Liebeserklärungen - Wladimir Kaminer - E-Book

Liebeserklärungen E-Book

Wladimir Kaminer

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Beschreibung

Nichts bietet mehr Stoff für Komik, Dramen und Hochgefühle als die Liebe. Egal ob es um Teenager geht, die einen Rockstar anhimmeln, bis die Illusion vom coolen Held an der Realität zerschellt. Oder ob das perfekt geplante romantische Date daran scheitert, dass der Angebetete sie dank einer Fußballübertragung schlicht verpasst. Aber natürlich gibt es auch Happyends und glückliche Verbindungen, die ein Leben lang halten. Von den zahllosen Facetten der Liebe weiß Wladimir Kaminer ein Lied zu singen – und viele Geschichten zu erzählen: witzig, staunend und immer mit liebevollem Blick für die Schwächen des menschlichen Herzens.

Weitere berührende Wunderraum-Geschichten finden Sie in unserem kostenlosen aktuellen Leseproben-E-Book »Einkuscheln und loslesen – Bücher für kurze Tage und lange Nächte«

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Buch

Nichts bietet mehr Stoff für Komik, Dramen und Hochgefühle als die Liebe. Egal ob es um Teenager geht, die einen Rockstar anhimmeln, bis die Illusion vom coolen Helden an der Realität zerschellt. Oder ob das perfekt geplante romantische Date daran scheitert, dass der Angebetete sie dank einer Fußballübertragung schlicht verpasst. Aber natürlich gibt es auch Happy Ends und glückliche Verbindungen, die ein Leben lang halten. Von den zahllosen Facetten der Liebe weiß Wladimir Kaminer ein Lied zu singen – und viele Geschichten zu erzählen: witzig, staunend und immer mit liebevollem Blick für die Schwächen des menschlichen Herzens.

Weitere Informationen zu Wladimir Kaminer sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches sowie unter www.wladimirkaminer.de.

»Wenn die Liebe erwacht,

stirbt das Ich, der dunkle Despot.

Lass ihn sterben in der Nacht,

und atme frei im Morgenrot.«

Rumi

Inhalt

Das Mädchen mit dem Hut

Liebe, Freundschaft und Partnerschaft durch Selbstheilung

Der blaue Elefant

Pinguine an der Ostsee

Die Liebe in den Zeiten des Internets

Der Anwalt und die Diddl-Mäuse

Adam und Eva

Schwarze Katze

Rückkehr nach Ägypten

Liebe auf Französisch

Sommerferien in Alaska

Der Mönch und die Flasche

Drei Schwestern

Russische Weihnacht

Der wahre Zweck der sogenannten Pyramiden

Liebeserklärung an die Russen

Die schöne Elena

Eva und die Seemänner

Alle lieben Yoga

Unglückliche Schwester

Der Perückenmacher

An die unbekannte Schönheit

Das Märchen

Die Entführung der Braut in der Blutmondnacht

Der Alzheimer

Der perfekte Mann

Schlafwandeln

Heiratsgewohnheiten verschiedener Völker

Anleitung zum Unglücklichsein

Walgesänge von Leopold

Vegan für Einsteiger

Nett anbaggern

Frau Müller

9 ½ Wochen

Das Mädchen Christina und der Schwanz-Martin

Odessa, die Stadt der Liebe

Das höfliche Schweigen des Universums

Das Mädchen mit dem Hut

Wenn die Liebe nicht mehr von Herzen kommt, wird sie obdachlos. Manchmal geistert sie noch eine Weile als peinliche Erinnerung durch den Kopf des Opfers und verursacht dort ein seltsames Kribbeln, bevor sie sich endgültig im schwarzen Universum der Gleichgültigkeit auflöst.

Lea, die beste Freundin meiner Tochter, kam extra aus Lüneburg, wo sie Nachhaltigkeitshumanwissenschaft studierte, zu uns nach Berlin, um das Konzert ihrer Lieblingsband The Libertines zu hören. Von meiner Tochter wusste ich bereits, dass Lea schwer in den Sänger dieser Band verknallt war. Peter Doherty, das anarchische Babyface mit den kugeligen Augen, hatte es ihr angetan. Ich konnte mir diese Liebe rational nicht erklären. Überhaupt musste ich bei der Vorstellung lachen, wie Lea, dieses große bodenständige Mädchen mit den langen roten Haaren, vor der Bühne kreischend herumhopste.

Was hatte sie bloß an diesem komischen Kauz gefunden? Peter Doherty machte den Eindruck, sein Leben würde nur einem Ziel folgen: die Schlagzeilen der Klatsch- und Tratschblätter zu füllen. Er war mehr durch Drogenexzesse und Beziehungsdramen als durch gute Musik aufgefallen. Pete war wegen seines Drogenkonsums von seinen Freunden beschimpft, aus der eigenen Band geschmissen und von seiner großen Liebe, dem eiskalten Model Kate Moss, vor die Tür gesetzt worden. Dann machte der Sänger eine Entzugstherapie, freundete sich mit der unvergleichbaren britischen Sängerin Amy Winehouse an, der Frau mit der turmartigen Frisur, und erzählte später, sie hätten eine Liebesbeziehung, dürften aber nicht zusammen sein, weil Amy auch nicht drogenfest sei und sie einander ständig in Versuchung führen würden. Sie gingen daher getrennte Wege. Wenig später war Amy tot, und viele gaben Pete daran die Schuld, obwohl er ständig betonte, Amy habe ihm »unsäglich viel gegeben«.

Diesen ganzen Stuss und mehr las ich in der Zeitschrift Gala im Warteraum meines Frisörs. Die Dame, die vor mir an der Reihe war, hatte eine falsche Haarfarbe bekommen – sie hatte sich Rot gewünscht, es war aber nur ein zartes Rosa herausgekommen. Also musste sie umgefärbt werden. Nur wegen ihrer rosa Haare habe ich überhaupt all die Einzelheiten aus Peter Dohertys Privatleben erfahren – eine endlose Seifenoper.

Was war mit Lea bloß los? Wie konnte eine solche Liebe überhaupt entstehen?, überlegte ich. Hatte sie etwa zu viel Gala gelesen? Oder zu wenig? Für mich war es unvorstellbar, dass sich ein so selbstbewusstes, verantwortungsbewusstes Mädchen, das sich für Nachhaltigkeit und Humanwissenschaften interessierte, in einen solch windigen Halunken vergucken konnte. Nichts an diesem Typen war nachhaltig oder auch nur schön. Doch die Wege der Liebe sind bekanntermaßen unergründlich. Mir gegenüber meinte Lea, sie möge nur die Songs, nicht den Typen. Doch wer glaubte ihr schon?

»Es geht ihr ganz bestimmt nicht um die Musik, ihr gefällt die Anarchie, das Gefühl der Freiheit, das dieser Mann ausstrahlt«, erklärte mir meine kluge Tochter unter vier Augen. Die ganze Welt versuchte nämlich, den armen Pete zu drangsalieren, erzählte ihm, was er alles falsch mache und wie er schnell zu einem tüchtigen Musiker werden könne. Auch seine Freundinnen wollten ihn anders haben, als er war. Sie versuchten, ihn zurechtzubiegen, er aber enttäuschte sie andauernd, stand mit seinem komischen Hut auf der Bühne und blickte mit großen Kulleraugen mutig der Welt entgegen, als wollte er sagen: Lasst mich in Ruhe, ich bin nicht eurer Supertalent. Ich bin Pete, der Blödmann. Hier stehe ich und kann nicht anders.

Meine Tochter fand diesen Sänger und seine Band nicht wirklich herausragend. Sie nahm diesem Pete auch seine anarchische Haltung nicht ab, ging aber natürlich mit ihrer besten Freundin trotzdem in sein Konzert. Die beiden Mädchen hatten bereits ein halbes Jahr zuvor die Tickets gekauft, als sich der Sänger noch in Therapie befand und unklar war, ob er es jemals wieder auf die Bühne schaffen würde und ob das Konzert in Berlin – angeblich sein einziger Auftritt in Deutschland – überhaupt stattfinden konnte. An dem Abend schien es unserem Pete aber gut zu gehen. Er erzählte zwischen den Songs Anekdoten, blies Luftküsschen in die Menge, und die Mädchen kreischten vor Begeisterung.

Am Ende des Konzertes nahm er seinen Hut ab und warf ihn ins Publikum, der ersten Reihe vor die Füße. Es kam daraufhin zu einer regelrechten Schlacht um die Kopfbedeckung. Junge Frauen schlugen und schubsten einander, als ginge es um den Heiligen Gral. Lea warf sich wie eine Löwin in die Menschenmenge und kam zwanzig Minuten später mit zerkratztem Gesicht, kaputten Fingernägeln und dem Hut von Peter Doherty zurück. Sie platzte vor Freude, setzte sich den Hut auf und wollte ihn meiner Tochter nicht einmal zum Anfassen geben.

Beide Mädchen gingen noch in eine Bar, diskutierten bis spät in die Nacht über Leas Idol und kamen schließlich zum Übernachten zu uns. Am nächsten Morgen wachte Nicoles Freundin auf und beschwerte sich über Kopfjucken. Wir schauten ihre tollen roten Haare an, und die Diagnose war ziemlich schnell klar: Lea hatte Läuse. Woher sie kamen, darüber gingen die Meinungen auseinander. Waren es die Läuse von Pete Doherty? Von seiner Exfreundin, der supercoolen Kate Moos? Oder gar von der unvergleichlichen Amy Winehouse, die dem Sänger schließlich laut eigener Aussage so »unsäglich viel gegeben hat«? Wir wussten es nicht. Auf jeden Fall mussten es ziemlich prominente Läuse sein.

Lea fühlte sich durch die Anwesenheit der Tierchen einerseits irgendwie geehrt und auf magische Art mit der Glitzer- und Glamourwelt der freien Kunst verbunden. Andererseits juckte ihr Kopf immer stärker. Wir wiederum fragten uns, ob sich die Prominenz womöglich in der Wohnung ausbreiten wollte. Im heftigen Widerstreit von Ehrgeiz und Vernunft siegte gegen Nachmittag doch die Vernunft, und Lea ging in die Apotheke. Genauer gesagt in unsere berühmte homöopathische Wilhelmsapotheke (in der Gegend als homoapathisch verschrien). Der dortige Apotheker trägt den gleichen Schnurrbart wie Kaiser Wilhelm II., wobei die Spitzen mal nach oben und mal nach unten schauen. Stammkunden wissen, dass der Schnurrbart die Laune des Inhabers verrät: Steht er aufrecht, ist unser Wilhelm gut in Form und homopathetisch drauf. Hängt der Schnurrbart dagegen nach unten, ist der Apotheker tatsächlich in homoapathische Stimmung verfallen. An solchen Tagen sollte man ihn besser nicht belästigen. An dem besagten Tag zeigte der Schnurrbart zwanzig nach acht an. Lea konnte dieses geheime Zeichen aber nicht lesen und marschierte ahnungslos in ihr Verderben.

»Hi! Ich brauche ein Mittel gegen Läuse für meinen kleinen Bruder. Haben Sie so etwas?«, fragte sie den Apotheker.

»Wie klein ist denn Ihr Bruder?«, fing Wilhelm sein Spielchen an. »Ich muss schon genaue Angaben haben, um die richtige Dosis auszurechnen.«

»Groß«, sagte Lea. »Mein Bruder ist ziemlich groß. Also schon klein, aber gut gewachsen. Er ist drei Jahre alt, hat aber lange Haare, fast so lang wie meine.«

Wilhelm schaute Lea an und zog vor Schreck den Schnurrbart hoch. Wahrscheinlich versuchte er, sich ein dreijähriges Kind mit Haaren von einem halben Meter Länge vorzustellen.

»Da müssen bei Ihrem Bruder beim Laufen ja die Haare auf dem Boden schleifen. Kein Wunder, dass er Läuse hat!«, meinte Wilhelm. »Ich gebe Ihnen den guten Rat, schneiden Sie dem Kind die Haare ab.«

»Das ist keine schlechte Idee, danke«, nickte Lea. Sie verdammte diesen Apotheker bereits und wünschte sich, es würden ein paar Läuse von Pete, Amy und Kate auf den Schnurrbart des Kaisers überspringen. Wilhelm wollte aber nicht aufhören. Er befragte Lea weiter, wollte wissen, wie stark es bei dem Dreijährigen jucke, er habe nämlich ein homoapathisches Mittel auf pflanzlicher Basis oder eines mit betäubender Wirkung, das den Juckreiz lindern würde. Für den Dreijährigen würde er eher das auf pflanzlicher Basis empfehlen.

»Ich nehme beides, für alle Fälle«, sagte Lea mit eiserner Stimme. »Mal sehen, was besser hilft.«

»Ich empfehle Ihnen wirklich, dem Kind die Haare zu schneiden. Es ist schädlich für den Rücken, so viel Gewicht auf dem Kopf zu tragen.« Der Apotheker wedelte zum Abschied mit seinem Schnurrbart.

Bei uns zu Hause wusch sich Lea den Kopf mit dem Läusemittel, fuhr nach Lüneburg zurück und versuchte, die ganze Geschichte zu vergessen. Meine Tochter erzählte später, die Liebe zu Pete sei danach erloschen. Doch jedes Mal, wenn Lea die Libertines auf einem Foto, in einer Zeitschrift, auf einem Plakat oder im Internet sieht, fängt es auf ihrem Kopf an zu kribbeln. Sie weiß aber, dass es ein Scheinkribbeln ist. Es sind die Nachwehen einer kaputtgegangenen Liebe, die noch lange juckt.

Liebe, Freundschaft und Partnerschaft durch Selbstheilung

Es war dunkel im Schrank, kalt und leer. Auf dem Boden lagen die Kopfkissen ohne Bezug und eine Zusatzdecke für besonders kalte Nächte. Susanne setzte sich auf die Kopfkissen und gähnte. Ihre Idee, sich in Uwes Hotelzimmer zu verstecken und ihn mit einem Sprung aus dem Schrank zu überraschen, dieser originelle Einfall, der ihr noch vor Kurzem so großartig und wunderbar erschienen war, erwies sich als logistisch fehlerhaft und nicht gut durchdacht. Seit einer Stunde saß Susanne im Schrank, und der Mann ihrer Träume war noch immer nicht erschienen.

Susanne hatte Uwe vor zwei Tagen beim Basisseminar »Liebe, Freundschaft und Partnerschaft durch Selbstheilung« im Hotel Vita Nova kennengelernt. Und genau dieses blöde Seminar hatte sie in den Schrank von Uwes Hotelzimmer geführt. Prof. Dr. Mayer, der dieses Seminar führte, hatte erklärt, Probleme bei der Partnersuche lägen meistens in der Person des Suchenden: in dessen Einstellung, der mangelnden Bereitschaft zu Kompromissen, seiner Intoleranz und fehlenden Kreativität, die jede Suche erfolglos machen würde.

»Man muss berücksichtigen«, erläuterte Dr. Mayer, »dass die Partnersuche aus dem realen Leben inzwischen fast vollkommen ins Internet abgewandert ist. Es gibt unzählige Internetportale, durch die Menschen zueinander finden, inklusive besonderer Vermittlungsangebote für militante Veganer und alleinstehende Fleischfresser mit Kinderwunsch. Die Menschen werden vom Algorithmus nach ihren politischen Ansichten, beruflichen Präferenzen und nach ihren Essgewohnheiten sortiert. Das macht die Suche effizienter. Der Algorithmus erledigt quasi die Drecksarbeit der Vorauswahl, damit die zukünftigen Partner keine bösen Überraschungen erleben.«

Das konnte Susanne gut nachvollziehen. Sie hatte nämlich ihren Exfreund gar nicht an eine andere Frau, sondern an die AfD verloren. Wer hätte das ahnen können. Sie hatte ihn im Sommer in einer Diskothek kennengelernt: einen großen blonden Kerl, etwas starrköpfig und direkt, aber sehr, sehr lieb. Für den Winter war bereits eine gemeinsame Urlaubsreise nach Norwegen zum Skilaufen geplant. Sie hatten über alles Mögliche, aber nicht über Politik geredet. Erst im Spätherbst hatte Susanne festgestellt, dass ihr toller Blonder sich für einen Nachfahren der Nibelungen hielt. Er ging auf merkwürdige Demos, meinte, er sei das Volk, und wollte am liebsten ganz Deutschland für Menschen mit germanischen Wurzeln reservieren. Sie hatten einen Riesenstreit mit lautem Türenschlagen, der die Beziehung beendete.

Seit diesem Vorfall war Susanne beinahe linksradikal geworden, auf jeden Fall hatte sie noch eine offene Rechnung mit den Rechten.

»Die AfD hat mir meinen Freund ausgespannt!«, erzählte sie abends den anderen Teilnehmerinnen des Seminars »Liebe, Freundschaft und Partnerschaft durch Selbstheilung« bei der kleinen Frauenrunde in der Trattoria Del Corso gegenüber dem Hotel.

»Daran ist nur die Disko schuld«, meinten ihre Freundinnen. »Hättest du deinen Blonden nicht beim Tanzen, sondern im Internet kennengelernt, wäre so etwas nicht passiert. Du musst dich schnell bei uns anmelden!«

Die Freundinnen waren nämlich schon seit Jahren bei der »Singlebörse Gelsenkirchen« und hatten heimlich eine Art Aktionsbündnis gegründet. Sie durchforsteten die Kontaktanzeigen regelmäßig nach Verheirateten, die sich als Singles ausgaben und daher ohne seriöse Absichten im Trüben fischten. Für solche Fälle warf ein Mitglied dieses Bündnisses einen Köder aus, vereinbarte ein Date im Hotel und kontaktierte die Ehefrau des betreffenden Scheinsingles. Gleichzeitig sammelten die Frauen so viele Informationen wie möglich und hatten im Lauf der Zeit eine umfangreiche Datenbank über Männer aus gescheiterten Partnerschaften angelegt. Frauen berichteten darin über die Gründe des Scheiterns ihrer Beziehung und gaben Auskunft über die privaten Marotten oder wahren Vorlieben ihrer ehemaligen Partner. Diese Datenbank diente dem Austausch. Denn was eine Frau für eine komische Marotte hielt, konnte eine andere als Vorzug sehen.

Die Freundinnen waren jedes Jahr im Seminar von Prof. Dr. Mayer und schienen alle Männer im Ruhrgebiet zu kennen. Sie hatten Susanne auf Uwe aufmerksam gemacht, der auch am Seminar teilnahm – als Referent. Uwe hatte bei der »Singlebörse Gelsenkirchen« zehn verschiedene Profile angelegt, alle mit demselben Foto, demselben Sternzeichen und derselben Biografie. Nur bei den Ernährungsgewohnheiten unterschieden sich seine Profile. Er wollte herausfinden, welche Art Esser Frauen bevorzugten. Seine Forschungsergebnisse waren äußerst interessant. Fast alle Frauen zogen Kaffee trinkende Männer den Teetrinkern vor, Biertrinker unterlagen Weintrinkern bei Weitem, und Schnapsmänner hatten gar keine Chance. Männer, die gerne Avocados aßen oder Schokolade mochten, zogen Frauen an wie eine Glühbirne die Motten. Am schlechtesten dran waren hingegen Bratkartoffelliebhaber und Broileresser. Während der Käsegourmet und sogar der Bratwurstliebhaber bei Frauen noch halbwegs auf Verständnis trafen, konnte der Grillhähnchen-Fetischist gleich einpacken. Broiler schienen wie ein rotes Tuch auf Frauen zu wirken.

Von diesen Erkenntnissen berichtete Uwe in seinem Kurs »Selbstfindung und Erschaffung der Identität«, der Teil des Workshops war. Er hatte auf all seinen Profilen unter »Charaktereigenschaften« »schüchtern« eingetragen, und tatsächlich machte er einen zurückhaltenden Eindruck. In der Mittagspause waren er und Susanne mehrmals an einem Tisch zusammengesessen. Sie hatten sich über Nichtigkeiten unterhalten, er hatte Susanne sehr lieb angelächelt und mit der Gabel mehrmals den Teller verfehlt, weil er sie die ganze Zeit angeblickt hatte. Aber er unternahm keine weiteren Annäherungsversuche, fragte sie nicht einmal, was sie denn abends vorhabe.

»Okay, Junge, ich helfe dir«, dachte Susanne. Immerhin übernachteten sie im selben Hotel. Ihr Plan war riskant und genial zugleich. Am letzten Tag wartete sie abends, bis Uwe das Hotel verlassen hatte, um mit einem Freund in der Trattoria zu essen. Dann ging Susanne zur Rezeption und behauptete, sie hätte ihre Karte dummerweise auf dem Zimmer vergessen, Nummer 443 bitte, danke schön. Es war das Zimmer von Uwe, das hatte sie ausspioniert. Sie spazierte hinein, zog sich aus und versteckte sich im Schrank. Ihr Plan ging folgendermaßen: Uwe würde nach dem langen Tag ins Zimmer kommen, sich aufs Bett legen, und plötzlich ginge die Schranktür auf, und Susanne käme nackt heraus. Etwas Romantischeres hatte die Welt noch nicht gesehen, dachte sie.

Was sie unmöglich wissen konnte, war, dass an diesem Abend Schalke 04 gegen Borussia Dortmund spielte. Auf seinen zehn Profilen für die Partnersuche hatte Uwe leider nicht erwähnt, dass er Schalke-Fan war. Nach dem Abendessen war er gleich zum Fußballschauen gegangen. Es war ein verrücktes Spiel, das verrückteste in seinem ganzen Leben. Mit 4:0 für Dortmund gingen die Mannschaften in die Pause, und Uwe und sein Freund André beschlossen, sich zu betrinken. Kein Schalke-Fan glaubte mehr, dass etwas Erfreuliches auf dem Feld passieren würde. Die zweite Halbzeit begann dann mit einem Eigentor der Dortmunder. »Geschieht ihnen ganz recht!«, riefen die Männer schadenfroh. Dann unterliefen der Verteidigung der Borussen einige untypische Fehler, während die Schalkespieler wie ausgewechselt waren. Sie kamen immer mehr in Fahrt und schlachteten den Gegner buchstäblich. Beim Stand von 4:4 in der 94. Minute hatten sie in der Verlängerung noch drei Minuten Zeit, um zu gewinnen. Daraus wurde zwar nichts, aber die Stimmung kochte hoch und höher.

Das Spiel ging weit nach Mitternacht zu Ende. Alle waren fix und fertig – die Spieler auf dem Feld und die Fans vor dem Fernseher. Die Bar machte zu, aber André und einige neue Freunde, alles Schalke-Fans, wollten unbedingt noch ein letztes Bier auf die Standhaftigkeit ihrer Mannschaft trinken.

»Wir gehen zu mir ins Hotel«, schlug Uwe vor, »und plündern die Minibar.«

Er selbst hatte eigentlich keine Kraft mehr. Kaum hatte er sein Zimmer betreten, fiel er aufs Bett und schlief ein.

»Wo ist denn hier die Minibar?«, fragten sich die Freunde. Einer öffnete den Schrank, in dem Susanne nackt auf dem Boden lag und schlief.

»Ich glaube, wir sollten lieber gehen«, sagte einer der Fußballfans zu den anderen. »Hier schlafen überall Menschen.«

Die Freunde umarmten einander, machten das Licht aus und verließen auf Zehenspitzen das Zimmer.

Der blaue Elefant

Im letzten Jahr ihres Studiums im Moskauer Maschinenbauinstitut verliebte sich meine Mutter. Das Objekt ihrer Sehnsucht war ein Mann, der im Institut zwei Mal die Woche »Marxistische Lehre und Kommunistische Theorie« unterrichtete. Er war dreißig Jahre älter als sie und im Krieg an der Front schwer verletzt worden, hatte mehrere Granatensplitter in der Schulter, die ihn jederzeit töten konnten, war verheiratet und hatte zwei Töchter, die nicht viel älter als meine Mutter waren. Kurzum, er war das perfekte Objekt für die erste unglückliche Liebe. Die »Marxistische Lehre und Kommunistische Theorie« war bei den Studenten nicht sonderlich beliebt, die meisten mieden die Vorlesung. Am Ende des Jahres lasen sie schnell eine dünne Broschüre gleichen Titels und bekamen ihre Note fürs Zeugnis. Der Dozent war zwar ein überzeugter Kommunist, aber kein Fanatiker, er wollte die jungen Leute nicht in Schwierigkeiten bringen.

Meine Mutter verpasste keine einzige Vorlesung über die kommunistische Theorie. Sie setzte sich ganz nach vorne und bohrte dem Dozenten mit ihren Blicken Löcher in sein Hemd. In Russland sagt man, Männer lieben mit den Augen, Mädchen mit den Ohren. Obwohl meine Mutter sich die Vorlesungen zu Marx aufmerksam anhörte, fand sie in ihnen keine Antworten auf ihre Fragen. Marx erzählte vom immerwährenden Klassenkampf und davon, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. Auch meinte er, Religion sei Opium für das Volk. Über die Liebe und wie man sie erklärt, hatte Marx nichts Brauchbares geschrieben.

Der Dozent ignorierte meine Mutter, er ließ sich durch sie nicht von seinen Klassenkämpfen ablenken. Meine Mutter brauchte jemanden, mit dem sie über ihre Liebe reden konnte, und offenbarte sich ihrer besten Freundin.

»Vergiss ihn, schlag ihn dir aus dem Kopf«, empfahl ihr die Freundin. »Selbst wenn er auf dich aufmerksam wird, hat eure Beziehung keine Zukunft. Er wird deinetwegen nicht seine Familie verlassen! Und wenn doch, wird er sich ein Leben lang Vorwürfe machen.«

Für meine Mutter waren diese Ratschläge nicht viel wert. Wie kann man jemanden vergessen, den man liebt? Zwar versuchte sie es immer wieder, aber vergeblich. Menschen tun oft so, als hätten sie ihre Gedanken und Gefühle unter Kontrolle. Manchmal aber bestimmt das Unterbewusstsein das Sein, da kann auch Marx nicht helfen. Die Unfähigkeit des Menschen, seine eigenen Gedanken zu beeinflussen, wird in einem berühmten psychologischen Experiment vorgeführt, in dem die Probanden aufgefordert werden, nicht an einen blauen Elefanten zu denken. Nach dieser Aufforderung denken sie an nichts anderes mehr.

Eines Tages fasste sich meine Mutter ein Herz und verwickelte den Mann ihrer Träume in ein Gespräch. Sie fragte ihn über den Klassenkampf aus und warum dieser noch immer nicht beendet sei, das habe sie nicht verstanden. Er lächelte und schlug vor, gemeinsam ein Eis essen zu gehen. Ihre Romanze entwickelte sich nun unaufhaltsam, obwohl alle dagegen waren: Er, seine Frau und die Mutter meiner Mutter sowieso. Die Verliebten trafen sich mal bei ihm zu Hause, wenn die Familie nicht da war, mal trafen sie sich in seinem Gartenhaus am Stadtrand, und einmal besuchte er sogar sie. Die Mutter meiner Mutter hatte viele Fragen nach diesem Besuch. Meine Mutter gab zu, verliebt zu sein. Ihre Mutter erschrak. Die Vorstellung, dass ihre Tochter mit einem verheirateten Mann eine Affäre hatte, brachte sie auf die Birke.

»Du musst ihn vergessen, ihn dir aus dem Kopf schlagen, denk nicht an ihn! Denk nicht an ihn! Denk an dich und deine Zukunft!«

Doch das war leichter gesagt als getan. Je mehr Menschen sie dazu aufforderten, nicht an den Mann ihrer Träume zu denken, desto mehr Platz eroberte er in ihrem Kopf. Der Dozent der marxistischen Theorie wurde zum blauen Elefanten meiner Mutter. Ihre Mutter wiederum meinte, mit ihrem Verhalten entehre sie die Familie.

»Was soll ich tun? Soll ich mich vor die Straßenbahn werfen?«, fragte meine Mutter verzweifelt. Für ihre Mutter war es anscheinend leichter, die eigene Tochter unter der Straßenbahn liegen zu sehen als in den Fesseln ihres blauen Elefanten. Sie drohte gar, zum Parteikomitee des Maschinenbauinstituts zu gehen und den Elefanten wegen seines amoralischen Verhaltens anzuzeigen. Daraufhin verschwand die Tochter für zwei Nächte. Sie übernachtete bei einer Freundin, um ihrer Mutter zu zeigen, dass sie unabhängig von ihr leben konnte.

Die Mutter machte ihre Drohung dennoch wahr. Sie ging zum Institut ihrer Tochter und klopfte beim Vorsitzenden des Parteikomitees an die Tür – wo der Elefant höchstpersönlich am Tisch saß. Er erklärte der Frau Mutter, dass die marxistische Theorie und die kommunistische Lehre sich für die Befreiung des Menschen auf allen Ebenen einsetzten. Auch dessen Gefühle sollten von allen Vorurteilen und Klischees befreit werden.

...Ende der Leseprobe

Die Geschichte »Liebeserklärung an die Russen« erschien ursprünglich in gekürzter Fassung als Kolumne beim Evangelischen Pressedienst.

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Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

Originalveröffentlichung August 2019

Copyright © 2019 by Wladimir Kaminer

Copyright © dieser Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München

Umschlagillustration: Shutterstock Images LLC

Autorenfoto: © Urban Zintel

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23270-2V001

www.wunderraum-verlag.de