Das Geheimnis von Buddhas Musik - Mathias Bellmann - E-Book

Das Geheimnis von Buddhas Musik E-Book

Mathias Bellmann

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Beschreibung

Manchmal wenn die Welt zusammenbricht, strahlt durch die Dunkelheit ein Licht. Kema war dieses Licht für ihn und es führte ihn nach einer Odyssee aus spirituellen Prüfungen zu einem heiligen Ort, an dem sich die Pforten des gut gehüteten Geheimnisses von Buddhas Musik öffneten und ihn den Blick in eine Welt werfen ließ, die alles überstieg, was die alte Heimat des kalten Ostberlins einst für ihn vorgesehen hatte.

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Seitenzahl: 312

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Über den Autor

1

Die Schwaden der Räucherstäbchen hüllten den gesamten Ashram ein. Über allem hingen die Rauchschwaden und verbreiteten den süßen Duft. In kleinen Grüppchen saßen die Meditierenden und hielten sich an den Händen. Ihre Körper schwangen leicht hin und her und ihre Münder summten die Melodie der heiligen Silben. Der Guru saß vorne auf seinem weichen Kissen und summte die heiligen Klänge in sein altes Mikrofon. Dann führte er das sonore Summen in die ersten Silben über.

Die Praktizierenden schlossen sich ihrem Guru an. Jede:r Einzelne begann mit geschlossenen Augen die Silben zu murmeln. Wie ein Klangteppich breitete sich das Gemurmel im ganzen Zelt aus. Die Vibrationen der Stimmen ließen die Realität schwingen. Selbst in den Stangen, die das Zelt hielten, sammelte sich die Magie. Dann leitete der Guru zur nächsten Stufe über. Nach und nach ließ er seine Wörter intensiver werden. Das Rauschen des alten Mikros fraß einiges der Klarheit seiner Stimme auf. Doch jede:r im Raum kannte die heiligen Silben, die das Mantra bildeten.

Der Singsang erreichte eine höhere Intensität. Die Ersten konnten ihre Augen nicht mehr geschlossen halten. Mit offenen Augen hoben sie ihre Köpfe und sangen das Mantra immer lauter. Aus den einzelnen Stimmen wurde eine starke Klangwand. Die verschiedenen Stimmen vereinten sich zu einem harmonischen Gleichklang. Die Aura veränderte sich. Die natürliche Trägheit ihrer Körper konnte sich immer weniger gegen die Energie der mantrischen Musik wehren. Sie begannen zu schwingen. Ihre Arme schnellten langsam in die Höhe und bewegten sich im Takt der einzelnen Silben.

Mit ihrem langen, wilden Haarschopf und ihren bunten Batikkleidern erhob sich die erste Meditierende. Die Energie der Silben hatte von ihrem Körper Besitz ergriffen und sie erhob sich schwingend. Ihr Gewicht schwankte von einem Fuß zum nächsten und ihr Körper bewegte sich rhythmisch wie eine der weisen Schlangen aus den alten Geschichten. Auch ihre Arme flogen in Schlangenlinien über ihren Kopf und schwangen hin und her. Ihre Augen waren halbgeöffnet und ihr Mund sang die magischen Silben mit tiefer Inbrunst.

Er sah ihr gebannt zu. Sie war ihm schon am ersten Tag aufgefallen. Ihr blondes Haar hing immer lose vom Kopf. Es wehte, wenn sie ging. Auch ihre zarten Brustwarzen, deren Umrisse sich durch den sehr dünnen Stoff ihres Kleides abzeichneten, fesselten seine Magie. Er wollte nicht hinsehen und schämte sich dafür, doch er konnte nicht widerstehen. Sie zog ihn zu sehr an. Schon am ersten Tag hatte sie seine Blicke bemerkt und war direkt auf ihn zugegangen. Sie hatte ihn am Arm genommen und in ein Zelt gezogen. Dort hatte sie ihn energisch auf ein Kissen gesetzt und ausgequetscht. Sie hatte alles wissen wollen und stellte Millionen Fragen. Er hatte ihr alles erzählt.

Für ihn war diese Freiheit noch immer ein Traum. Erst vor drei Jahren war die Berliner Mauer gefallen und er ein freier Mann geworden. Sein Studium an der Uni hatte er kurz nach der Wiedervereinigung hingeschmissen. Alles woran sein Vater geglaubt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Und er hatte nur studiert, um ihm zu gefallen. Denn seitdem Mama bei einem Unfall gestorben war, war Vater der Einzige gewesen, der ihm in ihrer Marzahner Platte geblieben war. Doch all das zählte nicht mehr. Plötzlich war er frei und die Welt rief nach ihm.

Das und viel mehr hatte er ihr erzählt, bevor sie endlich Ruhe gab. Viel hatte sie sowieso nicht verstanden. Denn sein Englisch war noch immer schlecht und gebrochen. Zu oft nutzte er merkwürdige denglische Worterfindungen, um sich auszudrücken. Sie hatte jedes Mal verständig gelacht, doch wohl mehr aus Mitleid oder einfach, weil sie immer lachte. Ja, das tat sie, sie lachte immer. Sie hieß Mary und kam aus den USA. In Marzahn hatte es viele Russen gegeben, aber er hatte noch nie ein Mädchen aus Amerika kennengelernt. Alles an ihr war anders und aufregend und neu. Er war nach Indien gekommen, um etwas neues zu lernen und dann war es dieser amerikanische Traum, der ihn fesselte.

Nach ihrem Verhör hatte sie ihn wieder am Arm gefasst und herumgeführt. Scheinbar schien sie alles und jeden zu kennen. Und jeder kannte sie. Wohin er auch mit ihr ging, die Leute begannen zu strahlen, sobald sie Mary sahen. Selbst der Guru Maharishi strahlte, als er sie sah und umarmte sie einen Moment zu intim und zu lange, wie er dachte. „Nicht eifersüchtig werden Peter“, hatte sie gesagt, nachdem sie beim Guru gewesen waren. Dann hatte sie ihm einen Kuss gegeben und war verschwunden.

Er war danach zu dem Zelt gegangen, welches sie ihm zugewiesen hatten. Dann musste er sich beeilen. Leider war er der Küche zugewiesen worden. Anders als zuhause war sie in zwei großen Zelten untergebracht. Ein Brite hatte die Leitung und er war alles andere, als meditativ entspannt. Tatsächlich war er das direkte Gegenteil und ständig gereizt. Ständig meckerte er, weil es ihm nicht schnell genug ging. Doch es führte kein Weg vorbei, alle waren zur Mitarbeit verpflichtet.

Ihr anmutiger Körper bewegte sich in Schlangenlinien und hypnotisierte ihn. Er wäre gern aufgestanden und hätte sie in den Arm genommen und sich mit ihr bewegt. Doch sein Kopf blockierte. Er schien der Einzige zu sein, der sich nicht von seinen weltlichen Gedanken lösen konnte, um in völlige Trance zu verfallen. Doch das war ihm schon in den letzten Tagen aufgefallen. Alle anderen waren völlig im Fluss. Er sah es ihnen quasi an. Doch er wusste nicht, warum es ihm nicht gelang. Er ging zu jedem einzelnen Mantra-Chanten und zu jeder Meditationssitzung, aber selbst Abends wenn die Leute zusammenkamen, um zu trommeln, Gitarre zu spielen und Evergreens zu singen, fühlte er nicht, wie er in den Flow rein kam. Mary hatte ihm geraten, dass er endlich die Geister der Vergangenheit loslassen müsste, sonst würde er nie frei mit den magischen Winden fliegen können.

Er hatte nicht gewusst, was sie damit gemeint hatte, doch eigentlich war es ihm total klar. Denn diese Geister hatten ihn hierher geführt. Er wusste nicht, ob sie ihn wegen Mamas Tod heimsuchten oder wegen Steffi, die ihn verlassen hatte, weil er angeblich keine langfristigen Ambitionen hatte. Er hatte keine Ahnung, woher sie kamen, aber sie waren da und trieben in seiner Seele ihr unruhiges Unwesen. So war es auch gekommen, dass er zu seinem ersten spirituellen Zirkel gegangen war.

Eines Tages hatte er am schwarzen Brett der Uni diesen Zettel gesehen: „Suchst du dein wahres Selbst oder willst du einfach nur deine Dämonen loswerden? Dann komm zu uns. Wir sind alles Gleichgesinnte, welche sich spirituell von den materiellen Zwängen befreien wollen!“ Er hatte den Zettel abgerissen und schon zwei Tage später, war er zu dem alten Haus auf dem Campus gegangen, wo der Kurs stattfand.

2

Sie hatten Bongos, Congas, Didgeridoos, Rasseln und viele Instrumente mehr. Viola leitete den Kurs. Sie war ziemlich alt, mindestens Mitte dreißig, studierte aber immer noch Soziologie und irgendwas wie Ethnologie. Sie hatte dünne braune Rastazöpfe, die sie meist mit einem bunten Band zusammengebunden hatte. Sie hatte ihm gefallen. Vor allem weil sie mehr versprach als Steffi in Marzahn, die jeden Tag darauf wartete, dass er ihr endlich einen Antrag machte.

Viola war eine Offenbarung gewesen. Ihre sanften Küsse und der Rhythmus ihres Beckens hatten seinen Blick für immer verändert. Es gab eine Magie in der Welt, die viel mehr zu bieten hatte, als all die Anzugträger jemals verstehen könnten. Es gab echte Leidenschaft. Es gab Liebe und es war möglich, dass zwei Wesen vollkommen miteinander verschmolzen und zu einem wurden. Jedes Mal nach dem Akt nahm sie sich ihre Gitarre. Sie schrammelte nur ein paar Akkorde und sang dazu, was ihr gerade in den Kopf kam. Obwohl ihre Sprache dieselbe war, die sein Vater sprach oder die sie in der Uni benutzten, so war sie doch völlig anders. Sie lebte! Wenn Viola sang, dann flossen ihre Worte frei und waren nicht nur Schablonen eines geschlossenen Systems. Meist drückte sie ihm eine der Trommeln in die Hand und er ließ sich von seinen Gefühlen treiben.

Steffi wusste es nicht, doch sie spürte es. War sie vorher schon immer gereizt gewesen, so wurde sie seit der Affäre mit Viola noch unausstehlicher. Fast jeden Tag zuhause kam es zum Streit. Anfangs schmiss sie nur Kissen, doch daraus wurden Gabeln, Messer und schließlich Gläser und Tassen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Zurück zu Vater gehen ging nicht. Er würde ihn jeden Tag aufziehen dafür, dass er wieder mal alles vermasselt hatte. Es gab kein Licht am Ende des Tunnels; bis ihm Viola ein verwegenes Angebot machte.

Sie hatte sehr lange in den besetzten Häusern hinter der Westgrenze gelebt. Doch jetzt wollte sie weiter rüber in den Friedrichshain, wo es unendlich viele leerstehende Häuser gab, welche die miesen Spekulanten verfallen ließen. Ob er mitkommen wolle, fragte sie? Es gäbe dort alles, was er bräuchte. Das einzige Problem waren die Bullen, die immer wieder Stress machten, aber das sollte ihm egal sein, sie waren einfach zu viele, als dass die eine Chance hätten. Nach dem Angebot liebten sie sich und während er kam, wurde ihm klar, dass er von vorne anfangen musste mit seinem ganzen Leben.

3

Mary ergriff seine linke Hand: „Komm Peter (das sagte sie immer mit dem coolen amerikanischen Akzent, so dass sein Name endlich nicht mehr klang, wie der eines alten Opas aus der Hitlerzeit), tanz mit mir!“

Er hatte keine Wahl. Ihre Magie war größer, als seine Scham sich nackt und frei zu zeigen. Also ließ er zu, dass seine Aura sich mit ihrer verband. Er stand auf und nahm den Rhythmus der Worte auf. Erst jetzt spürte er, wie stark ihre Magie wirklich war und er war nicht der einzige. Immer mehr standen auf und bewegten sich in dem kleinen Zelt, die ersten strömten sogar schon nach draußen ans Feuer und ließen ihre Körper wie in Trance kreisen.

Auch er musste raus. Denn das Zelt begrenzte ihn und von draußen drang der Schein des Feuers zu ihnen herein. Mary war heiß und er begehrte sie. Doch in den letzten Tagen war er noch eine zweite Verbindung eingegangen und sie hatte etwas, das noch stärker war als die sinnliche Lust, welche er spürte, wenn Mary ihn berührte.

Schon am ersten Tag hatten ihn der Küchendienst und die lange Meditation erschöpft, so dass er sich abends einfach zu den anderen ans Feuer gesetzt hatte. Nach dem ganzen Gemüse und den schmutzigen Schalen hatte er keine Lust mehr gehabt zu reden. Und Mary war auch nicht zu sehen gewesen. So saß er einfach am Feuer und sah zu, wie die heißen Flammen schlängelten. Dann geschah etwas.

In den Plattenbauten hatte er eigentlich nie offenes Feuer gesehen. Als Kinder hatten sie einige Male gekokelt und Mülleimer angezündet. Einmal hatten seine Kumpels sogar einen alten Trabanten abgefackelt. Doch hier im fernen Indien tat sich zum ersten Mal die Chance auf, sich wirklich auf das Feuer einzulassen. Es geschah nicht sofort. Anfangs wollte er nur entspannen, doch dann drangen die Zungen der Flammen und das rhythmische Knistern der Holzscheite tief in seinen Geist ein.

Er starrte ins Feuer wie auf seinen Fernseher zuhause. Die Flammen saugten seine Blicke auf. Doch es waren nicht die Flammen, die sich bewegten, vielmehr bewegten sie ihn. Ihr Flackern berührte etwas sehr altes tief in seinem Inneren. Genau wie seine archaischen Vorfahren vor zehntausenden Jahren saß er vorm Feuer und starrte hinein. Er fühlte sich mit ihnen verbunden; mehr noch: Sie erwachten in ihm zum Leben. Er war plötzlich der alte Krieger der Steppe und im nächsten Moment der halbnackte Jäger des Waldes. Die Flammen konnten tiefer in ihn eindringen als alles andere sonst. Sie drangen tiefer als das Fernsehen und die Uni, tiefer als der Alkohol. Nur das eine Mal Sex mit Viola war genauso tief und archaisch gewesen.

Er ließ Mary und das Zelt mit den anderen hinter sich. Am Feuer saßen zwei, die nicht an der Meditation teilgenommen hatten. Einer hieß José, er kannte ihn vom Gemüse schälen. Aber das interessierte ihn nicht. Er spürte den Klang der Mantras hinter sich, die aus vielen Mündern kamen, und er fühlte, wie das Feuer ihn anzog. Aber da war noch ein anderer Drang, der ihn lenkte. Um ganz mit dem Feuer zu verschmelzen, brauchte er noch ein Utensil. Mit tanzenden Schritten lief er einen kleinen Bogen und schnappte sich eine der Handtrommeln, die fast so ähnlich aussahen wie Violas Tamburine nur ohne die Schellen am Rand. Kaum dass er die Trommel in der Hand hielt, schlug er drauf.

Die Vibrationen des Fells ließen seine Seele erbeben. Er spürte den Klang bis in die Eingeweide. Für einen Moment hätte es ihn fast überfordert und er hätte gekreischt. Doch dies war kein Moment, um verrückt zu spielen wie auf einer Kreuzberger Party. Das hier war die große Chance eins zu werden mit der Magie des Feuers und sich dadurch auch mit der großen Weltseele zu vereinen. Deshalb sammelte er sich wieder und begann rhythmisch zu trommeln.

Er saugte den sonoren Takt des Mantras auf und schlug die Trommel im Gleichklang. Manche seiner Schläge waren wie Akzente, um die einzelnen Silben zu verstärken, damit sie noch mehr von ihrer heiligen Energie entfalten konnten. Er betrat den Ring des Feuers und gab sich dem kreisenden Reigen hin. Er tanzte ganz allein wie die Schamanen in der alten Zeit. José und sein Kumpel starrten ihn an, doch das störte ihn nicht. Er gab sich voll und ganz der spirituellen Energie hin. Er vergaß alles andere. Auch dass immer mehr Leute zu ihm in den Reigen stießen, bemerkte er nur ganz am Rand seines Bewusstseins. Er war vollkommen eins mit dem Schlag der Trommel geworden und verschmolz mit der Energie des Feuers.

Dann vergaß er die materielle Zivilisation. Hätten sie ihn angehalten, dann hätte er nicht mehr sagen können, wo und wann er war. Alle weltlichen Dinge verloren ihre Bedeutung. Er vergaß den Unistress und die Stiche im Herzen wegen Steffi. Es war ihm auch endlich egal, dass er nicht wusste, was er mit seinem Leben tun wollte. Es zählte nicht mehr. Er war durch die Trance in eine höhere Sphäre eingetaucht. Es gab nur noch das Feuer und die Trommel. Er selbst hatte sich im Strudel der Magie aufgelöst.

Er erwachte frierend. Er wusste nicht mehr, wie lange er getanzt hatte. Jetzt lag er in Embryostellung am Rand des Feuers und war allein. Das Feuer war erloschen; nur noch ein kleiner Rest an Glut schimmerte orangerot zwischen der Asche. Es war schon so weit abgekühlt, dass es keine Wärme mehr ausstrahlte. Er sah an sich herab. Außer einer dünnen Shorts war er nackt. Seine Schuhe waren weg, genauso wie sein Shirt. In seinem Kopf drehte es sich immer noch und er spürte, dass sein Geist noch nicht wieder fest an seinem Körper klebte. Er rappelte sich auf und schleppte sich in das Zelt, dass sie ihm bei der Ankunft zugewiesen hatten. Müde fiel er auf den Schlafsack und schlief ein.

„Gestern warst du frei“, sagte Mary bewundernd und gab ihm einen Kuss, „jede:r hat es gesehen, selbst der Guru. Er hat gelächelt und gesagt, genau so tanzen freie Seelen, die die Ketten des Materiellen gesprengt haben.“

Er lächelte, dank ihrer lieben Worte. Der Guru hatte ihn wirklich wahrgenommen. Ein besseres Kompliment konnte es nicht geben. Als er später in der Küche auftauchte, nickten sie alle kurz mit dem Kopf, als wollten sie ihm mitteilen, dass sie verstanden hätten. Es freute ihn, bis ihm klar wurde, dass er es nicht verstanden hatte. Da war die Macht des Feuers gewesen. Sie war echt; daran gab es keinen Zweifel. Sie hatte ihm die Tore in sein tiefstes Inneres aufgeschlossen und ihn zu einem spirituellen Traumkrieger werden lassen. Es war echt gewesen, denn er fühlte es noch immer. In seinen Tiefen brannte das Feuer weiter. Doch was das wirklich bedeutete und wie das sein Leben verändern sollte, war ihm nicht klar. Aber das war der Grund, warum er hier war. Er wollte endlich wissen, was er mit seinem Leben tun sollte.

Er schälte. Es waren fünf große Eimer voll Kartoffeln und Gemüse, die er vor dem Essen schälen und waschen musste. Dann half er, die sauberen Essschalen und das Besteck zu tragen. Als er aus dem Küchenzelt kam, blendete ihn kurz die Sonne. Nachdem er sich an das Tageslicht gewöhnt hatte, sah er sich etwas um. Er sah die vielen Gruppen in ihren Workshops und Sessions. Einige meditierten, was er an der Meditationshaltung, dem berühmten Lotossitz, erkannte. Manche übten Yoga. Darauf bekam er auch immer mehr Lust, seitdem ihm Viola vorgeschwärmt hatte, dass es die sexuellen Energien steigerte. Andere schienen zu diskutieren oder Vorträgen zu lauschen.

Beim Gedanken an Viola wurde er kurz traurig. Eigentlich wollten sie gemeinsam hierher. Aber weil sie die Bullen eingelocht hatten, hatte sie den Flug verpasst. Sie hatten alles zusammen geplant; es war sogar Violas Idee gewesen. Das Festival von Maharishi war eine Legende und jede:r träumte davon, dabei zu sein. Dass sie die Bullen direkt mehrere Tage einlochten, nur weil sie bei einer kleinen Demo ein paar Pflastersteine auf die Bullenautos geworfen hatte, damit hatten sie nicht gerechnet. In Kreuzberg geschah das schließlich fast täglich. Doch sie saß hinter schwedischen Gardinen, aber vor seinem Schicksal wollte er sich nicht drücken, also hatte er sich durch die lange Warteschlange des Flughafens bis ans andere Ende der Welt gequält.

„Er möchte mit dir reden!“, immer wenn Mary etwas sagte, strahlte ihr ganzer Körper. Sie war einfach das leibhaftige Lebensglück. Wen sie meinte, wusste er sofort. Es war der einzige Grund, weswegen es okay war, den Arbeitsdienst zu unterbrechen. Deshalb war es doppeltes Glück. So trottete er Mary treudoof wie ein Dackel hinterher zum Hauptzelt. Natürlich war der Guru nicht allein. Er war nie allein und so etwas wie Privatsphäre schien es hier sowieso nicht zu geben. Alle teilten alles miteinander. Das Überraschendste daran war, dass es völlig ohne Konflikte ablief. Er hatte bisher keinen einzigen Streit mitbekommen, nicht einmal in der Küche. Der Chefkoch entschied zwar letztendlich und es war hektisch, weil sie ständig unter Zeitdruck standen. Doch es gab keinen Streit.

„Setz dich! Setz dich mein deutscher Freund“, sagte der Guru in gebrochenem Englisch; „die Mauer ist weg: gute Sache! Freiheit gute Sache. Berlin gute Sache.“ Bei jedem Wort grunzte Maharishi freudig und ließ ein herzliches Lachen folgen. Dann begann er in einer anderen Sprache zu ihm zu sprechen. Sein Assistent übersetzte sofort in flüssiges Englisch. Er verstand nicht alles; doch so viel, dass der Guru ihm gratulierte, weil er gestern die große Vereinigung erlebt hatte und wie groß das Potential, war, welches er in seinem neuen deutschen Freund sah.

Dann ließ der Guru einen langen Schwall an Wörtern auf ihn niederrieseln. Der Übersetzer kam kaum hinterher mit dem Übersetzen. Diesmal ging es um hochtrabende religiöse Begriffe wie Brahma, Karma und den Schleier der Maya. Diesmal verstand er noch nicht einmal die Wörter, die er verstand. Viola hatte ihm schon oft von Karma erzählt, es bedeutete so viel wie Schicksal, aber eigentlich hatte er keine Ahnung. Also lächelte er einfach bei jedem Wort, verneigte bei jeder längeren Pause die Hände und sagte danke. Als der Guru endlich Ruhe gab, stand er auf und verneigte sich dreimal. Beim letzten Mal verbeugte er sich so tief, dass der Guru ihm etwas Wasser auf die Stirn träufeln konnte. Das hatte er bei den anderen Teilnehmern gesehen und es fühlte sich tatsächlich überraschend heilig an.

Als er aus dem Zelt kam, fühlte er sich wie ein König. Der Guru hatte ihm eine Audienz gewährt und ihn sogar gelobt. Das Treffen hatte auch lange genug gedauert: Denn jetzt war Essenszeit und damit war seine Schicht vorbei. Der Rest des Tages gehörte ganz ihm und er konnte machen, was immer er wollte. Zuerst ging er natürlich essen. Schließlich hatte er hart dafür geschuftet und das Gemüse und die Kartoffeln geschält. Er schaufelte sich den Teller voll und setzte sich zu den Leute aus der Küchencrew.

„Gratuliere!“, sagte José mit seinem spanischen Akzent, „der Meister hat dich angehört. Ich bin schon ein paar Wochen hier. Das passiert nicht oft. Aber du warst gestern auch krass drauf. Sicher dass du keine Pillen oder Trips dabei hast? Falls ja, dann denk dran, mit den Leuten aus der Küche zu teilen!“

Er wusste nicht genau, was José meinte. Definitiv ging es um Drogen. Bei Viola im besetzten Haus hatte er ein paar Mal an Joints gezogen, aber außer von Alkohol hatte er keine Ahnung von Drogen. José sollte das natürlich nicht wissen. Also tat er ganz cool und aß still weiter. Nach dem Essen ging er erst mal zur Meditationsgruppe. Mary hatte sie ihm empfohlen. Sie wurde von einer brünetten Amerikanerin namens Jennifer geleitet, deren offene Art ihn sofort an Mary erinnerte. Er hatte bisher nicht viele Menschen aus den USA getroffen. Im Osten waren die eher Mangelware. Doch es schien, als ob die alle immer so waren: total friendly and supportive.

Er saß still mit gekreuzten Beinen im Lotossitz. Es gefiel ihm so gut, dass er statt eines Kurses gleich drei machte. Am Anfang erklärte Jennifer immer dasselbe. Doch danach saßen sie einfach nur rum. Er blieb, weil er wissen wollte, was letzte Nacht am Lagerfeuer passiert war. Vieles war nur noch schemenhaft und wirkte mehr wie unter einer Dunstglocke. Einige Bilder kamen zurück. Doch es ploppten auch Bilder von Mama auf. Besonders in der zweiten Sitzung erschien sie fast greifbar echt. Es schmerzte ihn, denn er vermisste sie; dennoch lächelte er. Denn ihre mütterliche Wärme war noch spürbar.

Nach der dritten Sitzung taten ihm die Knie weh. Jennifer lobte ihn für seine Ausdauer und bescheinigte ihm großes Talent; was heute irgendwie die Regel war. Scheinbar erkannten alle in ihm plötzlich Talente, von denen er keine Ahnung hatte. Die Antworten, die er gesucht hatte, waren nicht gekommen. Vielleicht konnte nur das Feuer ihm diese Antworten geben. Danach ging er zum Yoga. Ein drahtiger Däne namens Suna leitete die Session. Im Gegensatz zu Jennifer war er wortkarg und distanziert. Dafür war Suna sehr gelenkig. Anfangs fiel es ihm leicht Sunas Übungen nachzuturnen. Doch dann wurden sie immer komplizierter. Die späte Nachmittagssonne brannte immer noch, doch jetzt fingen auch noch seine Muskeln an zu brennen und er an zu schwitzen.

Einige Zeit später stand er unter einer der selbstgebauten Duschen im Freien und wusch sich den Staub und den Schweiß vom Körper. Es war erst sein fünfter Tag auf dem Festival und obwohl Viola nicht dabei war, hatte er schon mehr erlebt, als er erhofft hatte. Die restlichen drei Wochen versprachen spannend zu werden. Vor allem weil am Ende die große Prozession auf alle wartete.

„Hi mein heiliger Guru!“, Mary hatte ihren Arm unbemerkt um seine Schultern geschwungen und gab ihm einen Kuss. Für einen Moment erschrak er, denn er war gerade dabei sich mit dem Handtuch trocken zu rubbeln. Doch er drückte die Gefühle weg und ließ sein Handtuch fallen. Er schlang auch seine Arme um sie und küsste sie. Kurz merkte er ihren Zweifel, doch dann erwiderte sie seine Zuneigung und ihre Zungen tanzten miteinander.

Mary löste sich nach ein paar Minuten und schwebte davon. Er sah ihr siegessicher hinterher. Ein Blick an den Horizont verriet ihm, dass die Sonne sich zum Schlafen gehen bereit machte. Er wusste noch nicht genau, wie er den Abend verbringen wollte. Es gab wie üblich mehrere Möglichkeiten, sich nach dem Abendessen zu beschäftigen. Wahrscheinlich brauchte er etwas ruhiges. Nach der wilden Nacht brauchte er etwas, um runterzukommen. Letzte Nacht hatte er zu wenig geschlafen und er fühlte sich immer noch erschöpft.

Einige Zeit nach dem Essen saß er in einem kleinen Zelt und vorne saß ein glatzköpfiger Brite mit orangem Kleid und erzählte Geschichten über den Buddha und seine Lehre. Bei Viola hatte er den Namen Buddha öfter gehört. Es ging um irgendwas namens Nirvana. Auch Maharishi hatte öfter von diesem Nirvana geredet. Es war so etwas wie der Himmel. Auch der Brite vorne redete davon, wie im Nirvana alles Leiden endete. Mehr noch redete er über Weisheit und darüber, wie man sein wahres Selbst findet. Das klang schon interessanter. Denn um herauszufinden, wer er wirklich war und was er wirklich wollte, war er hierher gekommen. Er lauschte dem Vortrag bis zum Ende. Als die anderen das Zelt verließen, blieb er einfach still sitzen. Mit einem Lächeln bedachte ihn der glatzköpfige Brite und kam zu ihm rüber.

„Du bist der Feuertänzer der letzten Nacht“, sagte der Brite und setzte sich neben ihm. Es war etwas weiches an dem Glatzkopf, dass seine Zunge löste und so erzählte er ihm alles, was seit Mamas Tod passiert war. Der Glatzkopf hörte sich alles an. Er konnte sich nicht erinnern in den letzten Monaten einen anderen Menschen getroffen zu haben, der so leise und aufmerksam zuhören konnte:

Als er Steffis Vorwürfe nicht mehr ausgehalten hatte, war es zum bösen Streit gekommen und sie hatte alle seine Sachen aus dem Fenster geschmissen. In seiner Ratlosigkeit war er bei Viola gelandet und einige Tage später hatte er ein Zimmer in einem neuen besetzten Haus in Friedrichshain bekommen. Doch dort war es immer laut und hektisch. Ständig kamen oder gingen Leute. Manchmal zogen ganze Horden, die mit ihren Rucksäcken auf der Durchreise waren, bei ihnen ein und dann musste er sein Zimmer teilen. Und es lief ständig super lauter Punkrock.

Jeden Abend war er sternhagelvoll. Denn unten gab es eine Kneipe mit eigener Bühne. Täglich spielten irgendwelche verrückten Musiker auf der Bühne. Ihre Gitarren waren laut und die Sänger kreischten schrill. Er liebte es unten zu sein und sich zu besaufen. Jeden Abend lernte er neue Leute kennen, denn der Alkohol und der Punk verband sie. Doch es gab keine einzige Minute Ruhe, denn selbst nachts hörte irgendjemand laute Musik, stritt sich oder stöhnte wild beim Ficken.

Dieser Glatzkopf strahlte eine Ruhe aus, die heilsam war. Seine Aura hatte etwas harmonisches und seine Worte waren so sanft wie eine antike, griechische Flöte. Vor allem machte es Sinn, was er sagte. Er war mit Viola bei vielen Session, Workshops und Vorträgen gewesen. Jeder einzelne war neu und spaßig gewesen. Er hatte alles angenommen. Doch in seinem Kopf hatte es meist keinen Sinn gemacht. Es war spirituell und es war abgehoben. Die Worte des Glatzkopfes waren erdig und machten zum ersten Mal wirklich Sinn.

Später lag er schlaflos in seinem Schlafsack und starrte auf die Stangen, die das Zelt stützten. Der orange Glatzkopf hatte ihn getriggert. Wer war er wirklich? Diese Frage hatte er ihm mehrmals gestellt und ihm erzählt, wie Buddha, der eigentlich Siddhartha Gautama hieß, wie er von ihm erfahren hatte, es geschafft hatte, sein wahres Selbst zu finden. Das beeindruckte ihn. Denn wenn es so ein alter Inder vor langer Zeit geschafft hatte, dann musste er es doch auch schaffen können.

Doch wie? Denn er wusste alles über sich. Er hatte sein Leben gelebt und dennoch fühlte es sich so an, als ob er keine Ahnung hatte, was er wirklich im Leben wollte. Er erinnerte sich an den Abend in Friedrichshain. Er hatte wieder zu viel gesoffen und dann minutenlang über dem Klo gehockt und alles ausgekotzt. Statt zurück in die Kneipe, war er hoch in sein Bett getorkelt. Doch an Schlaf war nicht zu denken gewesen, denn alles hatte sich gedreht und mehrfach hatte sich sein Magen fast wieder umgedreht. Er hatte da einfach wachgelegen und an die Decke gestarrt.

Gedanken hatten ihn überrollt, während sich vor seinen Augen alles drehte. Depressive Gedanken. Steffi war weg, Mama war tot und die Uni war Schrott. Und Papa? Papa konnte er sowieso vergessen. Es war unmöglich, dass sie jemals wieder an einem Tisch zusammen sitzen und sich normal unterhalten würden. Kurz hatte er überlegt einfach zu weinen, doch er war keine zwölf mehr. Da war ihm bewusst geworden, dass sein Leben einem schwarzen Loch glich. Alles war stockduster und am dunkelsten waren die schwarzen Flecken in sich, die voller Fragezeichen waren.

Konnte der orange Glatzkopf seine Fragen beantworten? Diese Frage ließ ihn nicht mehr los. Denn er war hier aus einem bestimmten Grund. So schön Mary auch war. Er war nicht wegen Mädchen hier. Die gab es auch zuhauf zuhause in Friedrichshain. Dort kamen so viele Mädchen mit ihren Rucksäcken aus ganz Deutschland an, die aus irgendwelchen Gründen von zuhause weggelaufen waren. Die suchten Geborgenheit und Abenteuer. Manchmal hatte er was mit zwei oder drei pro Woche gehabt. Deshalb hätte er nicht ans andere Ende der Welt fahren müssen.

„Wer bin ich wirklich?“, flüsterte er leise in die Dunkelheit des Zeltes hinein, „ was ist meine Bestimmung im Leben?“

4

Kaum dass er seinen Küchendienst beendet und zu Mittag gegessen hatte, stand er wieder auf der Bambusmatte des glatzköpfigen Briten. Der begrüßte ihn mit einem Lächeln, aber sagte kein Wort. Stattdessen zeigte er mit einer offenen Handgeste auf ein Sitzkissen. Also setzte er sich hin. Der Glatzkopf ging zurück zu dem kleinen Gaskocher, an dem er hantiert hatte, als er aufgetaucht war, und kochte Wasser. Nach einiger Zeit drang das Blubbern des Wassers an sein Ohr.

Aus einem kleinen Koffer holte die Glatze ein Teeservice. Es sah antik und edel aus. Seine Verzierungen verrieten, dass es nicht aus Europa kam. Die kleinen filigranen Blumen und die gehauchten Formen von Singvögeln waren sehr schön. Einige Akzente des leichten Rosas verbanden sich mit den dünnen, blauen Linien. Das Weiß des Porzellans gab dem Ganzen den perfekten Rahmen.

Der blecherne Kochtopf stieß kurz gegen eines der beiden Kännchen. Der Klang riss ihn aus seiner Gedankenblase. Die orange Glatze füllte heißes Wasser in jedes Kännchen. Nur in eines davon gab er die kostbaren Teeblätter, die er vorher aus einem kleinen, bestickten Beutel geholt hatte. Dann stellte der Orange eine kleine Trinkschale vor ihn auf den Teppich und eine zweite vor das andere Sitzkissen, auf dem er Platz nahm.

Aus dem Kännchen stieg leichter Rauch auf. Der Orange lächelte immer noch süffisant. Er fragte sich, woher er die Energie nahm, so viel zu lächeln. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, wie er ihn beobachtete und starrte verlegen zurück auf den Dampf. Der Glatzkopf ließ ein glucksendes Lachen erklingen, so als ob er ihn verstanden hätte. Dann zogen Minuten in Stille dahin. Er wusste nicht, ob es irgendeine komische Art von Teemeditation war oder ob sie wirklich nur warteten. Schließlich schenkte der Orange ein. Überraschenderweise kippte er nur einen Schluck heißes Wasser in die Schale und nippte daran. Mit einer Handgeste appellierte er an ihn, es ihm gleichzutun.

Nebenbei holte er eine größere Schale aus dem Koffer und kippte den Rest des Wassers aus seiner Trinkschale darein. Wieder zeigte er ihm, es ihm nachzumachen. Als nächstes nahm er die zweite kleine Kanne. Er roch kurz daran und wedelte etwas Dampf zu ihm herüber. Das feine Aroma der edlen Kräuter stimulierte ihn sofort und er sog kräftig ein. Mit einem kräftigen Atemzug füllte er seinen Bauch. Der Glatzkopf goss mit seliger Ruhe Tee in die beiden Schalen und stellte das Teekännchen auf einen kleinen Untersetzer, den er aus dem Koffer gefischt hatte. Dann verschränkte er seine Hände im Schoß und schloss die Augen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun. Also schloss er ebenfalls die Augen.

Der Geruch des Tees kitzelte seine Nase. Das Aroma besaß eine wahnsinnig starke Energie. Mit offenen Augen hätte er vielleicht gar nicht gespürt, wie intensiv sein Körper auf den Geruch reagierte. Es begann an seiner Nasenspitze und breitete sich dann ausgehend von seiner Nase aus. In Wellen durchzog es seinen ganzen Körper. Kurz zitterte sein Bauch aufgrund der Intensität. Doch wie die liebevolle Hand seiner Mutter nahm der Geist des Tees sich seiner Unsicherheit an und streichelte ihn. Eine tiefe, innere Ruhe breitete sich aus und brachte alles in Einklang mit dem Universum.

„In der Stille liegt eine Kraft“, sagte der Glatzkopf nach einiger Zeit, „die stärker ist als alle Verwirrungen der Welt.“

Er griff sein Schälchen Tee und nahm mit gesammelter Achtsamkeit einen Schluck. Nur ihm zuzusehen, verriet ihm, welche tiefe Weisheit in ihm ruhte. Dieser Glatzkopf musste eine innere Kraft besitzen, die größer war, als die jedes anderen auf dem Festival. Zweifelsfrei war Maharishi ein großer spiritueller Führer. Aber war er das wegen seiner tiefen Weisheit oder wegen seines Charismas? Schon bei dem Vortrag am ersten Abend, als Maharishi vor über hundert Leuten gesprochen hatte, waren ihm Zweifel gekommen. Aber dieser einfache Glatzkopf überzeugte ihn und zwar nur durch die stille und achtsame Art, wie er Tee trank.

Er nahm jetzt seine eigene Schale. Sie dampfte noch leicht. Der Duft hüllte ihn immer noch ein und kitzelte sanft seine Nase. Er setzte langsam die Schale an die Lippen. Er konnte nicht sofort den Tee die Kehle herunterkippen. Da war eine unsichtbare Macht im Raum, die ihn inne halten ließ. Er nahm sich ganz genau wahr. Er spürte seine beiden Hände, welche sanft die Teeschale umschlossen. Er spürte wie das warme Porzellan seine Lippen berührte und verschmolz. Dann spürte er die Energie, in sich aufsteigen, die bereit war die Schale zu kippen. Er ließ es zu. Der Tee floss über seine Lippen zu seiner Zunge und in seine Kehle. Jeder Moment verstrich wie in Zeitlupe. Er spürte genau, wie der Tee seinen Bauch wärmte und musste lächeln.

„Was suchst du mein deutscher Freund?“, der Orange zog seine Aufmerksamkeit weg vom Tee und hin zu der Frage, die ihn seit seiner Ankunft quälte. Ja, was suchte er? Es war vieles, daran gab es keinen Zweifel. Doch eigentlich hatte er keine Ahnung. Er war ein Blinder in einem nebligen Tal. Selbst wenn er sehen könnte, würde er es immer noch nicht sagen können. Als Viola noch bei ihm war, schien alles klar. Denn jedes Mal wenn er zweifelte, kannte sie die Antworten und befreite ihn aus seiner Verblendung. Doch das war sie und nicht er. Als er dann im Flugzeug über den Wolken saß und aus dem Fenster sah, war ihm die Nichtigkeit seines Lebens bewusst geworden. Er saß in einem schwarzen Loch. Mary mit ihrem Sexappeal hatte das verdeckt, doch es war die ganze Zeit da.

„Selbst die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt, sagen die Chinesen. Sieh mich an mein deutscher Freund. Wahrscheinlich komme ich dir mit meiner Glatze und meinem orangen Gewand merkwürdig vor. Aber es ist nicht merkwürdiger als jedes andere Outfit. Sieh mein deutscher Freund, auch ich begann einst zu suchen und was ich fand war der Dharma des Buddha Shakyamuni. Er hat mir alles gegeben, was ich suchte und so wurde ich ein buddhistischer Mönch. Er würde auch alle deine Sehnsüchte erfüllen; nur leider ist das nicht so einfach. Ich kann ihn dir nicht einfach einflößen oder wie Medizin spritzen. Der Dharma ist ein Pfad und jede:r muss ihn selbst gehen. Setze nur Schritt für Schritt und du wirst alles finden, was dich glücklich macht.“

5

Auf die Worte des Mönchs hatte er nichts zu sagen gewusst. Er war nicht wie Viola. Auch wenn sie auf alles eine Antwort wusste, so war sie doch genauso wie er ein Suchender. Sie waren beide Blätter, die im Sturm umher gepeitscht wurden. Viola kaschierte es besser, aber das änderte nichts. Statt ihn weiter zu belehren, hatte der Glatzkopf danach einfach geschwiegen und seinen Tee ausgetrunken. Auch er trank seinen Tee und war dankbar, als der Mönch nachgeschenkt hatte. Sie saßen mehr als eine Stunde so, ohne dass ein Wort fiel. Dann war er einfach aufgestanden und rausgestürmt.

Er musste allein sein. Er sah den Trubel auf dem Festival zu seiner Linken. Doch er wandte sich ab. Er musste allein sein. Er musste nachdenken oder vielmehr sich einfach nur spüren. Denn tausend Gedanken konnten seine Ängste nicht befrieden. Zu oft hatte er das probiert, nur um dann noch verunsicherter zu sein. Auch Violas tolle Antworten waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Erst diese Stille des Mönches versprach etwas, das neu war. In ihr lag der Friede, den er suchte.

Er lief einen alten Pfad entlang. Gestrüpp streifte über seine nackten Beine und hinterließ einige Kratzer. Den Weg verließ er irgendwann und stapfte einfach in die Landschaft rein. Ein heimatloser Hund streifte seinen Weg und knurrte ihn böse an. Doch er ließ sich nicht einschüchtern und fauchte zurück. Angesichts dieses verrückten Menschen zog der Hund sofort den Schwanz ein und rannte davon. Die Natur sah unwirklich aus. Alles war halb vertrocknet und wirkte leblos. Erst beim genauen Hinsehen erkannten er die vielen kleinen Kriechtieren, die zwischen dem Gestrüpp lebten. Er lief lange, bis seine Beine anfingen zu ermüden und setzte sich dann auf einen knochigen Baumstumpf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Die Sonne brannte. Aber das war gut, denn so konnte er sich bewusst spüren. Der Schweiß drang aus allen Poren und