Der Herrscher der Tiefe - Jacqueline Montemurri - E-Book

Der Herrscher der Tiefe E-Book

Jacqueline Montemurri

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Beschreibung

Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar, Scheich Haschim und Djamila erfahren von britischen Agenten, dass Sir David Lindsay bei der Suche nach dem Palast des Minos in einer geheimnisvollen Höhle auf Kreta verschollen ist. Die Freunde machen sich mit dem britischen Captain MacLean auf, den Lord zu finden. Dabei entpuppt sich die idyllisch wirkende Mittelmeerinsel als gefährliche Falle. Sie bekommen es nicht nur mit todbringenden Geschöpfen zu tun, sondern auch mit kretischen Rebellen. Schließlich geraten sie bei ihrer Suche in die Fänge des Kapitän Nemo und werden auf seinem geheimnisvollen U-Boot Nautilus gefangen gehalten. In einem Wettstreit zwischen Technik und Magie entbrennt ein Kampf um Leben und Tod, während dem sich Kara Ben Nemsi zwischen Wissensdurst und Freiheit entscheiden muss.

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Band 7

Der Herrscherder Tiefe

vonJacqueline Montemurri

Mit einem Epilogvon Bernhard Hennen

KARL-MAY-VERLAGBAMBERG • RADEBEUL

Herausgegeben vonThomas Le Blanc und Bernhard Schmid

In der Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ sind bisher erschienen:

Band 1 – Alexander Röder Im Banne des Mächtigen (auch als Hörbuch)

Band 2 – Alexander Röder Der Fluch des Skipetaren

Band 3 – Alexander Röder Der Sturz des Verschwörers

Band 4 – Alexander Röder Die Berge der Rache

Band 5 – Alexander Röder, Tanja Kinkel u. a. Sklavin und Königin

Band 6 – Alexander Röder, Thomas Le Blanc Auf der Spur der Sklavenjäger

Band 7 – Jacqueline Montemurri, Bernhard Hennen Der Herrscher der Tiefe

Thomas Le Blanc (Hrsg.) Auf phantastischen Pfaden Eine Anthologie mit den Figuren Karl Mays

Weitere Informationen zur Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ finden Sie im Internet aufwww.magischer-orient.karl-may.de

© 2019 Karl-May-Verlag, Bamberg

Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten

Illustration: Elif Siebenpfeiffer

eISBN 978-3-7802-1407-2

www.karl-may.de

Inhalt

Erstes Kapitel Lord Lindsay reist ab

Zweites Kapitel Ein seltsames Angebot

Drittes Kapitel Pest an Bord

Viertes Kapitel Aufbruch zu einer Rettungsmission

Fünftes Kapitel Eine stürmische Überfahrt

Sechstes Kapitel Ein blinder Passagier

Siebtes Kapitel Das Haus des Minos

Achtes Kapitel Übers Gebirge

Neuntes Kapitel Entführt

Zehntes Kapitel Ein Hinterhalt

Elftes Kapitel Der König der Vögel

Zwölftes Kapitel Der Tempel des Minos

Dreizehntes Kapitel Ein Kampf um die Ehre

Vierzehntes Kapitel Aufbruch in die Tiefe

Fünfzehntes Kapitel Der Tod in der Dunkelheit

Sechzehntes Kapitel Verschleppt

Siebzehntes Kapitel Im Bauch des stählernen Ungeheuers

Achtzehntes Kapitel Technik versus Magie

Neunzehntes Kapitel Die Flügel des Ikarus

Zwanzigstes Kapitel Unter dem Meer

Einundzwanzigstes Kapitel Die Rache des Kapitän Nemo

Zweiundzwanzigstes Kapitel Der Zauber des Ikarus

Dreiundzwanzigstes Kapitel Zurück auf der Nautilus

Vierundzwanzigstes Kapitel Sabotage

Fünfundzwanzigstes Kapitel Tödliche Flucht

Sechsundzwanzigstes Kapitel Das Ungeheuer verschwindet

Siebenundzwanzigstes Kapitel Auf nach Hause!

Bernhard Hennen Epilog

Erstes Kapitel

Lord Lindsay reist ab

„Haltet den Dieb!“, hörte ich meinen Freund Halef rufen. Dies rüttelte sofort Erinnerungen in mir wach – Erinnerungen an den Basar von Basra vor drei Jahren. An jenem Tag waren wir gleichfalls von einem kleinen schmutzigen Dieb bestohlen worden, wodurch wir in ein gefährliches und aufregendes Abenteuer stürzten, bei dem ich einem altbekannten und totgeglaubten Gegner erneut ins Auge blicken musste. Der kleine geschickte Dieb damals entpuppte sich im Verlauf der Verfolgung und Gefangennahme als unsere – inzwischen zu einer ansehnlichen Dame gereifte – Begleiterin Djamila. Ja, wenn ich sie so betrachtete, dann musste ich – fast zu meinem Schrecken – feststellen, dass das kleine Mädchen zur jungen Frau geworden war, die mittlerweile neunzehn Lenze zählte. Natürlich war Dame das falsche Wort. Sie war trotz ihrer Fraulichkeit eine Kämpferin und Kriegerin. Allerdings entdeckte ich in letzter Zeit hin und wieder recht zarte Züge an ihr. Gerade jetzt schritt sie so sittsam neben mir, dass sie mir beinahe fremd vorkam. Ich fühlte mich fast wie ein Vater – auch wenn dieses Gefühl eher einem phantasievollen Vorurteil denn eigener Erfahrung entsprang –, der die Sorgen und Nöte erahnte, die dieses Alter bei einer jungen Dame mit sich bringen mochte. Hatten wir doch jüngst erst zarte Bande sich knüpfen sehen in Gegenwart des jungen Rudyard. Doch dies schien Djamila verdrängt, vergessen oder tief in sich verschlossen zu haben. Was nur, wenn solche Bande irgendwann stärker und fester wurden?

Aber, was philosophierte ich über Damen und die Liebe? Schon im nächsten Augenblick zeigte das Mädchen, welches gerade noch so anständig neben mir schritt, ihr wahres Gesicht. Sie sprintete gekonnt und wohlgeübt dem kleinen Knaben hinterher, der gerade ihrem Schwager Halef ein Päckchen aus der Hand gerissen hatte. Der Kleine war flink und gewieft. Obwohl er durch die überschaubare Anzahl von Marktständen auf direktem Wege seine Flucht hätte ergreifen können, flitzte er im Slalom um die wenigen Stände und Händler herum, die hier in Kyrenia ihre Waren feilboten. Er war sich also bewusst, dass er seiner Verfolgerin im offenen Sprint unterlegen war. Natürlich war auch unsere Djamila nicht ungeübt in diesem Sport. Das hatte sie damals in Basra und bei anderen Gelegenheiten unter Beweis gestellt. Geschickt verfolgte sie den kleinen Wicht, der gänzlich in Schwarz gekleidet war und nur mit einer roten Schärpe auffiel, die er um seine Taille geschlungen hatte.

Während wir damals in Basra großen Tumult verursachten, Töpferwaren auf die Gasse krachten und in Scherben zersprangen, Orangen und Brotlaibe den erbosten Händlern vor die Füße kullerten und Rosenwasser, Limonaden und Öle den Boden benetzten, blieb dies in Kyrenia gänzlich aus. Die Verfolgung ging, von Halefs Schrei einmal abgesehen, fast völlig geräuschlos vonstatten. Es fehlten die turmhoch bestückten Gestelle der Händler, die vielen orientalischen Waren, das Durcheinander der Besucher und Käufer. Im Gegensatz zu Basra, in dessen Gassen und Straßen damals ein buntes Markttreiben geherrscht hatte, welches ein wahres Labyrinth darstellte, war es hier im Norden Zyperns eher beschaulich und still. Nur die Schritte der Davoneilenden hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider wie Hufschläge fliehender Pferde. Djamila folgte dem kleinen Dieb geschickt. War sie doch in derlei Dingen selbst geübt. Ich konnte ein verschmitztes Lächeln nicht unterdrücken beim Anblick dieser Verfolgungsszene und war mir gewiss, dass das Mädchen Erfolg haben würde.

So unterließ ich es, dem Dieb ebenfalls zu folgen und das Aufsehen dadurch auf uns zu lenken. Wir wollten hier nur einige Tage überbrücken, bis Lindsays Yacht Marley wieder in ihren originalen Zustand zurückversetzt worden war. Dann würde uns der gute Lord zurück zur levantinischen Küste bringen und wir konnten den Weg zurück zu den Haddedihn antreten. Wie gesagt, wollten wir kein Aufsehen erregen, und als ich Halefs Reflex bemerkte, dem Dieb hinterherzujagen, hielt ich ihn am Ärmel zurück.

„Djamila wird dir deine geheimnisvolle Erwerbung mit Sicherheit zurückbringen“, prophezeite ich meinem Freund. Halef blickte mich mit noch sichtlichem Schrecken über den Verlust seines kostbaren Schatzes an, doch dann lächelte er wohlwissend und nickte.

„Du hast Recht, Sihdi. Schließlich ist sie vom selben Blut wie meine geliebte Hanneh und wie Amscha. Sie wird den kleinen Kerl schon zu fassen bekommen. Djamila ist etwas Besonderes.“

Ja, das Mädchen war in der Tat etwas Besonderes. Sie hatte uns schon mehrmals aus der Patsche geholfen, war klug, geschickt, furchtlos und konnte rennen wie eine arabische Stute.

Ich richtete also mein Augenmerk zurück auf den kleinen Platz, wo einige wenige Marktstände aufgestellt waren, die ich fast schon eher als Karren bezeichnen würde, an denen fahrende Händler ihre Waren feilboten. Es gab nicht viel zu bestaunen. Orangen, Guaven und Granatäpfel lagen in Körben, doch gab es nur wenige Kunden in dem kleinen Ort, die sich den Kauf leisten konnten. Die Armut der Bevölkerung war offensichtlich.

Die ortsansässigen Händler verkauften ihre Produkte in kleinen Läden in den Häusern entlang der Straßen. Auch hier gab es nicht viel zu entdecken. Ein paar Fische in einem Bottich erspähte ich, die durch kühles Wasser frisch gehalten werden sollten. Ich betrachtete skeptisch die Fliegen, die sich an dem hölzernen Rand versammelt hatten. Auch Brote und süße Backwaren wurden in einem kleinen Laden angeboten. Der Duft daraus war allerdings weitaus verlockender als jener aus dem Fischbottich. Ein weiterer Händler versuchte Oliven und daraus gepresstes Öl an den Mann zu bringen.

An einem mit buntem Tuch beschatteten Holzkarren nahe einer Hausmauer aus gelbem Sandstein wurde mein Blick von einem Wollfaden angezogen. Fein säuberlich war er auf eine kleine Spule gewickelt. Im Sonnenlicht schien er zu schillern. Ich trat unwillkürlich dichter heran. Doch als ich ihn aus der Nähe betrachtete, sah er recht unscheinbar aus. Ich griff danach, um seine Qualität besser beurteilen zu können. Da durchfuhr es mich wie bei einem elektrischen Schlag. Reflexartig ließ ich den Faden auf das Brett zurückfallen, welches als Präsentiertisch quer über den Rahmen gelegt war. Die Alte hinter diesem provisorischen Marktstand nutzte mein vormals gezeigtes Interesse freilich aus und zeigte nun ihr Verkaufstalent. Ihr zahnloser Mund lächelte mich an.

„Guter Faden“, krächzte sie. Ihre dürren Finger, mit wulstigen Gelenken bestückt, griffen nach dem Garnknäuel und boten es mir dar. Bei ihr schien das Garn keine Reaktion auszulösen. Ich hatte es demnach mit einer statischen Entladung zu tun gehabt. Wahrscheinlich hatte sich mein Gewand durch Reibung und die Sonneneinstrahlung aufgeladen und an dem Faden wieder entladen. Dies war ein ganz natürlicher physikalisch erklärbarer Vorgang und nichts Magisches, redete ich mir ein. Damals konnte ich noch nicht wissen, was der seltsame Faden für Eigenschaften hatte und dass diese uns noch sehr nützlich sein würden.

Ich lächelte freundlich zurück.

„Er wird gute Dienste leisten. Ist schon sehr alt, sehr fest. Der gute Herr mag ihn kaufen.“ Sie sprach es in Griechisch, doch mit einem merkwürdigen Akzent, den ich nicht zu deuten wusste.

Da ich noch nichts auf dieser schönen Insel mitten im Mare Mediterraneum erworben hatte, im Gegensatz zu meinen Freunden Halef und Sir Lindsay, die sich schon mit allerlei Kinkerlitzchen eingedeckt hatten, beschloss ich, der alten Dame den Faden abzukaufen. Er konnte mir sicher in mancherlei Situationen eine praktische Hilfe sein, und sei es nur, um einen Riss im Gewand zu flicken. Ich gab der Alten einen halben Piaster und sie dankte zufrieden mit ihrem zahnlosen Lächeln.

Halef war in der Zwischenzeit schon an den Rand des Platzes verschwunden. Hinter einer von violetten Blütenranken eroberten, hellen Steinmauer ragte zu meiner Rechten das Minarett der Aga Cafer Pascha-Moschee empor. Ich blieb stehen und betrachtete es. Wie ein sandfarbener Zeigefinger streckte es sich in den blauen mediterranen Himmel. Die Moschee war seit ihrer Erbauung um das Jahr 1580 herum mehrfach zerstört und wiedererrichtet worden. Es gab immer wieder Um- und Anbauten, aber der schlichte Baustil war erhalten geblieben. Sie hatte nicht die von Christen als typisch für Moscheen gehaltene Kuppel. Jedoch besaß sie einen Portikus – also Vorraum –, der durch Säulen und grün lasierte Holzgitter von der Umgebung abgeschirmt war. Erst letztes Jahr, so hatte ich von einem Einheimischen erfahren, hatte der derzeitige Bürgermeister von Girne, wie Kyrenia bei den Osmanen genannt wurde, Abdul Effendi, eine seitlich aufsteigende Treppe errichten lassen, um den steilen Zugang durch die ungünstige Hanglage zu erleichtern. Leider weiß ich nichts über das Innere des Baus zu berichten, da mir als ‚Ungläubigem‘ der Zutritt verwehrt war.

Zu unserer Linken, weiter unten westlich des Hafens, wusste ich die Archangelos Michael Kirche. Ihre weißgetünchten Mauern mit dem schmalen Turm und den spitzen Dachaufbauten leuchteten zu dieser Tageszeit hell im Sonnenlicht. Die Kirche wirkte jedoch trotz des weißen Putzes und der himmelblauen Türen wie ein uneinnehmbares Bollwerk, denn es fehlten ihr die sonst so typischen großen Fenster der Kirchen meiner Heimat. Der Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass sie auf einem Felsen thronte und der Besucher sich zunächst eine breite Treppe emporbewegen musste.

Zypern war wahrlich der Angelpunkt zwischen Orient und Okzident. Muslime und Christen lebten vielerorts friedlich Tür an Tür in diesen Tagen. Nun, dies würde sicher nicht ewig so bleiben, dessen war ich mir bewusst. Denn es zeigten sich erste Anzeichen einer großen Wende in dieser Region, die auch mich versuchte, in ihren Strudel hineinzuziehen. Zunächst hatte ich erst einmal nach meinem Freund Halef Ausschau gehalten, der schon weitergeschritten war. Ich erspähte ihn, als er gerade hinter einem Mauervorsprung verschwand, und eilte ihm in eine der Gassen hinterher.

Ein blau getünchtes Tor war weit geöffnet und bot den Blick auf Weinfässer, Berge von Zitrusfrüchten, Oliven, Karaffen feinsten Öls und auf viele seltsame Kleinigkeiten. Etwas weiter gab es Fisch in allen Varianten zu erwerben. Im Gegensatz zu dem Fisch im Wasserbottich weiter oben in den Gassen wirkte dieser hier fangfrisch. Wir näherten uns also dem Hafen. Djamila und ihr kleiner Dieb waren längst aus unserem Blickfeld entschwunden. Ein Händler in einem kleinen Laden feilschte mit Kunden um den besten Preis. An einer Ecke spielte ein Musikant seine Lieder. Mit Hilfe einer Rischa aus dem Kiel einer Adlerfeder entlockte er der Oud die schönsten Töne, indem er mit diesem stäbchenförmigen Plektrum die Saiten zupfte. Dieser arabischen Laute bin ich auf meinen Reisen durch den magischen Orient schon des Öfteren begegnet. Hier war zwar nicht das bunte Treiben wie einst in Basra, doch der kleine Ort strahlte immer mehr Lebensfreude aus, je weiter wir uns dem Meer näherten.

Ein Tor führte in einen Innenhof, wo die wenigen Reisenden, die sich hierher verirrten, mit kühlen Getränken, Minztee oder türkischem Kaffee erfrischt wurden. Der Gastwirt begrüßte seine Gäste mit Baklava, einem in Zuckersirup eingelegten Gebäck aus Blätterteig. Es wurde in kleine Quadrate, Rauten oder Dreiecke geschnitten und war je nach Geschmack mit geriebenen Walnüssen, Pistazien oder Mandeln gefüllt. Auch uns reichte er jedem eine der Köstlichkeiten, wohl um uns in sein bescheidenes Lokal zu locken. Halef griff beherzt zu. Ich lehnte dankend ab. Doch obwohl ihm gewahr sein musste, dass wir im Moment nicht seine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen wollten, bedrängte er mich, ein Gebäckstück zu nehmen. Ich tat es dann auch, um den Mann nicht zu beleidigen. Es schmeckte für meine deutsche Zunge außergewöhnlich süß.

So naschend schlenderten wir Richtung des kleinen Hafens von Kyrenia. Häuser mit schmiedeeisernen Balkonen wechselten sich ab mit Mauern aus hellem Sandstein, hinter denen verborgene Gärten ihre Pracht entfalteten. Palmen und Zitronenbäume streckten ihre Zweige über die Mauerkronen, an denen Blüten von zartem Rosa bis tiefdunklem Violett emporrankten. Dazwischen gab es immer wieder verfallene und verlassene Gebäude, deren einstige Pracht längst verweht war. Wie welke Ranken schmiegten sich die schiefen Mauern an die Wände des nächsten bewohnten und gepflegten Hauses. Dies waren die stummen Zeugen dafür, dass die Stadt einst viel größer und belebter gewesen war. Es musste damals Wohlstand hier geherrscht haben, denn man erzählte sich, dass König Richard Löwenherz hier einen mächtigen Schatz erbeutet hatte. Doch schrumpften durch die ständigen Eroberungen sowohl der Wohlstand als auch die Bevölkerung der Stadt. Verlassene Häuser, leere Grundstücke und zahlreiche Ruinen zeugten davon. Allerdings wurde dies dem Reisenden, der sich hierher verirrte, nicht auf den ersten Blick offenbart. Die verfallenen Häuser waren oft unter buntem Pflanzengewirr verborgen, als wolle die Insel ihr wahres Bild verhüllen. Die Blüten verdeckten die verfallenen Mauern und zerschlagenen Scheiben und erfüllten die Luft mit süßem Duft. Fast wirkte es auf mich wie ein Ablenkungsmanöver vom Niedergang einer blühenden Epoche. Als wolle die Stadt selbst ihre Geschichte nicht wahrhaben und krallte sich an besseren Zeiten fest. Oder verwirrte nur die in der schmalen Gasse aufgestaute Hitze des Tages gepaart mit dem schweren Duft der Blütenranken meine Sinne und verleitete mich zu allerlei seltsamen Gedanken?

Ich hörte Schritte, die mich zurück in die Realität holten. Vom nahen Wasser des Hafens her wehte eine erfrischende Brise durch die Gasse. Das belebte mich. Ich sah Halef am Ende der Straße stehen, wo ich nun schon einige Segelmasten erkennen konnte, die hin- und hertanzten. So eilte ich ihm festen Schritts hinterher.

Als wir nun den Kai erreichten – falls man die Befestigungsmauer des Hafenbeckens so nennen konnte, der man die Jahrhunderte ihres Bestehens ansah –, gewahrte ich Djamila freudig uns entgegenkommen. Sie winkte mit einem Päckchen in unsere Richtung. Der kleine Dieb war nirgends auszumachen. Ich ließ meinen Blick über die Stapel von Ballen, Fässern und Kisten schweifen, deren Inhalt, allem voran die berühmten Weiß- und Rotweine Zyperns, aber auch Seide, Johannisbrot und Käse, auf seine Verschiffung gen Süden wartete. Besonders nach Ägypten, Syrien und dem Schwarzen Meer würden sich die beladenen Segler aufmachen. Djamila kam lachend bei uns an. Triumphierend wies sie in Richtung des Wassers. Nun sah ich den Kleinen tropfnass auf die Kaimauer klettern. Grimmig blickte er zu uns herüber. Sein dunkles Haar hing in nassen Strähnen in sein Gesicht.

Halef beachtete Djamila und das Päckchen nicht, sondern sauste an dem Mädchen vorbei auf den durchnässten Jungen zu. Der war durch den Sturz ins Wasser offensichtlich noch benommen und seiner vorhin gezeigten Reflexe beraubt. So konnte Halef ihn am Schlafittchen packen. Dem Kleinen erwachten durch diesen Schreck die Lebensgeister wieder. Er zappelte wild unter Halefs Griff und schlug um sich. Doch er hütete sich laut zu schreien.

„Was sollen wir mit dem kleinen Dieb anfangen?“, fragte Halef. „Ich denke, wir sollten die Zaptiehs rufen.“

„O nein!“, begann der Junge nun zu betteln. „Nein, mein Herr. Ich bitte Euch.“

„Das hättest du dir eher überlegen sollen, bevor du friedliche Reisende beraubst“, erwiderte Halef.

Der Junge hing nun fast ergeben in Halefs Hand. „Wenn Ihr das tut, so wird man mir die Hand abhacken“, klagte er.

„Ach, lieber Halef“, begann Djamila, der dieser Knabe wohl das Herz erweicht hatte, „lass ihn laufen. Ich habe dein Päckchen doch wieder.“ Sie reichte ihrem Schwager das eingewickelte Etwas.

Halef wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

„Höre auf Djamila, guter Freund“, versuchte nun auch ich, für den kleinen Kerl Partei zu ergreifen. „Lass ihm seine Hände und seine Freiheit. Es wird ihm bestimmt eine Lehre sein.“ Die Zaptiehs, die Halef meinte, waren die Sicherheitstruppe des osmanischen Militärs hier auf Zypern. Sie jagte nicht nur Deserteure, sondern auch kleine Diebe wie diesen hier.

„Gewiss, edler Herr, es ist mir eine Lehre. Ich werde nie wieder etwas stehlen.“ Er blickte Halef mit hundetreuem Blick an. Er sah trotz des Bades schmutzig aus und war hager. Sicher hatte der Junge kein einfaches Leben, aber dennoch sollte Stehlen kein Ausweg sein – mochten es auch nur Kleinigkeiten sein, wie Kerzen, Uhren oder Päckchen unbekannten Inhalts. Wie heißt es in meiner Heimat: Ehrlich währt am längsten.

Noch während ich darüber nachdachte, lockerte Halef seinen Griff um den Kragen des Diebes. „Nun, denn …“, begann mein Freund. Doch weiter kam er nicht. Eilig entwand sich der Junge aus dem gelockerten Griff und spurtete den Häusern entgegen. Er verschwand in eine der Gassen.

Ich lachte und schüttelte den Kopf über seine Dreistigkeit.

„Lieber Halef, jetzt hast du meine Neugier geweckt. Was hast du da so Wertvolles bei dir, dass sich ein so kleiner Wicht gar todesmutig darauf stürzen mag?“, fragte ich lachend.

„Es ist wahrlich etwas sehr Wertvolles in dem Päckchen. Doch glaube ich, dass der kleine Dieb davon nichts wusste. Er packte sich wohl das Nächstbeste, was er erreichen konnte“, antwortete mein Freund. Er wickelte vorsichtig das Päckchen auseinander. Dabei erhielten seine Augen einen ehrfürchtigen Glanz.

„Schau, Sihdi, das ist ein magisches Fell“, erklärte er und hielt mir einen handtellergroßen sandfarbenen Fellfetzen unter die Nase.

Ich blickte meinen Freund wohl derart skeptisch an, dass er sich beeilte, weitere Erklärungen an den Tag zu legen:

„Es ist ein Stück eines magischen Widderfells, erklärte mir der Verkäufer“, berichtete Halef.

„So? Was genau sind denn die magischen Eigenschaften dieses Lappens?“, fragte ich grinsend. Mein treuer Gefährte war, wie ich wusste, sehr leichtgläubig, was die Magie betraf. Auf jedem Markt meinte er, dass er dort etwas Magisches erstehen könnte. Nun, er hatte durchaus schon einige Male einen guten Griff getan. Seine Kugel brachte immer dann, wenn wir es vonnöten hatten, Licht ins Dunkel unserer verschlungenen Wege – auch wenn sie mittlerweile Schwächen zeigte, weil sie von einem Dämon verschluckt worden war, was ihren Fähigkeiten leider einen Abbruch tat. Auch das Zelt, das wir einst in Basra gefunden hatten und das uns ein guter Verbündeter gegen die Schergen des Al Khadir gewesen war, konnte ich durchaus als von Magie geprägt bezeichnen, die ich mir durch meinen rationalen Verstand mit keiner mir bekannten Wissenschaft zu erklären wusste. Wir waren nicht mehr in seinem Besitz, weil wir es Abdi geschenkt hatten, der jetzt ein Lokal in Istanbul führte. Aber diesmal war ich mir sicher, dass der gute Halef einem Schwindel aufgesessen war. Denn die Legende, die sich hinter dem magischen Fell verbarg, war mir durchaus bekannt.

Halefs Kinnlade klappte herunter angesichts meiner offenkundigen Ungläubigkeit. „O Sihdi, das wird das goldene Fell zu gegebener Zeit offenbaren.“

Ich lachte. Denn nichts war golden an dem abgeschabten Fell. Doch wusste ich, auf welche Sage der Verkäufer sicherlich anspielen wollte. „Halef, mein Freund, in der Tat gibt es eine Sage um ein magisches Widderfell. Doch ich glaube nicht, dass dies hier ein Teil davon ist.“

„Erzähl mir von dieser Sage, Sihdi. Vielleicht offenbart sie mir meinen Irrtum oder dir den deinen.“

„O ja. Erzähle uns die Geschichte“, bettelte nun auch Djamila.

„Das will ich gern tun. Aber lasst uns zuerst die Taverne aufsuchen, in der wir uns mit Haschim und den Frauen treffen wollten.“

Unser guter Lord war ja derzeit noch mit den Rückbauten auf seinem Schiff in einer verborgenen Bucht beschäftigt. Er würde seinen Angaben nach frühestens morgen Abend damit fertig sein. Deshalb erstaunte mich der folgende Anblick. Wir schritten eine Weile an der Hafenmole entlang. Zwischen den Segelbooten, die Waren be- oder entluden, gab es viele kleine Fischerboote, die mit Netzen behangen auf den Wellen schaukelten. Weiter östlich hatte eine Reihe Segler festgemacht. Und unter den größeren Frachtschiffen erkannte ich mit einem Mal die Marley, das Boot unseres guten Freundes Sir David Lindsay. Die Segel waren gerefft. Der schlanke Rumpf glänzte mit frischer Farbe versehen in der Abendsonne. Einige Matrosen waren auf Deck zu Gange. Ich war im höchsten Maße überrascht, denn das Schiff hatte ich heute noch nicht erwartet. Hatte der Lord seinen Zeitplan unterbieten können und die Marley vorzeitig wieder flott gemacht? Mir schien, dass der Dampfsegler schon wieder seinen ursprünglichen Zustand erhalten hatte. Ich hoffte, dass der Lord seine zwar versteckte, mir aber nicht entgangene Verärgerung über die Umgestaltung seines schönen Boots bald würde vergessen haben. Dies war nun einmal nötig gewesen, um unsere Gegner in den Glauben zu versetzen, dass die hübsche Yacht ein altes Piratenschiff sei. Dazu hatte es natürlich einiger Umbauten bedurft und auch ein paar Pinselstriche. Aber die fleißigen Schiffsbauer von Kyrenia und die Mannschaft seines Skippers Kapitän Masterman hatten offenbar alle Spuren dieses Tricks beseitigt.

Halef und Djamila hatten von meiner Entdeckung nichts bemerkt und ich sah in diesem Moment auch nicht die Notwendigkeit, sie ihnen mitzuteilen. Lindsay hatte sicherlich seine Gründe, die Marley im Hafen auf Anker zu legen. Vielleicht zog ein Sturm auf und er befand das Schiff in dem mauerumfriedeten Becken für sicherer denn in der kleinen Bucht außerhalb der Stadt. Da das Schiff seine ursprüngliche Gestalt und Pracht wiederhatte, war es nunmehr auch nicht verräterisch. Der Hafen bot schließlich guten Schutz gegen eventuelle Unwetter und auch gegen mögliche Angriffe. Denn nicht nur die Mauer im Norden zum Meer hin trutzte den Wellen, auch die imposante Festung an der Ostseite des Beckens verengte die Einfahrt zum Hafen taktisch klug zu einem schmalen Kanal. Die Mauern dieses Bollwerks reichten bis in das Wasser hinein. Die runden Wehrtürme an ihren Ecken standen wie monumentale Wächter da. Diese wuchtige steinerne Seefeste, welche die Stadt und das Hafenrund beschützte, war in den Jahrhunderten ihres Bestehens mehrfach erweitert worden, belagert und ausgehungert und von der Genuesen im Jahre 1373 fast völlig zerstört. Jedoch wurde sie nie erstürmt. Die Venezianer bauten sie wieder auf, mächtiger und gewaltiger als je zuvor und nun hält sie beharrlich ihre Stellung.

So grübelte ich vor mich hin, während wir dem sichelförmigen Hafenbecken nach Westen folgten. Alsbald bogen wir in eine schmale Gasse ein, durchschritten einen Torbogen und erblickten Sir David Lindsay, Scheik Haschim, Halefs geliebte Hanneh und ihre Mutter Amscha an einem Tisch sitzend. Ich war durch meine vorherige Entdeckung weniger überrascht, den Lord hier anzutreffen, als Halef und Djamila. Diese ließen sogleich ein lautes Hallo ertönen. Als die Gruppe am Tisch uns dadurch entdeckte, winkten die Frauen uns zu. Djamila eilte ihnen freudig entgegen. Wir begrüßten unsere Freunde und bestaunten höflich die neuen bunten Gewänder der Frauen die sie von Kopf bis Fuß einhüllten. Ich fragte mich, wo es in dieser kleinen Stadt, die kaum mehr als eintausend Seelen zählte, einen Schneider gab, bei dem sie diese bunt bestickten Jilbabs erworben hatten. Doch bevor ich die Frage laut formulieren konnte, bestellte Lindsay lautstark für alle Tee und Gebäck. Er schien begierig darauf, uns etwas mitzuteilen. Allerdings drängte zunächst Djamila auf die Erzählung der Sage.

„Onkel Kara wollte uns etwas zu Halefs magischem Fell erzählen“, erklärte das Mädchen.

Halef zog bei diesen Worten eilig den besagten Gegenstand hervor, hielt ihn der Reihe nach jedem vor die Nase und erfreute sich sichtlich an den Ah- und Oh-Rufen unserer kleinen Gesellschaft.

„Dies ist ein Stück eines magischen Widderfells. Zu gegebener Zeit wird es seine Kräfte offenbaren. Ihr werdet sehen“, verkündete mein kleiner Freund stolz. Ich lächelte ungläubig. Halef blickte mich auffordernd an.

„Nun ja. Es gibt tatsächlich eine Sage über ein magisches goldenes Widderfell. Doch bezweifle ich, dass dies ein Stück davon ist“, entgegnete ich.

Die Frauen ließen ein enttäuschtes Raunen vernehmen.

„Aber, wer weiß“, versuchte ich sie aufzuheitern. „Mag sein, dass sich so mancher Mythos um das Goldene Vlies rankt. Doch die Geschichte entsprang den Götterlegenden des alten Griechenlands. Demnach soll der sprechende und fliegende Widder Chrysomeles von den Göttern geschickt worden sein, um den Königssohn Phrixos zu retten und in das Land Kolchis am Schwarzen Meer zu bringen. Aus Dankbarkeit wurde der Widder dem Gott Zeus geopfert und sein Fell im Tempel aufgehängt.“ Hier unterbrach ich kurz meine Ausführungen, denn der Tee und das Gebäck wurden serviert. Meine Freunde griffen beherzt zu, denn es gab Baklava, und diesmal kein Probierstück, sondern der süße Blätterteig stapelte sich auf einem Messingtablett. Sobald die Hizmet, also die türkischen Kellner, wieder verschwunden waren, fuhr ich fort: „Viele Jahre später soll Jason ein gewaltiges Schiff gebaut haben, das er Argos nannte und mit den größten Helden Griechenlands, die nun die Argonauten waren …“

„… so wie wir die Zypernauten“, unterbrach mich Lindsay mit einem Grinsen. Dann wurde er wieder ernst und nickte mir zu, dass ich fortfahren sollte.

„Jason und die Argonauten machten sich also auf den Weg nach Kolchis, um das goldene Widderfell zu stehlen. Mit Hilfe der magischen Fähigkeiten der Prinzessin …“ Bei diesen Worten strahlte Halef. „… konnte Jason den König besiegen und das Goldene Vlies an sich nehmen. Er brachte es zurück nach Griechenland, wo es im Zeustempel von Orchomenos aufbewahrt wurde.“

„Was geschah dann damit?“, fragte Halef.

Ich zuckte mit den Schultern. „Darüber gibt es keine Aufzeichnungen. Die Spur verliert sich.“

„Ha!“ Halef schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Tassen klirrten. „Die Spur verliert sich, und damit hast du nicht bewiesen, dass ich einem Irrtum oder Schwindel aufgesessen bin, Sihdi“, triumphierte mein Freund.

„Das mag sein, Halef. Doch ich denke – und damit bin ich nicht allein –, dass diese Sage auch einen wahren Kern beinhaltet.“

„Ja, genau. Das denke ich auch.“ Halef wedelte mit seinem Goldenen Vlies herum und entlockte den Frauen ein Lachen. Haschim blickte skeptisch, aber interessiert. Lord Lindsay rutschte nervös auf seinem Stuhl herum.

„Der wahre Kern ist eher unspektakulär“, versuchte ich zu erklären. „Er geht wohl darauf zurück, dass damals am Schwarzen Meer große Goldfunde gemacht wurden. Und die Kolcher dieses Gold mit Hilfe von Schaffellen aus dem Flusswasser wuschen …“ Weiter kam ich nicht, denn mit dem Ende der Magie in der Geschichte endete auch das Interesse meiner Freunde daran.

„Friends“, hörte ich plötzlich Sir Lindsays Stimme. Der Lord hatte sich erhoben und eine feierliche Miene aufgesetzt. Seine Teetasse hielt er mit abgespreiztem kleinem Finger in der Hand, als wäre es ein Glas goldener Sekt aus der Champagne. „Well, ich muss euch eine Mitteilung machen. Passend zur Geschichte unseres guten Freundes Kara Ben Nemsi, die von einem Goldschatz erzählt, habe auch ich Kenntnis von einem Schatz erhalten.“

„Oh!“, entfuhr es den Frauen.

„Well, my friends, ich habe einen bedeutenden Auftrag erhalten, den ich als Mitglied des Travellers Club nicht ablehnen kann. Dies könnte der Beginn einer bedeutenden historischen Entdeckung sein.“ Der Lord setzte seine Tasse ab und zog ein Papier aus seinem karierten Gehrock. „Hier“, fuhr er mit stolzgeschwellter Brust fort, „ist ein Brief eines Archäologen von der wunderschönen Insel Kreta. Er schreibt mir von einem historisch bedeutsamen Fund auf seinem Land und bittet mich als Mitglied des Travellers Clubs um fachkundige Hilfe. Dies kann ich unmöglich ablehnen. Ich bitte euch deshalb um Verständnis, dass ich sofort abreisen muss.“ In seiner Aufregung war der Lord ins Englische abgedriftet und ich übersetzte es meinen Freunden. Deshalb galten die entsetzten Blicke nun mir, dem Sprecher, der ihnen die Nachricht offenbarte, und nicht dem Lord, der stramm wie ein britischer Soldat am Tisch stand.

„Das ist sehr bedauerlich, Sir David“, brachte ich hervor. Dies löste den Bann und die Frauen stürmten auf ihn ein und fragten und klagten, wie sie denn ohne sein Schiff das Meer überqueren sollten und dass er sie doch jetzt nicht im Stich lassen könnte. „Um was genau handelt es sich bei dem Fund?“, fragte ich dazwischen. Die anderen verstummten und blickten nun ebenfalls voller Wissbegier den Lord an.

Lindsay räusperte sich verlegen. „Das, mein lieber Kara, unterliegt strengster Geheimhaltung. Sorry.“

Ich entgegnete nichts, denn ich konnte mir keinen rechten Reim darauf machen, warum dem Lord diese Entdeckung mehr wert war als die sichere Heimreise seiner Freunde.

„Wie sollen wir denn ohne Euer Schiff nach Hause kommen?“, fragte Hanneh.

Ich wusste, dass sie darauf brannte, ihren kleinen Sohn Kara endlich wieder in die Arme schließen zu können. Und auch uns andere verlangte es nach einer Erklärung.

„Oh, ich habe natürlich vorgesorgt. Morgen wird euch ein mir bekannter Kapitän eine Nachricht zukommen lassen, wann sein Schiff zur levantinischen Küste aufbricht, und er wird euch an Bord nehmen. Es ist alles geregelt.“

Plötzlich ging alles sehr schnell. Wie er zu dem Brief gelangt war, blieb vorerst sein Geheimnis. Ebenfalls, wie er den Kapitän hierher beordert hatte, der uns mitnehmen sollte. Lord Lindsay hatte die Nachricht wohl nicht erst an diesem Tag erhalten, denn seine Vorbereitungen waren bereits abgeschlossen. Oder er war so erpicht auf dieses neue Abenteuer, dass er es nicht erwarten konnte. Jedenfalls beglich er die Rechnung und machte sich forschen Schrittes auf, Richtung Hafen. Wir folgten ihm, noch reichlich verwirrt von dem spontanen Abschied. Doch keiner bedrängte den Lord weiter, bei uns zu bleiben.

Ich muss gestehen, dass damals meine Sehnsucht nach meinem eigenen Zuhause in Radebeul größer war als der Abschiedsschmerz, den unser abenteuerlustiger Lord in mir hervorrief. Auch von Halef wusste ich, dass er darauf brannte, endlich wieder zu den Weidegründen der Haddedihn zurückzukehren, um dort alles wiederaufzubauen. Denn seine Schuld war beglichen und sein Sohn Kara wartete auf seinen Vater Halef und seine Mutter Hanneh.

Trotz dieser Erwägungen machte sich eine bedrückte Stimmung breit, denn nach vielen Monaten des gemeinsamen Abenteuers zerfiel nun unsere Gemeinschaft allmählich. Dieser Umstand schien alle ein wenig traurig zu stimmen. Ich wurde von Sir Davids Stimme aus meinen Gedanken gerissen. Wir befanden uns am Pier. Lindsays Boot schaukelte vor uns in den Wellen. Der Lord umarmte uns reihum.

„Friends, seid nicht betrübt. Wir sehen uns sicherlich in Bälde wieder.“ Damit sprang er behände vom Kai auf die Planke und erreichte nach wenigen Schritten das Deck seines Dampfseglers. Der Kessel stand schon unter Druck und aus dem Schornstein qualmte es.

Die Mannschaft löste die Leinen, und während das Schiff aus der Hafenausfahrt tuckerte, kletterten die Matrosen in die Masten. Sogleich begannen sie die Vorsegel zu hissen. Der Wind griff in das gewachste Leinen und sorgte für zusätzlichen Schub. Lindsay stand an der Heckreling und winkte uns zu. Als die Marley die schmale Hafenausfahrt passiert hatte, sah ich die Gaffelsegel nach oben gleiten und zum Schluss die dreieckigen Gaffeltopps. Sharki, der heiße, feuchte Südostwind aus dem persischen Golf, der zu dieser Jahreszeit in der Region vorherrschte, erfasste das Tuch und blähte die Segel. Lindsay hatte es offensichtlich sehr eilig. Während das Boot das Wendemanöver vollführte, machten wir uns auf zum Ende der Kaimauer. Die Marley nahm Kurs nach Westen, geradewegs in den glühenden Sonnenuntergang hinein. Das Farbenspiel des Himmels erfasste auch das Leinen der Segel. Lindsay war nur mehr ein Schatten im roten Gegenlicht, wie er da erhaben auf dem Heck posierte. Dies war ein wahrhaft majestätischer Abgang für unseren Lord.

Zweites Kapitel

Ein seltsames Angebot

Sir David Lindsays erwähnter Kapitän meldete sich tatsächlich am nächsten Abend bei uns in Gestalt eines kleinen Schiffsjungen. Artig zog er seine Mütze vom Kopf und legte seine schwarze Lockenpracht frei. Dann eröffnete er uns, dass am nächsten Tag ihr Schiff, die Shams Albahr – was Arabisch war und so viel hieß wie Die Sonne des Meeres –, die Segel setzen würde und wir uns gegen Mittag an Bord begeben könnten. Mit gesenktem Blick wiederholte er dann die Worte seines Kapitäns, durch die jener einen horrenden Preis für die Überfahrt forderte, den wir jedoch nicht zu zahlen gedachten. Denn wir wussten natürlich, dass Lord Lindsay ein Gentleman war, auch wenn er uns für eine geheimnisvolle und fragliche Mission im Stich gelassen hatte. Er hatte den Kapitän sicher mehr als üblich für seinen Dienst entlohnt. Doch ich erwähnte es dem kleinen Kerl gegenüber nicht. Er konnte ja nichts für die Verschlagenheit seines Kapitäns. Wir würden die Sache morgen persönlich mit diesem geschäftstüchtigen Herrn besprechen. Und so machten wir uns daran, unsere Sachen zu packen.

Am nächsten Morgen war alles für die Abreise bereit. Mein guter Halef, berauscht von dem Fund seines Goldenen Vlieses, musste indes noch einmal dringlichst nach interessanten Mitbringseln Ausschau halten. Deshalb begab er sich eiligst hinunter zur Straße. Doch währte es nicht lange und er klopfte an meine Tür. Ich öffnete und blickte reichlich verdutzt drein, ihn so bald wieder hier in unserem Quartier zu sehen.

„Was ist geschehen, Halef? Sind alle magischen Utensilien auf Zypern schon ausverkauft?“, zog ich ihn auf. Er ging jedoch nicht auf meinen Scherz ein.

„Sihdi“, begann er seine Erklärung, „unten ist ein Mann und will dich sprechen.“

„Was für ein Mann ist es und was will er?“, fragte ich reichlich überrascht. Wir waren die Zeit in Kyrenia recht vorsichtig gewesen und hatten versucht, uns unauffällig zu verhalten. Wer also konnte von unserer Anwesenheit hier Kenntnis haben?

„Er trägt keine Uniform, scheint mir aber ein britischer Soldat zu sein. Er spricht sehr seltsam, eben wie einer dieser zwei englischen Krieger“, ergänzte Halef.

Ich verstand, dass mein Gefährte die britischen Soldaten Terbut und Bradenham meinte, mit denen wir schon so manches Abenteuer bestanden hatten. Erst jüngst hatten wir mit ihnen auf Lindsays Yacht nach Zypern übergesetzt und sie waren uns gute Verbündete bei unserer Finte gegen die Piraten gewesen. Wir kannten die beiden schon etliche Jahre, noch aus der Zeit, als wir uns auf den Spuren Al-Kadirs und des Schuts bewegten. Immer wieder kreuzten sich unsere Wege, und wenn ich auch nicht in tiefer Zuneigung zu ihnen zerfließe, so habe ich doch Respekt vor ihnen.

In dem Moment überkam mich eine leidvolle Ahnung. Es wird doch unserem guten Lord nichts zugestoßen sein? Ich begann mich bei diesem Gedanken in der Tat zu sorgen. Mein Verstand sagte mir allerdings, dass dies nicht möglich sein konnte. Lord Lindsay konnte mit seiner Segelyacht frühestens heute Abend sein Reiseziel Kreta erreichen, wenn die Sonne schon längst untergegangen sein würde. Bei gutem Wind und unter vollem Dampf vielleicht auch in der frühen Abendstunde. Trotz der modernen Technik seines Dampfseglers währte die Überfahrt nach Kreta mindestens zwei Tage. Wenn ihm etwas geschehen sein sollte, konnte das im Moment noch niemand wissen und uns somit auch keine Kunde darüber bringen. Trotzdem folgte ich mit ungutem Gefühl meinem treuen Halef nach unten in den Garten, der sich hinter dem Haus, in dem wir Quartier bezogen hatten, befand.

Die Morgensonne warf lange Schatten in dem mauerumfriedeten Bereich hinter dem Haus. Die weißen Blüten des Hibiskus mit dem auffallend roten Auge stachen wie leuchtende Sterne daraus hervor. Blume der schönen Träume wurde er genannt. Eine von dunklem Violett über Purpur bis zartem Rosa blühende Bougainvillea eroberte mit ihren dornigen Ranken die hellen Sandsteine der Gartenmauer. Der würzige Duft von Kräutern erfüllte die Luft. Rosmarin, Thymian, Minze und viele weitere der köstlichen Gewürzpflanzen, welche die mediterranen Gerichte aufs Trefflichste vervollständigten, blühten nahe der Terrasse und konnten somit schnell von der Köchin des Hauses erreicht werden.

Im Schatten des Verandadachs stand in der Tat ein Mann. Dass Halef ihn sogleich als Soldaten erkannt hatte, mag an seiner steifen Haltung gelegen haben und vielleicht an seiner Ausdrucksweise, denn seine Kleidung gab dies jedenfalls nicht her. Er trug einen grauen unscheinbaren Mantel, den man wohl als Reisender zu tragen pflegt. Als ich nähertrat, klappte er für einen kurzen Moment sein Revers hoch und gewährte mir somit den Blick auf ein Abzeichen. Es zeigte eine Erdkugel im Lorbeerkranz mit dem Wahlspruch Per mare, per terram – was also bedeutete Zu See, zu Land. Wäre er in seiner eigentlichen blauen Uniform vor mir gestanden, so hätte ich sicher zunächst angenommen, er sei Angehöriger des britischen Heeres. Erst das Zeichen hätte mir, wie nun auch, verraten, dass er den Royal Marines angehörte, einer speziellen Einheit der Royal Navy. Es musste sich also um eine ganz besondere Operation handeln, wenn ein Soldat eines derartigen Sonderkommandos hier aufschlug, noch dazu inkognito. Letztes war natürlich nicht verwunderlich, denn Zypern stand unter dem Dekret der Hohen Pforte und gehörte dem Osmanischen Reich an. Somit konnte das britische Militär hier nicht einfach nach Gutdünken herumstolzieren. Als ich ihn erreichte, schlug der junge Mann seine Hacken militärisch zusammen, nahm die Rechte an die Schläfe und verkündete: „Captain Sean MacLean, Sir.“ Im selben Moment blickte er sich sichtlich erschrocken ob seiner verräterischen Begrüßung im Garten um. Doch war außer Halef niemand weiter zugegen. Man konnte aber nie sicher sein, ob nicht ein neugieriges Auge durch einen Mauerspalt blinzelte. Nun, sei’s drum, dachte ich bei mir. Ich hatte nichts zu verbergen und war nicht in Kenntnis der geheimen Mission dieses Gentleman. Was sich jedoch alsbald änderte.

„Guten Morgen“, erwiderte ich gänzlich unmilitärisch. „Sie wollten mich sprechen?“ Ich streckte ihm meine Rechte entgegen.

Der junge Mann räusperte sich verlegen, nahm die Hand wieder herunter und erwiderte meinen zivilen Händedruck. Unter seiner Kopfbedeckung lugte rotblondes Haar hervor und seine grünen Augen zeugten davon, dass er weiter im Norden zu Hause war, als er sich derzeit befand. Ich tippte bei seinem keltischen Aussehen auf Schottland. Offenbar war er es nicht gewohnt, mit Zivilisten zu agieren. Er wirkte recht unschlüssig, wie er sich verhalten sollte.

„Sir, wenn ich die Ehre mit Kara Ben Nemsi habe, dann möchte ich Sie gern sprechen.“

„Ja, man nennt mich hier Kara Ben Nemsi. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Captain MacLean?“

Der Angesprochene trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Man berichtet sich viel Abenteuerliches über den deutschen Gentleman“, begann er umständlich.

„Ach, tut man das? Wer denn genau, wenn ich fragen darf?“

„Nun, Sir, da wären Sir Bradenham und Captain Terbut zu nennen. Sie berichteten von einigen Abenteuern mit Ihnen. Und sie haben Sir Kara Ben Nemsi aufs Wärmste empfohlen.“

„Aha“, ich nickte wohlwissend, verkniff mir aber einen bissigen Kommentar. So, so, dachte ich bei mir, Bradenham und Terbut haben mich empfohlen. Die Frage war nur: Wofür? Sollte ich für sie Kreta erobern, während sie sich Zypern für das Empire unter den Nagel rissen?

Captain MacLean blickte sich erneut betreten im Garten um, als erwartete er einen feindlichen Spion hinter einem Palmenstamm, und nickte schließlich zu Halef hinüber, der an der Hintertür des Hauses lehnte und anscheinend desinteressiert in die Gegend schaute.

„Das Weitere würde ich gern unter vier Augen besprechen, Sir“, fuhr der Captain mit gedämpfter Stimme fort.

„Das können Sie gern tun, Captain MacLean. Meinen Freund Halef und mich seht als zwei Augen an. Eure zwei dazu und es sind vier“, erwiderte ich lachend.

Der Captain blickte verdutzt drein.

Um die Situation für den armen Mann etwas erträglicher zu machen, bot ich ihm einen Stuhl an, derer sich einige auf der Terrasse um einen runden Pinientisch gruppierten. Er setzte sich und ich nahm ihm gegenüber Platz. Halef verschwand im Haus. Oder er hatte bemerkt, dass die Angelegenheit einiges an Verschwiegenheit bedurfte, und sicherte das Terrain zur Straße hin gegen ungebetene Besucher ab.

Captain Sean MacLean druckste gar umständlich um den heißen Brei herum und ich konnte seinen Ausführungen keinen Sinn entnehmen, bis er sich schließlich räusperte, seine Gedanken sortierte und verständlich berichtete: „Sir Nemsi, mein Trupp ist derzeit mit einer geheimen Mission auf Kreta beschäftigt. Die Insel ist bekannt für ihr schier unendlich erscheinendes und unerforschtes System an Höhlen. Es gibt zahlreiche Schlunde und Schlote in das Felsmassiv dieses Eilands hinein, sodass man annimmt, diese Einzelhöhlen könnten als unterirdisches Labyrinth miteinander verwoben sein.“

Das war mir in der Tat nichts Neues. Kreta hatte durchaus zahlreiche Höhlen zu verzeichnen. Einige mochten natürlichen Ursprungs sein, andere durch Rohstoffabbau künstlich geschaffen und man munkelte sogar, dass in minoischer Zeit ein gigantisches unterirdisches Labyrinth eine Bestie beherbergt haben soll. Was natürlich nur eine Sage war und jedweder Realität entbehrte. Aber wer an magische Schwerter namens Excalibur oder gar Elfen glaubte, der glaubte womöglich auch an die Fantasien der griechischen Sagenwelt. Vielleicht vermuteten die Briten auch ein menschenfressendes Monster, angelehnt an ihre Sagengestalt des Grendel, in den Höhlen, von dem erst kürzlich der gute Lord Lindsay am Lagerfeuer in der nach seinem Geheiß Hirschhalle getauften Burgruine im Gebirge des Nur Daghlari erzählt hatte, als wir auf dem Weg nach Hassa dort lagerten.

Verschwörerisch beugte der Captain sich vor. „Wir sind zum Zweck der Erforschung dieser Höhlen in streng geheimer Mission auf Kreta.“

Ah, ich lag also nicht falsch, dachte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Doch ich wollte den armen Mann nicht allzu sehr verwirren, machte eine interessierte Miene und forderte ihn auf: „Nun, dann berichten Sie, was Sie auf dem Herzen haben.“

„Die Sache ist so, Sir Kara, dass wir vor ungefähr zwei Wochen drei Mann als Spähtrupp in eine der Höhlen schickten. Sie sollten die Gänge kartografieren. Doch die drei gingen verschollen.“

Das war wirklich interessant. Allerdings wusste ich nicht, was für eine Rolle ich dabei spielen sollte.

„Wir haben zwei Tage gewartet und schließlich weitere vier Mann als Rettungstrupp in die Höhle geschickt.“ Der Captain schluckte sichtlich. Dann fuhr er fort. „Auch diese Männer sind nie wieder aufgetaucht.“ Er machte eine Pause. Nach außen hin bemühte er sich, ruhig und sachlich zu wirken, doch ich spürte, dass ihm die Sache zusetzte. „Schließlich bin ich einige Tage später mit einem weiteren Mann meines Trupps in die Höhle gestiegen“, berichtete er weiter. „Wir wagten uns so weit vor, wie es uns möglich war. Doch wir fanden keine Lebenszeichen der Verschollenen und auch sonst nichts. Keine Kleiderfetzen, keine Waffen und auch kein Blut. Sie sind quasi spurlos verschwunden.“

Ein Strahl der Morgensonne fand in diesem Moment den Weg unter das Verandadach und ich vermochte nicht zu sagen, ob die Augen des Captains sich röteten, weil er durch das unverhoffte Licht geblendet wurde, oder wegen der Ergriffenheit durch die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse. Jeder Soldat war es gewohnt, im Krieg Kameraden zu verlieren, und jeder Offizier musste mit Verlusten in seinem Trupp rechnen. Doch war es ein Unterschied, ob die Kameraden im Kampf fielen oder ob sie auf unheimliche Weise in einer unerforschten Höhle verschwanden.

„Wieso haben Sie die Höhlen unbeschadet wieder verlassen können im Gegensatz zu Ihren Mannen?“, fragte ich. Denn das schien mir äußerst seltsam.

„Das kann ich nicht sagen, Sir Nemsi. Vielleicht hatten wir einfach Glück. Wir hörten ein Donnergrollen wie von einem Erdbeben und …“

„… und Sie nahmen die Beine in die Hand“, ergänzte ich.

„So könnte man es ausdrücken. Wir traten den ungeordneten Rückzug an und erreichten unbeschadet wieder die Oberfläche.“

„Da hatten Sie anscheinend tatsächlich mächtiges Glück, dass Sie der unbekannten Gefahr entkommen sind.“

„Ja, dem ist so, Sir Kara.“ Die Gesichtsfarbe des jungen Captains hatte sich während des Berichtens gewandelt. Zunächst war sie hellbraun gewesen mit einem Stich ins Rote, wie das Kernholz der Pinien. Dies mochte von seiner schottischen Herkunft herrühren und von der Tatsache, dass er sich noch nicht allzu lange in diesen sonnigen Gefilden aufhielt. Nun war die Haut bleich geworden, bleich wie gekalktes Holz.

„Und was glauben Sie, Captain MacLean, könnte ich für Sie tun?“, fragte ich.

„Sir Nemsi, da Sie durch Ihre zahlreichen Abenteuer schon viele Erfahrungen mit den unaussprechlichsten Gegnern und Gefahren gemacht haben, war ich der Meinung, Sie könnten uns behilflich sein, diese Höhlen zu erforschen und eventuell die unbekannte Bedrohung zu lokalisieren. Zudem sollen Sie bewandert in der Vermessungstechnik sein.“

„Ach“, gab ich erstaunt zurück. Natürlich hatte ich mir schon so etwas in dieser Richtung gedacht, doch eher angenommen, dass man mich um die Hilfe bei einer Rettungsaktion für die verschollenen Soldaten bitten würde. Die Kartografierung des kretischen Höhlensystems dagegen war nun doch ein sehr abwegiges Anliegen eines britischen Soldaten an mich. Ich erhob mich.

„Captain MacLean, wie mir scheint, haben Sie ihre Kameraden aufgegeben.“

„Ja, Sir Kara, sie sind unwiderruflich verloren. Nach so vielen Tagen ist es unmöglich, dass sie noch am Leben sind. Etwas lauert dort in der Tiefe. Aber wir müssen unsere Mission erfüllen.“

„Wahrscheinlich haben Sie Recht damit, dass die Soldaten ihres Trupps verloren sind. Doch ich muss ehrlich mit Ihnen sein. Einer Rettungsaktion gegenüber wäre ich womöglich nicht allzu abgeneigt gewesen. Jeder Mensch besitzt den gleichen Wert und sollte eine Chance haben, den Klauen des Todes entrissen zu werden. Doch im Namen des britischen Empires Vermessungen auf einer Insel zu unternehmen, die unter der Obhut der Hohen Pforte steht, kommt für mich nicht infrage. Ich werde mich nicht in die politischen Machenschaften, die dahinterstehen mögen, hineinziehen lassen.“

„Aber Sir Nemsi, es sind rein wissenschaftliche Erkundungen“, beharrte der Captain aufgeregt. Auch er war nun aufgestanden.

„Das ändert meine Meinung nicht.“

Der Captain stand einen Moment reglos da. Dann schlug er die Hacken zusammen. „Ich habe keinerlei Mittel, Sie zu zwingen. Doch bedenken Sie: Es ist ein Dienst im Namen der Wissenschaft“, versuchte er es ein weiteres Mal.

„Tut mir leid, aber ich muss dieses Angebot ablehnen.“

„Die Einheimischen erzählen sich Geschichten … von Monstern … von schrecklichen Kreaturen, die in den Höhlen hausen. Sie berichten von unheimlichen Vorfällen.“

„Wenn Sie an derlei Dinge glauben, sollten Sie einen Spezialisten anderer Art zu Rate ziehen. Ich bin dafür der falsche Mann, Captain MacLean.“

Er wandte sich schon zum Gehen, als ihm noch etwas einzufallen schien. Kurz sah es aus, als bedenke er seine Worte, als wäre er nicht sicher, ob er sie aussprechen sollte. „Vielleicht sind wir auf der Spur des Tempels von Minos“, wagte er schließlich einen letzten Vorstoß, um meine Neugier zu wecken und mich zu locken.

Ich schüttelte den Kopf. Ich war Schriftsteller und weder Archäologe noch Speläologe, der Höhlen erforschte. Sicher wäre es reizvoll, einen Tempel zu finden oder Höhlen zu erkunden. Doch das überließ ich meinem guten Lord, dem Mitglied des Travellers Clubs. Zudem schien mir die Angelegenheit eher politisch motiviert als wissenschaftlich. Das Militär hatte gewiss noch ganz andere Interessen an den Höhlen, als mir der Captain zu offenbaren gewillt war.

Die ganze Sache stank doch meilenweit gegen den Wind. Woher wussten die Briten überhaupt, dass wir uns in Kyrenia befanden? Wir waren vorsichtig gewesen, hatten unsere Namen nicht in die Welt posaunt und selbst Lindsays Yacht versteckt. Ich erinnerte mich allerdings, ein Patrouillenboot der Briten an jenem Abend gesehen zu haben, als ich die alten Gemäuer der Festung Kyrenias besuchte. Das Ganze schien mir höchst ausgeklügelt. Wahrscheinlich kreuzten hier noch weitere britische Militärboote, die irgendwie Verbindung untereinander hielten und eventuell gezielt nach der Marley gesucht hatten. Denn schließlich wussten nur Terbut und Bradenham von unserem Aufenthalt auf Zypern. Und wenn ich es recht bedachte, war sicherlich der britische Geheimdienst an der Sache beteiligt, das legte schon das seltsame Auftreten dieses den Royal Marines angehörigen Captains nahe. Hier musste etwas Großes im Busch sein. Etwas, das die Briten nur mit Hilfe eines Deutschen in den Griff bekommen konnten? Wieso sollte ich so wertvoll bei dieser Unternehmung für sie sein?

Und obwohl – oder vielleicht weil – das Ganze zum Himmel stank, weckte es mein Interesse. Der junge Mann hatte durchaus einen geheimen Knopf bei mir gefunden, den man drücken musste, damit ich aufmerksam wurde. Diesen Knopf konnte man durchaus mit Abenteuerlust titulieren. Denn wäre er nicht bei mir vorhanden, würde ich gemütlich in Radebeul am Schreibtisch sitzen, die Feder in der Hand, aus dem Fenster spähend, die Enten auf dem Teich betrachtend und mir jedwede Abenteuer über ferne Länder nur ersinnen. Da dies aber, im Gegensatz zu manch französischem Schreiberling, nicht der Fall war, ritt ich immer wieder durch die Wüsten und Gebirge des Orients oder die Prärie des Wilden Westens Amerikas, um die Abenteuer zu erleben, die ich dann meinen Lesern in meinen Büchern präsentierte. Nun, diese Sache schien ein rechtes Abenteuer zu sein. Doch wollte ich mich nicht an der Nase herumführen lassen. Captain Sean MacLean hatte durchaus die Möglichkeit mich für seine Ziele zu bekehren, wenn er mir reinen Wein einschenkte. Deshalb fragte ich ihn geradeheraus:

„Captain MacLean, ich wäre sicher nicht abgeneigt, Ihnen bei Ihrer Unternehmung behilflich zu sein. Doch Sie verschweigen mir den wahren Grund. Sprechen Sie frei heraus und ich werde mich entscheiden.“

Er blickte mich unschlüssig an.

„Ich habe Ihnen alles gesagt, was es zu sagen gab.“

Das machte mich wütend. Wollte er nun meine Hilfe oder nicht? Was sprach dagegen, mir die Wahrheit mitzuteilen? Doch ich zügelte mich.

„Nun, dann bleibt meine Antwort: nein!“

Der Captain blickte mich noch eine Weile an und ich sah, wie er mit sich rang. Schließlich schien er aber mit sich ins Reine zu kommen, dass er nur seine Befehle auszuführen hatte. Er schlug die Hacken zusammen und drehte sich um. In militärischem Schritt stakste er über die Veranda zur Tür hinaus auf die Straße. Ich muss zugeben, dass er mein Mitgefühl hatte. Er war sehr jung, kaum dem Jugendalter entwachsen und sicher noch unerfahren in derlei Dingen. Er war im Auftrag seiner Vorgesetzten gekommen und musste nun unverrichteter Dinge abziehen. Doch ich als deutscher Reiseschriftsteller konnte mich unmöglich in politische Verwicklungen zwischen dem Empire und dem Osmanischen Reich hineinziehen lassen, wenn ich noch nicht einmal die genauen Hintergründe kannte. Es war nicht an mir, irgendeine Partei zu ergreifen. Das britische Empire streckte seine Arme in der Welt aus wie ein überdimensionaler Krake aus den phantastischen Geschichten jenes Autors, dessen Name ich nicht aussprechen mochte. Ich wollte nicht als unwissendes Werkzeug jenes Kraken dienen.

Als der Captain gegangen war, erschien Halef im Garten und fand mich nachdenklich auf der Veranda.

„Was ist geschehen, Sihdi? Was hat der englische Kriegsmann von dir gewollt? Er war doch Soldat, nicht wahr?“

„Ja, dein Auge hat dich nicht getäuscht. Er war ein Captain einer speziellen Einheit. Er versuchte, mich zu überreden, dem britischen Militär bei der Kartografierung eines Höhlensystems auf Kreta behilflich zu sein.“

„Aber du hast abgelehnt, wie mir scheint. Dieser Captain ging nicht in Freude von hier weg.“

„Allerdings. Ich möchte mich nicht in einen Konflikt zwischen dem Vereinigten Königreich und der Hohen Pforte hineinziehen lassen. Ich gehöre als Deutscher weder zu der einen noch zu der anderen Partei“, antwortete ich.

„Aber ich sehe dir an, dass es dich in den Fingern gejuckt hat, Sihdi“, offenbarte mir mein Freund mit einem verschmitzten Lächeln.

Ich war erstaunt, doch auch wieder nicht. „Du kennst mich gut, Halef. Ja, einige Ausführungen des Captains waren durchaus sehr interessant. In den Höhlen ist sein halber Trupp auf unerklärliche Weise verschwunden und, wie du erahnst, wecken solche Ungereimtheiten meine Neugier. Doch der Captain hat alles falsch gemacht. Er hat mir nicht die Wahrheit gesagt und ich lasse mich ungern an der Nase herumführen“, antwortete ich. „Aber, sei’s drum. Wir haben Wichtigeres zu tun. Wir haben ein Schiff zu erreichen.“

„Ja Sihdi, ich sehne mich nach zu Hause.“

Drittes Kapitel

Pest an Bord

Die Sonne hatte den Zenit schon überschritten, als unsere kleine Reisegesellschaft den Hafen von Kyrenia erreichte. Die Abreise verzögerte sich ein wenig durch das unverhoffte Auftauchen Captain Sean MacLeans. Der Schiffsjunge hatte uns bei unserer Unterkunft abgeholt. Er stellte sich als Ridvan vor, was im arabischen Wächter des Paradieses bedeutet, also Engel. Nun ja, wie ein Engel wirkte der kleine Kerl nicht auf mich. Sein verschmitztes Lächeln ließ eher den Schluss zu, dass er ein Engel mit B am Anfang war. Aber er war uns behilflich, unser Gepäck zum Hafen zu befördern, das allerdings durchaus überschaubar war. Dafür ließ er sich dann auch zu gern von mir mit einem Geldstück entlohnen, welches geschwind in seinem Gewand verschwand. Ich nahm an, dass sein Kapitän bei Kenntnis der Entlohnung diese in seine Obhut genommen hätte, was der kleine Kerl aber zu verhindern wusste.

An der Kaimauer erwartete uns ein kleiner Frachter von fast dreißig Metern Decklänge. Die Segel waren gerefft und er entbehrte jeglichen Zusatzantriebs wie etwa dem komfortablen Dampfantrieb der Marley. Die Fahrt zurück an die levantinische Küste würde also etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Hinfahrt nach Zypern. Das Schiff, das uns erwartete, war eine Brigantine, wie ich an den zwei Masten erkannte. Diese Sorte Segelschiff vereinbart die Vorzüge der Brigg mit denen des Schoners. Am vorderen Mast, also dem Fockmast, war sie mit drei Rahsegeln bestückt. Mit denen konnte sie den Wind von achtern besser nutzen als ein Schoner. Am Großmast dagegen führte sie ausschließlich Schratsegel, mit denen sie höher am Wind segeln konnte als eine Brigg. Dies war auch notwendig, um uns wieder in arabische Gefilde zu befördern, denn hauptsächlich würden wir gegen den Wind kreuzen müssen, den Sharki, der uns aus Südosten entgegenwehte.

Doch zunächst wehte uns der Kapitän der Shams Albahr über Deck entgegen. Sein rotbraunes Lockengewirr und der Backenbart wirkten kein bisschen arabisch. Sie erinnerten mich eher an unseren alten Bekannten Captain Terbut.

„Seid mir willkommen, Freunde“, begrüßte er uns überschwänglich und schritt über die ausgelegte Planke, welche als Fallreep diente, vom Schiff auf den Kai. „Die Sonne des Meeres soll für Euch leuchten.“

„Habt Dank, Kapitän …“, erwiderte ich mit einem fragenden Blick.

„Kapitän Geoffrey Abdulwahab, Sir“, stellte er sich daraufhin vor. „Zu Euren Diensten.“ Er deutete eine Verbeugung an. Der Name war recht verwirrend, hatte er doch sowohl englische als auch arabische Anteile. Aber mochte ich den Mann nicht ausfragen. Dies war auch nicht nötig, wie sich alsbald herausstellte, denn er entpuppte sich als eine wahre Quasselstrippe, wie man in meiner Heimat zu sagen pflegt.

„Sir Kara Ben Nemsi, nehme ich an?“

„Ja, Kara Ben Nemsi, ohne Sir.“

„Na dann: Mister Kara Ben Nemsi.“ Ich erwartete fast, dass er die Hacken zusammenschlagen würde, was er jedoch nicht tat. Es hätte wohl auch recht seltsam ausgesehen, denn er trug keine Militärkleidung, sondern rote Pluderhosen mit einer gelben Schärpe gegürtet und dazu eine ebenfalls rote Weste. „Sie wundern sich sicher über meinen Namen“, fuhr er fort.

„In der Tat“, bekannte ich, „ist er mir aufgefallen.“

„Meine Mutter war Schottin. Eine wahre Schönheit mit flammendem Haar. Allerdings heiratete sie meinen Vater – sagen wir mal: nicht ganz freiwillig.“

„Aha, wieder einer von diesen Sklavenhändlern“, mischte sich Halef ein.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“, fragte der Kapitän und grinste Halef herausfordernd an.

Mein guter Freund holte tief Luft und erklärte ihm in einem Atemzug: „Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.“

„Ein großer Name für einen kleinen Kerl.“ Der Kapitän lachte und Halef blickte ihn mürrisch mit zusammengekniffenen Augen an.

„Die Größe eines Mannes berechnet sich nicht nach seiner Körperlänge“, antwortete er stolz.

„Da muss ich Ihnen Recht geben, Mister Hadschi Halef Omar. Und was meinen Vater betrifft – darüber sollten wir das Tuch des Schweigens ausbreiten. Er weilt zudem nicht mehr unter uns.“

Der Kapitän machte eine einladende Geste und Halef und ich betraten das Schiff. Wir reichten den Frauen die Hand, um ihnen an Bord zu helfen. Natürlich war das bei Djamila nicht von Nöten. Sie sprang ganz in Piratenmanier auf die Planken und zog sofort die Blicke der Männer auf sich. Es lag ihr immer noch im Blut, sich wie eine Piratin zu geben. Amscha und Hanneh nahmen unsere Geste dankend an, wohl auch, um nicht aufzufallen. Die Mannschaft des zwielichtigen Kapitäns hatte an den Masten Positur bezogen, bereit, das Schiff aus dem Hafen zu manövrieren. Auf dem Achterdeck stand der Steuermann und mittschiffs waren noch einige Männer damit beschäftigt, Kisten und Fässer im Laderaum zu verstauen. Als Haschim das Schiff betrat, blickten einige der Männer auf. Unser Scheik schien ihnen nicht zu behagen. Er fiel durch seine große Gestalt auf, doch war das sicher nicht der einzige Grund.

„Scheik Haschim, nehme ich an?“, fragte der Kapitän.

Haschim nickte bejahend. „Danke für die freundliche Aufnahme.“

„Oh, es ist mir eine Ehre“, säuselte der Kapitän. „Und was das Entgelt für die Passage betrifft …“, fuhr Abdulwahab fort. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen und entblößte eine Reihe gelber Zähne.

„Ich gehe davon aus“, sagte ich freundlich, nahm den Henrystutzen von der Schulter und stützte mich auf den Lauf, „dass Lord Lindsay Sie bereits überaus reichlich für Ihre Freundlichkeit entlohnt hat.“

Der Kapitän schaute mich mit offenem Mund an, da ich ihn mitten in seinem Satz unterbrochen und diesen zudem in eine andere Richtung gelenkt hatte, als er offensichtlich beabsichtigt hatte. Er warf einen Blick auf mein Gewehr, dann wieder in mein Gesicht, dann auf den Bärentöter über meiner Schulter und schließlich blickte er mir erneut in die Augen und begann verlegen zu lächeln.

„Sie haben durchaus Recht, Mister Kara Ben Nemsi. Sir David Lindsay war überaus großzügig. Allah wird ihn dafür beschützen.“

„Nun“, entgegnete ich, „hoffen wir, dass er dies nicht nötig hat und sich in sicherer Hut befindet.“

„Gewiss, gewiss, Mister Kara Ben Nemsi. Mit seinem flotten Boot hat er Kreta sicher bald erreicht, wenn er nicht sogar in diesem Moment schon vor Anker geht.“

Ich fand es recht merkwürdig, dass der Kapitän so genau über Lindsays Pläne informiert war. „Was wissen Sie über seine Absichten, Kapitän?“

„Ach, nicht viel. Nur was mir der Lord selbst erzählte. Dass er nach Kreta wollte, um einem Freund behilflich zu sein.“

„Wann haben Sie mit dem Lord denn gesprochen? Er war doch schon längst auf See, als Sie hier eintrafen.“

Der Kapitän blickte mich an, als hätte ich ihn bei einer Untat ertappt. Bevor er mir Rede und Antwort stehen konnte, eilte einer seiner Männer herbei und meldete, dass wir unsere Kabinen beziehen könnten.

„Dann wollen wir mal“, sagte Abdulwahab sichtlich erleichtert über die Unterbrechung. „Die Damen möchten sich bestimmt etwas ausruhen. Wir werden bald auslaufen und dann wird uns der Smutje etwas Köstliches zum Abendessen zubereiten. Bis dahin können Sie es sich in Ihren Quartieren gemütlich machen. Wir haben nicht allzu viel Platz, insofern habe ich eine Kabine für die Damen und eine für die Herren herrichten lassen. Ich hoffe, das ist in Ihrem Sinne.“

„Es wird für die Überfahrt sicherlich genügen. Vielen Dank.“

Abdulwahab gab seinem Mann ein Zeichen und dieser führte uns achtern einen Niedergang hinunter. Wir folgten ihm in den Bauch des Frachters. Geraden Wegs konnte ich eine Holztür mit reichlichen Verzierungen erkennen, die, so dachte ich bei mir, zur Messe führte, falls solch ein kleines Schiff dergleichen besaß. Nun, es würde zumindest eine Art Aufenthaltsraum für den Kapitän und seine engeren Vertrauten sein, die man auf einem Kriegsschiff als Offiziere bezeichnen würde. Dort wurden die Mahlzeiten eingenommen und vielleicht mochte es auch dem Kapitän als Unterkunft dienen. Zunächst erkundeten wir unsere Kabinen, die links und rechts eines kleinen Gangs lagen. Sie waren sehr beengt, da jeweils eine dritte Liege hineinbugsiert worden war. Doch für die Überfahrt sollte uns das genügen, redeten wir uns ein. Die Frauen wollten sich ein wenig erfrischen und wir Männer zogen uns deshalb in unsere eigene Kajüte zurück. Ein Bullauge ließ uns einen kleinen Ausblick auf die Hafenmole. Die Frauen blickten im Moment wahrscheinlich auf die Kaimauer. Doch bald würde uns der Ausblick vom Wasser des offenen Meers bevorstehen. Auf Deck hörten wir nämlich nun Rufe und Kommandos.

„Ich werde mir das Auslaufen von Deck aus ansehen. Möchtest du mich begleiten, Halef?“ Mein Gefährte wirkte reichlich blass.

„O nein, Sihdi. In mir steigen gerade die Erinnerungen an unsere Überfahrt nach Zypern auf. Ich denke, ich werde das Auslaufen besser von hier aus betrachten.“

„Wie du meinst, Halef. Aber an Deck, an der frischen Seeluft lässt es sich besser ertragen, wenn man nicht ganz seetüchtig ist.“

„Sihdi, geh ohne mich hinauf. Mir ist schon jetzt ganz flau bei dem Gedanken an die Überfahrt.“

„Willst du mit an Deck, Haschim?“

„Ja, Kara, ich werde gern diese Insel noch einmal vom Meer aus betrachten.“

So verließen Haschim und ich Halef und begaben uns an Deck. Die Mannschaft hatte alle Hände voll zu tun und der Kapitän bellte seine Kommandos. „Klar zum Ablegen! – Leinen los! – Rahsegel setzen! – Ruder zehn Grad backbord!“

Kurz darauf begann sich die Brigantine in Bewegung zu setzen. Die Shams Albahr