, sie haben sogar ›Die Rückkehr des Spions‹ gezeigt! Jetzt weiß ich, wer ihn verraten hat«, freute sich meine Mutter am Telefon. »Die Ulanowa haben sie in ›Romeo und Julia‹ und in ›Schwanensee‹ auf Vorrat in der Mediathek, diese Aufführungen habe ich mir schon drei Mal angeschaut. Sie haben einfach alles!«, freute sich Mama. »Sie haben sogar alle alten olympischen Winterspiele auf Speicher, sowjetisches Eishockey, wer hätte das gedacht? ›Das Wunder auf Eis‹ von 1980, als die Russen gegen die Amerikaner plötzlich drei zu vier verloren haben. Dein Papa hat damals furchtbar geschrien und wollte den Fernseher aus dem Fenster werfen. Ich schaue mir das Spiel natürlich nicht an, dein Vater hätte es aber sicher sehr gern noch mal gesehen.«

Seit Kartina.TV da ist, erscheint ihr Papa seltener im Traum. Und wenn, dann schimpft er nicht mehr, sondern sitzt mit einem beleidigten Gesicht auf dem Bett, schaut zur Decke, wartet und schweigt. Vielleicht hofft er insgeheim, dass sie sich einmal zusammen »Das Wunder auf Eis« von 1980 ansehen.

Englisch lernen

Im Frühling, wenn die Uhren auf Sommerzeit umgestellt werden und die Kastanienbäume in unserer Straße die ersten Blüten bekommen, werden in allen Volkshochschulen der Stadt die Anmeldungen für die nächsten Kurse gesammelt. Alle, die weiterlernen oder einen neuen Kurs absolvieren wollen, müssen diese Formulare ausfüllen.

»Ich weiß nicht, ob ich mich fürs nächste Jahr wieder anmelden soll, ich bin schon viel zu lange in dieser Gruppe«, zweifelte meine Mutter. »Die Lehrerin wird mich bestimmt schräg angucken, wenn ich im September wieder erscheine.«

Seit 23 Jahren lernte meine Mutter an der Volkshochschule Lichtenberg Englisch, immer in derselben Gruppe mit derselben Lehrerin und demselben Programm: present tense, present continuous, past perfect, unregelmäßige Verben, weiter nach dem Lehrplan. Mit 83 Jahren war sie die älteste Englischschülerin in der Klasse. Das war nicht immer so. Früher gab es ein paar ältere Kollegen, die inzwischen aber weggestorben sind. Einer hatte sich sogar während des Unterrichts verabschiedet – wegen Herzversagen. Eine furchtbare Geschichte.

»Und wie lange bleibt mir noch zu leben«, philosophierte meine Mutter. »Ich glaube nicht, dass ich dieses Studium jemals beenden werde. Das Leben ist zu kurz, um richtig Englisch zu lernen.«

»Natürlich musst du dahin gehen, nächstes und auch übernächstes Jahr«, riet ich ihr. »Eine Sprache zu lernen braucht eben ewig. Es geht ja nicht nur um Grammatik, sondern um die Praxis, um mit jemandem Englisch sprechen zu können. Außerdem diszipliniert nichts einen Menschen besser als das Studium fremder Sprachen. Sonst würde man gar keinen Grund finden, morgens aus dem Bett zu steigen.«

Meine Mutter beschwert sich häufig, sie würde sich zu wenig bewegen, und wenn, dann meistens nur zwischen Küche und Fernsehsessel. Doch jeden Mittwoch steht sie früh auf, macht sich eine aufwendige Frisur und fährt durch die halbe Stadt nach Lichtenberg: present tense, present continuous, past perfect, unregelmäßige Verben. Als Hausaufgabe bekommt sie ein bestimmtes englisches Buch, das sie zu Hause lesen und dann vor der Gruppe mit eigenen Worten nacherzählen soll. Einen Krimi von Agatha Christie zum Beispiel, die Geschichte eines gescheiterten Banküberfalls. Meine Mutter muss sich dabei nicht allzu sehr anstrengen, denn die meisten Agatha-Christie-Romane hat sie bereits als junger Mensch in der Sowjetunion im Original gelesen. Sie lernte nämlich schon damals Englisch. Ihre Begeisterung für diese Sprache hatte sie an dem Tag entdeckt, als der amerikanische Präsident John Kennedy erschossen wurde und die Bilder dieser Tragödie um die Welt gingen. Meine Mutter hatte den Erschossenen zu dessen Lebzeiten sehr sympathisch gefunden. Er war oft im sowjetischen Fernsehen gezeigt worden, hatte ein unwiderstehliches Lächeln und direkt, aber unverständlich geredet.

Nach seiner Ermordung beschloss meine Mutter spontan, Kennedys Muttersprache zu lernen. Sie begann zuerst autodidaktisch englische Lehrbücher zu studieren, später machte sie in einer Sprachschule weiter. Sie entdeckte in Moskau einen Buchladen mit englischsprachiger Literatur, las alle Agatha Christies weg und dazu noch ein paar Liebesromane unbekannter amerikanischer Autoren. Ihre Englischkenntnisse hätten ihr im Leben oft geholfen, erzählte sie. Als sie nach einem Streit von ihrer Mutter wegziehen wollte und dringend Geld für den Umzug und für eine eigene kleine Wohnung brauchte, bekam sie den Job, technische Texte aus dem Englischen ins Russische zu übersetzen. Es ging um Nebelvertreibung auf Flughäfen. Mit dem Geld, das sie für diese Übersetzungen bekam, konnte sie ein neues Leben beginnen.

Als sie in den Neunzigerjahren nach Berlin zog, fing sie an, von Deutschland aus die Welt zu erkunden. Sie reiste viel und gerne in fremde Länder: nach Spanien, Frankreich und in die Türkei. Überall verwendete sie ihre Englischkenntnisse als Mittel zur Kommunikation. Mit Erfolg. Erstaunlicherweise war meine Mutter bis dahin noch nie in England gewesen und hatte noch keinen einzigen Engländer kennengelernt oder gesprochen. Sie hatte London zwar schon immer besuchen und auf dem Trafalgar Square spazieren gehen wollen, doch die Reise war immer wieder verschoben worden.

Einmal stand sie kurz davor, zusammen mit ihrer Schwester, die aus Moskau nach Berlin zu Besuch gekommen war, den Ärmelkanal zu überqueren. Die beiden Frauen hatten eine preisgünstige dreitägige Busreise erworben, ein Besuch im Buckingham Palast wurde geplant sowie ein Spaziergang auf oben erwähntem berühmtem Platz. In Calais stellten sie jedoch fest, dass das Visum der Schwester, für Deutschland und Frankreich gültig, auf britischem Boden nicht galt. Meine Mutter konnte ihre Schwester in Calais nicht allein lassen, und so verbrachten die beiden die halbe Nacht in einem leeren Stadion auf einer Bank mit einer Flasche Wein. Sie hatten keinen Korkenzieher dabei, aber zum Glück konnte meine Mutter ja Englisch. Sie wusste, was Korkenzieher auf Englisch hieß, und bat einen vorbeijoggenden Franzosen um Hilfe. Am nächsten Morgen holte der Bus die zwei Schwestern ab und brachte sie zurück nach Berlin.

Den Traum einer Londonreise hatte meine Mutter auch danach noch, denn sie wollte endlich einmal mit einem Muttersprachler reden und nicht nur mit Ausländern oder Freunden in der Volkshochschule. Im nächsten Kurs wollte sie sich etwas mehr Mühe im Unterricht geben und dann noch einmal den Versuch einer Reise auf die Insel wagen.

Meine Tochter, die auf ein Sprachgymnasium geht und bereits etliche Engländer im Zuge eines Schüleraustauschs kennengelernt hat, versuchte mehrmals mit ihrer Oma Englisch zu reden – vergeblich. Sie behauptet nun steif und fest, Omas Studium sei ein Fake, ein bloßer Zeitvertreib, in Wirklichkeit könne Oma überhaupt kein Englisch. Die Oma behauptet dasselbe von ihrem Enkelkind. Ich selbst beherrsche diese Sprache nicht, ich weiß nicht, ob ich dem Kind glauben soll. Einerseits habe ich mehrmals englische Bücher auf dem Schreibtisch meiner Mutter gesehen, andererseits weiß ich nicht nur vom Hörensagen, dass es auf russischen Flughäfen zu jeder Jahreszeit sehr nebelig ist.

In Rente gehen

Meine Mutter ist vor dreißig Jahren in Rente gegangen, weil Frauen in der Sowjetunion schon mit 55 Jahren in Rente gehen durften. Sie hat damals keine Sekunde gezögert, denn sie mochte ihre Arbeit nicht. Sie war in ihren letzten Arbeitsjahren Lehrerin für Festigkeitslehre und Mechanische Maschinenteile an einer technischen Schule gewesen. Die jungen Studenten hatten aber nichts von mechanischen Maschinenteilen wissen wollen, stattdessen interessierten sie sich für die Körperteile ihrer Mitschülerinnen, spielten der Lehrerin Streiche und hörten ihr überhaupt nicht zu. Die Rente nahm meine Mutter als längst ersehnte Steigerung der Lebensqualität wahr.

Meine Schwiegermutter war noch früher, mit fünfzig Jahren, Rentnerin geworden. Sie hatte als Geologin auf Sachalin gearbeitet. Dort galt eine besondere Regelung: Nach dreißig Jahren Arbeit durfte jeder in Rente gehen, egal wie alt er war. Und jeder, der sich bereit erklärte aufzuhören, bekam als Prämie zehn Monatsgehälter mit auf den Weg.

Für viele andere war es jedoch eine Tragödie, nicht mehr zu arbeiten. Ich denke, die ganze Menschheit teilt sich in dieser Frage in zwei Gruppen. Die einen glauben, Arbeit wirke lebensverlängernd, die anderen meinen, die Rente tue es. Die einen träumen bereits in der Schule davon, so schnell wie möglich die aktive Arbeitsphase hinter sich zu lassen, die anderen sehen allein in ihrer Arbeit die Rettung vor dem Altwerden.

Auch in Deutschland kenne ich glückliche Frührentner und Menschen, die bis zum letzten Atemzug arbeiten wollen. Seit vielen Jahren geht meine Mutter zu demselben Arzt, zu Herrn Doktor Vogel. Doktor Vogel gehört zu der zweiten Gruppe. Er war schon vor zwanzig Jahren der älteste Spezialist im Ärztehaus, aber mein Sohn geht noch heute zu ihm, wenn er eine Schulbefreiung haben will. Bei Doktor Vogel muss man nie lange im Warteraum sitzen: Nach einer Minute verlassen die Patienten sein Zimmer, und die meisten sehen gesund aus. Ich habe mir das Erfolgskonzept von Doktor Vogel früher durch seine enorme berufliche Erfahrung erklärt. Einmal war ich mit einer kleinen Beschwerde bei ihm. Ich hatte eine Überreaktion auf Mückenstiche, die Stellen waren unnatürlich groß geworden und strahlten lila. Ob er so etwas schon mal gesehen habe, fragte ich Dr. Vogel. Er sagte nichts, lächelte mich nur an. Junger Mann, las ich in seinen Augen, ich habe Schlimmeres gesehen, da warst du noch nicht einmal geboren. Ich verkniff mir weitere freche Fragen.