Das Geheimnis des Lamassu - Jacqueline Montemurri - E-Book

Das Geheimnis des Lamassu E-Book

Jacqueline Montemurri

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Beschreibung

Sir David Lindsays Vater wurde unter mysteriösen Umständen ermordet. Während der Trauerfeierlichkeiten auf Lindsay Castle lernen Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar Sir Davids Ziehschwester Anahita kennen, die eines Nachts plötzlich verschwindet. Mit Hilfe des analytisch begabten Familienfreundes Arthur Conan Doyle finden sie eine Spur, die in Lindsays Vergangenheit und zudem nach Persien weist. Damit beginnt ein Abenteuer, das in die Wüste mit ihren gefährlichen Geschöpfen führt, in unwegsame Berge zu schattenhaften Kriegern und in den prunkvollen Palast des Schahs von Persien...

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Band 9

Das Geheimnisdes Lamassu

von

Jacqueline Montemurri

Mit einem Epilogvon Nina Blazon

Herausgegeben von

Thomas Le Blanc und Bernhard Schmid

In der Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ sind bisher erschienen:

Band 1 – Alexander Röder Im Banne des Mächtigen (auch als Hörbuch)

Band 2 – Alexander Röder Der Fluch des Skipetaren

Band 3 – Alexander Röder Der Sturz des Verschwörers

Band 4 – Alexander Röder Die Berge der Rache

Band 5 – Alexander Röder, Tanja Kinkel u. a. Sklavin und Königin

Band 6 – Alexander Röder, Thomas Le Blanc Auf der Spur der Sklavenjäger

Band 7 – Jacqueline Montemurri, Bernhard Hennen Der Herrscher der Tiefe

Band 8 – Friedhelm Schneidewind, Bernhard Hennen Das magische Tor im Kaukasus

Band 9 – Jacqueline Montemurri, Nina Blazon Das Geheimnis des Lamassu

Thomas Le Blanc (Hrsg.) Auf phantastischen Pfaden – Eine Anthologie mit den Figuren Karl Mays

Weitere Informationen zur Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ finden im Internet auf www.magischer-orient.karl-may.de

© 2020 Karl-May-Verlag, BambergAlle Urheber- und Verlagsrechte vorbehaltenIllustration: Elif SiebenpfeiffereISBN 978-3-7802-1409-6www.karl-may.de

Inhalt

Erstes Kapitel: Ein trauriger Empfang

Zweites Kapitel: Rasselnde Ketten

Drittes Kapitel: Abschied vom Earl of Lindsay

Viertes Kapitel: Assassinen

Fünftes Kapitel: Eine Seefahrt nach Persien

Sechstes Kapitel: Fowling-Bulls

Siebtes Kapitel: Gekidnappt

Achtes Kapitel: Verbotene Freundschaft

Neuntes Kapitel: Im Schlund des Balidan

Zehntes Kapitel: In der Felsenburg

Elftes Kapitel: Der Palast der Blumen

Zwölftes Kapitel: Persischer Zauber

Dreizehntes Kapitel: Ein geheimes Kind

Vierzehntes Kapitel: Intrigenspiel

Fünfzehntes Kapitel: Hinterhalt

Sechzehntes Kapitel: In Ketten im Kerker

Siebzehntes Kapitel: Enthüllungen

Achtzehntes Kapitel: Keine Rettung

Neunzehntes Kapitel: Zum Tode verurteilt

Zwanzigstes Kapitel: Die Schlacht im Palast der Blumen

Einundzwanzigstes Kapitel: Mister Doyles Geheimnis

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Māh-Tab

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Kampf der Fowling-Bulls

Vierundzwanzigstes Kapitel: Gegen die Truppen des Schahs

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Vertrauen

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Die Nacht der Wunder

Epilog: Winternarzissen

Erstes Kapitel

Ein trauriger Empfang

Es war kalt.

Obwohl es bereits später Nachmittag war, hatten wir an diesem Tag die Sonne noch nicht gesehen. Sie war beständig hinter einem nassen und alles durchdringenden eisigen Nebel versteckt geblieben. Ich vermochte vor uns einige Hügel in diesem fremden Nordengland zu erahnen, die im Sommer sicher grün, jetzt aber von einem grauen Weiß überzogen waren. Feinste, halbgefrorene Wassertropfen in der Luft verschleierten die Aussicht und ließen die kargen Wiesen und Wälder zu einem bleifarbenen Brei verschmelzen. In den Tälern zwischen den Hügeln verdichteten sich die Tröpfchen zu Nebelbänken, die von der untergehenden Sonne langsam rötlich verfärbt wurden, fast wie Blutflecken auf einem grauen Teppich.

Blut passte auch zu dieser Gegend. Denn links und rechts unseres Weges kroch die verfallene Mauer des Hadrianswalls über die niedrigen runden Bergrücken gleich einem steinernen Lindwurm. Hier hatten Völker gekämpft, Tausende ihr Leben gelassen. Hier waren einst die Caledonier und die Römer, die Pikten, die Gälen, die Sachsen, die Angeln und die Wikinger aufeinandergetroffen, hatten für die Herrschaft über dieses Land ihr Leben eingesetzt und hatten die Hügel mit ihrem Blut getränkt. Hier waren Heldensagen entstanden, und doch hatte nur der schmutzige, einsame Tod gewütet. Und der nach vielen Jahrhunderten immer noch sichtbare Wall war bis heute die Grenze zwischen Engländern und Schotten geblieben, die nie so recht zu Briten geworden waren.

Die Kälte zog durch unsere Kleidung, die im Kaukasus tiefere Temperaturen abgewehrt hatte, aber die Feuchtigkeit des Nebels ließ das Leder klamm und steif werden, und durch den langsamen Trott der Pferde bewegten wir uns zu wenig, um uns selbst aufwärmen zu können. Mein Mantel und meine Handschuhe waren von einer glitzernden Schicht gefrorener Nebeltropfen überzogen.

Der sonst so fröhliche Halef zeigte Ungeduld und Missmut.

„Wie kann man nur in einem solch kalten und nassen Land leben, Sihdi?“

„Es ist hier nicht immer so. Aber du hast Recht, wir haben uns offenbar die falsche Zeit ausgesucht, Sir Davids Heimat kennenzulernen.“

Der Boden war noch kälter als die Luft.

Die Pferde bewegten sich müde und unsicher auf dem hartgefrorenen Untergrund. Teilweise war er mit verharschtem Schnee bedeckt, sodass wir Unebenheiten nicht sehen konnten und Löcher fürchteten, in denen die Pferde sich ihre Beine brechen konnten. Deshalb lenkten wir sie ein Stück den Wall entlang, bis wir einen Durchgang fanden, den die Tiere bewältigen konnten. Unser Weg führte uns nun weiter gen Süden. Endlich tauchten Mauern mit Zinnen und Türmen im Nebel auf. Wir hatten Lindsay Castle erreicht. Über einem der Giebel begrüßte uns das Banner mit einem Löwen.

„Was hat das zu bedeuten?“ Halef sah angespannt zum Schloss.

Ich folgte seinem Blick und gewahrte, dass der Löwe auf der Flagge auf dem Kopf stand. Das Tuch war zu sanften Wellen geformt und anscheinend steifgefroren, denn es bewegte sich nicht. Die Erkenntnis ließ mich innerlich zusammenzucken.

„Es heißt, dass etwas Schlimmes passiert sein muss“, antwortete ich. „Vielleicht sogar etwas Bedrohliches.“

„Sir David?“

„Nein, das ist nicht möglich“, beruhigte ich meinen Freund. „Sir David ist noch auf Kreta mit seinen Ausgrabungen beschäftigt. Es sei denn …“

„Es sei denn, ihm ist ein Stein auf den Kopf gefallen.“

„Das möchte ich nicht hoffen.“

„Ich ebenso wenig, Sihdi.“

„Es ist mit Bestimmtheit etwas Ernsteres. Trauer allein wäre nur mit halbmast symbolisiert worden.“ Ich zog mein Gewehr aus dem Sattelfutteral und nahm es vorsichtshalber in Anschlag.

Halef blickte mich überrascht an, zog ebenfalls seine Waffe aus dem Futteral und überprüfte sie.

„Meinst du, es könnte einen Überfall gegeben haben?“

„Ausschließen können wir es nicht. Wir sollten auf alles gefasst sein. Es ist durchaus möglich, dass es eine Okkupation von Lindsay Castle gegeben hat und irgendwer das Schloss in seiner Gewalt hält und die Lindsays durch die umgedrehte Flagge verhöhnen will.“

Halef nickte verstehend.

Wir trieben die Pferde erneut zu mäßigem Schritt an. Schnelleren Gang wagten wir bei dem glatten Boden nicht. Auch wenn es nur Leihpferde aus Carlisle waren, mochte ich die armen Tiere keinesfalls zuschanden reiten. Ein Ausgleiten könnte hier genügen, damit sich eins der Pferde ein Bein brach, zumal das Packpferd arg beladen war.

Wachsamen Blicks und die Gewehre im Anschlag ritten wir die breite Auffahrt hinauf, dem Haupthaus entgegen. Das Schloss war ein grandioser Anblick. Die Mauern leuchteten rötlich durch den Nebel, was sicherlich nicht nur dem Glühen des Abendrots zu danken war, sondern auch dem Baumaterial. In dieser Gegend verwandte man schon seit jeher den Old-Red-Sandstone, eine Gesteinsablagerung aus dem Devon. Bei genauerem Hinsehen vermag man einiges an Fossilien darin zu erkennen, besonders Meeresgetier und Fische. Aber natürlich war das in jenem Moment nicht von Interesse für uns. Wir hatten noch immer die Flagge mit dem umgedrehten Löwen im Kopf und waren auf eine feindliche Streitmacht vorbereitet.

Mittig des burgähnlichen Baus erschloss eine breite Treppe den Haupteingang. Links und rechts reihten sich hohe spitze Fenster aneinander, die mit ihrem gotischen Maßwerk fast sakral wirkten. Licht quoll daraus hervor. Das darüberliegende Stockwerk war dunkel. Die Fenster dort hatten eine rechteckige Form, soweit ich das in der Dämmerung erkennen konnte. Das Dach umgrenzten Zinnen wie bei einer mittelalterlichen Burg und dazwischen erhoben sich Schornsteine. Aufmerksam suchte ich die Lücken zwischen den Zinnen sowie die dunklen Fenster nach Gewehrläufen oder sonstigen Gefahren ab. Doch ich vermochte nichts Beunruhigendes zu erkennen. Links und rechts dieses Mittelbaus ragten der West- und der Ostflügel empor wie Burgfriede. Die zwei Seitenflügel waren um ein Stockwerk höher als der Mittelbau. In den vor uns emporragenden Mauern sah ich zahlreiche rechteckige Fenster, teils zu Erkern nach außen gebaut. Das oberste Geschoss wartete mit Balkonen auf, die sich über jenen Vorsprüngen befanden. Ein wahrhaft majestätischer Anblick, Lord Lindsays durchaus würdig.

Plötzlich traten uns zwei bewaffnete Männer in den Weg. Sie hatten im Schatten einiger gewaltiger Eichen neben der breiten steinigen Zugangsstraße gelauert.

„Wer seid Ihr?“, fragte der eine recht barsch und richtete den Lauf seines Gewehrs auf mich.

„Mein Name ist Kara Ben Nemsi und mein Begleiter heißt Hadschi Halef Omar. Wir werden von Lady Ann erwartet“, erwiderte ich auf Englisch.

„Darüber sind wir informiert, Mister Kara Ben Nemsi. Warten Sie bitte einen Moment. Wir müssen vorsichtig sein. Verzeiht deshalb die Unannehmlichkeiten.“ Der Mann drehte den Gewehrlauf von mir weg, blieb aber bereit, falls ich ihn angreifen sollte.

Was konnte hier nur geschehen sein, das eine derartige Verteidigung rechtfertigte? Sein Partner blies ein militärisches Hornsignal, worauf sich die große Eingangstür öffnete und ein Mann mit dunkler Robe und dem Löwen der Lindsays auf der Brust uns über die breite Treppe entgegeneilte. Noch immer war ich vorsichtig, auch als sich der Mann als Kastellan des Schlosses vorstellte, uns musterte und schließlich willkommen hieß. Auf sein Winken hin eilten zudem zwei Stallburschen herbei, um sich unserer Pferde anzunehmen, als seien wir erwartet worden. Was allerdings nicht sein konnte, da wir Lady Ann keinen festen Zeitpunkt für unser Eintreffen zu nennen vermocht hatten. Der Verlauf der Reise nach Schottland war nicht berechenbar gewesen, denn wir kannten das Land nicht und waren zudem nicht sicher, unser Ziel direkt und problemlos zu finden.

Aus der sich nun erneut öffnenden zweiflügligen Tür traten zwei Gestalten hervor. Im Gegenlicht der inneren Beleuchtung erblickte ich eine füllige Dame mit einem Häubchen auf dem Kopf und eine junge Lady, die sogleich die Treppe herabgerannt kam.

„Oh, Kara und Halef. Ich bin so froh, dass ihr endlich da seid.“ Es war Ann Lindsay. Sie warf sich mir an den Hals und somit fiel die Anspannung zunächst von uns ab. Das Schloss war offensichtlich nicht in fremder Hand. Jedoch ließen mich die Verteidigungsmaßnahmen und Anns Reaktion darauf schließen, dass sehr wohl etwas Furchtbares vorgefallen sein musste.

„Was ist geschehen?“, fragte ich dann auch, während sie sich von mir löste.

„Etwas Schreckliches, etwas Grausames“, antwortete sie erregt.

Ich nahm das Gepäck vom Pferd, da der Stallbursche schon ungeduldig, wohl ob der Kälte, von einem Fuß auf den anderen trat. Dann sah ich das Mädchen an. Nun bemerkte ich zu meinem Erstaunen, dass Miss Ann in diesem Moment wahrhaftig wie Lady Ann aussah. Ihr Haar war sittsam geknotet, keine Strähne an der falschen Stelle. Anstatt Reithosen, Weste und Stiefel trug sie ein langes schwarzes Kleid, welches ihr eine schlanke Silhouette verlieh, jedoch im Rücken unterhalb der Taille durch Rüschen und Falten aufgebauscht war und in einer Schleppe endete. Auch hing kein Gewehr über ihrer Schulter, wie ich es von ihr gewohnt war.

„Sihdi, ich unterbreche recht ungern diesen freudigen Empfang. Doch wenn wir noch länger hier verweilen, werde ich niemals das Schloss von innen sehen. Denn bald bin ich hier festgefroren auf alle Zeit.“ Halefs Englisch war mittlerweile sehr gut geworden.

„Oder nur bis zum Frühjahr“, erwiderte ich schmunzelnd.

„Wie unhöflich von mir“, warf Ann Lindsay ein. „Bitte kommt herein. Dann werde ich euch alles berichten.“

Ich nickte ihr zu und wir folgten ihr die Stufen hinauf. Der Kastellan hatte sich unseres Gepäcks angenommen. Mein Gefährte schlotterte tatsächlich recht stark neben mir, denn ich hörte seine Zähne klappern. Obwohl wir jüngst im Kaukasus ein wirklich kaltes Abenteuer mit meinem alten Freund Old Firehand erlebt hatten und auch Halef dort den eher dünnen Burnus gegen robuste Wetterkleidung getauscht hatte, so wollte sich sein Beduinenkörper noch immer nicht so richtig an diese Art Temperatur gewöhnen.

„Aber im Kaukasus war es viel kälter als hier, Halef.“

„Mag sein. Doch hier ist es unheimlicher.“

„Unheimlich? Ich finde das Schloss in höchstem Maße inspirierend.“

Ann Lindsay drehte sich zu uns um.

„Halef hat vielleicht einen siebten Sinn. Wir haben in der Tat ein Schlossgespenst.“ Sie grinste verschmitzt und entblößte ihre Zähne.

„Ich fürchte mich nicht vor englischen Geistern“, grummelte Halef.

„Ich wäre entzückt, dieses Gespenst kennenzulernen“, scherzte ich.

„Oh, ich vernehme Ungläubigkeit aus Ihrem Mund, Kara. Sie werden schon sehen oder besser hören, dass ich die Wahrheit spreche. In den letzten Jahrzehnten hat niemand Porky erblickt, aber …“

„Porky?“, fragte ich amüsiert.

„Ja, so heißt unser Geist. In manch dunkler Nacht kann man ihn hören.“ Ihre Stimme wurde leise und verschwörerisch. „Er jault und rasselt mit den Ketten.“

„In manch stürmischer Nacht vielleicht“, warf ich lachend ein und stellte mir vor, wie der Wind an den Fensterläden rüttelte und um die Kamine pfiff. Derlei Geräusche konnte man in der Dunkelheit sicherlich phantasievoll interpretieren.

Wir erreichten den Eingang und traten ein. Ein gewaltiger Kronleuchter mit unzähligen Kerzen erhellte die Halle. Ein Diener in schwarzer Livree erwartete uns und der Kastellan übergab ihm einige der Gepäckstücke.

„Ich habe eure Zimmer schon vor Tagen vorbereiten lassen. Charles wird euer Gepäck und die Waffen hinaufbringen“, sagte Ann.

Ich blickte mich interessiert um. An den Wänden hingen Teppiche mit Szenen der Jagd auf Fasane, Füchse oder Hirsche, auch einige Trophäen dieser Tiere waren an den Mauern befestigt. Vor uns wanden sich zwei steinerne Treppen in ein höheres Geschoss. Darunter befand sich eine breite Tür, die jedoch verschlossen war. Rechts erblickte ich eine ähnliche Tür und von links hörte ich gedämpftes Stimmengewirr. Dort standen die beiden Flügel einer Tür weit offen, die augenscheinlich in einen Salon führte. Drinnen prasselte ein Feuer in einem gemauerten Kamin und auf Sofas und in Sesseln saßen schwarz gekleidete Damen und Herren. Einige der Männer trugen Uniformen und waren am Kamin in leise Gespräche vertieft. Doch keiner hatte eine Waffe bei sich, zumindest nicht offen über der Kleidung. Also gab ich dem Kastellan – Ann Lindsay vertrauend – meine Gewehre. Die Revolver behielt ich am Gürtel. Halef tat es mir gleich.

„Vielleicht sollten Sie uns nun aufklären, was hier Schreckliches geschehen ist“, bat ich Ann.

„Mein Großvater ist verstorben“, flüsterte sie. Ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz.

„Sie meinen Sir Davids Vater?“, fragte ich.

„Ja, Kara. James Aberforth 15. Earl of Lindsay.“

Ich war entsetzt. „Was ist geschehen? Sie sprachen von etwas Grauenvollem.“

„Es ist schon letzte Woche passiert. Der Kastellan fand ihn in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch niedergesunken. Sogleich schickte er nach dem Landarzt. Doch es war vergebens. Ich mache mir solche Vorwürfe, da ich mit Sofie gerade ausreiten war und Lady Angela und Shana zu dieser Zeit ein paar Tage in London verweilten. Der Earl war allein im Schloss und die Dienerschaft hat nichts bemerkt. Später vermutete unser Freund Dr. Bell aus Edinburgh, dass ein Gift eingesetzt wurde.“

„Gift?“

„Ja, Gift. Seine Zunge hatte eine seltsame Färbung. Aber das Unheimliche daran ist …“ Sie hielt den Atem an.

„Was?“, fragte ich gespannt.

„… dass nirgendwo etwas zu finden war, was er gegessen oder getrunken haben könnte, um sich zu vergiften.“

„Also vermuten Sie einen gezielten Mordanschlag?“

„Ja, etwas anderes kommt kaum infrage. Es muss ein Attentat gewesen sein. Doch von wem? Und warum? Der Earl war ein guter Mensch. Er hatte keine Feinde.“

„Nun“, warf ich nachdenklich ein, „einen zumindest schon.“

Ann seufzte. „Es waren sogar einige Agenten von Scotland Yard hier im Schloss und haben alles inspiziert. Allerdings konnten auch sie keinerlei Hinweise auf einen Einbruch oder einen Täter finden. Nun sind wir ratlos und zugleich ein wenig verängstigt. Da Sie nun aber hier sind, fühle ich mich sofort viel sicherer.“

„Tausend Dank für das Vertrauen. Ich werde die Augen offen halten. Aber ich befürchte, dass der Mörder, falls es tatsächlich einen gibt, schon über alle Berge ist.“

„Dasselbe sagten die Herren von Scotland Yard auch.“ Ann senkte den Blick.

„Vielleicht war es einer der Dienstboten des Hauses?“, mutmaßte ich. „Feinde können auch gute Menschen haben. Denn was dem einen als edle Tat erscheint, ist dem anderen ein Dorn im Auge.“

„Da mögen Sie Recht haben. Feinde hat wohl jeder. Selbst wenn er sie nicht erkennt.“ Sie machte ein gedankenverlorenes Gesicht. „Nein, aber bei der Dienerschaft hatte der Earl sicher keine. Scotland Yard hat sie zudem alle unter die Lupe genommen. Auch kenne ich die meisten schon fast mein ganzes Leben lang. Für die Angestellten im Hause Lindsay lege ich meine Hand ins Feuer. Sie waren und sind unserer Familie aufs Treueste ergeben. Sie gehören quasi zu ihr.“

„O Sihdi, der arme Sir David. Wie soll er davon erfahren?“, fragte Halef plötzlich sehr berührt. Da hatte er in der Tat Recht. Denn unser Lord weilte noch immer auf Kreta und war im Begriff, mit seinem Freund Minos Kalokairinos den Palast des Minos auszugraben.

„Wir haben ihm sofort die schreckliche Nachricht telegrafiert“, antwortete Ann in meine Gedanken hinein. „Das britische Militär war uns äußerst behilflich bei der Übermittlung. Onkel Daffy ist schon auf dem Weg nach Hause. Er wird morgen früh hier eintreffen … Es ist alles so furchtbar.“

Ich hielt tröstend ihre Hand. „Mein aufrichtiges Beileid.“

In diesem Augenblick kam Sofie Nelson aus dem Salon. Sie trug ebenfalls ein schwarzes Kleid in derselben Art wie Ann. Sofort nahm sie die Freundin in den Arm.

„Oh, Kara. Schön, Sie wiederzusehen – und Sie, lieber Halef. Es ist nur sehr traurig, dass es unter solchen Umständen geschieht.“

„Allerdings, das ist es. Ich hatte mir den Besuch auf Lindsay Castle auch etwas anders vorgestellt“, antwortete ich.

„Kommen Sie doch mit in den Salon“, bat Ann.

„Ich bin mir nicht sicher, ob wir angemessen gekleidet sind.“ Halef und ich hatten uns zwar jeder einen schwarzen Mantel zugelegt, um auf der Reise durch England nicht allzu stark aufzufallen. Nun standen wir jedoch in unserer ledernen Trapperkleidung da wie frisch aus dem Kaukasus angekommen. Im Grunde war das auch nicht abzustreiten, selbst wenn unser Pfad einen Umweg über Schottland genommen hatte. Denn der Anlass, warum wir nicht sofort mit Ann und Sofie nach Lindsay Castle geritten waren, war das Versprechen, welches ich Captain Sean MacLean gegeben hatte. Vor dessen tragischem Tod in der kretischen Höhle hatte er mir in einem Anfall von leidvoller Vorsehung Briefe an seine Verwandten anvertraut. Ich versprach ihm, diese weiterzuleiten, falls ihm etwas zustoßen sollte. Leider hatte er damals mit seiner Todesahnung richtig gelegen und der Minotaurus war ihm zum Verhängnis geworden.

„Am heutigen Abend wird sich niemand an Ihrer Aufmachung stoßen und für morgen habe ich Ihnen passende Kleidung in Ihre Zimmer gehängt“, erwiderte Ann. „Die Anwesenden sind gekommen, um vom Earl of Lindsay Abschied zu nehmen. Der kalten Witterung und der Kunst des Bestatters haben wir es zu verdanken, dass wir Sir James Aberforths Beerdigung erst morgen durchführen können und ihn heute für die engsten Vertrauten und Freunde aufbahren konnten. Onkel Da-Vid wäre sicherlich äußerst unglücklich, müsste die Beisetzung seines Vaters ohne ihn stattfinden.“

Fast fühlte ich mich heimisch, als ich Anns typische und doch seltsame Betonung des Namens David vernahm. Der außergewöhnliche Singsang ihrer Stimme war eine spezielle, aber äußerst sympathische Eigenart dieser jungen Lady.

„Das verstehe ich“, antwortete ich ein wenig abwesend. Denn mir wurde bewusst, dass mich der Wunsch eines Verstorbenen in dieses Land geführt und ich nun einen weiteren Toten zu betrauern hatte. Auch wenn ich dem Earl zu seinen Lebzeiten nicht begegnet war, so hielt ich mich für einen engen Freund von Sir David und trauerte deshalb um seinen Vater. Es tat mir aufrichtig leid.

Während wir noch immer in der Empfangshalle herumstanden, schien sich die Gesellschaft im Salon aufzulösen. Etliche der Herrschaften traten heraus und bekamen von den Dienern ihre Mäntel gereicht. Ann versuchte hektisch sich sowohl angemessen von den Damen und Herren zu verabschieden, als auch einige davon uns vorzustellen. Doch bei all den hochherrschaftlichen Namen musste ich vorerst kapitulieren. Halef und ich ließen die Vorstellungen sittsam über uns ergehen, gaben hier einem Herrn die Hand oder nickten da einer Lady höflich zu. Draußen vor dem Portal hörten wir Kutschen vorfahren. Schließlich entschwanden die Gäste in die Kälte des Abends.

Ann führte uns in den nun verwaisten Salon.

„Möchten Sie den verstorbenen Earl noch einmal sehen?“, fragte sie.

Ich nickte zur Antwort. Die junge Frau geleitete mich und Halef in ein abgedunkeltes Nebenzimmer. Sofie blieb am Kamin zurück. In dem Raum stand ein prachtvoll verzierter Sarg mit geöffnetem Deckel. Ein großer Kerzenständer war am Kopfende aufgestellt und warf einen warmen Schein auf den Verstorbenen. Der Earl lag auf weißen seidenen Kissen. Sein graues Haar und der Bart waren ordentlich gelegt, die Augen geschlossen, die Hände über der Brust gefaltet. Er trug einen dunklen feierlichen Anzug. Es wirkte, als würde er schlafen. Ich konnte kaum glauben, dass er schon vor über einer Woche verschieden sein sollte, so frisch sah er aus. Keinerlei Anzeichen deuteten auf einen gewaltsamen Tod hin. Jedoch war mir bewusst, dass ein Gift nicht unbedingt sichtbare Spuren hinterlassen musste.

Zweites Kapitel

Rasselnde Ketten

Als wir zurück in den Salon traten, standen zwei mir unbekannte Damen neben Sofie am Kamin. Beide hatten dunkles Haar und ihre orientalische Abstammung konnte ich nicht übersehen. Ann steuerte sofort auf eine der Frauen zu und umarmte sie. Ich schätzte, dass sie ungefähr in meinem Alter sein musste.

„Angela“, hörte ich sie seufzen. Dann löste sie sich von der Frau.

„Lieber Kara, darf ich Ihnen meine Tante Lady Angela vorstellen?“, sagte Ann auf Englisch und trat einen Schritt zur Seite. „Sie ist seit dem Tod meiner Großmutter die Hausherrin.“

„Lady Anahita“, korrigierte die orientalisch anmutende Dame. Ihre dunklen Augen musterten mich im ersten Moment etwas überrascht, dann freundlich.

„Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Mister Kara.“ Sie hielt mir ihre Finger entgegen, wie zum Handkuss. Und obwohl derartige Förmlichkeiten in diesem Land und in den Kreisen meines Freundes Lord Lindsay sicher üblich waren, drückte ich ihr ganz informell die Hand. Zunächst stutzte sie ob meiner ungewöhnlichen Reaktion, dann lachte sie und erwiderte den Händedruck beherzt. „Mein Bruder hält große Stücke auf Sie.“

Bevor ich über ihre Aussage bezüglich ihrer Verwandtschaft mein Erstaunen zum Ausdruck bringen konnte, wurde mir von Ann die andere Dame vorgestellt.

„Das ist Lady Anahitas Hauslehrerin Shana.“

Die junge Frau beugte grüßend das Haupt. Auch sie hatte orientalische Züge mit dunklen, geheimnisvollen, fast düster blickenden Augen. Ihr schwarzes Haar war zu Zöpfen geflochten, die kunstvoll verwoben auf ihren Rücken herabfielen. Ihre Gestalt war zierlicher als die von Lady Anahita, jedoch spürte ich, dass sie von ihrem Wesen her durchaus nicht zerbrechlich war, denn sie wirkte zwar äußerst anziehend, doch zugleich auch bedrohlich auf mich.

„Sir David ist Euer Bruder?“, fragte ich dann Lady Anahita, immer noch überrascht. Der Lord hatte nie eine Schwester erwähnt.

„Ja und nein. Wie Sie sicher schon bemerkt haben, bin ich nicht vom Blut der Lindsays. Doch Sir James war mir immer ein guter Vater. Ich bin sozusagen das Familiengeheimnis, welches so geheim ist, dass ich es selbst nicht kenne. Jedoch gibt es viele Gerüchte über meine Herkunft. Die Wahrheit hat mein Vater nun leider mit ins Grab genommen.“ Ich bemerkte, dass sich Tränen in ihren Augen bildeten. Sie musste den Earl wohl sehr geliebt haben.

Lady Anahita fasste sich wieder und wandte sich Halef zu:

„Und Sie müssen der verehrte Hadschi Halef Omar sein. Wie gefällt Ihnen Großbritannien?“, fragte sie, für mich erstaunlicherweise, auf Persisch.

Halefs Muttersprache war zwar Arabisch, doch verstand und sprach er auch ganz passabel die Sprache des angrenzenden Persiens.

„Was in der Wüste zu wenig an Wasser vom Himmel kommt, fällt hier umso mehr herab“, antwortete er.

„Das ist wohl wahr. Sie haben sich nicht die perfekte Jahreszeit für Ihren Besuch ausgewählt. Im Sommer ist es durchaus reizend hier. Dann erblüht der Park in den schönsten Farben.“

Ein Diener in schwarzer Livree trat ein und verkündete:

„Es ist angerichtet, My Ladys.“

Lady Anahita nickte ihm zu und wandte sich dann an uns:

„Kommen Sie bitte, Mister Kara und Mister Halef. Sie werden nach Ihrer langen Reise sicher hungrig sein.“

Da konnte ich nicht widersprechen und so folgten wir den vier Damen aus dem Salon hinaus in die Eingangshalle und von dort durch eine schwere Holztür in einen Speisesaal. Halef blieb auf halber Strecke zurück. Ich bemerkte es erst, während wir unter der geschwungenen Treppe hindurch die geöffneten Türflügel erreichten. Als ich mich umdrehte, sah ich meinen Freund wie angewurzelt in der Halle stehen und zur Galerie hinaufspähen. Ich ging retour und fragte ihn leise:

„Was ist? Hast du einen Geist gesehen?“

„Ich glaube, ja. Dort oben stand ein Mann. Er hatte Ketten an Händen und Füßen und zwinkerte mir zu. Dabei konnte ich durch ihn hindurchsehen, als ob er aus Nebel bestünde.“

Ich blickte zu der Stelle, auf die er nun deutete, sah allerdings niemanden.

„Wo ist er jetzt?“

„Er hat sich aufgelöst. Ich denke, es war ein Dschinn. Der Koran nennt diese Geistwesen und besagt, dass sie aus rauchlosem Feuer erschaffen sind.“ Halef starrte bei seinen Worten noch immer hinauf zu der Galerie über der Treppe. Ich kannte meinen Freund zwar als abergläubig und magiegläubig, aber zugleich als besonnen und nicht realitätsfremd. Wenn er sagte, dass er etwas gesehen hatte, dann war dort auch etwas gewesen. Deshalb zuckte meine Hand zum Gürtel und legte sich um den Pistolengriff. Wachsam ging ich ohne Eile die Treppe hinauf. Ich glaubte zugegebenermaßen nicht, dass Halef tatsächlich ein Gespenst gesichtet hatte. Allerdings überkam mich das ungute Gefühl, dass der Mörder des Earls noch im Haus herumschleichen könnte. Oder vielmehr, dass er wiedergekommen sei, was realistischer war, als dass er sich hier über eine Woche versteckt gehalten haben könnte. Denn, wie heißt es? Der Mörder kommt meist an den Schauplatz seiner Tat zurück. War er womöglich zurückgekehrt?

„Kara?“, hörte ich Anns Stimme. Sie klang leise, als wolle sie nicht von jedem gehört werden. „Was ist geschehen?“

Ich ignorierte sie vorerst und schlich weiter in die obere Etage. Dort war es düster. Eine Kerze wäre nun von Nutzen gewesen. In Ermangelung dieser Beleuchtung schritt ich nur vorsichtig voran. Die Gänge zu den Seitenflügeln des Schlosses waren leer, soweit ich das im Dämmerlicht ausmachen konnte. Auch sämtliche angrenzenden Türen zeigten sich mir verschlossen. Nichts war zu hören und nirgends regte sich etwas. Also kehrte ich um und ging die Treppe wieder hinunter.

„Falscher Alarm, Ann. Halef glaubte, jemanden hier oben gesehen zu haben.“

„Nicht irgendjemanden. Sondern einen Geist mit Ketten an Händen und Füßen.“

„Wirklich?“, rief Ann erstaunt aus.

„Darf ich fragen, um was es geht, Mister Kara?“ Lady Anahita stand nun ebenfalls neben uns in der Eingangshalle und sah uns verwundert an. Neben ihr blickte mir Miss Shana forschend in die Augen. Wir waren ins Arabische abgedriftet und dieser Sprache schien Lady Anahita nicht mächtig zu sein. Also bediente ich mich erneut des Englischen.

„Wie es scheint, hat Halef Euer Schlossgespenst erblickt.“

„Oh, das ist faszinierend. Keiner von uns hat es je gesehen. Wie sieht es aus?“

Jetzt war ich es, der verdutzt dreinblickte. War das tatsächlich ernst gemeint? Glaubte hier jeder außer mir an Geister?

„Es war ein hagerer Mann, nicht alt, mit langem, strähnigem Haar und Ketten an Händen und Füßen“, antwortete Halef in solcher Selbstverständlichkeit, dass ich es nicht fassen konnte. Auch die Damen sprachen darüber, als sei diese Geistererscheinung eine tagtägliche Normalität.

„Porky muss demnach ein Gefangener gewesen sein. Vielleicht wurde ihm Unrecht getan und nun findet seine Seele keine Ruhe“, bemerkte Ann.

„Womöglich ist Mister Halef auserwählt, ihn zu erlösen“, warf Lady Anahita ein.

„Was? Ich? Wieso?“ Halef blickte mich fragend an. Ich konnte nur mit den Schultern zucken.

„Nun, weil Sie ihn sehen können. Dazu war seit Jahrzehnten niemand hier mehr in der Lage“, erklärte Ann. „So ist es doch, Tante Angela, äh – Anahita?“

Lady Anahita nickte.

„Das ist durchaus möglich. In der Tat konnten wir ihn bis dato nur hören.“ Sie schloss die Augen, als ob sie angestrengt lauschte. Es war mit einem Mal totenstill im Schloss. Wir standen zu sechst in der Eingangshalle und versuchten, die Geräusche eines Gespenstes zu vernehmen. Doch das Einzige, was ich vorerst hörte, waren mein Herzschlag und der Wind, der draußen um das Gebäude wehte. Aus dem Salon drang nun auch das Prasseln des Feuers gedämpft an mein Ohr und irgendwo tickte eine Uhr.

Plötzlich ertönte ein lautes Klopfen. Alle zuckten unwillkürlich zusammen und blickten sich erschrocken in die Augen.

„Der Geist?“, flüsterte Halef.

Ann begann zu lachen und das Klopfen wiederholte sich. Der Kastellan schritt an uns vorbei und hatte eine ungläubige Miene aufgesetzt. Wahrscheinlich mussten wir alle auf ihn wie geistig umnachtet wirken.

„Nein. Es kündigt sich ein weiterer Gast an“, erklärte Ann und löste den Bann.

Die Pforte wurde geöffnet und zwei Männer traten ein. Sie trugen lange dunkelgraue Mäntel, die sie nun dem Diener übergaben, ebenso ihre Hüte. Ein Knecht brachte die Koffer der Herren herein und verschwand wieder.

„Willkommen, Dr. Bell“, rief Lady Anahita erfreut und stürzte dem älteren der beiden Herren entgegen. Er hatte kurzes weißes Haar, wirkte jedoch noch recht jung. Er mochte so um die vierzig Jahre alt sein. Freundlich begrüßte er die Damen des Hauses mit einem Handkuss.

„Dies ist ein guter Freund meines verstorbenen Vaters: Dr. Joseph Bell aus Edinburgh“, stellte uns Lady Anahita den Herrn vor. „Er war sofort gekommen, als der Kastellan nach ihm schickte und der Landarzt hier nur noch Vaters Tod feststellen konnte. Aber der Weg von Edinburgh mittels der Waverley Line dauert einen halben Tag und zudem fährt die Eisenbahn nur einmal täglich. Deshalb konnte auch er Vater nicht mehr retten. Jedoch hat Dr. Bell eine ausgesprochen scharfe Beobachtungsgabe. Ihm haben wir die Erkenntnis zu verdanken, dass …“ Sie brach ab.

„… dass Sir James Aberforth einem Mordanschlag zum Opfer fiel“, ergänzte der Arzt mit tiefer Stimme und reichte mir die Hand.

„Kara Ben Nemsi“, stellte ich mich vor, „und das ist mein Freund Hadschi Halef Omar.“

Dr. Bell gab auch Halef die Hand.

„Oh, Sir David hatte uns schon von Ihnen berichtet, Mister Kara. Sie kommen aus Deutschland?“

„Ja, ich bin Reiseschriftsteller aus Radebeul.“

„Schriftsteller und Abenteurer, wie man hört“, ergänzte er lächelnd.

„Wen haben Sie uns da mitgebracht, Dr. Bell?“, fragte Ann.

„Das ist mein Assistent Arthur Conan Doyle. Ein sehr talentierter junger Mann und zudem äußerst abenteuerlustig“, stellte der Arzt uns seinen Begleiter vor. „Mister Doyle hat sich vorgenommen, die Welt als Schiffsarzt zu entdecken.“

Der Erwähnte hatte einen zarten Oberlippenbart und trug sein glattgestrichenes Haar seitlich gescheitelt. Er war etwas größer als ich und von sportlicher Gestalt.

Freundlich lächelte er mich an und sagte:

„Ben Nemsi? Heißt das nicht Sohn des Österreichers?“

Ich blickte ihn erstaunt an, denn er sprach Deutsch.

„Das ist korrekt. Es rührt aus einem Missverständnis … Ich bin überrascht, dass Sie meine Sprache sprechen, Mister Doyle.“

„Ja, ein wenig. Ich bin eine Zeitlang in Feldkirch in Österreich in der Stella Matutina bei den Jesuiten zur Schule gegangen.“

„Meine Herren, ich schlage vor, dass wir uns zunächst zu Tisch begeben. Dort können Sie in Ruhe Ihr Gespräch fortsetzen“, warf Lady Anahita ein.

Der Doktor bot ihr sofort den Arm an und die beiden schritten nun voran in den Speisesaal. Halef und ich flankierten Ann und Sofie, die geheimnisvolle Miss Shana begleitete Mister Doyle. Obwohl sie als Hauslehrerin eine Angestellte war, durfte sie offenbar mit den Herrschaften speisen. Das verwunderte mich zunächst, aber ich erinnerte mich sodann, dass Hauslehrerinnen auch als Gouvernanten bezeichnet wurden. Normalerweise wurden sie für die Unterrichtung von Kindern eingestellt. Hier verhielt es sich offenbar anders, da Lady Anahita durchaus kein Kind mehr war. Dennoch schien Miss Shana den gleichen Stellenwert wie eine solche Gouvernante einzunehmen, der durchaus höher war als der der übrigen Dienerschaft und das gemeinsame Speisen mit der Herrschaft einschloss.

Der große Raum wurde von einer ausladenden Tafel dominiert. Jedoch waren nur am linken Ende acht Plätze gedeckt. Dahinter prasselte ein Feuer in einem steinernen Kamin. Leuchter mit Kerzen erhellten die aufgetragenen Speisen. In diesem Augenblick musste ich an eine ganz andere Speisetafel denken, an der ich vor nicht allzu langer Zeit gesessen hatte. Es war die Speisetafel des Prinzen Dadiani in dessen Palast in Mingrelien, wo wir zu einem opulenten Mittagessen geladen und der Tisch prall gefüllt gewesen war mit fremdländischen Speisen. Doch auch wenn ich damals nicht alles gekannt hatte, was ich erblickte, und ebenso auf dieser Tafel im Hause der Lindsays einige mir unbekannte regionale Gerichte kredenzt wurden, so waren doch beide Mahlzeiten bei Weitem nicht mit denen eines Gastgebers zu vergleichen, der mir noch jetzt, wenn ich an ihn dachte, einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Es war jener Kapitän Nemo tief im Mittelmeer in seinem Unterseeboot, der Nautilus, der mir nun in den Sinn kam. Damals hatten sich so seltsame und außergewöhnliche Gerichte auf dem Tisch getürmt, dass meine Freunde und ich nicht recht wussten, ob alles unbedenklich genießbar war. Im Gegensatz zum täglichen Ritual auf der Nautilus, wo der Kapitän die Stirnseite des Tischs dominiert hatte, war hier jener Stuhl unbesetzt. Es lag kein Gedeck an der Stelle, stattdessen stand dort ein kleines Töpfchen mit einer weiß blühenden Narzisse.

„Wir haben heute keine strenge Sitzordnung“, erklärte Lady Anahita. „Nur möchte ich zum Gedenken an meinen Vater seinen Platz freilassen, so wie auch er jahrelang den Platz seiner viel zu früh verstorbenen geliebten Frau freigelassen hatte.“

Also setzen sich Halef, ich, Sofie und Ann auf die eine Seite des Tischs und Doktor Bell, Lady Anahita, Miss Shana und Mister Doyle uns gegenüber. Die Sitzordnung ähnelte somit wieder jener bei Prinz Dadiani. Mit Blick auf die Blume flüsterte Halef versonnen:

„Wer zwei Brote hat, verkaufe eines und kaufe sich Narzissenblüten dafür. Denn Brot ist nur dem Körper Nahrung, die Narzisse aber nährt die Seele.“

„Das haben Sie schön gesagt, Mister Halef.“ Lady Anahita war sichtlich gerührt.

„Das stammt nicht von mir. Das ist ein Spruch Mohammeds.“

„Trotzdem war es sehr poetisch und passend. Die Blüte haben wir unserem Gärtner zu verdanken, der diese Zwiebel dem hart gefrorenen Boden abringen konnte und sie mit Liebe und Wärme innerhalb weniger Tage zum Erblühen brachte.“

Auch die anderen Gäste blickten bei Halefs Äußerung gerührt zu der Blume hinüber, die über Lord James verwaisten Platz wachte.

Während des Mahls, das aus Hirschbraten, verschiedenerlei Gemüse und einer Art Brötchen mit Mulde bestand, welches sich als sogenannter Yorkshire Pudding entpuppte, hatte ich das Gefühl, ständig von Miss Shana beobachtet zu werden. Sie saß mir gegenüber, blickte mich zwar nie direkt an, doch spürte ich ihr Interesse. Die anderen unterhielten sich gedämpft über belanglose Dinge, wahrscheinlich, um sich von der Trauer um den Earl of Lindsay abzulenken. Irgendwann sah mir die orientalische junge Frau herausfordernd in die Augen und fragte:

„Was hat Sie eigentlich nach Großbritannien verschlagen, Mister Kara?“

„Aber das habe ich dir doch schon erzählt, Shana“, warf Miss Ann ein.

„Ach, berichten Sie doch, Mister Kara. Ich habe die Geschichte noch nicht gehört.“ Dr. Bell lachte mich auffordernd an.

Also ging ich darauf ein und erzählte, was sie begehrten. Da ich hier als Reiseschriftsteller vorgestellt worden war und zudem die Anwesenden ein Verlangen nach Ablenkung von den tragischen Umständen dieser Zusammenkunft zu haben schienen, hielt ich es für angemessen, die Geschichte ausführlich vorzutragen.

So berichtete ich:

Eigentlich war es mein Begehren gewesen, nach den Abenteuern mit Old Firehand im Kaukasus, zurück an meinen Schreibtisch in Radebeul zu reisen. Ich hatte durchaus ein wenig Erholung nötig. Auch mein guter Freund Halef sehnte sich nach seiner geliebten Hanneh und seinem Sohn Kara. Da machte uns die liebreizende Ann einen Strich durch die Rechnung – oder war dies doch meiner und Halefs Neugier zu verdanken? Beim Abschied kamen wir auf Captain MacLean zu sprechen, wobei ich mir an die Brust griff und die Briefe erspürte. Nachdenklich zog ich das Bündel hervor.

„Ich habe dem Captain versprochen, sie seiner Familie zu überbringen“, murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu den Umstehenden.

„Nach Schottland?“, fragte Ann. In ihren Augen blitzte es verdächtig auf.

„Ja, gewiss. MacLeans Eltern wohnen im äußersten Norden Großbritanniens. Doch sehe ich im Moment keine Möglichkeit, dem Versprechen persönlich nachzukommen. Ich könnte sie in der britischen Botschaft in Dresden abgeben, wenn ich auf dem Nachhauseweg bin.“

„Oh, im Internat fanden wir es immer schön, Briefe von zu Hause zu erhalten. Noch schöner, wenn sie ein Bote der Familie in persona … Oh, sorry, das geht mich nichts an.“ Sie senkte den Blick.

„Ja, ich würde sie wohl sehr gern persönlich überbringen, doch …“

„… doch Ihnen fehlt ein guter Grund, eine so weite Reise anzutreten.“ Ihre Zähne blitzten mich durch ein verschmitztes Lächeln an.

Ich nickte.

„Den Anreiz kann ich Ihnen gern liefern.“ Grinsend hakte sie sich bei Sofie unter. „Wir müssen schließlich zurück nach Lindsay Castle und über Ihre Reisebegleitung wären wir sehr glücklich. Allein ist es bestimmt äußerst langweilig. Mit Ihnen wird das Abenteuer uns bestimmt stets auf dem Fuß folgen.“

„Aber Ann, haben Sie noch nicht genug Abenteuer erlebt?“, antwortete ich schmunzelnd.

„Ach, die Welt ist so groß. Da gibt es schließlich eine Menge zu erleben. Zunächst jedoch würde ich Sie gern nach Lindsay Castle einladen, auch wenn Onkel Daffy – äh – Onkel Da-Vid nicht anwesend ist, da er noch immer auf Kreta herumbuddelt.“ Sie blickte mir erwartungsvoll in die Augen.

„Geben Sie mir ein wenig Bedenkzeit“, antwortete ich lächelnd. Die junge Frau war so ungestüm, denn wahrscheinlich freute sie sich allzu sehr auf ihre Heimat. Doch auch ich wollte gern in meine Heimat reisen, nach all den Abenteuern auf Kreta, in der ‚Nautilus‘ und im Kaukasus mit Old Firehand. Andererseits rührte mich die Erinnerung an den jungen Captain und ich fühlte mich verpflichtet, meinem Versprechen nachzukommen. Und ein Besuch auf Lord Lindsays Schloss wäre sicherlich interessant und zudem erholsam. Schließlich winkten dort keine todbringenden Gefahren, sondern der Luxus einer Aristokratenfamilie. Halefs Neugier auf das ferne England überwog letzten Endes den Wunsch, in die Heimat zu fahren. Also machten wir beide uns mit Ann Lindsay und Sofie Nelson per Bahn und Schiff und letztlich ab dem nordenglischen Ort Carlisle zu Pferd auf, um das Schloss unseres Freundes zu besuchen. Nach kurzem Weg trennten wir uns von den jungen Damen, die schon voraus nach Lindsay Castle reisten. Halef und ich wollten einige Zeit später nachkommen. Zunächst jedoch ritten wir Richtung Norden, überquerten die Reste des historischen Hadrianswalls und begaben uns in die Highlands von Schottland. Wir fanden MacLeans Familie, so wie der Captain es beschrieben hatte, in einem kleinen Ort am Meer. Noch immer war der Vater mit dem Bau von Booten beschäftigt und Seans jüngerer Bruder, von dem er mir nichts erzählt hatte, war ebenfalls ein tüchtiger Bootsbauer geworden. Es fiel mir schwer, die traurige Botschaft zu überbringen, welche die Mutter in Tränen ausbrechen ließ. Auch der Vater und der Bruder waren äußerst ergriffen. Ich berichtete ihnen, wie ich ihren Sohn kennengelernt hatte und dass er ein mutiger und ehrenvoller Soldat war sowie letztendlich auch ein treuer Freund. Sie beteuerten mir, dass sie schon längst keinen Groll mehr gegen ihn gehegt und ihn liebend gern wieder wohlauf in die Arme geschlossen hätten. Sein Tod würde eine Lücke in ihren Herzen zurücklassen, die nichts und niemand zu füllen vermochte. Die Briefe waren ihnen ein tiefer Trost. Zudem versicherte mir der Bruder, dass er die Schreiben an MacLeans große Liebe Claire gern nach Aberdeen bringen würde.

So verabschiedeten wir uns, ohne dass ich je erfahren hätte, was in diesen Briefen stand. Ich war mir jedoch sicher, dass MacLean darin Frieden mit seiner Familie und mit Claire geschlossen hatte, und hoffte für ihn, dass er nun auch in diesem Frieden ruhen konnte. In bedrückter Stimmung ritten Halef und ich zurück nach Süden Richtung Lindsay Castle.

Nach meiner Erzählung herrschte zunächst andächtige Stille, denn die Geschichte um MacLean rührte die Anwesenden offenbar. Nur Miss Shana fixierte mich mit ihrem dunklen geheimnisvollen Blick.

„Verzeihen Sie, Mister Kara, wenn wir Fremden gegenüber ein wenig misstrauisch sind, nach all dem, was geschehen ist.“

„Ich kann Ihnen versichern, dass ich dem Hause Lindsay in Freundschaft verbunden bin.“

„Aber Shana, Kara ist doch kein Fremder! Er ist Onkel Da-Vids guter Freund. Und auch ich bin froh, ihn einen Freund nennen zu können.“

„Darf ich fragen, was Sie hier in dieses Schloss geführt hat oder überhaupt in dieses Land?“, fragte ich. Obwohl ich im Gesicht der Frau keine Regung erkannte, so sah ich doch in ihren Augen eine gewisse Irritation.

Lady Anahita war es dann jedoch, die antwortete:

„Daran bin ich schuld. Auch wenn ich als Lady Angela Lindsay aufwuchs, so war mir stets bewusst, dass ich nicht wirklich vom Blut der Lindsays stamme. Es gab und gibt viele Gerüchte über meine Herkunft. Doch was wahr ist und was nicht, kann ich nicht oder noch nicht beurteilen. Einiges ist aber unübersehbar und das sind meine orientalischen Wurzeln. Obwohl mein geliebter Vater mir alle Informationen darüber vorenthalten hatte, so bin ich mir stets gewiss gewesen, dass meine Wiege in Persien stand. Zunächst hatte Vater meine Vermutung diesbezüglich nie bejaht, jedoch auch nie bestritten und das war mir vorerst Bestätigung genug. Letztes Jahr gab er meinem Drängen plötzlich nach und offenbarte mir, dass ich tatsächlich in Persien geboren wurde und mein eigentlicher Name Anahita – Engel des Wassers – sei. Um meine Identität zu vertuschen, hatte mein Vater mich Angela – Engel – genannt und so ins Geburtenregister eintragen lassen.“

„Oh“, entgegnete Ann, „das hast du uns verschwiegen. Ich dachte, du hättest dich selbst so genannt.“

Anahita lächelte entschuldigend.

„Vater nahm mir das Versprechen ab, meine persische Herkunft zu verschweigen. Aber ich muss zu meinem Bedauern gestehen, dass ich das Versprechen gebrochen habe. Es nagte so sehr an mir, mehr über das Land und die Sprache zu erfahren, aus deren Schoß ich stamme, dass ich heimlich nach London fuhr und jemanden suchte, der mir die persische Sprache, Kultur und Geschichte nahebringt. In Diplomatenkreisen suchte ich möglichst unauffällig nach einer Lehrerin und diese fand ich schließlich wie durch Zauberhand in Shana. In den Monaten, seit Shana hier im Hause weilt, ist sie mir eine wahre Freundin geworden und weicht mir nicht von der Seite. Uns verbindet eine fast schwesterliche Liebe zueinander.“

„Lady Anahita ist mir ans Herz gewachsen. Ich bin stets auf ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen bedacht.“

„Warum sind Sie auf ihre Sicherheit bedacht? Ich dachte, Sie seien ihre Lehrerin und nicht ihr Leibwächter.“ Ich wusste nicht zu sagen, warum, aber die junge Frau erschien mir auf seltsame Weise verdächtig. Ich spürte, dass sie etwas zu verbergen suchte.

Mister Doyle begann plötzlich zu lachen.

„Was erweckt Ihre Heiterkeit, Mister Doyle?“, fragte die junge Frau. In ihren dunklen Augen blitzte es gefährlich auf.

„Entschuldigen Sie, aber das ist alles in höchstem Maße inspirierend. Mir scheint, hier soll ein Mord aufgeklärt werden, und in der Aufregung verdächtigen Sie sich alle gegenseitig. Das ist sehr spannend. Vielleicht sollten wir aber die Einzelheiten des Verbrechens zunächst auflisten, dann die Indizien ordnen und Spuren suchen.“

„Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen“, antwortete Shana und verließ eilig den Raum.

„Verzeihen Sie mir, Lady Anahita, ich hatte nicht vor …“

„Schon gut, Mister Kara. Ich möchte mich entschuldigen für das ungewöhnliche Verhalten von Shana. Es ist mir schleierhaft, was in sie gefahren ist. Sonst ist sie eher still und zurückhaltend. Sie scheint eine Gefahr zu wittern, aber offensichtlich an der falschen Stelle.“

Damit erhob sie sich und beeilte sich, ihre junge Freundin einzuholen.

„Wenn ich auch etwas zu dieser interessanten Unterhaltung beisteuern dürfte“, begann Dr. Bell. „Auch wenn Miss Shanas Verhalten suggeriert, dass Mister Kara Ben Nemsi etwas mit dem Mord zu tun hätte, ist diese Verdächtigung natürlich unhaltbar. Er war zu dieser Zeit ja noch in Schottland unterwegs. Bei meinen Kooperationen, die ich mit Scotland Yard hege, ist mir zudem aufgefallen, dass Gift die Waffe der Frau ist. Somit würde ich die männlichen Bediensteten und den Kastellan als Mörder ausschließen.“ Er lachte. „Aber natürlich ist das rein spekulativ und auch Miss Shana hat keinesfalls etwas mit dem Tod unseres geliebten Earls zu tun. Ich habe sie in den letzten Monaten kennengelernt und sie war Lady Angela, oder besser gesagt, Lady Anahita immer eine gute Freundin. Trotzdem ist das hier eine faszinierende Situation und wir sollten tatsächlich, wie Mister Doyle vorgeschlagen hat, nochmals alle Indizien sammeln. Vielleicht kommen wir dadurch dem Geheimnis auf die Spur.“

Ann erhob sich. „Verehrte Herren, ich bin im Moment sehr verwirrt. Ich glaube, die angespannte Lage der letzten Woche hat sich heute Abend bei einigen von uns in absurden Gedankengängen entladen. Ich denke, es ist das Beste, wenn wir uns jetzt alle zurückziehen. Der morgige Tag wird für uns nunmehr der schwerste werden, da wir meinen Großvater zu Grabe tragen müssen, und wir sollten bis dahin noch Kraft schöpfen.“ Eine Träne rollte über ihre Wange. Dann verließ sie mit Sofie an ihrer Seite den Raum.

„Ich glaube, wir sind hier heute Abend ein wenig zu weit gegangen“, erklärte ich. „Sicherlich ist es vonnöten, den Mord an dem Earl of Lindsay aufzuklären, falls es wirklich einer gewesen sein sollte. Aber im Moment gilt es, die Trauer der Damen zu respektieren.“

„Da mögen Sie Recht haben“, antwortete der junge Doyle. „Doch sollte man die Spuren nicht erkalten lassen.“

„Die Tat liegt über eine Woche zurück. Sämtliche Spuren sind schon erkaltet“, warf ich ein.

„Nicht unbedingt. Wir könnten in den Papieren und Unterlagen des Lords forschen.“

„Das scheint mir zwar eine gute Idee zu sein, doch der Zeitpunkt ist unpassend.“

„Das ist wahr. Wir sollten zunächst die Beerdigung abwarten“, erwiderte Doyle, „und eventuell auch die Augen offen halten. Denn der Mörder …“

„… kommt oft an den Tatort zurück“, ergänzte ich.

Doyle nickte lächelnd. „Womöglich sollten Sie keine Reiseerzählungen schreiben, lieber Kara Ben Nemsi, sondern Kriminalgeschichten.“

„Das ist nicht mein Metier, Mister Doyle. Vielleicht könnten Sie sich dieses Genres annehmen?“

„Oh, ich bin Arzt und kein Schriftsteller. Aber, wer weiß, was das Leben für Überraschungen bereithält.“ Versonnen starrte er auf sein Glas in der Hand. „Ein Detektiv, der von einem Arzt unterstützt wird …“, murmelte er.

Wenig später begaben Halef und ich uns in eines der oberen Geschosse, um unsere Zimmer zu erreichen. Diesmal hatte ich eine Kerze dabei, um den Weg zu beleuchten.

„Mit was habt ihr die Damen verärgert, Sihdi? Ich habe nicht jedes Wort verstanden.“

„Ich glaube, die Gefühle gehen gerade mit einigen von uns durch. Besonders, wie mir scheint, mit Miss Shana. So sehr sie sich auch um Lady Anahita bemüht, komme ich nicht umhin, sie verdächtig zu finden.“

„Verdächtig? Inwiefern? Hat sie etwas mit dem Tod des Earls zu tun?“

„Ich weiß nicht, Halef. Doch ausschließen möchte ich es nicht.“

Halef blieb abrupt stehen.

„Da, Sihdi! Siehst du es?“

Sein plötzlicher Ausruf ließ mich zusammenzucken.

Ein Tropfen Wachs löste sich von der Kerze in meiner Hand und fiel auf den Teppich des Gangs herab. Mein Gefährte stand stocksteif neben mir und starrte auf etwas im Flur. Ich blickte angestrengt in die Düsternis, konnte jedoch nur Ritterrüstungen im fahlen Licht des Kerzenscheins schimmern sehen sowie geschlossene Türen.

„Ich erblicke nichts, Halef“, gestand ich.

„Da steht er, der Geist, das Gespenst, was weiß ich.“

„Wo?“

„Fünf Meter vor uns, mitten im Gang.“

Ich sah keine Menschenseele, so sehr ich mich auch bemühte. Das machte mir Sorge. Hatte Halef etwas Falsches gegessen oder getrunken? War darin möglicherweise eine Spur von dem Gift enthalten gewesen, welches den Earl getötet hatte, und bereitete nun meinem Freund Halluzinationen?

„Hörst du es wenigstens?“, flüsterte er angespannt.

Ich lauschte. Und tatsächlich vernahm ich ein leises Klirren wie von Ketten; oder war es nur der Wind, der draußen über die Dächer fegte, oder meine Phantasie?

„Jetzt ist das Gespenst einfach durch eine Mauer gegangen. Verschwunden.“

„Dann sollten wir nun auch verschwinden, Halef. Und zwar in unsere Zimmer.“

„Ich denke, dass ich in der Nacht kein Auge zutun werde, wenn ein Gespenst hier herumgeistert.“

„Wir lassen die Verbindungstür offen“, versuchte ich meinen Freund zu beruhigen. Ich glaubte nicht, dass wirklich ein Geist hier sein Unwesen trieb, sondern dass Halef aus irgendeinem Grund in diesem Schloss halluzinierte.

„Auch wenn du mir nicht glaubst, Sihdi, so ist es doch wahr. Hier schleicht ein Gespenst durchs Haus. Und aus einem unerklärlichen Grund kann nur ich es sehen.“

„Lass uns erst einmal ausschlafen, Halef. Morgen werden wir eine Erklärung dafür suchen.“

Wir traten in unsere Zimmer und ließen die Verbindungstür geöffnet. Ich war durchaus müde und verfiel recht schnell in Schlaf. Doch bevor ich ins Land der Träume abdriftete, hörte ich, wie Halef sich unruhig im Bett herumwälzte, und zwischen dem Rascheln seines Bettzeugs war mir, als würde ich das Klirren von Ketten vernehmen.

Drittes Kapitel

Abschied vom Earl of Lindsay

Am nächsten Morgen trugen Halef und ich die schwarzen Anzüge, welche uns Ann zurechtgelegt hatte. Die Größen stimmten ausgesprochen gut überein. Mein Freund hatte zudem seinen Turban gegen einen Fes getauscht. Trotzdem kamen wir uns seltsam kostümiert vor, mochten allerdings kein Aufhebens darum machen, schließlich stand die Beerdigung eines hohen Bürgers dieses Landes an. Überdies wollten wir Anns und Lady Anahitas Wünschen entsprechend gekleidet sein. Das Gespenst hatte offenbar Halefs Schlaf nicht gestört, da er es mit keinem Wort erwähnte. Auch hörte ich nichts, was mich an Kettengerassel erinnerte, jedoch eine Vielzahl von Stimmen. Das Schloss füllte sich mit Menschen, und als wir die gewundene Treppe hinunter in die Halle schritten, öffnete sich erneut die große Eingangstür, um einem weiteren Gast Einlass zu gewähren. Anscheinend hatte es zu schneien begonnen, denn der Wind trieb eine Wolke Flocken herein und mit ihr unseren Freund Sir David Lindsay. Sogleich kamen die beiden Damen des Hauses herbeigeeilt.

„O David. Es ist so furchtbar“, hörte ich Lady Anahita schluchzen, als sie ihrem Bruder um den Hals fiel. „Ich mache mir Vorwürfe, dass ich nicht da war. Vielleicht hätte ich es verhindern können.“ Ihr schwarzes Haar war in Zöpfe geflochten und kunstvoll im Nacken drapiert. Sie war eine anmutige und zugleich geheimnisvolle Erscheinung, fast so wie ihre Lehrerin Shana, die ihr wie ein Schatten folgte.

„Anahita, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Der Lord umarmte auch Ann und gab Miss Shana die Hand. Dann schweiften seine Augen durch den Raum und er gewahrte mich und Halef auf der Treppe stehen. Ich bemerkte die Überraschung in seinem Blick. Eilig wollte ich die letzten Stufen hinuntergehen, um ihn zu begrüßen und ihm mein Beileid auszudrücken, doch schon war er umringt von Damen und Herren des britischen Adels. Seine Rührung über diese Zuwendungen war augenfällig und zugleich seine Überforderung mit dieser Menschenmenge.

„Sorry, my Ladys and my Lords, aber ich benötige ein wenig Zeit“, bekundete er schließlich förmlich und löste sich aus der Schar der Trauergäste. Fast hastig entschwand er durch den Salon und eilte hinein in den Raum, in dem sein Vater aufgebahrt ruhte.

„Guten Morgen, Kara und Halef“, begrüßte uns Ann. „Auch wenn der Morgen nicht wirklich gut ist. Ich habe ein Frühstück für euch richten lassen. Ausnahmsweise in der Küche, da der Speisesaal voll mit Trauergästen ist. Ich hoffe, es stört euch nicht.“

„Gewiss nicht. Ich würde nur vorher gern Sir David begrüßen“, erwiderte ich.

„Mein Onkel ist recht aufgelöst, glaube ich. Er hat sich bei seinem Vater eingeschlossen. Wir sollten ihm etwas Zeit zugestehen.“

„Ja, da haben Sie Recht“, antwortete ich mechanisch. Jedoch war mir nicht ganz wohl dabei, denn ich erinnerte mich an die Zeit auf der Nautilus. Als Kapitän Nemo das britische Patrouillenboot versenkt hatte und Sir David den Tod seiner Landsleute hilflos mitansehen musste, hatte er sich danach tagelang in seine Kabine zurückgezogen und war wie paralysiert gewesen. Ich wollte ihm heute gern als Freund zur Seite stehen, doch gleichzeitig auch nicht aufdringlich sein. Denn ich sah und spürte, dass Halef und ich hier nicht wirklich hingehörten. Diese Lords und Ladys lebten in einer anderen Welt als der, in welcher wir uns gewöhnlich bewegten. So begleiteten wir zunächst Ann in die Küche, um zu frühstücken. Dort trafen wir auf Dr. Bell und Mister Doyle. Ann verließ uns eilig wieder, anscheinend lag die Organisation der Beerdigung hauptsächlich in ihren Händen. Lady Anahita war, so schien mir, in ihrer Trauer um den Vater noch ebenso gefangen wie unser Freund Sir David. Ich machte mir Sorgen um ihn.

„Mister Kara“, riss mich Doyle aus meinen Gedanken, „heute ist es unpassend, aber morgen würde ich gern im Schloss auf Spurensuche gehen. Mögen Sie mich dabei begleiten?“

„Sehr gern. Auch ich habe großes Interesse daran, den Tod des Earls aufzuklären – schon meines Freundes Lord Lindsays wegen.“

„Earl“, korrigierte mich Dr. Bell, „Sir David ist seit dem Tod seines Vaters nun der Earl of Lindsay.“

„Da haben Sie Recht. Daran muss ich mich erst gewöhnen.“

Ich fragte mich, wo Anns Eltern waren. Sie waren mir hier im Schloss noch nicht vorgestellt worden. Als ich die ballonfahrende Ann damals im Zagros-Gebirge kennengelernt hatte, da hatte sie angedeutet, dass ihr Vater den Titel erben würde und Sir David so etwas wie das schwarze Schaf der Familie sei. Später hatte mich David darüber aufgeklärt, dass er der Ältere sei, aber um seinen Bruder Thomas machte auch er ein Geheimnis.

„Wo befinden sich eigentlich Sir Davids Bruder Thomas und seine Frau? Nehmen Anns Eltern nicht an der Beerdigung teil?“, fragte ich neugierig.

Bell räusperte sich und ich spürte, dass er verlegen war.

„Niemand spricht gern darüber. Man munkelt nur, dass Sir Thomas seit damals – äh – seit geraumer Zeit in Indien diene.“

Da dieses Thema scheinbar sehr heikel war, wollte ich nicht länger bohren und zügelte meine Neugier. Auch wenn ich gern gewusst hätte, was damals passiert war. Ann schien die Angelegenheit auf ihre ganz persönliche Art zu verarbeiten und nun wusste ich, dass ich mir nie sicher sein konnte, ob dass, was sie über Ihre Eltern preisgab, der Wahrheit entsprach.

Wenig später begaben wir uns in den Salon, der mit Menschen bevölkert war, dass es mir fast die Luft zum Atmen nahm. Überhaupt war das gesamte untere Geschoss des Schlosses völlig überfüllt. Sir David konnte ich jedoch nirgends ausmachen. Als ich in dem Getümmel endlich Ann wahrnahm, die gerade mit einigen Damen und Herren sprach, und sich unsere Blicke zufällig trafen, nickte sie bedeutungsvoll in Richtung des Trauerzimmers. Ich sah, dass dessen Tür verschlossen war, und folgerte, dass sich mein Freund noch immer dort verschanzt hielt. Also trat ich an die Tür und klopfte. Ich lauschte angespannt, bekam jedoch keine Antwort. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und war überrascht, dass sie sich öffnen ließ. So schob ich leise die Tür auf und ein Strahl von Licht fiel in den düsteren Raum. Sir David kniete am Sarg seines Vaters und hatte die Stirn auf die geballten Fäuste gestützt. Als er mein Eintreten registrierte, hielt er wie abwehrend, allerdings ohne aufzublicken, eine Hand in meine Richtung. Ich schloss die Tür hinter mir und der Lichteinfall aus dem Salon sowie die Geräusche der gedämpften Unterhaltungen versiegten.

Lindsay sah auf.

„Ach, Ihr seid es, Kara“, murmelte er.

„Ich habe mir Sorgen gemacht.“

Sir David schaute mich überrascht an. Ich bemerkte seine geröteten Augen, deren Blick allerdings nicht abwesend wirkte wie auf der Nautilus, sondern wach. In diesem Moment stand er auf und strich den schwarzen Gehrock glatt.

„Keine Sorge, my friend. Ich habe nur etwas Zeit benötigt, um mich von meinem Vater zu verabschieden. Es besteht kein Grund, sich um mich Gedanken zu machen. Doch ich danke Euch, denn Ihr seid ein treuer Freund.“ Er kam auf mich zu und umarmte mich herzlich. „Wieso seid Ihr eigentlich hier? Ich war sehr überrascht, Euch zu sehen.“

„Diesen Umstand haben wir Ann und Captain MacLeans Briefen zu verdanken.“

„Well, so habt Ihr also Euer Versprechen eingelöst?“

„So ist es und nun gilt es Euren Vater zu betrauern. Das tut mir aufrichtig leid.“

„I can’t believe it. Ich bin noch immer fassungslos. Und doch keimt in mir ein weiteres Gefühl auf, dessen ich nicht recht Herr werde.“ Sir David ballte die Hände zu Fäusten. „Es ist Wut, Wut auf den feigen Mörder, der diesen noblen Menschen in sein Grab beförderte.“

„Das kann ich durchaus verstehen“, antwortete ich, und bevor ich tröstende Worte fand, kam Ann herein.

„Onkel, der Bestatter wartet. Der Sarg muss geschlossen werden“, flüsterte sie fast schüchtern.

Sir David nickte und trat einige Schritte zurück. Ich stellte mich an seine Seite und wir beobachteten, wie der Deckel aufgelegt wurde und das Angesicht des Earls für immer diese Welt verließ. Von draußen erklangen die melancholischen Töne eines Dudelsacks. Der Bestatter legte den Union Jack über den Sarg und vier Träger hoben ihn hoch und trugen ihn auf ihren Schultern hinaus. Die Musik schwoll an und ich erkannte die Melodie von „Auld Lang Syne“.

„Sollte alte Freundschaft schon vergessen sein?“, rezitierte Sir David neben mir tonlos den Text. Mit etwas lauterer Stimme fügte er zu meiner Überraschung hinzu: „No, das ist sie nicht. So wenig wie die Liebe, die Liebe Eures Sohns. Ich werde Euren Mörder finden und zur Strecke bringen, Vater.“

Der Sarg des verstorbenen Earls wurde durch den mit einer dünnen Schneeschicht bedeckten Park getragen. Dahinter folgten Sir David, Lady Anahita und Ann. Die Melodie des Abschiedslieds hallte von den verschneiten Bäumen des angrenzenden Waldes wider. Ein langer Trauerzug schritt hinter der engsten Verwandtschaft des Earls her. Halef, Dr. Bell, Mister Doyle, Shana, Sofie und ich hielten uns am Ende des Zugs auf. Wir waren zwar enge Freunde, doch nicht verwandt. Bis auf das Dudelsackspiel herrschte bedrückende Stille. Niemand sprach ein Wort und kein Vogel sang in den Zweigen der Büsche. Nur unsere Schritte knirschten im Schnee, als ich plötzlich Hufgetrappel vernahm. Ich blickte mich um und gewahrte eine prunkvolle Kutsche, welche die Auffahrt heraufkam, gezogen von vier prachtvollen schwarzen Pferden sowie eskortiert von Reitern der Household Cavalry. Sofort wurde mir bewusst, dass sich königlicher Besuch näherte. Der Trauerzug stoppte in seiner Bewegung und alle Blicke richteten sich auf die Karosse. Der Schlag wurde von einem Diener in royaler Livree geöffnet, ein Teppich von der kleinen Treppe unter der Tür in Richtung des Parks entrollt. Heraus trat zunächst ein Herr in dunklem Anzug. Er hielt seine Hand jemandem entgegen und schließlich entstieg dem goldgeschmückten Gefährt eine Dame in schwarzem Kleid und ebenfalls schwarzer Pelzstola. Ich war durchaus überrascht, denn jene Lady war niemand Geringeres als Queen Victoria höchstpersönlich – das Oberhaupt des Empire. Das Erstaunen über diesen königlichen Besuch breitete sich sogleich als Raunen in der Menschenmenge aus. Ich beobachtete, wie die Königin über den Teppich schritt, welcher natürlich nur von symbolscher Gestalt sein konnte und weniger von praktischer, da er nach einigen Metern endete. Ungeachtet dessen ging sie weiter in Richtung des Sargs über den verschneiten Rasen, auf dem die Schleppe ihres Kleides eine breite Spur hinterließ. Sir David und Lady Anahita lösten sich aus der Trauermenge und kamen der Queen entgegen, welcher einige Herren in dunklen Mänteln sowie zwei bewaffnete Soldaten der Leibwache folgten. Lindsay verbeugte sich und Anahita verneigte sich mit einem tiefen Knicks vor ihrer Monarchin. Beide begrüßten die königliche Majestät zudem mit einem Handkuss und ich sah, wie die Königin mit ihnen sprach, konnte aus der Entfernung jedoch nichts verstehen. Schließlich bot der neue Earl of Lindsay seiner Regentin den Arm und die drei begaben sich an den Anfang des Trauerzugs. Die Herren und die Leibgarde folgten in einigem Abstand.

„Welche Ehre“, murmelte Doyle neben mir. „Die Königin persönlich erscheint auf der Beerdigung des Earls.“

„Das ist in der Tat eine noble Geste von unserer Regentin“, flüsterte Dr. Bell. „Ich weiß, dass der verstorbene Earl vor vielen Jahren irgendwo als Botschafter der Queen tätig war. Möglicherweise ist das der Grund, warum sie sich persönlich von ihm zu verabschieden wünscht.“

Erneut setzte das Dudelsackspiel ein und die Herren verstummten. Vor uns zwischen den Bäumen erhob sich ein Grabmal, in welchem der Earl neben seiner geliebten Frau beigesetzt werden sollte. Weiße Säulen stützten ein tempelartiges Dach. Zwei marmorne Engel bewachten die Grabstätte der Lindsays, zu deren Füßen ein steinerner Löwe ruhte. Die Trauergäste versammelten sich davor und ein Geistlicher sprach über James Aberforth Lindsays Leben, seine Verdienste und Taten. Ich konnte nicht alles verstehen, da ich zu weit entfernt stand, und meine Gedanken schweiften ab. Ich grübelte darüber nach, warum die Queen persönlich auf dieser Beerdigung erschienen war. Dies kam mir eher ungewöhnlich vor. Auch wenn der Earl irgendwann einmal als Botschafter für sie in irgendeinem Land tätig gewesen war, so hatte Sir David nie erwähnt, dass seine Familie enge Beziehungen zu London und der Monarchin unterhielt.

Ein Trompetensignal riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich aufblicken. Der Sarg wurde in die Gruft getragen und nur der Geistliche, Sir David, Lady Anahita, Ann, die Queen und einer ihrer Begleiter folgten hinein. Der Trompeter schmetterte seine Melodie „The Last Post“ durch den Park. Er trug die Uniform der Household Cavalry und war somit offensichtlich von der Königin beauftragt. Wahrscheinlich wollte sie dem Earl damit besondere Ehren zuteilwerden lassen, denn dieses Signal wurde meines Wissens nach nur bei militärischen Begräbnissen oder Zeremonien zum Gedenken an im Krieg gefallene Soldaten des Empire gespielt. Die Töne schwebten über die Menschenmenge hinweg und prallten gegen die Bäume und Mauern des Schlosses, von wo sie zu uns zurückkehrten und wie ein kalter Schauer durch meine Kleidung drangen.

„Ich kann ihn wieder sehen“, flüsterte Halef.

„Wen?“

„Den Geist.“