Das Geheimnis von Westbury Hall - Rachel Hore - E-Book
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Das Geheimnis von Westbury Hall E-Book

Rachel Hore

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Beschreibung

1938. Nach dem Tod ihres Vaters kehren Sarah, ihre Mutter und ihre Schwester aus Indien ins englische Norfolk zurück. Es ist kalt und unwohnlich, und es fällt Sarah schwer, sich wieder heimisch zu fühlen - bis sie Freundschaft mit Paul schließt, einem jungen Deutschen, der als Gärtnergehilfe auf dem benachbarten Westbury Hall arbeitet.

70 Jahre später stößt Briony während eines Urlaubs auf Filmaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Einer der Männer ähnelt verblüffend ihrem Bruder. Könnte es sich bei ihm um ihren lange verstorbenen Großvater handeln? Die junge Historikerin ist fasziniert. Bei ihren Recherchen findet sie Briefe von Sarah und Paul - und enthüllt damit ein Geheimnis, das noch immer sorgfältig gehütet wird ...


Ein wunderbarer Roman auf zwei Zeitebenen, mit bezaubernden Schauplätzen und einer romantischen Liebesgeschichte

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Seitenzahl: 667

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung12 – Mehrere Monate später345678 – Dezember 1938910111213 – März 19391415 – März 1939161718 – Juni 193919202122 – September 193923 – Mai 19402425 – Oktober 19402627 – November 194028 – Anfang 1941293031 – 1941–194232 – Juni 1942333435 – Sizilien, Juli 19433637383940 – April 19444142434445464748 – 1945Dank

Über dieses Buch

1938. Nach dem Tod ihres Vaters kehren Sarah, ihre Mutter und ihre Schwester aus Indien ins englische Norfolk zurück. Es ist kalt und unwohnlich, und es fällt Sarah schwer, sich wieder heimisch zu fühlen – bis sie Freundschaft mit Paul schließt, einem jungen Deutschen, der als Gärtnergehilfe auf dem benachbarten Westbury Hall arbeitet.

70 Jahre später stößt Briony während eines Urlaubs auf Filmaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Einer der Männer ähnelt verblüffend ihrem Bruder. Könnte es sich bei ihm um ihren lange verstorbenen Großvater handeln? Die junge Historikerin ist fasziniert. Bei ihren Recherchen findet sie Briefe von Sarah und Paul – und enthüllt damit ein Geheimnis, das noch immer sorgfältig gehütet wird …

Über die Autorin

Rachel Hore, geboren in Epsom, Surrey, hat lange Zeit in der Londoner Verlagsbranche gearbeitet, zuletzt als Lektorin. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Norwich. Sie arbeitet als freiberufliche Lektorin und schreibt Rezensionen für den renommierten Guardian.

RACHEL HORE

DasGeheimnis vonWestbury Hall

Roman

Aus dem Englischen von Barbara Röhl

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2018 by Rachel Hore

Titel der englischen Originalausgabe: »Last Letter Home«

Originalverlag: Simon & Schuster

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

Umschlagmotive: © yykkaa / shutterstock und © Drunaa / Trevillion Images

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7797-2

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Sheila,und zum Gedenken an Ann

1

So etwas nannte man einen Shitstorm, und nachdem sie ihm tagelang ausgesetzt gewesen war, sich an die Trümmer ihres Lebens geklammert und jeder neue Angriff sie mit solcher Wucht getroffen hatte, dass sie zerschlagen und keuchend zurückblieb, fühlte sie sich buchstäblich wie von einem Sturm gepeitscht. Sie hätte ihn über sich ergehen lassen, wenn es nur Worte gewesen wären, obwohl es schmerzhafte, niederschmetternde Worte waren, die ihre Selbstachtung, ihr berufliches Renommee, ihr Vertrauen auf ihre Urteilsfähigkeit und ihre Identität als Frau brutal zerstörten. Aber es war mehr. Sie fühlte sich nicht mehr sicher.

Passiert war es während ihres ersten Auftritts in einem Fernsehstudio, bei Jolyon Gunns spätabendlicher Talkshow, zu der man sie in letzter Minute eingeladen hatte, weil einer seiner Gäste unpässlich geworden war. Wahrscheinlich vor Angst. Der narzisstische Jolyon war nicht gerade für seinen Charme bekannt, was seine Einschaltquoten jedoch nur hochzutreiben schien.

»Und wir begrüßen die Historikerin Briony Wood, die ein Buch über den Zweiten Weltkrieg schreibt, stimmt das, Schätzchen?«

»Ja, es wird Frauen in Uniform heißen und behandelt den ATS, die Frauenabteilung der Infanterie während –«

»Klingt toll«, unterbrach er sie. Jolyons Aufmerksamkeitsspanne war nicht lang. »Briony ist hier, um mit uns über die Nachricht zu reden, dass Soldatinnen in Zukunft auch an der Front kämpfen sollen. Briony, mir ist klar, dass das jetzt kontrovers klingt, aber eigentlich ist Krieg doch eher etwas für die Jungs, oder?«

»Ganz und gar nicht. Seit den Amazonen existieren zahlreiche Beispiele für Frauen, die an Kämpfen teilgenommen haben. Denken Sie nur an Boudicca oder Johanna von Orléans.« Briony versuchte, nicht schrill zu klingen, aber der Umstand, dass viele Männer im Publikum saßen, von denen einige bei Jolyons Worten zustimmend genickt hatten, bedeutete, dass sie selbstbewusst sprechen musste. Geblendet von den Scheinwerfern im Studio blinzelte sie den Moderator an, der sich, die kurzen Beine gespreizt, in seinem schicken Designer-Anzug und mit seiner glitzernden dicken Rolex überlegen auf seinem lederbezogenen Regiestuhl lümmelte. Er erwiderte ihren Blick mit einem Grinsen und rieb sich den akkurat geschnittenen schwarzen Bart.

»Das sind ja wohl Ausnahmeerscheinungen, Briony, und wir wissen alle, was die Amazonen tun mussten, um mit ihren Bögen zu schießen, oder?« Mit einer Handbewegung deutete er einen Schnitt über die Brust an und zwinkerte. Die Männer brachen in wieherndes Gelächter aus. »Sehen Sie, es ist doch nicht natürlich, dass Frauen kämpfen. Sie sind schon aufgrund ihrer Figur nur in der Lage, einander die Haare auszureißen.«

Noch mehr amüsiertes Gelächter.

Briony setzte sich gerade auf und starrte ihn aufgebracht an. »Das spricht nur für ihre Entschlossenheit. Außerdem ist etwas noch lange nicht richtig, nur weil es ›natürlich‹ ist. Schließlich ist der Krieg selbst auch naturgegeben. Aber, Jolyon, wir sollten sicherlich die Psychologie und die soziale Konditionierung auf Genderrollen in diese Diskussion …«

Bei dem Wort »Gender« schoss Jolyon hoch, und ein irres Glitzern trat in seine Augen. Briony erkannte, dass sie ihm geradewegs in die Falle getappt war. Diese Show war populistisch, und Jolyon, der kein Blatt vor den Mund nahm, hatte in einer gewissen Gruppe von Männern eine große Anhängerschaft. Aber es war zu spät, um ihre Worte zurückzunehmen, das hätte sie schwach und dumm aussehen lassen. Mit einem Mal war sie sich überaus bewusst, wie lehrerinnenhaft sie daherkommen musste. Das hellbraune Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, und ihr anthrazitfarbenes Etuikleid wirkte trotz des weichen blauen Schals, den sie sich um die Schultern gelegt hatte, eher elegant und zurückhaltend als modisch.

»Die Mädchen sind nicht tough genug, Briony. Sie werden heulen und Theater wegen ihres Lippenstifts machen.« Darüber grölte das Publikum vor Lachen, obwohl eine oder zwei Personen auch missbilligend zischten.

»Sie würde ich gern einmal auf einem Schlachtfeld sehen!«, fauchte sie. »Im Gegensatz zu einigen der mutigen Frauen, die ich für mein Buch interviewt habe, würden Sie es keine Sekunde aushalten.«

Im Saal wurde Geschrei laut, und mehrere Männer standen auf. Einer drohte Briony mit geballter Faust. Jolyon selbst starrte sie mit einem aufgeklebt wirkenden Grinsen an und fand einen Moment lang keine Worte. Allerdings hielt dieser Moment nur kurz an.

»Danke, Briony Wood«, erklärte er mit gespielter Verblüffung. »Ich glaube, sie hat mich gerade einen Feigling genannt, Jungs! Ist das nicht umwerfend?«

Nach der Sendung flüchtete Briony in die regnerische Nacht und schaltete ihr Handy ein. Ihr schlug eine ganze Welle von Signaltönen entgegen, als die Nachrichten in schneller Folge eintrafen. Mit einem bangen Gefühl öffnete sie ihren Twitter-Account. Als sie die ersten Kommentare las, riss sie entsetzt die Augen auf.

Wenn es Krieg gibt, stellen wir dich als Erste an die Wand, du hässliche Kuh.

Unser Jolyon ist tougher als alle Weiber.

Der dritte bestand nur aus einer Abfolge von Obszönitäten, bei denen sie sich die Hand vor den Mund schlug.

Dann klingelte das Telefon. Ein Name, den sie kannte. Sie wischte über den Bildschirm.

»Aruna?« Sie sah sich auf der einsamen Londoner Gasse um und schlug schnellen Schritts den Weg zur Hauptstraße ein.

»Lies auf keinen Fall deine Nachrichten. Besonders nicht auf Twitter.« Briony nahm den panischen Unterton ihrer Freundin wahr.

Zu spät. »Ach, Aruna. Warum habe ich das bloß gesagt? Wie konnte ich nur so blöd sein?«

»Ist nicht deine Schuld, er war grauenvoll, unterirdisch. Es tut mir leid, dass ich diesen Leuten überhaupt deinen Namen gegeben habe. Hör mal, wo bist du?«

»In Clapham. Ich komme gerade aus dem Studio.« Briony bog auf die Hauptstraße ein und fuhr zusammen, als drei Jugendliche in Lederjacken lachend und voreinander herumprahlend aus einem hell erleuchteten Pub traten. Sie gingen an ihr vorbei und nahmen sie nicht einmal wahr. »Was hast du gesagt?«

»Müh dich nicht mit den Öffentlichen ab. Nimm dir ein Taxi«, sagte Aruna flehend. »Fahr direkt nach Hause, und ruf mich dann an, damit ich weiß, dass du in Sicherheit bist.«

Die ersten Männer aus Jolyons Publikum strömten aus dem Vordereingang des Studios. Noch hatten sie sie nicht entdeckt, aber ihre vulgären Gesten und ihr grobes Gelächter machten ihr Angst. Briony zog sich ihren Schal über den Kopf und ging schneller.

Diese Nacht verbrachte Aruna bei ihr in der Wohnung in Kennington, und Briony war froh darüber, denn auch am nächsten Morgen riss der Strom der beleidigenden Nachrichten nicht ab. Obwohl Aruna protestierte, las Briony sie, beantwortete diejenigen, die vernünftiger klangen oder sie unterstützten, löschte andere, schluchzte vor Wut, aber es kamen weitere herein. Schließlich überredete Aruna sie, ihre Twitter- und Facebook-Accounts zu sperren, und befahl ihr, sich vollkommen vom Internet fernzuhalten. Allerdings las sie einen Blogeintrag, den Aruna gefunden hatte. Er stammte von einer Politikerin, die unter ähnlichen Angriffen gelitten hatte. »Irgendwann werden die Cyber-Trolle müde und ziehen sich in ihre Höhle zurück«, schloss die Frau. »Stark bleiben«, lautete ihr Rat.

»Das ist alles leicht gesagt«, meinte Briony und seufzte. Sie wünschte, ihr Vater und ihre Stiefmutter wären nicht im Urlaub. Sie hätte einen Platz zum Verkriechen gut gebrauchen können.

Die Strategie des »Starkbleibens« hätte funktionieren können, hätte Jolyon Gunn selbst den Aufruhr nicht noch geschürt. Als Briony an diesem Abend beklommen wieder online ging, fand sie einige verletzende Bemerkungen über ihr »verkniffenes« Äußeres vor, das schuld daran sei, dass sie mit Ende dreißig noch Single sei. Seine Fans, die das rasend komisch fanden, hatten allesamt in die gleiche Kerbe geschlagen.

»Verkniffen? Wo bin ich denn verkniffen?«, keuchte Briony. Das war unfair, trotz allem, was Aruna vorbrachte, um sie zu beruhigen.

Ostern war ruhig und ohne große Neuigkeiten vergangen, doch als sie am zweiten Morgen nach der unglückseligen Talkshow mit einer Tasche voller Essays ihrer Studenten auf die Straße trat, hörte sie einen Mann brüllen: »Briony! Hier!« Sie drehte sich um und wurde von einem Blitzlicht geblendet. »Einen Satz über Jolyon, Schätzchen!«, rief er fröhlich grinsend. Panisch stolperte sie wieder ins Haus und beobachtete, wie er davonfuhr. Sie würde erst morgen wieder ins College gehen.

Später am selben Tag rief Aruna sie an, um sie zu warnen – jemand hatte auf Twitter ihre Adresse gepostet. Jetzt wussten die Trolle, wo sie wohnte. Am dritten Morgen erhielt sie eine anonyme Postkarte mit dem Bild einer geballten Faust. Von da an hatte sie zu viel Angst, um rauszugehen, und schickte Aruna, die ihr ein paar Einkäufe vorbeigebracht hatte, vors Haus, um eine Gruppe Teenager zu vertreiben, die auf dem Gehweg herumlungerte. Arunas dunkler Bob flatterte im Wind, während die Jugendlichen unschuldig und verwirrt in ihr ernstes, spitzes Gesicht sahen. Peinlich berührt wurde Briony klar, dass sie unter Verfolgungswahn litt. Nachdem Aruna gegangen war, tauchte ein gutmütiger dicker Polizist auf und ließ sich auf Brionys Sofa nieder, wo er Tee trank und beruhigende Floskeln über die Online-Drohungen von sich gab.

Sie rief Gordon Platt an, den Leiter ihres Fachbereichs, und bat ihn um Rat, doch er klang nervös, murmelte etwas über den Ruf des Colleges und bat sie, »aus Sicherheitsgründen« ein paar Tage nicht zur Arbeit zu kommen. Als sie das Gespräch beendete, fühlte sie sich im Stich gelassen und enttäuscht.

»Das wird sich alles bald geben«, erklärte Aruna ihr noch einmal. »Wenn du den Kopf einziehst, langweilen sie sich bald.«

Aruna hatte recht. Die Aufmerksamkeit zerstreute sich so schnell, wie sie aufgekommen war. Andere Meldungen machten Schlagzeilen. Die Trolle fanden neue Opfer. Sie konnte gefahrlos aus dem Haus gehen.

Das Problem war, dass sie sich noch lange Zeit später alles andere als sicher fühlte. Sie schleppte sich trotzdem zur Arbeit, fühlte sich aber überfordert. Das lag nicht nur an dem hohen Arbeitspensum und den Verwaltungstätigkeiten, die sie zusätzlich zum Unterrichten und ihrer eigenen Forschung erledigen musste, sondern an dem Gedanken, wie sie das alles schaffen sollte. Die Kopfschmerzen, die sie seit einiger Zeit belasteten, traten häufiger auf. Sie begannen an der Schädelbasis und stiegen zu ihren Schläfen und bis hinter ihre Augen, sodass Studenten oder Kollegen sie gelegentlich zusammengekrümmt auf dem winzigen Sofa in ihrem Büro antrafen, wo sie darauf wartete, dass die Wirkung der Schmerzmittel einsetzte.

Schließlich überwies ihr Arzt sie an eine Therapeutin. Einige Wochen später fand sie sich in einem friedlichen Raum im Obergeschoss eines Hauses wieder, in dem es nach Lavendel duftete, und saß einer eleganten Frau mit einem schmalen, klugen Gesicht gegenüber, die passenderweise Grace hieß.

»Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben lang so schwer gekämpft zu haben«, sagte Briony zu Grace, nachdem sie ihr erklärt hatte, warum sie hier war. »Jetzt weiß ich nicht mehr, wofür. Ich habe mein Selbstvertrauen verloren.«

Grace nickte und machte sich eine Notiz. Dann sah sie Briony mit hochgezogenen Augenbrauen abwartend an.

»Alles ist so mühsam.« Ihre Stimme stockte, sodass das »mühsam« nur noch als Flüstern herauskam.

»Erzählen Sie mir von den anderen Dingen in Ihrem Leben, Briony, Ihrer Familie zum Beispiel, oder was Sie gern tun, wenn Sie nicht arbeiten.«

Kurz schlug Briony die Hände vors Gesicht und holte dann so tief Luft, dass es schmerzte. »Meine Mum ist an Krebs gestorben, als ich vierzehn war. Sie war nicht lange krank, aber es war eine furchtbare Zeit, und dann war sie einfach nicht mehr da. Es fühlte sich an wie ein riesiges Loch.«

»Das war sicher schrecklich.« Grace’ Mitgefühl ermunterte sie weiterzusprechen.

»Das Schlimmste war, dass ich mit niemandem reden konnte. Dad fand, wir sollten einfach weitermachen, praktisch denken, und ich versuchte, meinem Bruder eine Mutter zu sein, was er hasste. Will ist jünger als ich. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt wegen seines Jobs im Norden. Wir mögen einander, aber wir stehen uns nicht nahe.«

»Und Sie haben keinen Partner? Kinder?«

Briony schüttelte den Kopf. »Dazu … dazu ist es nie gekommen, keine Ahnung, warum. Es passte nie richtig. Eigentlich stört mich das nicht, ich habe viele Freunde, nur manchmal denke ich, es wäre nett.«

Grace rührte sich und lächelte. »Wenn Sie offen dafür sind, passiert es vielleicht«, erklärte sie mit leuchtenden Augen.

»Was meinen Sie?« Grace hatte geheimnisvoll und, um die Wahrheit zu sagen, ein wenig überheblich geklungen. Zähneknirschend erklärte Briony, wie ihre Beziehungen immer im Sande verlaufen waren, obwohl sie einer Fortsetzung durchaus »offen« gegenübergestanden hatte.

Grace lächelte einfach auf ihre leicht provokante Art. »Wir können weiter darüber reden. Ich finde, Sie sollten es ein wenig langsamer angehen lassen, Briony. Sagen Sie öfter Nein, und versuchen Sie, Dinge zu tun, die Ihnen Freude bereiten. Und bei unserem nächsten Treffen sollten wir vielleicht über Ihre Mutter sprechen.«

Briony nickte und fragte sich, wie ihr das alles helfen sollte, doch der Arzt hatte gemeint, Grace sei gut, und ihr gefiel das Gefühl von Frieden, das der Raum ausstrahlte, daher willigte sie ein wiederzukommen.

Im Lauf der nächsten Monate erzählte sie Grace davon, wie verlassen sie sich nach dem Tod ihrer Mutter gefühlt hatte, wie dadurch ihre Kindheit abrupt zu Ende gewesen war. Grace wies sie auf die Bedeutung anderer Verluste hin – den Tod ihrer Großeltern nur wenige Jahre zuvor; den Umstand, dass ihr Bruder Will gelernt hatte, auf eigenen Beinen zu stehen, und die neue Ehe, die ihr Vater irgendwann geschlossen hatte. Möglich, regte Grace behutsam an, dass Briony einen Schutzpanzer entwickelt hatte, der verhinderte, dass sie jemanden an sich heranließ. Und dass ihr Erlebnis mit den Internet-Trollen sie so stark traumatisiert hatte, weil sie ohnehin schon unter Stress stand.

Nachdem sie Grace acht Wochen lang aufgesucht hatte, spürte sie, dass sich in ihrem Inneren etwas zu lösen begann, das zuvor einer fest zusammengedrückten Stahlfeder geglichen hatte. Es gab immer noch Tage, an denen sie ihre Tortur noch einmal erlebte und sich wieder verängstigt und ohnmächtig fühlte, doch sie wurden weniger. Sie begann, es zu verarbeiten.

2

Mehrere Monate später

Hör auf, Zara. Du machst alle wahnsinnig.«

»Dann entschuldige dich, Mike. Sag, dass es dir leidtut.«

»Ich entschuldige mich nicht für etwas, das ich nicht getan habe …«

Die aufgebrachten Stimmen wurden leiser, als Briony mit einem kaum hörbaren Klicken die Tür der italienischen Villa hinter sich zuzog. Sie seufzte erleichtert auf, und ein Gecko huschte auf der Veranda in Richtung der Regenrinne davon. Da flüchtet noch einer, dachte sie, und sah ihm nach. Doch im Gegensatz zu ihr hatte er wahrscheinlich kein schlechtes Gewissen. Wie lange würde es dauern, bis die anderen aufhörten zu streiten und bemerkten, dass sie verschwunden war? Vielleicht würden sie denken, sie sei früh zu Bett gegangen, und abschließen. Ach, es war ihr gleichgültig. Ihr Urlaub dauerte erst drei Tage, und schon war sie der Gesellschaft der anderen überdrüssig. Der von Mike und Zara jedenfalls. Aruna und Luke traf keine Schuld. Zumindest vermittelten die beiden ihr nicht absichtlich das Gefühl, das fünfte Rad am Wagen zu sein.

Es war Ende Juli, und die Hitze lag schwer über der abendlichen Idylle. Briony sog die Essensdüfte ein, die noch in der Luft lagen, da sie gegrillt hatten, und ging über den unebenen Boden zwischen den Olivenbäumen zum Tor. Als sie in die Kühle des dicht bewachsenen Weges trat, wich der Geruch von beißendem Rauch dem Duft nach Harz, den sie dankbar einatmete.

Wohin jetzt? Bergab führte die Straße durch das kleine Dorf mit seiner Bar und seinem Laden und dann weiter über eine Brücke, die einen plätschernden Fluss überspannte. Dort glitzerte das Licht auf dem Wasser, eine wunderschöne Stelle, an der Kinder plantschten. Das bedeutete allerdings auch, dass sie anderen Menschen begegnen würde, und sie wollte allein sein. Also wandte sie sich nach links, bergauf und der untergehenden Sonne entgegen. In diese Richtung war sie noch nie gegangen.

Trotz der Wärme war der Weg leicht zu bewältigen, und es dauerte nicht lange, bis die entspannte Atmosphäre der italienischen Landschaft und ein angenehmes Ziehen in ihren Waden ihre aufgewühlte Seele beruhigten. Seit den Troll-Angriffen hasste sie Konflikte jeder Art, selbst wenn sie nicht direkt darin verwickelt war. Sie hatte immer das Gefühl, davonlaufen und sich verstecken zu müssen.

Bald ging die Schotterpiste, auf der ihre Sportschuhe knirschten, in einen weichen, grasbewachsenen Pfad über, der sie zwischen Terrassen mit Obstbäumen, wo die Luft frisch nach Zitrusfrüchten duftete, aufwärts führte. Minuten später erreichte sie eine Wegbiegung, unterhalb derer der Boden scharf abfiel. Sie blieb stehen und trat dann auf eine Felsspitze, um die plötzlich aufgetauchte atemberaubende Aussicht über das Tal zu betrachten. Hinter den Hügeln, die es umgaben, setzten sich weitere Hügel und Täler fort – ein Anblick, dessen Schönheit ihre Stimmung aufhellte.

Unter dem in Goldtönen leuchtenden Himmel war alles friedlich. Die Luft war so still und das Tal so tief, dass das Echo die leisesten Geräusche herauftrug. Briony kniff die Augen zusammen und lauschte. In weiter Ferne kläffte ein Hund warnend, was wie Morsezeichen klang. Das Jaulen eines Automotors wetteiferte mit dem Knattern eines kleinen Flugzeugs über ihr. In ihrer Nähe versuchte sich eine einsame Zikade zögernd an einem Ton wie ein Geigenspieler, der probeweise eine Saite anschlägt. Dann hörte man eine weitere Zikade, und plötzlich erklang um sie herum ein ganzes Orchester, als hätte ihnen jemand mit dem Taktstock ein Zeichen gegeben.

Brionys Blick blieb an den Terrakottadächern einer kleinen Stadt hängen, die sich an den Rand des Tals klammerte. Tuana. Sie erinnerte sich an ein Fragment aus einem Gespräch, das sie letzte Woche mit ihrem Vater geführt hatte. Da hatte sie ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, wo sie ihren Urlaub verbringen würde.

»Tuana?«, hatte Martin Wood gesagt. »Da klingelt etwas bei mir. Wusstest du, dass der Dad deiner Mum, Grandpa Andrews, während des Kriegs dort stationiert war?« Dieser Anstoß reichte, damit sie online nach Bildern der Stadt suchte und schließlich in der Collegebibliothek ein paar Bücher über den Zweiten Weltkrieg auslieh, die sie mit hierhergebracht hatte. Ihr Großvater war gestorben, als sie zehn war, und hatte bis zu seinem Ende über seine Kriegserlebnisse geschwiegen.

Sie hatten am Tag ihrer Ankunft in Tuana angehalten, um Proviant einzukaufen, und einen ruhigen Ort mit engen, gewundenen Straßen und einem zentralen Platz vorgefunden, der verträumt in der Sonne lag. Doch nachdem sie den kleinen Supermarkt besucht hatten, war Mike ungeduldig geworden und hatte zur Villa weiterfahren wollen, um den hiesigen vino zu öffnen, den er gekauft hatte, daher war ihr keine Zeit zum Herumstöbern geblieben.

Das Tal war idyllisch – jedenfalls sah es so aus. Doch Briony wusste, dass der graue Dunst, der über den entferntesten Hügeln hing, der Smog über Neapels Industriegürtel sein musste und dass die zwei fernen, in Rauch gehüllten Gipfel den Vesuv darstellten, und das verdarb ihr die Freude, genau wie der Gedanke an Mike. Sie zog an einem Stück Zaunwinde an einem Busch in der Nähe. Es riss ab, peitschte durch die Luft und lag dann schlaff in ihrer Hand. Sie ließ es fallen.

Mit ihr konnte etwas nicht in Ordnung sein, wenn sie so empfand. Jeder andere hätte sich glücklich geschätzt. Zwei Wochen Sommerurlaub in einer Villa in den italienischen Bergen! Aruna hatte sie eingeladen, sie zu begleiten. Die liebe Aruna, die ihre beste Freundin war, seit sie sich vor Jahren als Studentinnen eine Wohnung geteilt hatten.

Abgesehen von Aruna waren ihr ihre Mitreisenden ziemlich fremd. Arunas Kollegin Zara und der Krankenhausarzt Mike waren das Paar, das sich gerade einen ausgewachsenen Streit lieferte. Dann war da noch der hochgewachsene, sanfte und entspannte Luke, der Ende dreißig und seit sechs Monaten Arunas Freund war. Briony fand ihn rücksichtsvoll, und es fiel ihr leicht, sich mit ihm zu unterhalten.

Sie trat von dem Felsen hinunter und ging weiter den schmalen Pfad entlang, der um den Rücken des Hügels führte. Sie setzte ihre Schritte sorgfältig; ein Fehltritt, und sie könnte abstürzen. Als sie das nächste Mal aufblickte, sah sie eine Böschung vor sich. Zwischen Bäumen, die auf dem Hang über ihr dicht zusammenstanden, konnte sie mit ihrem scharfen Blick einen Teil des Dachs und des oberen Stockwerks eines großen Hauses erkennen. Wie gelangte man bloß dorthin, vor allem mit dem Auto? Es musste eine Straße aus einer anderen Richtung dort hinführen.

Der Fußweg wurde steiler und verlief im Zickzack zwischen Bäumen. Aber Briony war neugierig auf das Haus und begann zu klettern. Erhitzt und atemlos erreichte sie den Kamm und stellte fest, dass sich in der Tat eine tief ausgefahrene, unbefestigte Straße nach rechts in die Richtung schlängelte, in der sie das Haus gesehen hatte.

Jemand musste hier hinaufgefahren sein, denn Reifenspuren hatten sich in den Staub eingedrückt. Vermutlich der Besitzer des Hauses. Aber wer würde hier oben leben, an einer so einsamen Stelle?

Sie folgte den Autospuren einige Minuten lang, dann verbreiterte sich die Straße plötzlich und endete abrupt vor einem schmiedeeisernen Tor mit durchhängenden Flügeln, das mit einer rostigen Kette verschlossen war. Eine Schlingpflanze mit winzigen roten Blüten rankte hindurch. Offensichtlich war es schon lange nicht mehr geöffnet worden. Von einem Auto war nichts zu sehen; als einzige Spur entdeckte sie aufgeworfene Erde auf der Straße, wo der Fahrer ungeduldig seinen Wagen gewendet haben musste.

Briony erreichte das Tor, umfasste die Gitterstäbe und sah in das üppige Grün hinein wie jemand, der ausgesperrt worden war.

Durch eine dieser seltsamen Perspektivverschiebungen konnte sie das Haus nicht mehr erkennen. Über diesem Ort lag eine solche Stimmung von Verfall und Einsamkeit, dass sie augenblicklich Melancholie überkam. Sehnsüchtig wünschte sie sich, zwischen den Gitterstäben des Tors hindurchzuschlüpfen oder über die mannshohe verfallene Mauer zu klettern, die rechts und links davon verlief, doch das wagte sie nicht. Was wäre, wenn der Eigentümer sie erwischte und ihr vorwarf, auf Privatgelände einzudringen? Italienisch konnte sie zwar halbwegs lesen, aber sie sprach es nur gebrochen, sodass es ihr schwergefallen wäre, sich zu erklären. Sie lächelte bei der Vorstellung, wie sie versuchte, einen wütenden Mafioso zu besänftigen. Dieser Ort wirkte verlassen, aber die Reifenspuren verrieten ihr, dass dies nicht unbedingt so sein musste.

Die Sonne versank hinter den Hügeln, und der Himmel glühte blutrot auf. Bald würde es dämmern. Zögernd wandte sich Briony vom Tor ab. Während sie den Hügel hinunterkletterte, huschten winzige Fledermäuse, die im Sturzflug Jagd auf Insekten machten, am Rand ihres Blickfelds entlang.

Auf der Felsspitze, auf der sie vor einer halben Stunde angehalten hatte, erblickte sie zu ihrem Erstaunen jemanden, der über das Tal hinausschaute. Die untergehende Sonne schien ihr in die Augen, doch dann erkannte sie die schlanke Gestalt, die die Hände in die Jeanstaschen gesteckt hatte, und die nussbraune Mähne. Luke.

»Hallo!«, rief sie, als sie näher kam.

Er drehte sich um, und seine dunklen Brillengläser reflektierten das Licht. »Hey.« Er setzte sein schiefes Lächeln auf. »Ist das nicht großartig? Ich hatte versucht, mich zu orientieren.« Er zeigte über das Tal hinaus. »Was meinst du, ist das die Straße, auf der wir am Samstag hergefahren sind?«

Briony kniff die Augen zusammen und musterte das silbrige Band, das sich über den Hügelhang nach Tuana hinunterschlängelte. »Das muss sie sein.«

»Was hast du dort oben entdeckt?« Mit einer Kopfbewegung wies Luke in die Richtung, aus der sie gekommen war, und sie beschrieb den überwucherten Garten und versuchte vergeblich, ihm das Dach der alten Villa zu zeigen. Jetzt, in der Dämmerung, wirkten die Bäume wie eine einzige dunkle Masse.

»Macht nichts. Vielleicht ein andermal.«

»Ja.« Eine Weile standen sie schweigend da und sahen zu, wie ein winziger Zug über einen fernen Hügel fuhr. »Gehst du spazieren«, fragte sie dann, »oder hast du nach mir gesucht?«

»Ich habe gesehen, wie du vorhin hinausgehuscht bist … nun ja, und du warst lange fort. Aruna hat sich gefragt, ob es dir gut geht.« Luke runzelte die Stirn. »Geht’s dir gut?«

»Mir geht’s prima. Ich brauchte nur etwas Ruhe und Frieden.«

»Aha. Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein.« Er schob seine Sonnenbrille hoch und schaute betreten drein.

»Warst du auch nicht, ehrlich.«

»Gut. Die Turteltäubchen vertragen sich übrigens wieder. Es ist wieder sicher.« Letzteres sagte er in einem gespielten Flüsterton, während er ironisch die Augenbrauen hochzog, und sie lachte los. Als er ihr voran den schmalen Pfad einschlug, der zurück zur Villa führte, fühlte sie sich froh, weil jemand sie verstand.

»Eigentlich ist Mike in Ordnung«, bemerkte Luke. »Er genießt es nur, Leute mit diesen schaurigen Geschichten aus dem Krankenhaus zu erschrecken. Am besten geht man gar nicht darauf ein, dann hält er die Klappe.«

»Ich finde es furchtbar, so über seine Patienten zu reden.« Ich klinge wirklich verkniffen, sagte sich Briony, doch zu ihrer Erleichterung nickte Luke.

»Er ist ein Idiot. Ich glaube, Aruna war nicht ganz klar, worauf sie sich einlässt, als sie die beiden eingeladen hat. In London war er ganz okay. Ist es nicht merkwürdig, wenn man Leute außerhalb ihrer normalen Umgebung kennenlernt? Man entdeckt ganz neue Eigenschaften an ihnen.«

»Man sieht sie so, wie sie wirklich sind?«

»Vielleicht eine andere Seite an ihnen. Trotzdem muss man sie als Ganzes betrachten.«

Sie beneidete Luke um seine entspannte Art. »Wahrscheinlich.« Mike war ganz nett, das musste sie zugeben, und er konnte amüsant sein, aber nach einem oder zwei Drinks wurde er laut und flegelhaft. Und – kurz spürte sie Zorn in sich aufsteigen – er verdarb ihnen allen den kostbaren Urlaub.

»Und was ist mit mir?«, fragte sie leichthin. Der Weg war breiter geworden, und sie gingen jetzt nebeneinander. »Bin ich außerhalb meines normalen Umfelds anders?«

Einen Moment lang gab Luke keine Antwort. »Ja und nein«, sagte er schließlich, als müsse er die richtigen Worte wählen. »Ich glaube, in London verhalten wir uns instinktiv auf eine bestimmte Art. Wir tragen so etwas wie einen Schutzpanzer, aber hier ist es einfacher, ihn zu durchschauen und die Person dahinter zu erkennen. In deinem Fall natürlich einen netten Menschen.« Er warf ihr einen Blick zu und grinste.

»Schon gut. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Person in meinem Inneren ein armes, verkümmertes Ding ist.«

»Wir alle fühlen uns manchmal so. Ich weiß, dass das bei mir der Fall ist. Da du schon fragst, du wirkst ein wenig … abgespannt. Tut mir leid, wenn ich etwas Falsches sage …«

»Vermutlich hast du recht«, räumte sie ein. »Ich habe wohl immer noch nicht richtig abgeschaltet.«

Schweigend stapften sie weiter, und Brionys Nervosität kehrte zurück, je näher sie der Villa kamen. Die besorgten Blicke, die Luke ihr jetzt zuwarf, beunruhigten sie. Vielleicht hatte sie sich ja lächerlich gemacht, als sie davongestürmt war, und er hielt sie für verrückt. Doch als sie die Tür erreichten und er zurücktrat, um sie vorzulassen, trafen sich ihre Blicke kurz. Er lächelte nicht, aber unter seiner lockigen Haarmähne leuchtete in seinen graublauen Augen ein gut gelaunter Verschwörerblick.

»Danke, dass du nach mir gesucht hast.«

»No problemo«, sagte er. »Aruna hat sich Sorgen gemacht.«

»Das ist die Villa Teresa«, erklärte der stämmige Barkeeper des winzigen Cafés im Ort am nächsten Tag herablassend auf Brionys Frage. Flink wischte er mit einem Lappen über den runden Tisch aus Zink und stellte einen Cappuccino und ein Glas Eiswasser vor sie hin. Dann sah er sich auf der sonnigen Terrasse um und senkte die Stimme. »Heute lebt dort niemand mehr, bella. Es gibt – wie sagt man? – ein Problem.« Er spreizte die Finger, um ein Intrigennetz anzudeuten.

»Aber wem gehört sie?« Schöne hatte er sie genannt. Die Art, auf die er es gesagt hatte, ließ sie sich beinahe tatsächlich so fühlen. Sie schob die Sonnenbrille hoch, sah blinzelnd zu ihm auf und fuhr sich mit der Hand über das lange Haar, das sie aus dem üblichen ordentlichen Knoten befreit hatte, um es zu glätten. Wie sie heute Morgen im Spiegel zufrieden entdeckt hatte, bleichte die Sonne ihr hellbraunes Haar, sodass es beinahe blond wirkte.

Neue Gäste trafen ein und lenkten ihn ab. »Ich weiß es nicht, signorina, tut mir leid.« Er neigte den Kopf und trat zu einem grauhaarigen amerikanischen Ehepaar, das sich gerade an einem Tisch in der Nähe niederließ. Die Frau fächelte sich mit einer Touristenbroschüre Luft zu, während der Mann ungeduldig acqua minerale verlangte.

Briony trank ihren Kaffee und blätterte das Buch durch, das sie mitgebracht hatte. Es war ein illustrierter Bericht über die Befreiung Italiens durch die Alliierten. Als sie die Fotos musterte, wurde ihr klar, dass diese Gegend ein ziemliches Schlachtfeld gewesen war, um das die Deutschen und die einmarschierenden alliierten Truppen heftig gekämpft hatten. Hier, vor diesem hübschen Café mit seinem ockerfarbenen Dach und der Aussicht über die Bogenbrücke und den plätschernden Fluss, fiel es schwer, sich das vorzustellen, obwohl diese Terrasse der perfekte Ausguck gewesen wäre. Briony las die ersten Zeilen: Die Deutschen zogen sich zurück, wobei sie alle Verkehrsverbindungen sprengten … Plötzlich wurde sie unterbrochen.

»Scusi, signorina.« Von dem Tisch hinter ihr, wo vorher niemand gesessen hatte, drang eine weiche Frauenstimme zu ihr.

Briony drehte sich um und sah in die mandelförmigen Augen einer zierlichen Italienerin mittleren Alters, die ein langärmliges königsblaues Top trug und mit einem Kaffee im Schatten saß. Briony brauchte eine Sekunde, um Mariella zu erkennen, die Haushälterin ihrer Villa. Erst gestern war sie mit ihrer schüchternen erwachsenen Tochter zu ihnen heraufgefahren und hatte bergeweise frisches Bettzeug und schneeweiße Handtücher gebracht, und die beiden hatten alles in einem Schrank verstaut. Anschließend hatten sie taktvoll, aber tatkräftig die Küche wieder in Ordnung gebracht.

»Buongiorno, Mariella«, sagte sie jetzt. »Tut mir leid, ich hatte Sie nicht gesehen. Ich heiße Briony. Sono Briony.«

Mariella quittierte das mit einem Nicken, ihr Blick richtete sich auf das Buch. »Per favore, Briony, das Buch?«

Briony zeigte ihr das Cover, und dann, als Mariella bittend die Hand ausstreckte, reichte sie ihr den Band. Sie sah zu, wie die Frau mit ihren langen Fingern die Bilder aufblätterte, und ihr fiel ihr zorniger Blick auf.

»Sie wissen hierüber Bescheid?«, fragte Mariella und tippte auf das Buch, und Briony verstand, was sie meinte.

»Ich bin Historikerin«, erklärte sie. »Was hier passiert ist, fasziniert mich. Ich schreibe über den Zweiten Weltkrieg.« Und sie erzählte von Frauen in Uniform, während Mariella lauschte und Briony ruhig und forschend ins Gesicht sah. »Außerdem«, setzte Briony hinzu, »ist da noch mein Großvater, mio nonno. Er war als Soldat hier, als britischer Soldat.«

Bei diesen Worten erstarrte Mariella und sah sie noch durchdringender an, sodass sich Briony fragte, ob sie ihr Gegenüber beleidigt hatte, ohne es zu wollen. Für einige Menschen mochte der Krieg Geschichte sein, aber sie wusste, dass er bei anderen Wunden aufgerissen hatte, die niemals heilen würden und noch immer Nachwirkungen auf ihre Kinder hatten. Möglich, dass Mariella zu ihnen gehörte.

Briony war immer noch besorgt, als Mariella ihr das Buch mit einem schlichten grazie zurückgab.

Die Haushälterin wechselte das Thema. »La casa? Das Haus? Sind Sie zufrieden?«

»Oh, sehr zufrieden«, gab Briony hastig zurück. »Alles ist wunderbar, danke.«

»Prego«, antwortete Mariella unbestimmt. Gern geschehen. Wieder warf sie einen Blick auf das Buch. »Signor Marco!«, rief sie dann über die Schulter. Der Wirt tauchte in der Küchentür auf und trocknete seine großen kräftigen Hände an einem Handtuch ab. Sein kahler Schädel glänzte im elektrischen Licht. Sie sprach ihn mit einigen Sätzen auf Italienisch an, und zwar so schnell, dass Briony ihr nicht folgen konnte. Immer wieder erwähnte sie die Worte »Villa Teresa«. Signor Marco antwortete im selben Tempo, und Briony sah zwischen den beiden hin und her und versuchte, sich den Sinn aus alldem zusammenzureimen. Schließlich trat der Wirt den Rückzug in seine Küche an, und die Frau rückte die Jacke zurecht, die über ihren Schultern hing, nahm eine schwarze Einkaufstasche, die auf dem Boden stand, und erhob sich, um zu gehen. »Ciao, signorina.«

»Ciao. Hat mich gefreut«, murmelte Briony, während sie sich immer noch fragte, worum es in dem Gespräch mit Signor Marco gegangen war. Sie beobachtete, wie Mariella ihm einen Abschiedsgruß zurief und hinaus in den Sonnenschein trat.

Hier geht etwas Merkwürdiges vor, dachte sie. Langsam, die schmale Gestalt gebeugt, ging Mariella tief in Gedanken versunken davon. Mit einem Mal blieb sie stehen, drehte sich um und sah mit wachsamer Miene zurück, hinauf zum Café. Dann schien sie eine Entscheidung zu treffen, denn sie überquerte mit großen, entschlossenen Schritten die Straße und schlug einen schmalen Fußweg ein, der gegenüber dem Dorfladen bergaufwärts verschwand.

Briony sah ihr nach und fühlte sich durch die ganze Begegnung ziemlich verunsichert. Hatte sie, ohne es zu wollen, ein Reizthema angesprochen?

3

Am nächsten Morgen kündigte Mike einen Ausflug zu einem nahe gelegenen Weingut an. Briony beschloss sofort, in der Villa zu bleiben. »Ich fühle mich ein wenig müde«, log sie. »Fahrt ihr nur. Ich gehe einkaufen und reserviere uns einen Tisch für heute Abend.« Sie wollten ein Restaurant im Nachbardorf ausprobieren, für das Aruna im Gästebuch eine Empfehlung gefunden hatte.

»Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?«, fragte Aruna mit besorgter Miene. Seit Briony von ihrer abendlichen Flucht zurückgekehrt war, herrschte im Haus eine gedämpfte Stimmung, und alle außer Luke hatten ihr argwöhnische Blicke zugeworfen, was sie hasste.

»Mir geht es ausgezeichnet«, erklärte sie und gab sich die größte Mühe, fröhlich zu wirken. »Wirklich. Ich schlafe nur nicht so gut. Liegt an der Hitze.« Das stimmte, aber die Besorgnis der anderen brachte sie auch in Verlegenheit, und sie sehnte sich einfach danach, allein zu sein.

Aruna nickte, wirkte aber nicht überzeugt.

Nachdem Briony den anderen nachgewinkt hatte, reservierte sie im Restaurant, ging dann den Hügel hinunter und kaufte im Dorfladen ein paar Vorräte, die sie zurückschleppte und in der Küche einräumte. Dann kochte sie sich eine Tasse umwerfend duftenden Kaffee. Sie ließ sich auf einer Sonnenliege am Pool nieder und griff nach einem Roman, den sie am Flughafen gekauft hatte. Sie genoss den Gedanken, allein zu sein, und die Vorstellung, dass in der Küche Olivenbrot, Weichkäse und Obst auf sie warteten. Dann hörte sie, wie auf dem Weg vor dem Haus ein Auto anhielt. Die anderen konnten doch nicht schon zurück sein?

Jemand hämmerte an die Vordertür. Verblüfft öffnete Briony. Ein hoch aufgeschossener Jugendlicher, der ungefähr achtzehn Jahre alt sein musste, wartete auf der Veranda. Zu seinen Füßen stand ein großer Karton. Er hatte den Motor laufen lassen, und das unangenehme Tuckern ärgerte sie.

»Buongiorno. Für Sie«, erklärte er in schwer akzentuiertem Englisch und wies auf den Karton.

Briony musterte die Pappbox misstrauisch. Sie war schmutzig, und auf der Außenseite war ein Mixer abgebildet.

»Für Sie«, wiederholte der Junge und sah sie aus großen, von dunklen Wimpern umrahmten Augen flehend an. »Geschenk von meiner Mama.«

»Wie bitte? Non capisco.« Ich verstehe nicht.

Frustriert wedelte der Junge mit den Armen, drehte sich auf dem Absatz um und fuhr sich mit der Hand durch das dichte schwarze Haar, als suche er nach Worten. Dann wandte er sich wieder zu ihr um und versuchte sich an einem schiefen, charmanten Lächeln.

»Für Sie zum Anschauen«, sagte er. »Wie Fernsehen. Danke.«

Sie musterte ihn einen Moment lang. Dann ging sie in die Hocke und zog die Klappen auseinander. Im Inneren des Kartons befand sich eine Art Apparat, aber kein Mixer. Ein alter Filmprojektor, wurde ihr klar, und eine Reihe runder, flacher Blechdosen – altmodische Filmdosen. »Ich glaub nicht, dass das für mich ist«, erklärte sie und hielt die flachen Hände in die Höhe, um ihm Nein zu bedeuten.

»Si, si«, beharrte er. »Mama, sie … sie …« Er fuhr schwungvoll mit den Händen durch die Luft, als reibe er mit einem Tuch über ein Fenster.

»Putzen? Ach, dann ist Mariella deine Mutter?«

»Si, putzen. Sehr gut. Das ist für Sie. Ich gehe jetzt. Arrivederci, signorina.« Und er marschierte durch den Garten davon und blieb nur stehen, um noch ein letztes Mal zu winken.

»Wozu ist das gut?«, rief ihm Briony nach, doch es war zu spät. Sie sah, wie er in sein Auto sprang, hastig in drei Zügen wendete, mit einem metallischen Kreischen beschleunigte und eine Staubwolke wie aus einem Comic hinterließ.

Briony wackelte mit den nackten Zehen und sah mit verschränkten Armen auf den Karton hinunter. Warum in aller Welt hatte Mariella ihnen einen alten Filmprojektor geschickt? Sie runzelte die Stirn. Wie auch immer die Antwort lautete, sie konnte ihn jedenfalls nicht auf der Türschwelle stehen lassen. Sie zerrte den Karton in die Küche, wo es hell genug war, um den Inhalt in Augenschein zu nehmen. Dann nahm sie eine der Filmdosen heraus. Die flache runde Schachtel war so fest zusammengedrückt, dass sie ein paar Versuche mit einer Münze aus ihrem Portemonnaie brauchte, um sie zu öffnen.

Briony war keine Expertin, aber der Film im Inneren schien in brauchbarem Zustand zu sein. Sie fand das Ende der Rolle, wickelte einen langen Streifen ab und untersuchte die Stelle, an der die Filmbilder begannen. Doch sie konnte nichts erkennen. Einen Moment lang dachte sie nach, dann wickelte sie ihn wieder auf und legte ihn zurück in die Dose.

Der Karton auf dem Boden störte sie, als sie sich auf einen Hocker setzte, um ihr Brot und ihren Käse zu essen. Den Geschmack, auf den sie sich gefreut hatte, bemerkte sie kaum. Schließlich kam sie auf die Idee, dass das Geschenk eine Nachricht mit einer Erklärung enthalten könnte. Sie hievte das Gerät auf den Tisch. Die zweite Dose enthielt nur eine leere Spule. Sonst befand sich in dem Karton nichts, und es war auch nichts auf die Außenseite geschrieben. Wenn sie nur eine Ahnung gehabt hätte, wie man diesen elenden Apparat bediente! Wenn sie im Rahmen ihrer Recherchen einen Film ansehen wollte, legte ihn ein Techniker für sie ein.

Sie grübelte immer noch darüber nach, als die anderen am frühen Nachmittag von ihrer Expedition zurückkehrten. Sie waren überhitzt und fühlten sich sichtlich unwohl, und Zara wirkte nach der Weinprobe ziemlich mitgenommen. »Sie hat ihn getrunken, statt ihn auszuspucken«, flüsterte Aruna, während sie Zara nachsahen, die sich nach oben schleppte, um sich hinzulegen.

Mike, der eine Kiste mit klirrenden Flaschen in die Küche trug, bemerkte den Projektor sofort. »Nanu, wo kommt der denn her?« Er stellte die Weinkiste daneben ab und griff nach den Filmdosen. Er atmete schwer, und unter seinem kurzen schütteren Haar lief ihm der Schweiß in Strömen über das runde Gesicht, doch als er das Gerät untersuchte, leuchteten seine Augen auf.

»Der Sohn der Putzfrau hat das alles gebracht. Ich habe keine Ahnung, warum.«

»Vielleicht kann ich dieses Baby ja in Gang bringen«, murmelte Mike, während er die leere Spule auf eine Transportrolle steckte. »Mein Dad hatte so einen. Hat uns zu Weihnachten immer Charlie-Chaplin-Filme gezeigt. Großartig, wenn er sie rückwärtslaufen ließ.«

»Verehrte Damen und Kerle«, dröhnte an diesem Abend, nachdem sie aus dem Restaurant zurück waren, Mikes tiefe Stimme aus der Dunkelheit des Wohnzimmers. »Wenn wir Glück haben, beginnt die Show jetzt.«

Auf dem weißen Bettlaken, das Luke als provisorische Leinwand aufgehängt hatte, tauchte plötzlich ein zuckendes gelbes Lichtquadrat auf, das der Projektor warf.

»Auf dem Bettlaken sitzt eine Spinne!«

»Sei nicht so empfindlich, Zara«, seufzte Mike.

»Komm schon, Kleiner. Das Rampenlicht ist nicht für dich.« Luke schob das Tier beiseite, in Sicherheit.

Das Surren des Apparats wurde lauter, als sich die Rollen zu drehen begannen. Eine Reihe körniger schwarzer Bilder flackerte über das Laken, und dann folgte ein zittriges Schwarz-Weiß-Bild. Briony brauchte einen Moment, um es zu erkennen. »Ein Flugzeug.« Die winzige Maschine flog ruhig an einem wolkenlosen Himmel dahin, und dann spuckte sie mit einem Mal Flammen und schwarzen Rauch, sackte ab und torkelte, sodass die Kamera, die hin- und hergeschwenkt wurde, um die Maschine einzufangen, sie immer wieder verlor. Alle im Raum keuchten auf.

»Haben wir Ton, Mike?«, fragte Aruna aufgeregt.

»Kann keinen kriegen.«

Das Flugzeug stürzte lautlos hinter einem Hügel ab, und alle stöhnten.

»Aha«, meinte Mike, als das Bild sich veränderte und eine Panoramaaufnahme eines großen, unordentlichen Gartens und einige parkende Laster zeigte.

»Armee oder so?«, fragte Luke.

»Ich sehe keine Kennzeichnungen, aber könnten das Briten sein?« Briony suchte sich einen anderen Platz und versuchte, die Einzelheiten besser zu erkennen. Zwei Männer in Uniform luden Kisten von einem der Lastwagen, und dann folgte eine Nahaufnahme mit den Gesichtern der Soldaten, die in die Kamera grinsten. Einer bildete das Siegeszeichen »V« und bewegte die Lippen. »Eindeutig Briten«, murmelte Briony, als sie an einem Ärmel ein Dienstgradabzeichen entdeckte.

Im Hintergrund stand irgendein weißliches Gebäude. Briony hoffte, dass die Kamera schwenken würde, damit sie erkennen konnte, worum es sich handelte, doch stattdessen verweilte der Fokus auf den Kisten und richtete sich dann auf eine kleine Gruppe von Männern, die auf Holzkisten saßen, Karten spielten und rauchten. Einer zog eine Grimasse, ein anderer winkte, aber ein dritter verdeckte sein Gesicht mit dem Arm. Die Kamera zoomte auf die Karten in seiner Hand. Danach musste es zu einem Handgemenge gekommen sein, denn das Bild drehte sich chaotisch gen Himmel. Schließlich wurde sie wieder ausgerichtet, und man erhaschte plötzlich einen Blick auf das weiße Gebäude. Fensterläden, ein mit Ziegelpfannen gedecktes Dach.

»Eine Villa«, sagte Luke leise. »Britische Soldaten in einer hiesigen Villa während des Krieges.«

»So sieht es aus«, pflichtete Briony ihm bei. Die Leinwand verdunkelte sich und wurde dann wieder hell. Dieses Mal schien das Bild eine friedliche Aufnahme eines Tals mit all seinen Terrassen und Baumgruppen zu zeigen. »Das ist unser Tal!« Sie sog scharf den Atem ein. »Oh nein.«

»Die Brücke!« Alle redeten gleichzeitig, wiesen auf Orte in der Landschaft, die sie wiedererkannten, und betrachteten bestürzt die Kriegszerstörungen. Ein Bombenkrater, Terrassen, deren Böden von Reifenspuren aufgewühlt waren, die leeren Mauern eines ausgebrannten Hauses, in dem verkohlte Dachsparren im Wind schwangen, und schließlich die Aufnahme eines umgekippten Panzers. Ein schmaler Junge stand glückselig strahlend auf dem schwarzen Kreuz, das auf der Seite des Kriegsfahrzeugs prangte, und reckte einen Arm in die Luft.

»Dieses Tor!«, rief Briony aus, als das Bild sich wieder veränderte. »Luke, das ist das Gelände, auf das ich kürzlich abends gestoßen bin.« Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. »Ich hatte Mariella nach der Villa gefragt, die ich oben auf dem Hügel gesehen habe«, erklärte sie. »Ich bin dort spazieren gegangen, bis Luke mich gefunden hat. Deswegen muss sie uns den Film geschickt haben. Aber«, überlegte sie, »wo hat sie ihn her?«

»Pssst, es geht noch weiter«, sagte Luke.

Sie schauten auf zwei Männer in kakifarbenen Uniformen, die ein mit zarten kleinen Pflanzen bewachsenes Stück Land jäteten.

»Kartoffeln!«, erklärte Luke fachmännisch.

»Erdäpfel, was? Oh, ah!«, erklang Mikes spöttische Stimme.

Die Kamera zoomte auf eine der Hacken, die zügig zwischen den Pflanzen geschwungen wurde, und nahm eine Hand in den Fokus, die sich senkte, um ein Unkraut auszureißen, und sich dann wieder nach oben bewegte. Die offene Jacke des Mannes ließ sein Unterhemd erkennen, das sich über einen gebräunten, muskulösen Brustkorb spannte. Er konzentrierte sich mit gesenktem Kopf auf seine Arbeit, und auf seinen Armen glänzte Schweiß. Dann blickte er auf, als bemerke er die Kamera zum ersten Mal, sah direkt in die Linse, schob seine Kappe zurück und wischte sich das Gesicht mit dem Arm ab. Über der hohen Stirn wuchs kurzes, lockiges dunkles Haar, und in seinem schmalen braunen Gesicht strahlten die Augen.

Die Verblüffung durchlief Brionys ganzen Körper.

Sie kannte dieses Gesicht, diese Augen.

Ein lautes Reißen, dann flog das Bild mit dem lose flatternden Filmband davon, und der Bildschirm zeigte wieder ein grelles Gelb.

»Das war’s, Leute«, sagte Mike und knipste das Licht an. »Also, ich persönlich kapiere die ganze Aufregung nicht.«

Allgemeines verwirrtes Gemurmel kam auf. Warum hatte Mariella Briony diesen Film geschickt? »Er ist hier in der Nähe aufgenommen worden«, meinte Aruna, »deswegen dachte sie vielleicht, dass er uns interessiert. Hey, Briony, geht’s dir gut?«

Briony blinzelte und bemerkte, dass alle sie anstarrten. »Tut mir leid«, sagte sie nach kurzem Schweigen. »Ich frage mich, ob Mariella wollte, dass wir alle den Film anschauen, oder … ach, ich weiß nicht. Hört mal, Leute … Mike, tut mir leid, wenn ich dir auf die Nerven gehe, aber ich muss ihn noch einmal sehen.«

Ein Aufstöhnen ging durch die Gruppe, aber das war Briony egal. Sie musste ihn sehen. Jetzt wusste sie ohne den Schatten eines Zweifels, dass der Film für sie bestimmt war, für sie allein.

Das Gesicht des Soldaten war ihr so vertraut wie ihr eigenes.

»Er sah genau wie mein Bruder aus. Natürlich meine ich nicht, dass das Will war«, erklärte Briony Luke und Aruna. »Das muss mein Großvater gewesen sein. Mum hat immer gesagt, dass Will nach ihm kommt.«

Es war später am Abend, und sie war zu den anderen nach draußen auf den halbdunklen, von Weinranken überdachten Patio getreten. Sie hatte gezögert, sich zu ihnen zu gesellen, bis die anderen sie schließlich begrüßt hatten. Rauch, der von einer Kerze auf dem niedrigen Tisch aufstieg, erfüllte die warme Luft, und das Flackern der Flamme warf unruhige Schatten über die belaubten Wände und spiegelte sich in den Bechern mit dem rubinroten Wein, den sie auf dem Weingut gekauft hatten. Mit Mikes Hilfe hatte sie den Film noch einmal angesehen. Sie hatte ihn gebeten, das Band langsamer laufen zu lassen, als sie zu den Aufnahmen des Mannes kamen, der aussah wie ihr Bruder.

»Ich kann schon nachvollziehen, was du damit gemeint hast, er sähe Will entfernt ähnlich, obwohl das Bild so körnig war. Weißt du denn ganz sicher, dass dein Großvater während des Krieges hier war?«, fragte Aruna.

»Laut Dad war er in diesem Teil Italiens stationiert.«

Aruna wirkte skeptisch. »Wenn er der Mann in dem Film gewesen wäre, dann wäre das ein erstaunlicher Zufall, Briony. Ich meine, diese Männer sahen doch alle gleich aus, vor allem in den Kaki-Uniformen und mit diesem furchtbaren Haarschnitt.«

»Hmm.« Sie würde sich von Aruna nicht umstimmen lassen. Der Mann aus der alten Filmaufnahme hatte ihr trotz all der Jahre, die ihre Leben trennten, so eindringlich in die Augen gesehen, dass es ihrem Herzen einen Stich versetzt hatte. Als Grandpa Andrews starb, war sie erst zehn gewesen. Sie konnte sich nicht klar an ihn erinnern, aber sie hatte Fotos von ihm gesehen. Briony spürte ein überwältigendes Verlangen danach herauszufinden, ob er dieser Mann war.

Am naheliegendsten wäre es gewesen, Mariella zu fragen, doch sie würde erst morgen oder übermorgen wiederkommen, und Briony konnte es nicht abwarten. Morgen früh würde sie herausfinden, wo sie wohnte, und sie aufsuchen.

Nachdem Aruna und Luke zu Bett gegangen waren, saß Briony noch eine Weile allein bei Kerzenschein, beobachtete die schimmernden Spiegelbilder der Sterne auf der ruhigen Oberfläche des Pools und dachte nach. Grace, ihre Therapeutin, hatte sie ermuntert, über ihre Mutter zu reden, und im Lauf dieser Gespräche war Briony nach und nach das wahre Ausmaß ihres Verlustes klargeworden. Mit dem Tod ihrer Mutter hatte sie diese ganze Seite ihrer Familie verloren. Vielleicht, ganz vielleicht wurde ihr jetzt die Chance gegeben, etwas davon zurückzuholen.

4

Am nächsten Morgen beschrieb Signor Marco aus dem Café Briony den Weg zu einem kleinen Bauernhof, der auf dem Berghang direkt oberhalb des Dorfs lag. In der Hitze war es ein Gewaltmarsch, dort hinaufzusteigen. Hinter dem Hoftor brach ein schwerer, muskulöser Mischlingshund in lautes Bellen aus, als sie näher kam. Doch auf einen scharfen Befehl von Mariella hin verzog er sich in seine Hütte.

Mariella bat sie hinein und führte sie in eine kühle Küche mit Kachelboden, wo Briony sich auf ein Zeichen von ihr erleichtert an einen Holztisch setzte und ein Glas Wasser trank. Von dem Jugendlichen, der ihr den Projektor und die geheimnisvolle Filmspule gebracht hatte, war keine Spur zu sehen.

Mariella fuhr bereits mit ihrer Hausarbeit fort und räumte mit flinken Händen frisch gebügelte Wäsche in einen Korb. Die Hintertür stand auf und bot einen Ausblick auf die Terrassen des Hügelhangs, und vom Hof drang das zufriedene Glucksen von Hühnern herein, die nach Futter scharrten. Der Ort war idyllisch, und doch herrschte im Raum eine angespannte Atmosphäre. Briony spürte sie in dem Blick, mit dem die Frau sie musterte, während sie Handtücher faltete. Es war, als würde sie versuchen, Briony einzuschätzen.

»Ich wollte Ihnen danken«, begann Briony und hielt ihrem Blick stand. »Für den Projektor.« Sie unterstützte ihre Worte durch eine Geste.

»Prego.« Die Frau nickte. »Haben Sie ihn … gesehen?« Sie ließ sich Briony gegenüber auf einen Stuhl sinken und drückte sich eine Kissenhülle an die Brust.

»Ja. Das ist die Villa Teresa, nicht wahr?«

»Si, si. Im Krieg.«

Briony beugte sich vor. »Warum wollten Sie, dass ich ihn sehe, Mariella?«

Verblüfft zuckte Mariella mit den Schultern. »Warum? Sie sind Historikerin. Vielleicht finden Sie es heraus? Wer die Menschen sind?«

»Das sind eindeutig britische Soldaten.«

»Si, aber ihre Namen, wer sie sind. Sie können das herausfinden.« Mariella wirkte angespannt, aber warum nur, warum?

»Es ist Ihnen offensichtlich wichtig, Mariella. Woher stammt der Film?«

Wieder dieses Misstrauen. »Jemand hat ihn mir gegeben«, murmelte sie. Sie mied Brionys Blick.

Verwirrt versuchte Briony es noch einmal. »Wer?«, fragte sie behutsam. »Und warum?« Doch die Fragen ließen Mariella endgültig verstummen. Sie drückte die Kissenhülle fest an sich, und ihr Gesicht wirkte so ausdruckslos wie eine glatte braune Nuss.

»Darf ich?«, murmelte Briony und stand auf, um ihr Glas am Wasserhahn aufzufüllen. Die kalten Wassertropfen, die auf ihre Haut spritzten, beruhigten sie. Sie versuchte es noch einmal. »Wo kommt dieser Film her, Mariella?«

»Aus der Villa Teresa«, erklärte Mariella schließlich. Sie legte den Kissenbezug auf den Tisch und strich die Knitterfalten glatt. »Mein Vater hat ihn vor langer Zeit dort gefunden. Als Kind.« Nachdem sie sich entschlossen hatte zu sprechen, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. »Er ist letztes Jahr gestorben und hat mir diese Sachen hinterlassen. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen soll.«

»Was für Sachen?« Briony spürte, wie ihr Interesse erwachte. Sie konnte das Gesicht dieses Soldaten aus dem Film nicht vergessen: erschöpft, aber fröhlich trotz allem, was er durchmachen musste. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Großvater so gewesen war – ein gelassener Mann, der damit zufrieden war, für die Gegenwart zu leben, und selten über die Vergangenheit oder die Zukunft gesprochen hatte.

»Ich zeige es Ihnen.« Mariella verließ die Küche, und Briony hörte ihre leichten Schritte auf der Treppe. Einige Minuten später kehrte sie mit einer rechteckigen Blechbüchse zurück, die einer altmodischen Brotdose ähnelte. Sie klappte den Deckel auf und zog einen zusammengefalteten dicken braunen Umschlag hervor, der so alt war, dass er weich und pelzig wirkte. Sie reichte ihn Briony, die das Päckchen hoffnungsvoll umdrehte, doch auf der Vorderseite stand nichts geschrieben. Fragend sah sie Mariella an.

»Öffnen Sie«, forderte Mariella sie auf.

Briony zog die abgegriffene Lasche auf, spähte hinein und holte vorsichtig einen Stapel alter Briefe heraus, die mit einem ausgefransten blauen Band zusammengebunden waren. Mariella setzte sich wieder, verschränkte die Arme und musterte sie erwartungsvoll.

Der Knoten wollte sich nicht lösen, und Briony brauchte eine Weile, um das Band von dem Bündel zu ziehen. Der oberste Umschlag war zerknittert, als hätte ihn einmal jemand herausgezerrt, angesehen und dann wenig sorgfältig wieder unter das Band gestopft. Mit einem Mal riss das Band, und die Briefe ergossen sich über den Tisch, zwanzig oder dreißig, vielleicht mehr. Briony schob sie zusammen, in der richtigen Reihenfolge, wie sie hoffte, nahm einen von oben und untersuchte zuerst ihn und dann einen weiteren.

Die Briefe waren alle in derselben kultivierten englischen Handschrift an einen Gefreiten Paul Hartmann adressiert. Es war eine elegante, schräg geneigte Schrift, die wahrscheinlich einer Frau gehörte.

Briony musterte die Adressen, aber die Briefe waren größtenteils über die britische Feldpost verschickt worden, sodass sie ihnen nicht ansehen konnte, wo sich Paul Hartmann aufgehalten hatte, als sie ihn erreicht hatten. Einige Umschläge waren mit blauem Stift überschrieben und offensichtlich von einem Ort zum anderen nachgeschickt worden. Mehrere Briefe besaßen keinen Umschlag, darunter einer, der so oft auseinander- und wieder zusammengefaltet worden war, dass er sich auflöste. Diesen legte sie weg, stattdessen suchte sie einen anderen aus.

Hauchdünnes Papier knisterte in ihrer Hand. Die Schrift darauf war ziemlich einfach zu entziffern. Flint Cottage, hatte die Verfasserin oben auf die erste Seite geschrieben. 1. September 1940.

»Lesen Sie«, bat Mariella sie, also las sie ihn stockend vor, denn sie musste manchmal zurückgehen, um die Aussage richtig herüberzubringen.

Lieber Paul, begann der Brief.

Ich hatte Ihnen versprochen, bald wieder zu schreiben, und entschuldige mich. Doch dies ist die erste Gelegenheit, die ich finde, so viel hatte ich im Garten zu tun. Wir pflücken Beeren. Sie erinnern sich doch an die vielen Himbeeren, die wir rund um Flint Cottage gepflanzt haben? Nun, glücklicherweise haben wir eine gute Ernte, und Mrs. Allman und ich hatten wochenlang damit zu tun, Kuchen zu backen und Obst einzumachen, zuerst Pflaumen, jetzt Birnen und Brombeeren und bald die Bramley-Äpfel. Ärgerlich, dass Zucker so schwer zu bekommen ist.

Jetzt komme ich vom Hundertsten ins Tausendste und habe noch gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht. Hat Sie das letzte Paket Ihrer Mutter erreicht, das mit der Seife und dem blauen Pullover? Angesichts der neuesten Nachrichten bin ich froh, dass Sie nicht in der Umgebung von London stationiert sind. Sie geben uns Bescheid, wenn Sie versetzt werden, ja? Wir denken oft an Sie und versuchen uns vorzustellen, wie es Ihnen ergeht. Ich hoffe, Sie lassen sich nicht unterkriegen.

Diane ist noch in Dundee, und wir hören gelegentlich von ihr. Mummy besucht zusammen mit Mrs. Richards einen Erste-Hilfe-Kurs! In Anbetracht der Umstände halten wir uns gut. Ihrer Mutter geht es gut, und sie scheint die Bücher zu mögen, die ich in der Bibliothek für sie ausgesucht habe. Auf Westbury Hall werden Sie sehr vermisst. Dort steht alles gut, obwohl wir die Kellings kaum zu Gesicht bekommen haben. Ma und Pa, meine ich. Diane hat in Dundee Robyn getroffen. Ich versuche, bald wieder zu schreiben.

Ihre Sarah

Der Brief ist mit Bedacht verfasst, herzlich und bewusst fröhlich, doch ein wenig distanziert, dachte Briony, als sie zu Ende gelesen hatte. Ein Brief an einen Freund. September 1940. Die Alliierten waren natürlich erst 1943 in Italien gelandet, also musste Hartmann ihn anderswo erhalten haben. Ihr ging auf, dass er ihn mehrere Jahre bei sich getragen haben musste. Er musste ihm viel bedeutet haben.

Briony blickte auf und stellte fest, dass Mariella sie ansah. Ihre tiefen dunklen Augen wirkten ruhig, doch es lag ein Hauch von Sorge darin. »Bitten nehmen Sie sie«, sagte Mariella. »Vielleicht finden Sie ja die Familie und geben sie ihr.«

»Vielleicht.« Briony runzelte die Stirn. »Ich frage mich, wer Paul Hartmann war.« Der Brief, den sie gelesen hatte, strahlte mit seiner Lebensfreude und seiner flüssigen Handschrift etwas aus, das ihr Interesse weckte. Sie konnte sich beinahe vorstellen, wie die Verfasserin an einem Fenster mit Aussicht auf einen herbstlichen Garten saß und die Luft nach Holzrauch roch, während ihre Hand über die Seite flog.

»Bitte«, sagte Mariella in flehendem Tonfall. »Der Film, diese Briefe gehören nicht uns. Nehmen Sie sie.«

»Aber Mariella, wenn Ihr Vater sie ohne Erlaubnis aus der Villa genommen hat, dann sollte ich sie vielleicht nicht nehmen. Sie gehören weder Ihnen noch mir.«

Zu Brionys Verblüffung richtete Mariella sich stolz auf, und ihre dunklen Augen sprühten. Ihre fest zusammengepressten Lippen und ihre Hände, die die Tischkante umklammerten, zeigten keine Spur mehr von Nervosität. »Manche Leute sagen, er hat sie gestohlen, aber ich sage Ihnen, dass die Villa Teresa meiner Familie gehört«, erklärte sie.

»Oh«, gab Briony verblüfft zurück.

»Was im Krieg geschehen ist, war meinem Vater wichtig. Die jungen Leute sagen, das ist lange her. Warum soll sich jemand dafür interessieren?«

»Mich interessiert es«, sagte Briony leise.

»Ja, deswegen erzähle ich Ihnen ein wenig. Die Villa Teresa hat dem Vater meines Großvaters gehört, verstehen Sie?«

»Ihrem Urgroßvater.«

»Ja. Aber er ist im Krieg gestorben, und dann haben mein Großvater und sein Cousin beide behauptet, die Villa gehöre ihnen. Sie haben viele Jahre darum gekämpft, bis kein Geld mehr da war, um den avvocato zu bezahlen.«

»Den Anwalt?«

»Si. Und dann ist mein Großvater gestorben, manche sagen vor Traurigkeit. Seit vielen Jahren wissen wir nicht, was aus der Villa werden soll.«

»Jetzt wohnt dort niemand?«

»Nein. Die Villa verfällt. Nicht gut.« Seufzend strich sich Mariella übers Haar. Dann richtete sie mit den gleichen schnellen Griffen, mit denen sie die Wäsche gefaltet hatte, den Briefstapel gerade aus, schob ihn zurück in den Umschlag und legte ihn in die Blechbüchse. »Nehmen Sie, nehmen Sie«, sagte sie und schob Briony die Dose zu.

»Ich denke, ich kann versuchen, die Familie zu finden. Wenn ich keinen Erfolg habe, soll ich sie dann an ein Archiv übergeben? Museum«, erklärte sie hastig, als sie sah, wie Mariella die Stirn runzelte.

»Museum, ja.«

Sie nahm die Dose. Als sie Mariella dankte, umarmte die Frau sie zu ihrem Erstaunen herzlich. Erst, als sie den Hügel hinunterging, fiel ihr auf, dass Mariella ihre Fragen nicht richtig beantwortet, sondern stattdessen neue aufgeworfen hatte.

»Also war die Villa Teresa während der Invasion Italiens von alliierten Truppen besetzt, aber als es Zeit wurde, sie ihren Eigentümern zurückzugeben, war Mariellas Urgroßvater verstorben, und die Familie stritt darüber, wer sie erben sollte«, erklärte Briony Luke und Aruna später am Nachmittag. Sie saß am Rand des Pools, hatte sich das gestreifte Sommerkleid bis über die Knie hochgezogen und ließ die Beine im Wasser baumeln. »Der Fall ist seit vielen Jahren ungelöst, die alten Leute sind alle tot, und niemand hat eine Ahnung, was Sache ist.« Das Delfine darstellende Mosaik auf dem Boden des Pools schien sich zu winden und Wellen zu schlagen.

»Diese Bürokratie. Unglaublich!« Ein sarkastisches Grinsen ließ Lukes Zähne aufblitzen. »So etwas gibt es aber auch nur hier.« Er saß auf einer Sonnenliege, auf seinem Bauch lag umgekehrt ein aufgeschlagenes Taschenbuch. In der Sonne hatte sein Körper bereits einen hellen Goldton angenommen.

»Das erklärt immer noch nicht, warum Mariella uns den Film gegeben hat.« In ihrem weißen Bikini schimmerte Arunas Haut dunkler denn je. Sie saß schräg auf der Liege neben Luke und untersuchte eine übel aussehende Blase an der Seite ihres Fußes. »Verdammte Schuhe«, murrte sie und wackelte mit den Zehen. »Wirf mir die Sonnencreme rüber, ja, Bri?«

»Das ist nicht fair«, brummte Briony und tat ihr den Gefallen. »Ich werde immer bloß rot wie ein Hummer.«

»Du bist auch eine zarte englische Rose«, pflichtete Aruna ihr grinsend bei. Ihr glitzerndes Nasenpiercing betonte ihre leuchtenden braunen Augen, und ein Tattoo in Gestalt einer zusammengerollten Schlange an ihrem Fußknöchel hob ihre zarte Knochenstruktur hervor.