Das Geheimnis von Shangri La - Clive Cussler - E-Book

Das Geheimnis von Shangri La E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Eigentlich suchen Sam und Remi Fargo Schätze, keine Menschen. Doch für ihren Freund Frank Alton machen sie eine Ausnahme. Kaum haben die Fargos den Auftrag angenommen, entgehen sie nur knapp dem ersten Mordanschlag. Halb auf der Flucht, halb auf der Suche folgen sie der Spur zu einem Luftschiff, das einst im Himalaya verschwand. Was hat sich an Bord befunden, dass sich noch heute Killerkommandos an die Fersen der Schatzjäger heften? Verzweifelt suchen die Fargos nach Antworten. Doch die könnten genauso tödlich sein wie die ewige Kälte auf den Gipfeln des Himalayas …

Archäologie, Action und Humor für Indiana-Jones-Fans! Verpassen Sie kein Abenteuer des Schatzjäger-Ehepaars Sam und Remi Fargo. Alle Romane sind einzeln lesbar.

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Clive Cussler

& Grant Blackwood

Das Geheimnis

von Shangri La

Ein Fargo-Roman

Aus dem Englischen von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Kingdom« bei Putnam, New York.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen

der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2011 by Sandecker RLLLP

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176 – 0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: © Illustration Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Jörn Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15182-9

www.blanvalet.de

Prolog

Ein vergessenes Land

Könnte es sein, dass ich von den einhundertvierzig, die es einmal gegeben hat, vielleicht der letzte Wächter bin? Dieser düstere Gedanke wirbelte durch Dhakals Geist.

Acht Wochen zuvor hatte die Hauptmacht der Eindringlinge sein Land von Osten her in rasender Eile und mit brutaler Grausamkeit überrannt. Kavallerie und Fußsoldaten strömten die Berge herab und schwärmten in die Täler aus, machten die Dörfer dem Erdboden gleich und metzelten jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte.

Mit den Armeen kamen Trupps von Elitesoldaten, die nur eine einzige Aufgabe hatten: den heiligen Theurang zu suchen und zu ihrem König zu bringen. In weiser Voraussicht entfernten die Wächter, deren Pflicht es war, das heilige Relikt zu beschützen, dieses von seinem Ort der Verehrung und versteckten es.

Dhakal ließ sein Pferd in einen langsamen Trab fallen, verschwand von dem Weg durch eine Lücke zwischen den Bäumen und hielt auf einer kleinen schattigen Lichtung an. Er glitt aus dem Sattel und gestattete seinem Pferd, zu einem nahen Bach zu trotten und seinen Durst zu stillen. Er trat hinter das Pferd, um die Ledergurte zu überprüfen, mit denen der würfelförmige Kasten am Bauch des Reittiers befestigt war. Wie immer befand sich die Last sicher an Ort und Stelle.

Der Kasten war ein wahres Wunderding, derart solide zusammengefügt, dass er einen Sturz aus großer Höhe auf einen Felsen – oder wiederholte heftige Schläge – überstand, ohne nachher auch nur einen Kratzer aufzuweisen. Er besaß Schlösser in großer Zahl, alle so gut versteckt und genial konstruiert, dass es unmöglich war, sie aufzubrechen.

Von den zehn Wächtern in Dhakals Kader hatte keiner die Mittel oder die Fähigkeit, diesen einzigartigen Kasten zu öffnen, noch wusste einer von ihnen, ob sein Inhalt echt oder nur eine Nachbildung war. Diese Ehre, oder vielleicht auch dieser Fluch, kam allein Dhakal zu. Wie und warum er ausgewählt worden war, wurde ihm nicht offenbart. Aber er allein wusste, dass sich der verehrte Theurang in dieser heiligen Truhe befand. Schon bald würde er, wenn ihm das Glück hold war, ein sicheres Versteck für die Truhe finden.

Seit fast neun Wochen war er auf der Flucht, nachdem er mit seinem Kader nur wenige Stunden vor den Eindringlingen aus der Hauptstadt hatte entkommen können. Zwei Tage lang, während der Rauch der brennenden Häuser und Felder den Himmel hinter ihnen verdunkelte, waren sie mit hoher Geschwindigkeit nach Süden geritten. Am dritten Tag trennten sie sich, und jeder Wächter schlug eine vorher bestimmte Richtung ein, die meisten wichen von dem Weg ab, den die Eindringlinge bei ihren weiteren Vorstößen nehmen würden, doch einige wandten sich direkt zurück und den Eindringlingen entgegen. Diese tapferen Männer waren bereits tot oder wurden von ihren Feinden gefoltert. Diese, nachdem sie die von jedem Wächter als Köder mitgeführte Truhe in ihren Besitz gebracht hatten, wollten von ihnen wissen, wie die Behälter geöffnet werden konnten. Wie geplant konnte ihnen keiner diese Frage beantworten.

Was Dhakal betraf, so hatten ihn seine Befehle nach Osten – der aufgehenden Sonne entgegen – geführt, in eine Richtung, die er dann während der vergangenen einundsechzig Tage beibehalten hatte. Das Land, in dem er sich nun befand, unterschied sich grundlegend von der wüstenhaften, gebirgigen Region, in der er aufgewachsen war. Auch hier gab es Berge, doch sie waren dicht bewaldet und wurden durch Täler voneinander getrennt, die mit Seen und Teichen gefüllt waren. Unsichtbar zu bleiben, war in dieser Gegend viel einfacher, jedoch behinderte sie sein Vorankommen. Das Terrain war ein zweischneidiges Schwert: Geschickte Verfolger könnten ihn unbemerkt einholen, so dass er keine Chance mehr hätte, ihnen zu entkommen.

Bisher war es mehrmals zu heiklen Situationen gekommen, doch seine Erfahrung und sein Training hatten ihm geholfen, sie heil zu überstehen. Fünf Mal hatte er aus einem Versteck beobachtet, wie seine Verfolger nur wenige Schritte entfernt an ihm vorbeiritten. Und zweimal war er in einen offenen Schlagabtausch mit feindlichen Kavallerieeinheiten geraten. Wenn auch hoffnungslos in der Unterzahl und erschöpft, hatte er diese Männer getötet, ihre Leichen und ihre Waffen vergraben und ihre Pferde auseinandergetrieben.

Während der letzten drei Tage hatte er von seinen Verfolgern weder etwas gehört noch gesehen. Auch war er nur wenigen Einheimischen begegnet, und die, mit denen er direkt zusammengetroffen war, hatten ihm kaum Beachtung geschenkt. Dafür war er ihnen, was Gesicht und Statur betraf, zu ähnlich gewesen. Sein Instinkt riet ihm weiterzureiten, da er nicht genügend Abstand zu ihnen gewonnen hatte und …

Auf der anderen Seite des Flusses, etwa fünfzig Meter entfernt, knackte in den Bäumen ein Ast. Jedem anderen wäre es nicht aufgefallen, aber Dhakal erkannte es als das typische Geräusch eines Pferdes, das sich durch dichtes Unterholz bewegt. Sein eigenes Pferd hatte aufgehört zu trinken und den Kopf mit zuckenden Ohren wachsam erhoben.

Vom Weg drang ein weiterer Laut herüber, das Scharren eines Pferdehufs auf losem Gestein. Dhakal zog den Bogen aus seinem Futteral, das er auf dem Rücken trug, und dann einen Pfeil aus dem Köcher. Er kauerte sich ins kniehohe Wassergras. Teilweise gedeckt durch die Beine des Pferdes, lugte er unter dem Bauch seines Reittiers hervor und suchte nach Anzeichen für eine verräterische Bewegung. Als er nichts dergleichen sah, warf er einen Blick nach rechts. Zwischen den Bäumen konnte er einen Teil des schmalen Pfades überblicken. Er beobachtete und wartete.

Dann ein erneutes Hufescharren.

Dhakal legte den Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen.

Nur wenige Augenblicke später erschien ein Pferd in kurzem Galopp auf dem Pfad. Das Pferd hielt an. Dhakal konnte nur die Beine des Reiters und seine schwarz behandschuhten Hände erkennen, die auf dem Sattelhorn lagen. Die Finger hielten die Zügel in lockerem Griff. Die Hand bewegte sich, zog mit leichtem Ruck an den Zügeln. Das Pferd wieherte leise und stampfte mit einem Huf auf.

Eine absichtliche Bewegung, erkannte Dhakal sofort. Eine Störung.

Die Angreifer kämen vom Wald.

Dhakal spannte den Bogen bis zum Äußersten, zielte und schoss den Pfeil ab. Die Spitze bohrte sich bei dem Mann in die Beuge zwischen Oberschenkel und Hüfte. Er schrie auf, griff nach seinem Bein und stürzte vom Pferd. Dhakal wusste sofort, dass er genau getroffen hatte. Der Pfeil war in die Oberschenkelarterie des Kriegers gedrungen; der Mann war nun kampfunfähig und würde innerhalb weniger Minuten sterben.

Immer noch im Gras kauernd, drehte sich Dhakal auf den Hacken, während er gleichzeitig drei weitere Pfeile aus dem Köcher zog. Zwei rammte er vor sich ins Erdreich, den dritten legte er auf die Sehne. Dort, zehn Meter entfernt, entdeckte er drei Männer, die mit gezückten Schwertern durchs Unterholz auf ihn zukrochen. Dhakal zielte auf die hinterste Gestalt und schoss. Der Mann brach zusammen. In schneller Folge schoss er noch zweimal, traf einen Mann mitten in die Brust und den nächsten in den Hals. Ein vierter Kämpfer stieß einen Kriegsschrei aus und kam aus dem Wald hervorgestürmt. Fast hatte er das Flussufer erreicht, da fällte ihn Dhakals Pfeil.

Im Wald kehrte Stille ein.

Vier, dachte Dhakal irritiert. Sie hatten bisher niemals weniger als ein Dutzend losgeschickt.

Wie als Antwort auf seine stumme Frage erklang Hufgetrappel auf dem Weg hinter ihm. Dhakal wirbelte herum und sah mehrere Reiter in einer Linie an ihren toten Gefährten vorbeistürmen. Drei Pferde … vier … sieben … zehn Pferde, und immer mehr kamen. Die Übermacht war erdrückend. Dhakal schwang sich auf sein Pferd, legte einen Pfeil auf die Sehne und drehte sich gerade noch rechtzeitig im Sattel, um das erste Pferd der Verfolger durch die Lücke zwischen den Bäumen auf die Lichtung galoppieren zu sehen. Dhakal schoss. Der Pfeil bohrte sich in das rechte Auge des Reiters. Die Wucht des Aufpralls stieß ihn rückwärts über den Sattel, wo er vom Hinterteil des Pferdes hochgeworfen und gegen den nachfolgenden Reiter geschleudert wurde. Dessen Pferd bäumte sich auf, wich zurück und versperrte den Weg. Die nachfolgenden Pferde mitsamt ihren Reitern prallten gegeneinander. Der Angriff kam ins Stocken.

Dhakal rammte seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Das Tier sprang vom Flussufer ins Wasser. Dhakal drehte sich, trieb mit den Fersen sein Pferd an und galoppierte flussabwärts.

Er erkannte, dass dies kein Zufallsangriff war. Seine Verfolger waren ihm schon seit einiger Zeit dicht auf den Fersen und hatten es geschafft, ihn zu umzingeln.

Über den Planschgeräuschen der Hufe, die sein Pferd im seichten Wasser verursachte, konnte er sie jetzt hören: Reiter, die rechts von ihm durch den Wald stürmten, und Hufe auf dem Schotterweg zu seiner Linken.

Vor ihm krümmte sich der Fluss nach rechts. Dort waren die Bäume und das Unterholz dichter, reichten fast bis ans Ufer, verdeckten die Sonne, so dass er durch einen Halbdämmer ritt. Er hörte einen lauten Ruf und warf einen Blick über die Schulter. Vier Reiter verfolgten ihn. Er sah nach rechts und gewahrte auf gleicher Höhe mit ihm dunkle Pferdeleiber zwischen den Bäumen galoppieren. Sofort erkannte er, dass sie ihn vor sich hertrieben. Aber wohin?

Die Antwort erhielt er nur wenige Sekunden später, als die Bäume sich plötzlich lichteten und er auf eine Wiese gelangte. Die Breite des Flusses vervierfachte sich; die Farbe des Wassers verriet ihm außerdem, dass auch seine Tiefe zugenommen hatte. Einer plötzlichen Regung folgend lenkte er sein Pferd nach links, dem sandigen Ufer entgegen. Unmittelbar vor ihm brachen fünf Reiter in einer Linie zwischen den Bäumen hervor. Zwei hockten tief gebückt in ihren Sätteln und hielten Lanzen vor sich, die anderen drei saßen aufrecht im Sattel und hatten Bögen in den Händen. Dhakal legte sich mit dem Oberkörper auf den Hals seines Pferdes und lenkte es mit einem Ruck an den Zügeln zurück nach rechts ins Wasser. Auf dem gegenüberliegenden Ufer waren weitere Reiter in einer Linie zwischen den Bäumen aufgetaucht, auch diese mit Lanzen und Bögen bewaffnet. Und um den Hinterhalt vollständig zu machen, galoppierte direkt hinter ihm eine weitere Formation Kavallerie durch den Fluss auf ihn zu.

Wie auf ein geheimes Zeichen hin fielen alle drei Gruppen gleichzeitig in einen langsamen Trab und blieben dann stehen. Die Lanzen auf ihn gerichtet und die Pfeile auf den Sehnen, beobachteten sie ihn.

Warum folgen sie mir nicht?, fragte er sich.

Und dann hörte er ein ohrenbetäubendes Rauschen.

Ein Wasserfall.

Ich bin gefangen. Sitze in der Falle.

Er zügelte sein Pferd und ließ es im Schritt weitergehen, bis sie an eine Flussbiegung kamen. Er hielt an. Hier war das Wasser tiefer, die Strömung nahm beträchtlich zu. In fünfzig Metern Entfernung konnte Dhakal die Dunstwolke erkennen, die sich über dem Fluss sammelte, außerdem sah er das Wasser schäumend über die Kante der Stromschnelle stürzen.

Er wandte sich im Sattel um.

Seine Verfolger hatten sich nicht gerührt – bis auf einen einzelnen Reiter. Seine Rüstung verriet Dhakal, dass er der Anführer der Gruppe war. Der Mann näherte sich ihm bis auf fünf Meter, blieb dann stehen und hob beide Hände, um ihm zu zeigen, dass er nicht bewaffnet war.

Er rief etwas. Dhakal verstand die Sprache nicht, aber die Bedeutung der Worte war unmissverständlich: beschwichtigend. Es ist aus, sagte der Mann sicherlich. Du hast gut gekämpft, hast deine Pflicht getan. Gib auf, und du wirst anständig behandelt.

Es war eine Lüge. Er würde gefoltert und am Ende getötet werden. Aber lieber wollte er kämpfend sterben, als den Theurang in die Hände der verfluchten Feinde fallen zu lassen.

Dhakal wendete sein Pferd, bis er seinen Verfolgern in die Augen sah. Mit einer übertrieben langsamen Geste nahm er den Bogen von seinem Rücken und warf ihn in den Fluss. Das Gleiche tat er mit dem Köcher sowie mit seinem langen und seinem kurzen Schwert. Zuletzt folgte der Dolch in seinem Gürtel.

Der Anführer nickte respektvoll, dann wandte er sich im Sattel um und rief seinen Männern etwas zu. Einer nach dem anderen richteten sie die Lanzen auf, ließen die Bögen sinken und schoben sie in ihre Lederhüllen. Der Anführer drehte sich wieder zu Dhakal um, hob eine Hand und bedeutete ihm mit einer Geste, zu ihm zu kommen.

Dhakal lächelte und schüttelte den Kopf.

Er zerrte die Zügel nach rechts und riss sein Pferd herum, dann rammte er ihm die Fersen in die Flanken. Das Pferd bäumte sich auf, spannte die Beine an und sprengte auf die Gischtwolke zu, die vom Wasserfall aufstieg.

Im Grenzland derProvinz Xizang,Qing-Dynastie, China, 1677

Noch vor seinem Bruder sah Giuseppe die Staubwolke am östlichen Horizont. Eine Meile breit und durch die Seitenwände eines engen Tals begrenzt, kam die wirbelnde Wand aus Sand und Geröll direkt auf sie zu.

Das Spektakel im Auge behaltend, tippte Giuseppe seinem älteren Bruder auf die Schulter. Francesco Lana de Terzi aus Brescia in der Lombardei erhob sich aus seiner knienden Haltung vom Erdboden, wo er einen Stapel Konstruktionszeichnungen ausgebreitet hatte, um sie zu studieren, und blickte in die Richtung, in die Giuseppe deutete.

Der jüngere Lana de Terzi flüsterte nervös: »Ist das ein Sturm?«

»Etwas Ähnliches«, antwortete Francesco. »Aber nicht von der Art, die du meinst.« Hinter dieser Staubwolke folgte kein weiterer windgepeitschter Sandsturm von der Art, an die sie sich während des letzten halben Jahres gewöhnt hatten, stattdessen waren es Hunderte von stampfenden Pferdehufen. Und auf den Pferden saßen Hunderte von auserlesenen und höchst gefährlichen Soldaten.

Francesco gab Giuseppe einen beruhigenden Klaps auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Bruder, ich habe sie schon erwartet – wenn ich auch zugeben muss, nicht so früh.«

»Ist er es?«, krächzte Giuseppe. »Kommt er? Das hast du mir nicht gesagt.«

»Ich wollte dich nicht ängstigen. Keine Sorge. Noch haben wir Zeit.«

Francesco hob eine Hand, um die Augen gegen die Sonne abzuschirmen, und studierte die Wolke, während sie sich weiter näherte. Entfernungen waren hier trügerisch, wie er gelernt hatte. Die Weiten des Qing-Kaiserreichs lagen hinter dem Horizont. In den zwei Jahren, die sie nun in diesem Land verbrachten, hatten Francesco und sein Bruder eine unendliche Vielfalt von Landschaften kennengelernt – von Urwäldern über Wälder bis zu Wüsten. Von allen war jedoch dieser Ort, diese Region, deren Name auf ein Dutzend verschiedene Arten ausgesprochen und geschrieben wurde, die gottverlassenste.

Vorwiegend aus Bergen bestehend, einige eher hügelig und mit runden Kuppen, andere steil und zerklüftet, war dieses Land ein Leinwandgemälde in nur zwei Farben: braun und grau. Selbst das Wasser der Flüsse, das durch die Täler schäumte, war von einem stumpfen Grau. Es machte den Eindruck, als hätte Gott diesen Ort mit einer einzigen Handbewegung verflucht. An Tagen, wenn sich die Wolken teilten, schien der strahlend blaue Himmel die Eintönigkeit der aschgrauen Landschaft noch zu vertiefen.

Und dann war da noch der Wind, dachte Francesco schaudernd. Dieser scheinbar ewige Wind, der durch die Felsschroffen pfiff und Staubwirbel über den Erdboden trieb, die so lebendig wirkten, dass die Einheimischen in diesem Naturschauspiel Geister sahen, die gekommen schienen, um sie zu holen. Noch vor einem halben Jahr hatte Francesco, Wissenschaftler von Drang und Ausbildung, über solchen Aberglauben nur gespottet. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Des Nachts hatte er einfach zu viele seltsame Geräusche gehört.

Nur noch ein paar Tage, tröstete er sich, dann haben wir die Mittel, die wir brauchen. Aber es war nicht nur eine Frage der Zeit, nicht wahr? Er hatte in einen Handel mit dem Teufel eingewilligt. Dass er es für das höhere Wohl tat, war etwas, von dem er sich erhoffte, dass Gott sich am Tag des Jüngsten Gerichts daran erinnern würde.

Er studierte ein paar weitere Sekunden lang die herannahende Wand aus Staub, ehe er die Hand sinken ließ und zu Giuseppe sagte: »Sie sind noch gut dreißig Kilometer entfernt. Wir haben also mindestens eine Stunde. Komm, lass uns fertig werden.«

Francesco wandte sich um und rief einen der Männer mit untersetzter, kräftiger Gestalt in einem schlichten Gewand und einer Hose aus grob gewebtem schwarzem Stoff. Hao, Francescos wichtigster Verbindungsmann und Dolmetscher, kam im Laufschritt herbei.

»Ja bitte, Sire!«, sagte er in einem passablen Italienisch, das jedoch mit einem starken Akzent gefärbt war.

Francesco seufzte. Auch wenn er es schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, Hao dazu zu bewegen, ihn nur mit seinem Vornamen anzusprechen, hatte er doch gehofft, dass der Mann wenigstens auf diese Förmlichkeit verzichtete.

»Sag den Männern, sie sollen sich beeilen. Unser Gast wird in Kürze eintreffen.«

Hao blickte zum Horizont und sah, worauf Giuseppe ein paar Minuten zuvor aufmerksam gemacht hatte. Seine Augen weiteten sich. Er nickte kurz und sagte: »Es wird erledigt, Sire!« Dann machte er kehrt und begann dem Dutzend einheimischer Männer, die auf dem gerodeten Gelände des Hügels herumspazierten, Befehle zuzurufen. Danach eilte er davon, um sich zu beteiligen.

Die Rodung, deren Fläche einhundert Schritte im Quadrat betrug, war eigentlich das Dach über dem Innenhof des Gompa. Auf allen Seiten der Lichtung folgten seine mit Zinnen und Wachtürmen bewehrten Mauern den Berggraten bis zum Grund des Tales hinunter wie die Stachel auf dem Rücken einer Echse.

Während Francesco erklärt worden war, dass ein Gompa im Wesentlichen ein befestigtes Zentrum für Erziehung und Ausbildung war, übten die Bewohner dieser Festung anscheinend nur eine einzige Tätigkeit aus: das Kriegshandwerk. Und dafür war er dankbar. Wie die häufigen Überfälle und Scharmützel bewiesen, die unten auf den weiten Ebenen stattfanden, lebten er und seine Männer an den Grenzen des Reichs. Es war kein Zufall, dass man sie hierhergebracht hatte, um die Arbeit an der Maschine, die ihr Wohltäter Großer Drachen getauft hatte, abzuschließen.

Die Rodung hallte jetzt von den einander überlagernden Hammerschlägen auf Holz wider, als Haos Arbeiter sich beeilten, die letzten Pflöcke in den steinigen Untergrund zu treiben. Überall auf der freien, gerodeten Fläche stiegen braune Staubwolken in die Luft, wo sie vom Wind erfasst wurden und zu einem Nichts zerstoben. Nach zehn Minuten verstummten die Hammerschläge. Hao eilte dorthin zurück, wo Francesco und Giuseppe standen.

»Wir sind fertig, Sire.«

Francesco ging ein paar Schritte zurück und begutachtete das Bauwerk. Er war zufrieden. Es auf Papier zu entwerfen, war eine Sache; es dann aber tatsächlich zum Leben erwachen zu sehen, war etwas vollkommen anderes.

Mit dreizehn Metern Höhe, drei Viertel der Rodung einnehmend und aus schneeweißer Seide gefertigt, mit außen liegenden Bambusstreben, die blutrot angemalt waren, erschien das Zelt wie eine Burg aus Wolken.

»Gut gemacht«, sagte Francesco zu Hao. »Giuseppe?«

»Großartig«, murmelte der jüngere Lana de Terzi.

Francesco nickte und sagte leise: »Nun lass uns hoffen, dass das Innere noch eindrucksvoller ist.«

Obwohl die scharfsichtigen Beobachter des Gompa die näher kommenden Besucher lange vor Giuseppe entdeckt hatten, erklangen die Alarmhörner erst, als die Entourage nur noch Minuten entfernt war. Dies beruhte ebenso wie die Richtung, aus der die Reiter kamen, und die frühe Ankunft, auf einer taktischen Entscheidung, vermutete Francesco. Die meisten feindlichen Außenposten lagen im Westen. Aber indem sie sich von Osten näherten, würde die Staubwolke der Gruppe vom Berg verdeckt sein, auf dem der Gompa stand. Auf diese Weise hätten umherstreifende Kriegertrupps keine Zeit, um die Neuankömmlinge abzufangen. So gut wie Francesco ihren Wohltäter kannte, vermutete er, dass sie den Gompa aus einem Versteck beobachtet und gewartet hatten, bis der Wind seine Richtung änderte und feindliche Patrouillen weitergezogen waren.

Ein schlauer Mann, ihr Förderer, dachte Francesco. Schlau und gefährlich.

Weniger als zehn Minuten später hörte Francesco das Knirschen von ledernen und gepanzerten Stiefeln auf dem Geröll des Serpentinenwegs unterhalb der Rodung. Staub wirbelte über die mit Felsen gesäumte Grenze der Lichtung. Dann – plötzlich Stille. Obwohl Francesco es erwartet hatte, erschreckte ihn, was als Nächstes geschah.

Nach einem einzelnen gebellten Befehl aus einem unsichtbaren Mund kam ein Kader von zwei Dutzend Bürgerwehrsoldaten auf die Rodung gerannt, jeder trommelnde Schritt von einem rhythmischen Knurren begleitet. Mit grimmigen Mienen, die Blicke auf den Horizont gerichtet, die Lanzen angriffsbereit nach vorn gestreckt, verteilten sich die Wächter auf der freien Fläche zur anderen Seite und außer Sicht hinter das Zelt. Danach bezogen sie entlang der Grenze der Rodung in regelmäßigem Abstand zueinander ihre Posten, die Gesichter nach außen gewandt und die Lanzen diagonal vor die Brust haltend.

Von dem Pfad unterhalb der Lichtung drang ein weiterer kehliger Befehl herauf, gefolgt vom Knirschen gepanzerter Sandalen auf Geröll. In Form einer Raute marschierte eine gestaffelte Formation königlicher Leibwächter in rot-schwarzen Bambusrüstungen auf die Rodung und kam genau auf Francesco und Giuseppe zu. Abrupt stoppte die Phalanx, und die vorne marschierenden Soldaten traten nach links und rechts und öffneten ein menschliches Tor, durch das ein einzelner Mann schritt.

Drei Handbreit größer als seine größten Soldaten, trug der Kangxi-Kaiser, Herrscher der Quing-Dynastie, Regent nach dem Willen des Himmels, eine Miene zur Schau, neben der die verbissene Strenge der Gesichter seiner Soldaten wie ein Ausdruck freudigen Überschwangs erschien.

Der Kangxi-Kaiser ging drei lange Schritte auf Francesco zu und blieb dann stehen. Mit zusammengekniffenen Augen studierte er das Gesicht des Italieners mehrere Sekunden lang, ehe er etwas sagte. Francesco wollte gerade nach Hao rufen, damit er übersetze, aber der Mann stand bereits neben ihm und flüsterte in sein Ohr. »Der Kaiser sagt: ›Seid Ihr überrascht, mich zu sehen?‹«

»Überrascht, ja, aber doch auch erfreut, Euer Majestät.«

Die Frage war nicht beiläufig gestellt, wie Francesco wusste. Der Kangxi-Kaiser litt aufs Äußerste unter Verfolgungswahn; wäre Francesco über die verfrühte Ankunft des Kaisers nicht ausreichend überrascht erschienen, er wäre sofort in den Verdacht geraten, ein Spion zu sein.

»Was für ein Bauwerk ist das, was ich dort vor mir sehe?«, fragte der Kangxi-Kaiser.

»Es ist ein Zelt, Euer Majestät, nach meinem eigenen Entwurf angefertigt. Es dient nicht nur dem Schutz des Großen Drachen, sondern auch als Schirm vor neugierigen Augen.«

Der Kangxi-Kaiser nickte kurz. »Ihr werdet die Pläne meinem persönlichen Sekretär übergeben.« Mit hochgerecktem Finger befahl er dem Sekretär vorzutreten.

Francesco sagte: »Natürlich, Euer Majestät.«

»Haben die Sklaven, die ich dir geschickt hatte, hinreichend gut gearbeitet?«

Francesco krümmte sich vor innerer Qual über die Frage des Kaisers, sagte jedoch nichts. Während der letzten sechs Monate hatten er und Giuseppe mit diesen Männern unter den härtesten Bedingungen zusammengearbeitet. Sie waren zu Freunden geworden. Das tat er jedoch nicht laut kund. Eine solche emotionale Verbundenheit wäre ein mögliches Druckmittel gewesen, das zu benutzen der Kaiser nicht gezögert hätte.

»Sie haben Bewundernswertes geleistet, Euer Majestät. Leider sind in der vergangenen Woche vier von ihnen gestorben, als …«

»Der Tod – das ist der Lauf der Dinge. Wenn sie im Dienst für ihren Kaiser gestorben sind, werden ihre Ahnen sie mit Stolz empfangen.«

»Mein Vorarbeiter und Dolmetscher, Hao, ist von unschätzbarem Wert.«

Der Kangxi-Kaiser ließ den Blick zu Hao wandern, dann zurück zu Francesco. »Die Familie des Mannes wird aus dem Kerker entlassen.« Der Kaiser hob den Finger über seine Schulter; der persönliche Sekretär notierte etwas auf einer Pergamentrolle, die er in der Armbeuge trug.

Francesco machte einen tiefen, beruhigten Atemzug und lächelte. »Ich danke Euch für Eure Güte, Euer Majestät.«

»Sagt mir, wann wird der Große Drachen fertig sein?«

»Zwei weitere Tage wird es wohl noch …«

»Ihr habt Zeit bis zum nächsten Morgengrauen.«

Damit wandte sich der Kangxi-Kaiser auf dem Absatz um und schritt in die Phalanx zurück, die sich hinter ihm schloss, dann gemeinsam kehrtmachte und von der Rodung marschierte, nur wenige Augenblicke später von den Soldaten der Bürgerwehr am Rand der freien, gerodeten Fläche gefolgt. Sobald das Stampfen der Schritte und das rhythmische Knurren verstummt waren, sagte Giuseppe: »Ist er verrückt? Morgen früh. Wie sollen wir …«

»Wir werden es schaffen«, erwiderte Francesco. »Und sogar noch Zeit übrig haben.«

»Wie?«

»Wir haben nur noch ein paar Stunden Arbeit vor uns. Ich habe dem Kaiser zwei Tage genannt, weil ich wusste, dass er Unmögliches verlangen würde. Auf diese Weise kann ich seinen Befehl ausführen.«

Giuseppe lächelte. »Du bist ein ganz Gewiefter, Bruderherz. Gut gemacht.«

»Komm, lass uns letzte Hand an den Großen Drachen legen.«

Im Schein auf hohen Pfählen befestigter Fackeln und unter dem wachsamen Blick des persönlichen Sekretärs des Kaisers, der dicht am Eingang des Zeltes stand, die Arme verschränkt und die Hände in den Ärmeln versteckt, arbeiteten sie die ganze Nacht hindurch, wobei Hao, der allzeit zuverlässige Vorarbeiter, seine Rolle vollendet spielte, die Männer anzutreiben, schnell, schnell, schnell. Francesco und Giuseppe taten es ihm gleich und wanderten durch das Zelt, stellten Fragen, bückten sich hier und da, um dies oder jenes zu inspizieren …

Abspannleinen aus Ochsensehnen wurden gelöst, neu verknotet, dann auf ihre Spannung überprüft; Bambusstangen und -streben wurden mit Hämmern zum Schwingen gebracht, um darin nach Rissen zu suchen; Seide wurde auf winzigste Fehler hin geprüft; das aus Rattan geflochtene Fahrgestell wurde mit angespitzten Stöcken einem Scheinangriff unterzogen, um seine Kampfbereitschaft zu überprüfen (da er sie nicht ausreichend fand, befahl Francesco, eine weitere schwarze Lackschicht auf den Seiten und dem Schanzkleid aufzutragen); und schließlich beendete der Künstler, den Giuseppe eingestellt hatte, die Bemalung des Bugs: ein Drachenmaul, komplett mit wulstigen Augen, entblößten Zähnen und einer herausragenden gespaltenen Zunge.

Als sich der obere Rand der Sonne im Osten über den Bergen erhob, gab Francesco den Befehl, dass sämtliche Arbeiten schnellstens abgeschlossen wurden. Sobald dies erledigt war, ging er langsam vom Bug bis zum Heck um die Maschine herum. Die Hände in den Hüften und den Kopf hierhin und dorthin reckend, untersuchte Francesco die Außenhaut des Schiffes, überprüfte jedes Detail und hielt nach dem kleinsten Mangel Ausschau. Er fand keinen. Dann drehte er sich um, verbeugte sich und nickte dem Sekretär des Kaisers zu.

Der Mann tauchte unter der Zeltklappe weg und verschwand.

Eine Stunde später erklang das mittlerweile vertraute Stampfen und Knurren der Entourage des Kaisers. Es füllte die Rodung, ehe es jäh verstummte. Der Kangxi-Kaiser, mittlerweile mit einem schlichten grauen Seidenmantel bekleidet, trat durch den Zelteingang. In seinem Gefolge befanden sich der persönliche Sekretär und der Kommandant seiner Leibwache.

Ganz plötzlich blieb der Kaiser stehen. Seine Augen weiteten sich.

In den zwei Jahren, die er den Kaiser bereits kannte, war dies das erste Mal, dass Francesco erlebte, dass der Potentat überrascht reagierte.

Das rotorangefarbene Licht der Sonne, das durch die weiße Seide der Zeltwände und des Zeltdachs gefiltert wurde, erfüllte das Innere mit einem unwirklichen Leuchten. Der graue Erdboden war mit schwarzen Teppichen bedeckt worden, so dass die Besucher das Gefühl hatten, am Rand eines Abgrunds zu stehen.

Einerseits mit Leib und Seele Wissenschaftler, wusste Francesco Lana de Terzi jedoch auch optische Effekte für seine Zwecke einzusetzen.

Der Kangxi-Kaiser trat vor – wobei er unbewusst zögerte, als sein Fuß den Rand des schwarzen Teppichs berührte – und trat dann zum Bug hinüber, wo er dem Drachen ins Gesicht blickte. Nun lächelte er.

Auch dies war für Francesco ein erstes Mal. Noch nie zuvor hatte er den Kaiser anders als mit mürrischer Miene gesehen.

Der Kaiser drehte sich zu Francesco um. »Es ist großartig!«, lautete Haos Übersetzung. »Bindet es los!«

»Wie Ihr befehlt, Majestät.«

Francescos Männer begaben sich nach draußen auf ihre Positionen rund um das Zelt. Auf seinen Befehl hin wurden die Spannseile gekappt. Da die Säume, Francescos Konstruktion zufolge, in ihrem oberen Bereich mit Gewichten beschwert waren, sanken die Seidenwände senkrecht nach unten. Gleichzeitig zog ein Dutzend Männer auf der hinteren Seite des Zeltes das Dach zurück. Es richtete sich auf und blähte sich wie ein großes Segel, ehe es ganz nach unten und außer Sicht gezogen wurde.

Dies geschah in völliger Stille, die nur vom Rauschen und Pfeifen der Windböen gestört wurde, die sich in den Fenstern und den mit kleinen Türmen bewehrten Mauern des Gompa fingen.

In der Mitte der freien Fläche stand ganz allein die Flugmaschine des Kangxi-Kaisers, der Große Drachen. Für Francesco war dieser Name zwar bedeutungslos, aber er hielt seinen Gönner doch damit bei Laune. Für Francesco, den Wissenschaftler, war die Maschine lediglich der Prototyp seines Traums: ein Vakuum-Schiff, leichter als Luft.

Der Oberbau war sechzehn Meter lang, vier Meter breit und zehn Meter hoch. Er bestand aus vier Ballons aus dicker Seide, die über ein Innengerüst aus fingerdünnen Bambusstreben und Tiersehnen gespannt war. Die Ballons waren vom Bug bis zum Heck in einer Linie angeordnet, hatten jeweils einen Durchmesser von vier Metern und waren an der Unterseite mit einer Ventilöffnung versehen. Jedes dieser Ventile war mit einem kupfernen Ofenrohr verbunden, das von einem eigenen Käfig aus Bambus und Tiersehnen umhüllt wurde. Von der Ventilöffnung verlief jedes Ofenrohr anderthalb Meter abwärts zu einem dünnen Bambusbalken, unter dem ein windgeschützter Kohlenbrenner befestigt war. Und schließlich durch Sehnen mit den Ballons verknüpft, folgte die schwarz lackierte Rattangondel, die lang genug war, um zehn Soldaten mitsamt Proviant, Rüstung und Waffen sowie einem Piloten und einem Navigator aufzunehmen.

Der Kangxi-Kaiser schritt alleine vorwärts, bis er unter dem vordersten Ballon und unmittelbar vor dem Drachenmaul stand. Er hob die Hände, als begutachte er, wie Francesco dachte, seine eigene Schöpfung.

Es war genau dieser Moment, da ihm die Bedeutung dessen, was er getan hatte, klar wurde. Trauer und Scham erfüllten ihn. Wahrlich, er hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Dieser Mann, dieser grausame Monarch, würde seinen Großen Drachen benutzen, um andere Menschen, Soldaten wie harmlose Bürger, zu töten.

Bewaffnet mit huˇo yào oder Schießpulver, einer Substanz, die in Europa erst jetzt mit bescheidenem Erfolg verwendet wurde und die China schon seit langem beherrschte, wäre der Kangxi-Kaiser in der Lage, mit Hilfe von Luntenschlossmusketen, Bomben und flammenspeienden Vorrichtungen Feuer auf seine Feinde herabregnen zu lassen. Er konnte es tun, während er sich außer Reichweite am Himmel fortbewegte, schneller als das schnellste Pferd.

Die Erkenntnis kam zu spät, begriff Francesco. Die Todesmaschine befand sich jetzt in den Händen des Kangxi-Kaisers. Daran war nichts mehr zu ändern. Vielleicht, wenn er mit seinem echten Vakuum-Schiff Erfolg hätte, könnte Francesco für all das Böse, das kommen würde, einen Ausgleich schaffen. Natürlich würde er das erst am Tag des Jüngsten Gerichts erfahren.

Francesco wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als er bemerkte, dass der Kangxi-Kaiser vor ihm stand. »Ich bin zufrieden«, teilte ihm der Kaiser mit. »Sobald Ihr meinen Generälen gezeigt habt, wie man noch mehr von diesen Maschinen baut, werdet Ihr alles bekommen, was Ihr verlangt, um Eure eigenen Pläne weiter zu verfolgen.«

»Majestät.«

»Ist es flugbereit?«

»Gebt den Befehl, und es wird geschehen.«

»Hiermit ist er erteilt. Aber zuvor eine Änderung. Wie vorgesehen, Meister Lana de Terzi, werdet Ihr den Großen Drachen bei seinem ersten Probeflug lenken. Euer Bruder wird hierbleiben.«

»Verzeiht, Majestät. Weshalb dies?«

»Weshalb? Nun, um Eure Rückkehr sicherzustellen, natürlich. Und um Euch zu retten, falls Ihr in Versuchung geratet, den Großen Drachen meinen Feinden zu übergeben.«

»Majestät, ich würde niemals …«

»Dann sind wir sicher, dass Ihr es nicht tun werdet.«

»Majestät, Giuseppe ist mein Hilfslenker und Navigator. Ich brauche ihn …«

»Ich habe meine Augen und Ohren überall, Meister Lana de Terzi. Euer viel gepriesener Vorarbeiter, Hao, ist gewiss ebenso kundig und erfahren wie Euer Bruder. Hao wird Euch begleiten – sowie sechs weitere Männer meiner Bürgerwehr, falls Ihr … noch mehr Unterstützung braucht.«

»Dagegen muss ich protestieren, Majestät.«

»Das müsst Ihr nicht, Meister Lana de Terzi«, erwiderte der Kangxi-Kaiser eisig. Die Warnung war deutlich.

Francesco atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Wohin wollt Ihr, dass uns dieser Probeflug führt?«

»Seht Ihr die Berge dort im Süden, die hohen, die den Himmel berühren?«

»Ich sehe sie.«

»Dorthin werdet Ihr fliegen.«

»Euer Majestät, dort ist feindliches Gebiet!«

»Welchen besseren Test könnte es für eine Kriegswaffe geben?« Francesco setzte an, um zu protestieren, aber der Kangxi-Kaiser fuhr fort: »In den Vorbergen, an den Ufern der Flüsse, werdet Ihr eine goldene Blume finden – Hao weiß, welche ich meine. Bringt mir diese Blume, ehe sie verwelkt ist, und Ihr werdet belohnt.«

»Euer Majestät, diese Berge sind« – vierzig Meilen weit weg, dachte Francesco, vielleicht sogar fünfzig – »zu weit entfernt für einen Jungfernflug. Vielleicht …«

»Ihr werdet mir diese Blume bringen, bevor sie verwelkt, oder ich werde den Kopf Eures Bruders auf eine Lanze spießen. Habt Ihr verstanden?«

»Ich habe verstanden.«

Francesco wandte sich zu seinem Bruder um. Da er die Unterhaltung mitverfolgt hatte, wurde Giuseppes Gesicht kreidebleich. Sein Kinn zitterte. »Bruder, ich … ich habe Angst.«

»Das ist nicht nötig. Ich werde zurück sein, ehe du dich versiehst.«

Giuseppe atmete schwer, schob das Kinn vor und straffte die Schultern. »Ja, ich weiß, du hast recht. Das Schiff ist ein Wunder, und es gibt niemand Besseren, es zu lenken. Mit ein wenig Glück werden wir heute noch gemeinsam zu Abend speisen.«

»Mutig gesprochen.«

Sie umarmten sich einige Sekunden lang, ehe Francesco sich umwandte. Er sah Hao an und sagte: »Veranlasse, dass die Kohlenpfannen angefacht werden. Wir starten in zehn Minuten.«

1

Sundastraße, SumatraHeute

Sam Fargo nahm das Gas zurück, und der Motor ging in den Leerlauf. Das Schnellboot wurde langsamer, trieb noch ein Stück und hielt dann an. Er schaltete den Motor aus, und das Boot begann sanft hin und her zu schaukeln.

Eine Viertelmeile vor dem Bug ragte ihr Ziel aus dem Wasser, eine dicht bewaldete Insel, deren Inneres von schroffen Bergspitzen, tiefen Tälern und dichtem Regenwald beherrscht wurde; darunter erstreckte sich ein Küstenstreifen, der von Hunderten von Felshöhlen und kleinen Buchten zerhackt wurde.

Remi Fargo, die auf der hinteren Sitzbank des Schnellbootes saß, blickte von ihrem Buch auf, einer kleinen »Eskapistenlektüre« mit dem Titel Die Aztekenkodices: Eine Oral History der Eroberung und des Völkermords. Dann schob sie die Sonnenbrille auf die Stirn und sah ihren Mann an. »Probleme?«

Mit einem bewundernden Blick wandte er sich zu ihr um. »Ich genieße nur die Aussicht.« Dabei zuckte Sam übertrieben mit den Augenbrauen.

Remi lächelte. »Süßholzraspler.« Sie klappte das Buch zu und legte es neben sich auf die Sitzbank. »Aber Magnum bist du nicht.«

Sam deutete mit einem Kopfnicken auf das Buch. »Wie ist es?«

»Liest sich etwas mühsam, aber die Azteken waren faszinierende Leute.«

»Faszinierender, als man bisher angenommen hat. Wie lange brauchst du noch dafür? Es ist das nächste Buch auf meiner Leseliste.«

»Bis morgen oder übermorgen.«

Seit kurzer Zeit hatte jeder von ihnen eine beängstigende Menge an Hausaufgaben zu erledigen, und die Insel, zu der sie fuhren, war im Wesentlichen der Grund dafür. Unter anderen Umständen wäre der Flecken Festland zwischen Sumatra und Java ein tropisches Urlaubsparadies gewesen. Jedoch hatte er sich in den vergangenen Monaten in eine Ausgrabungsstätte verwandelt, an der es von Archäologen, Historikern, Anthropologen und natürlich einem Heer indonesischer Regierungsvertreter wimmelte. Wie sie alle mussten Sam und Remi jedes Mal, wenn sie die Insel besuchten, die baumhausähnliche Seilstadt überwinden, die Ingenieure aus Furcht, dass der Untergrund unter den Füßen der Leute nachgab und einbrach, über dem Grabungsfeld aufgespannt hatten, um die möglichen Fundstücke zu erhalten.

Was Sam und Remi auf Pulau Legundi entdeckt hatten, half mit, die Geschichte der Azteken und des amerikanischen Bürgerkriegs umzuschreiben, und als offizielle Leitung nicht nur dieses Projekts, sondern auch zweier weiterer, mussten sie zusehen, dass sie mit dem Strom eingehender Daten ständig vertraut waren.

Es war für sie eine Arbeit, die sie liebten. Während ihre eigentliche Leidenschaft der Schatzsuche gehörte – eine ausgesprochen praxisorientierte Nebentätigkeit, die mehr auf Instinkt als auf Forschung basierte –, hatten beide eine wissenschaftliche Ausbildung genossen, Sam als Ingenieur an der Caltech und Remi mit einem abgeschlossenem Studium der Anthropologie und Geschichte am Boston College.

Sams Apfel war nicht weit vom Familienstamm gefallen: Sein Vater, mittlerweile verstorben, war einer der leitenden Ingenieure des NASA-Raumfahrtprogramms gewesen, während seine Mutter, einundsiebzig Jahre alt, in Key West lebte und Besitzerin, Kapitänin und Haupttellerwäscherin eines Tauch- und Angelhochseebootes war. Remis Mutter und Vater, Innenarchitektin beziehungsweise Kinderarzt und Autor, hatten sich beide zur Ruhe gesetzt und genossen nun ihr Leben in Maine, wo sie Lamas züchteten.

Sam und Remi hatten sich in Hermosa Beach im Lighthouse, einem Jazzclub, kennengelernt. Aus einer Laune heraus war Sam dort auf ein Bier eingekehrt und hatte Remi und einige ihrer Kollegen getroffen, die gerade ein wenig Dampf abließen, nachdem sie während der vorangegangenen Wochen vor Abalone Cove nach einer gesunkenen Galeone gesucht hatten.

Keiner der beiden war so romantisch, sich an ihr erstes Treffen als Liebe auf den ersten Blick zu erinnern, aber dass es spontan bei ihnen gefunkt hatte, war dennoch nicht zu leugnen; sie hatten beide viel getrunken und gelacht und geredet und dabei nicht bemerkt, wie die Stunden vergangen waren, bis The Lighthouse Feierabend machte. Ein halbes Jahr später gaben sie sich während einer schlichten Zeremonie das Ja-Wort.

Von Remi ermutigt und unterstützt, hatte Sam eine Idee weiterverfolgt, mit der er sich schon länger befasste, nämlich die Entwicklung eines Argon-Lasers, mit dem sich Erzvorkommen auf große Entfernung zu Lande wie unter Wasser aufspüren ließen. Schatzsucher, Universitäten, Industrieunternehmen, Bergwerksfirmen und das Verteidigungsministerium bettelten mit weit offenen Scheckbüchern um Lizenzen, und innerhalb von zwei Jahren konnte die Cargo Group einen siebenstelligen Gewinn verbuchen. Vier Jahre später akzeptierten sie ein Übernahmeangebot, dank dessen sie sich als reich betrachten durften und für den Rest des Lebens ausgesorgt hatten. Doch anstatt sich zur Ruhe zu setzen, gönnten sie sich einen monatelangen Urlaub, dann gründeten sie die Fargo Foundation und brachen zu ihrer ersten Schatzsuche auf. Die Reichtümer, die sie bargen, reichten sie an eine lange Liste von Wohlfahrtsorganisationen weiter.

In diesem Augenblick betrachteten die Fargos schweigend die Insel vor ihnen. Remi murmelte: »Immer noch schwer zu glauben, nicht wahr?«

Nichts von ihrer Ausbildung und ihrer Erfahrung hätte sie auf das vorbereiten können, was sie auf Pulau Legundi gefunden hatten. Der zufällige Fund einer Schiffsglocke vor Sansibar hatte zu Entdeckungen geführt, deren Untersuchung und Bewertung Generationen von Archäologen, Historikern und Anthropologen beschäftigen würden.

Sam wurde von dem Doppelsignal einer Schiffshupe aus seinen Gedanken gerissen. Er wandte sich nach Backbord. Eine halbe Meile entfernt gewahrte er ein Sechsunddreißig-Fuß-Boot der Sumatra Harbour Patrol, das geradewegs auf sie zukam.

»Sam, hast du bei der Bootsvermietung vergessen, das Benzin zu bezahlen?«, fragte Remi gespielt vorwurfsvoll.

»Nein. Ich hab ihnen die falschen Rupien gegeben, die ich noch rumliegen hatte.«

»Das wird’s wahrscheinlich sein.«

Sie beobachteten, wie das Boot den Abstand auf eine Viertelmeile verkürzte, wo es erst nach Steuerbord wegscherte und dann einen Bogen nach Backbord beschrieb, der es in etwa dreißig Metern Entfernung längsseits stoppen ließ. Über einen Lautsprecher fragte eine Stimme in indonesisch gefärbtem Englisch: »Ahoi. Sind Sie Sam und Remi Fargo?«

Sam hob den Arm zur Bestätigung.

»Warten Sie bitte. Wir haben einen Passagier für Sie an Bord.«

Sam und Remi wechselten verwirrte Blicke; sie erwarteten niemanden.

Das Boot der Hafenpolizei umkreiste sie einmal und verringerte den Abstand an Backbord auf einen Meter. Der Motor schaltete in den Leerlauf, dann verstummte er ganz.

»Wenigstens sehen sie freundlich aus«, meinte Sam murmelnd zu seiner Frau.

Das letzte Mal hatten sie vor Sansibar eine Begegnung mit einem ausländischen Marineschiff gehabt. Seinerzeit war es ein Patrouillenboot mit 12,7-mm-Geschützen gewesen, bemannt mit zornig und drohend dreinblickenden Matrosen, die Kalaschnikows trugen.

»Bis jetzt«, erwiderte Remi.

Auf dem Achterdeck des Bootes stand zwischen zwei blau uniformierten Polizeibeamten eine zierliche Asiatin, Mitte vierzig mit einem länglichen, eckigen Gesicht und einer Frisur, die fast so aussah wie ein Bürstenhaarschnitt.

»Erlaubnis an Bord zu kommen?«, fragte die Frau. Ihr Englisch war beinahe makellos, mit nur der winzigsten Spur eines Akzents.

Sam zuckte die Achseln. »Erlaubnis erteilt.«

Die beiden Polizisten traten vor, als wollten sie ihr helfen, die Lücke zu überqueren, aber sie ignorierte sie und machte einen einzigen fließenden Schritt, der sie vom Dollbord auf das Achterdeck des Bootes der Fargos beförderte. Sie landete weich wie eine Katze. Dann wandte sie sich zu Sam und Remi um, die jetzt neben ihrem Mann stand. Die Frau musterte sie für einen Moment lang mit ausdruckslosem Blick, dann reichte sie ihnen eine Visitenkarte. Darauf stand lediglich »Zhilan Hsu«.

»Was können wir für Sie tun, Ms. Hsu?«, fragte Remi.

»Mein Chef, Charles King, bittet um das Vergnügen Ihres Besuchs.«

»Wir bitten um Entschuldigung, aber wir kennen Mr King nicht.«

»Er erwartet Sie an Bord seines Flugzeugs am Privatcharter-Terminal in Palembang. Er möchte sich mit Ihnen unterhalten.«

Während Zhilan Hsus Englisch eigentlich makellos war, lag doch eine irritierende Steifheit darin, als ob sie ein Automat wäre.

»Das verstehen wir«, sagte Sam und gab ihr die Visitenkarte zurück. »Wer ist Charles King, und warum möchte er uns sprechen?«

»Mr King hat mich ermächtigt, Ihnen mitzuteilen, dass es einen Bekannten von Ihnen betrifft, Mr Frank Alton.«

Das weckte Sams und Remis Interesse. Alton war nicht nur ein Bekannter, sondern ein sehr enger, langjähriger Freund und ehemaliger Polizeioffizier aus San Diego, der mittlerweile als Privatdetektiv arbeitete und den Sam in einem Judokurs kennengelernt hatte. Sam, Remi, Frank und seine Frau Judy trafen sich regelmäßig einmal im Monat zum Dinner.

»Was ist mit ihm?«, wollte Sam wissen.

»Mr King möchte sich mit Ihnen persönlich über Mr Alton unterhalten.«

»Sie drücken sich sehr geheimnisvoll aus, Mrs Hsu«, stellte Remi fest. »Können Sie uns verraten, warum?«

»Mr King möchte …«

»Mit uns persönlich sprechen«, beendete Remi den Satz.

»Ja, das ist richtig.«

Sam sah auf die Uhr. »Bitte richten Sie Mr King aus, dass wir um sieben Uhr zu ihm kommen.«

»Das ist in vier Stunden«, sagte Zhilan. »Mr King …«

»Wird warten müssen«, beendete diesmal Sam für die Asiatin den Satz. »Wir haben bis dahin noch einige Dinge zu erledigen.«

Zhilan Hsus stoische Miene blitzte kurz zornig auf, aber der Ausdruck war fast genauso schnell wieder verschwunden. Sie nickte nur und sagte: »Sieben Uhr. Bitte seien Sie pünktlich.«

Ohne ein weiteres Wort machte sie kehrt und setzte wie eine Gazelle auf das Dollbord des Polizeiboots. Sie drängte sich an den Polizisten vorbei und verschwand in der Kabine. Einer der Polizisten grüßte sie, indem er gegen seine Mütze tippte. Zehn Sekunden später erwachten die Motoren mit einem dumpfen Grollen zum Leben, und das Boot scherte von ihnen weg.

»Nun, das war interessant«, stellte Sam wenige Sekunden später fest.

»Sie ist ein echter Charmebolzen«, sagte Remi. »Ist dir ihre Wortwahl aufgefallen?«

Sam nickte. »›Mr King hat ermächtigt.‹ Wenn sie den Sinngehalt tatsächlich kennt und versteht, dann können wir davon ausgehen, dass Mr King genauso warmherzig ist.«

»Glaubst du ihr? Das mit Frank? Judy hätte uns doch angerufen, wenn irgendetwas passiert wäre.«

Während ihre Abenteuer sie oft in heikle Situationen brachten, verlief ihr Alltagsleben ziemlich ruhig. Dennoch hatte Zhilan Hsus unerwarteter Besuch und die geheimnisvolle Einladung bei beiden die inneren Warnalarme erklingen lassen. So unwahrscheinlich es ihnen auch vorkommen mochte, die Möglichkeit einer Falle war doch etwas, das sie nicht ignorieren konnten.

»Finden wir es heraus«, sagte Sam.

Er kniete sich neben den Fahrersitz, holte seinen Rucksack unter dem Armaturenbrett hervor und fischte das Satellitentelefon aus einer der Außentaschen. Er wählte, und ein paar Sekunden später meldete sich eine weibliche Stimme: »Ja bitte, Mr Fargo?«

»Ich hatte schon gedacht, dass ich diesmal Glück hätte«, sagte Sam. Er hatte mit Remi eine ständige Wette laufen, dass er Selma Wondrash eines Tages unvorbereitet erwischen und sie einen von ihnen mit Vornamen ansprechen würde.

»Heute nicht, Mr Fargo.«

Ihre Chef-Rechercheurin Selma, gleichzeitig logistischer Guru und Bewahrerin des inneren Heiligtums, war eine ehemalige ungarische Staatsbürgerin, die, obwohl sie schon seit Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten lebte, immer noch die Spur eines Akzents zurückbehalten hatte – genug, um ihrer Stimme den Anflug eines Zsa-Zsa-Gabor-Timbres zu verleihen.

Selma hatte die Abteilung für Spezialsammlungen der Library of Congress geleitet, bis Sam und Remi sie mit dem Versprechen unbeschränkter Vollmachten und modernster Hilfsmittel von dort weggelockt hatten. Abgesehen von ihrem Aquarium und einer Tee-Sammlung, die einen ganzen Schrank im Arbeitsraum einnahm, war Selmas einzige Leidenschaft die Recherche. Sie war am glücklichsten, wenn ihr die Fargos ein uraltes Rätsel zu lösen aufgaben.

»Eines Tages nennen Sie mich Sam.«

»Heute aber nicht.«

»Wie spät ist es dort?«

»Kurz vor elf.« Selma ging selten vor Mitternacht zu Bett und schlief ebenso selten länger als bis vier oder fünf Uhr morgens. Trotzdem klang sie niemals anders als hellwach. »Was haben Sie für mich?«

»Wir hoffen, eine Sackgasse«, erwiderte Sam und schilderte dann den Besuch von Zhilan Hsu. »Charles King kommt rüber wie der Gesalbte.«

»Ich habe schon von ihm gehört. Er ist reich, aber mit einem großem R.«

»Können Sie irgendwelchen Unrat aus seinem Leben ausgraben?«

»Sonst noch etwas?«

»Haben Sie zufällig Neuigkeiten von den Altons gehört?«

»Nein, nichts«, erwiderte Selma.

»Rufen Sie bitte Judy an und erkundigen Sie sich, ob Frank außer Landes ist«, bat Sam. »Tun Sie es aber ganz diskret. Wenn es ein Problem geben sollte, wollen wir Judy nicht beunruhigen.«

»Wann treffen Sie mit King zusammen?«

»In vier Stunden.«

»Verstanden«, sagte Selma mit einem Lachen in der Stimme. »Bis dahin kenne ich die Kragenweite seiner Oberhemden und seinen Lieblingseisgeschmack.«

2

Palembang, Sumatra

Zwanzig Minuten vor dem verabredeten Termin hielten Sam und Rem mit ihren Motorrollern neben dem Maschendrahtzaun an, der den Terminal für Privatflugzeuge auf dem Palembang Airport begrenzte. Wie Selma vorausgesagt hatte, drängten sich auf dem Rollfeld vor den Hangars eine Handvoll Flugzeuge, allesamt ein- oder zweimotorige Propellermaschinen. Bis auf eine: ein Gulfstream G650. Mit einem Kaufpreis von fünfundsechzig Millionen Dollar war die G6 nicht nur der teuerste Privatjet der Welt, sondern mit einer Höchstgeschwindigkeit von nahezu Mach 1 auch der schnellste. Er hatte eine Reichweite von über achttausend Meilen und eine Dienstgipfelhöhe von einundfünfzigtausend Fuß – zehntausend Fuß höher als kommerzielle Jets.

Angesichts dessen, was Selma über den geheimnisvollen Mr King herausgefunden hatte, war die Anwesenheit der G6 für Sam und Remi keine Überraschung. »King Charlie«, wie er von Freunden wie Feinden genannt wurde, rangierte derzeit mit einem Nettovermögen von 23,2 Milliarden Dollar an elfter Stelle der Forbes-Liste der reichsten Persönlichkeiten der Welt.

Nachdem er 1964 als sechzehnjähriger Ölsucher in den Ölfeldern von Texas angefangen hatte, startete King im Alter von einundzwanzig Jahren seine eigene Ölfirma, King Oil. Mit vierundzwanzig war er Millionär, mit dreißig Milliardär. Während der achtziger und neunziger Jahre expandierte King mit seinem Imperium ins Bergbau- sowie ins Bankgeschäft. Laut Forbes würde King, wenn er den Rest seines Lebens damit verbrächte, in seinem Penthausbüro in Houston Dame zu spielen, immer noch einhunderttausend Dollar in der Stunde verdienen – an Zinsen.

Trotz alledem war King in seinem Alltagsleben jedoch übertrieben bescheiden, kutschierte oft mit seinem 1968er Chevy Pick-up in Houston herum und speiste in seinem Lieblingsimbiss. Und wenn auch nicht im gleichen Maß wie Howard Hughes, wurde gemunkelt, dass er doch genau so ein Einsiedler und Verfechter seiner Privatsphäre sei. King ließ sich nur selten in der Öffentlichkeit fotografieren, und wenn er an Veranstaltungen teilnahm, seien es geschäftliche oder gesellschaftliche, dann gewöhnlich virtuell via Webcam.

Remi sah Sam an. »Das Flugzeugkennzeichen auf dem Schwanzleitwerk entspricht Selmas Recherchen. Wenn Kings Jet nicht gestohlen wurde, dann scheint es tatsächlich so, als sei er selbst hierhergekommen.«

»Die Frage ist nur: Warum?«

Außer einer kurzen Biografie Kings hatte sich Selma auch alle Mühe gegeben, Frank Alton aufzuspüren, der sich laut seiner Sekretärin im Zuge eines Auftrags im Ausland aufhielt. Auch wenn sie seit drei Tagen nichts mehr von ihm gehört habe, mache sie sich keine Sorgen; wenn der betreffende Job besonders kompliziert sei, verzichte Alton häufig für ein oder zwei Wochen auf jede Kommunikation.

Sie hörten einen Zweig brechen und entdeckten Zhilan Hsu nur zwei Meter entfernt auf der anderen Seite des Zauns. Ihre Beine und ihr Oberkörper wurden von Laubwerk verborgen. Sie musterte die Fargos einige Sekunden lang mit ihren schwarzen Augen und sagte dann: »Sie kommen zu früh.« Ihr Tonfall war nur geringfügig weniger streng als der eines Staatsanwalts.

»Und Sie sind äußerst leichtfüßig«, konterte Remi.

»Ich habe auf Sie gewartet.«

Sam sagte mit der Andeutung eines Lächelns: »Hat Ihre Mutter Ihnen denn nicht beigebracht, dass es sich nicht gehört, sich an jemanden heranzuschleichen?«

Zhilans Gesicht blieb unbewegt. »Ich habe meine Mutter nie kennengelernt.«

»Das tut mir leid …«

»Mr King ist jetzt bereit, Sie zu empfangen. Er muss pünktlich um sieben Uhr fünfzig abfliegen. Ich erwarte Sie am Tor auf der Ostseite. Bitte halten Sie Ihre Reisepässe bereit.«

Damit trat Zhilan in die Büsche zurück und verschwand.

Mit zusammengekniffenen Augen blickte Remi ihr nach. »Okay, jetzt ist es amtlich: Sie ist unheimlich.«

»Recht hast du«, sagte Sam. »Lass uns gehen. King Charlie wartet.«

Sie stellten ihre Motorroller auf einem Platz neben dem vergitterten Tor ab und gingen zu einem kleinen Außengebäude, vor dem Zhilan neben einem Wachmann in Uniform stand. Sie trat vor, sammelte ihre Reisepässe ein und reichte sie dem Wachmann, der auf jeden einen kurzen Blick warf und sie dann wieder zurückgab.

»Hier entlang, bitte«, sagte Zhilan und führte sie um das Gebäude herum durch ein Fußgängertor und dann zu der ausgefahrenen Treppe des Gulfstream. Zhilan trat beiseite und bedeutete ihnen mit einer Geste weiterzugehen. An Bord fanden sie sich in einer kleinen, aber gut ausgestatteten Bordküche wieder. Zu ihrer Rechten, durch einen Bogen erreichbar, befand sich die Hauptkabine. Die Wände waren mit glänzendem Nussbaumholz getäfelt, das mit eingelegten teetassengroßen Texas-Lone-Star-Symbolen silbern verziert war. Auf dem Boden lag ein dicker weinroter Teppich. Es gab zwei Sitzbereiche, einer mit vier Ledersesseln, die um einen Rauchtisch gruppiert waren, der zweite, an achtern, bestand aus einem Trio gepolsterter Sofas. Die Luft war frisch und klimatisiert. Aus unsichtbaren Lautsprechern drang leise Willie Nelsons »Mammas Don’t Let Your Babies Grow Up to Be Cowboys«.

»Junge, Junge«, murmelte Remi.

Irgendwo hinten sagte eine Stimme mit einem texanischen Näseln: »Ich glaube, das schick klingende Wort für dies alles ist klischeehaft, Miss Fargo. Aber verdammt, ich mag es nun mal.«

Aus einem der Sessel, die mit dem Rücken zu ihnen standen, erhob sich ein Mann und drehte sich zu ihnen um. Er war eins neunzig groß und zweihundert Pfund schwer – fast die Hälfte Muskeln – mit einem sonnengebräunten Gesicht und kräftigem, sorgfältig frisiertem silbrig-blondem Haar. Obgleich Sam und Remi wussten, dass Charles King zweiundsechzig Jahre alt war, sah er lediglich aus wie fünfzig. Er lächelte sie breit an; seine Zähne waren gleichmäßig und erstaunlich weiß.

»Sobald einem Texas ins Blut gegangen ist«, sagte King, »ist es fast unmöglich, es wieder rauszukriegen. Glauben Sie mir, ich hatte vier Ehefrauen, die ihr Möglichstes getan haben, aber ohne Erfolg.«

Mit ausgestreckter Hand schritt King auf sie zu. Er trug Bluejeans, ein verwaschenes graublaues Jeanshemd und, zu Sams und Remis Überraschung, Nike-Turnschuhe statt Cowboystiefeln.

King entging ihr Gesichtsausdruck nicht. »Ich habe diese Stiefel nie gemocht. Unbequem wie die Hölle und auch noch unpraktisch. Außerdem besitze ich nur Rennpferde, und ich habe nicht gerade die Statur eines Jockeys.« Er schüttelte zuerst Remi die Hand, dann Sam. »Danke, dass Sie gekommen sind. Ich hoffe, Zee hat Sie nicht zu sehr erschreckt. Sie hat für Geplauder nicht viel übrig.«

»Sie wäre eine gute Pokerspielerin«, stimmte Sam ihm zu.

»Verdammt, sie ist eine gute Pokerspielerin. Hat mir beim ersten – und letzten – Mal, dass wir spielten, in den ersten zehn Minuten sechstausend Riesen abgeknöpft. Sehen wir erst mal zu, dass Sie etwas zu trinken kriegen. Was wollen Sie haben?«

»Mineralwasser, bitte«, sagte Remi, und Sam entschied sich mit einem Kopfnicken für das Gleiche.

»Zee, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich bekomme das Übliche.«

Dicht hinter Sam und Remi sagte Zhilan: »Ja, Mr King.«

Sie folgten ihm nach achtern zu der Sofagruppe und setzten sich. Zhilan folgte schon nach wenigen Sekunden mit einem Tablett. Sie stellte Sams und Remis Wassergläser auf den Tisch und hielt King das Glas Whisky on the rocks hin. Er nahm ihr das Glas nicht ab, sondern starrte es nur an. Mürrisch verzog er das Gesicht, blickte zu Zhilan hinüber und schüttelte den Kopf. »Wie viele Eiswürfel gehören hinein, Schätzchen?«

»Drei, Mr King«, sagte Zhilan hastig. »Tut mir leid, ich …«

»Machen Sie sich nichts draus, Zee, werfen Sie ein drittes rein – und ich bin zufrieden.« Zhilan entfernte sich eilig, und King meinte: »Egal, wie oft ich es ihr sage, sie vergisst es manchmal trotzdem. Jack Daniel’s ist ein launischer Stoff; man muss genau die richtige Eismenge nehmen, sonst kann man ihn gleich wegschütten.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, sagte Sam.

»Sie sind ein weiser Mann, Mr Fargo.«

»Sam.«

»Es bleibt Ihnen überlassen. Nennen Sie mich Charlie.«

King sah sie an, ein freundliches Lächeln in seinem Gesicht, bis Zhilan mit dem nunmehr mit der korrekten Anzahl Eiswürfel versehenen Drink zurückkam. Sie blieb neben ihm stehen und wartete, während er kostete. »Braves Mädchen«, sagte er. »Und jetzt trollen Sie sich.« Zu den Fargos: »Wie läuft Ihre Ausgrabung auf dieser kleinen Insel? Wie heißt sie noch?«

»Pulau Legundi«, erwiderte Sam.

»Ja, richtig. Eine Art …«

»Mr King …«

»Charlie.«

»Zhilan Hsu erwähnte einen Freund von uns, Frank Alton. Sparen wir uns das Geplauder für später. Erzählen Sie uns von Frank.«

»Sie sind auch ein ziemlich direkter Mann. Und Sie besitzen diese Eigenschaft sicherlich ebenfalls, vermute ich, Remi?«

Keiner der beiden antwortete, aber Remi schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln.

King zuckte die Achseln. »Okay, auch gut. Ich habe Alton vor ein paar Wochen engagiert, um sich für mich um eine bestimmte Angelegenheit zu kümmern. Jetzt sieht es so aus, als sei er verschwunden. Pufff! Da Sie beide anscheinend ganz geschickt darin sind, Dinge zu suchen, die man nicht so leicht findet, und dazu noch mit ihm befreundet sind, dachte ich, dass ich mich mal mit Ihnen in Verbindung setzen sollte.«

»Wann haben Sie das letzte Mal etwas von ihm gehört?«, fragte Remi.

»Vor zehn Tagen.«

»Frank neigt dazu, ein wenig eigenständig zu sein, wenn er arbeitet«, sagte Sam. »Warum haben Sie …«

»Weil er sich jeden Tag bei mir melden sollte. Das gehörte zu unserer Abmachung, und er hat sich auch bis vor zehn Tagen daran gehalten.«

»Haben Sie einen Grund anzunehmen, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist?«

»Sie meinen abgesehen davon, dass er sein Versprechen mir gegenüber gebrochen hat?«, fragte King mit einem Anflug von Verärgerung. »Abgesehen davon, dass er mein Geld nimmt und verschwindet?«

»Nur rein hypothetisch.«

»Naja, in dem Teil der Welt, in dem er sich aufhält, kann es manchmal ein wenig brenzlig werden.«

»Und der Teil wäre?«

»Nepal.«

»Wie bitte? Sagten Sie …«

»Ja. Als ich das letzte Mal von ihm hörte, war er in Kathmandu. So eine Art Provinznest, aber es kann ziemlich haarig sein, wenn man seine fünf Sinne nicht beisammen hat.«

Sam fragte: »Wer weiß sonst noch davon?«

»Eine Handvoll Leute.«

»Franks Ehefrau?«

King schüttelte den Kopf, trank einen Schluck Whisky. Dann verzog er das Gesicht. »Zee!«

Zhilan tauchte schon nach fünf Sekunden auf. »Ja, Mr King?«

Er reichte ihr das Glas. »Das Eis schmilzt zu schnell. Schütten Sie’s weg.«

»Ja, Mr King.«

Und dann hatte sie sich schon wieder zurückgezogen.

Mit finsterer Miene starrte King ihr nach, danach wandte er sich wieder an die Fargos. »Verzeihung, was sagten Sie gerade?«

»Haben Sie Franks Ehefrau Bescheid gesagt?«

»Ich wusste gar nicht, dass er eine hat. Er hat mir keine Information über einen Notfall geschickt. Außerdem, warum soll man sie beunruhigen? Wenn Sie mich fragen, hat sich Alton irgendeine Asiatin angelacht und scharwenzelt da unten auf meine Kosten mit ihr herum.«

»Frank Alton würde so etwas niemals tun«, sagte Remi.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Haben Sie mit der nepalesischen Regierung Kontakt aufgenommen?«, fragte Sam. »Oder mit der amerikanischen Botschaft in Kathmandu?«

King winkte ab. »Rückständig, der ganze Verein. Und korrupt, ich meine die Einheimischen. Was die Idee mit der Botschaft betrifft, ich hatte schon daran gedacht, aber ich habe nicht die Monate Zeit, die sie brauchen würden, ihre Hintern in Schwung zu bringen. Ich habe meine eigenen Leute da unten, die an einem anderen Projekt arbeiten. Aber sie haben nicht die Zeit, die sie dafür erübrigen müssten. Und wie ich schon sagte, Sie beide stehen in dem Ruf, Dinge zu finden, die andere Leute nicht aufspüren können.«

Sam sagte: »Zuerst einmal, Charlie, sind Leute keine Dinge. Zweitens, vermisste Personen zu suchen, ist nicht unsere Spezialität.« King wollte etwas sagen, aber Sam hob eine Hand und fuhr fort: »Abgesehen davon ist Frank ein guter Freund, daher werden wir natürlich dorthin gehen.«

»Phantastisch!« King schlug sich aufs Knie. »Kommen wir zum Wesentlichen: Wie viel wird mich das Ganze kosten?«

Sam grinste. »Wir nehmen an, Sie machen Witze.«

»Über Geld? Niemals.«

»Weil er ein guter Freund ist, übernehmen wir die Kosten«, sagte Remi mit einer leichten Schärfe in der Stimme. »Wir brauchen lediglich alle Informationen, die Sie uns geben können.«

»Zee hat bereits eine Mappe zusammengestellt. Sie gibt sie Ihnen beim Hinausgehen.«

»Dann geben Sie uns die komprimierte Version«, sagte Sam.

»Bei dieser Sache greifen einige Dinge ineinander«, sagte King. »Ich habe Alton engagiert, um jemanden zu suchen, der in derselben Region verschwunden ist.«

»Wen?«

»Meinen Dad. Als er verschwunden war, hatte ich sofort ein paar Leute auf die Suche geschickt, aber dabei ist nichts herausgekommen. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Als er das letzte Mal gesehen wurde, suchte ich den besten Privatdetektiv, den ich finden konnte. Alton wurde mir wärmstens empfohlen.«

»Dieses ›letzte Mal‹«, sagte Remi. »Was heißt das?«

»Seit mein Vater verschwand, gab es immer wieder Gerüchte, dass er von Zeit zu Zeit aufgetaucht sei: ungefähr ein Dutzend Mal in den siebziger Jahren, viermal in den Achtzigern …«

Sam unterbrach ihn. »Charlie, wie lange genau wird Ihr Vater denn schon vermisst?«

»Achtunddreißig Jahre. Er ist 1973 verschwunden.«

Lewis »Bully« King, erklärte Charles, war so etwas wie ein Indiana-Jones-Typ, aber lange bevor die Filme gedreht wurden: ein Archäologe, der elf Monate des Jahres sozusagen vor Ort verbrachte; ein weltreisender Akademiker, der Länder besucht hatte, von deren Existenz die meisten nicht einmal etwas wussten. Was sein Vater genau getan hatte, als er verschwand, das konnte Charles King allerdings nicht sagen.

»Mit wem stand er in Verbindung?«, fragte Remi.

»Was meinen Sie damit?«

»Arbeitete er für eine Universität oder ein Museum? Vielleicht auch für eine Stiftung?«

»Nein. Er war ein richtiger Außenseiter. Hatte mit all dem nichts zu tun.«

»Wie hat er seine Expeditionen finanziert?«

King zeigte ein Ach-was-soll’s-Lächeln. »Er hatte einen großzügigen und gutgläubigen Spender. Fairerweise muss ich gestehen, dass er nie um viel gebeten hat: fünftausend hier und da. Da er allein arbeitete, hatte er keine Betriebskosten, und er wusste, wie man billig lebt. An den meisten Orten, die er bereiste, kommt man mit ein paar Dollar pro Tag aus.«

»Hatte er ein Zuhause?«

»Ein kleines Haus in Monterey. Ich hab es nicht verkauft. Hab nie irgendwas damit gemacht. Es steht da immer noch so, wie es war, als er verschwand. Und ja, ich weiß, was Sie fragen werden. Damals, dreiundsiebzig, habe ich ein paar Leute das Haus nach Hinweisen durchsuchen lassen, aber sie haben nichts gefunden. Sie können aber gerne selbst nachschauen. Zee gibt Ihnen die nötigen Informationen.«

»War Frank dort?«

»Nein, er meinte, es lohne sich nicht.«

»Erzählen Sie uns etwas über sein letztes Auftauchen«, sagte Sam. »Vor etwa sechs Wochen machte ein Team von National Geographic eine Reportage über eine alte Stadt da draußen – Lo Manta oder so …«

»Lo Monthang«, sagte Remi.

»Ja, das ist es. Es war wohl mal die Hauptstadt von Mustang.«

Wie die meisten Leute sprach King das Wort aus, als meine er das Pferd mit dieser Bezeichnung.

»Es wird Muuus-tang ausgesprochen«, erwiderte Remi. »Man kannte es auch als Königreich Lo, ehe es von Nepal im achtzehnten Jahrhundert geschluckt wurde.«

»Wie Sie meinen. Hab für dieses Zeug nie was übrig gehabt. Bin wohl ziemlich weit vom Stamm gefallen, denke ich. Wie dem auch sei. Auf einem der Fotos, die sie geschossen haben, ist ein Typ im Hintergrund zu sehen. Ein Doppelgänger meines Vaters – oder zumindest nehme ich an, dass er nach fast vierzig Jahren so aussehen müsste.«

»Das ist nicht viel«, meinte Sam.

»Es ist alles, was ich habe. Wollen Sie es noch immer versuchen?«

»Natürlich wollen wir das.«

Sam und Remi erhoben sich zum Gehen. Hände wurden geschüttelt. »Zee hat meine Kontaktinformationen. Sie werden ihr ständig den aktuellen Stand melden. Geben Sie Bescheid, wenn Sie was gefunden haben. Ich bevorzuge regelmäßige Berichte. Gute Jagd, Fargos.«

Charles King stand in der offenen Tür seines Gulfstream und verfolgte, wie die Fargos zum Tor gingen, sich auf ihre Motorroller schwangen und sich die Straße hinunter entfernten. Zhilan Hsu kam vom Tor zurück und die Treppe herauf und blieb vor King stehen.

»Ich mag sie nicht«, sagte sie.

»Und warum nicht?«

»Sie erweisen Ihnen nicht genug Respekt.«