Das Gesetz der Lagune - Donna Leon - E-Book

Das Gesetz der Lagune E-Book

Donna Leon

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Beschreibung

Nach dem Tod von zwei Fischern sind alle im Dorf so verschlossen wie verdorbene Vongole. Der Commissario gibt dennoch nicht auf. Den Amtsweg ist Brunetti noch nie gegangen, doch diesmal bringen seine Methoden die halbe Questura in Gefahr.

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Seitenzahl: 344

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Donna Leon

Das Gesetz der Lagune

Commissario Brunettis zehnter Fall

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel des Originals:

›A Sea of Troubles‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2002 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, Così fan tutte,

in der Übersetzung von Hermann Levi,

Breitkopf und Härtel, Leipzig 1898

Karte S. 324/325: ›Laguna Veneta‹

Copyright © Edizione Garbizza,

Castello 5314, 30122 Venezia

Umschlagfoto: Michele Zanetti,

›Pellestrina‹, 1997

Für Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23379 7 (15. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60069 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Soave sia il vento Tranquilla sia l’onda Ed ogni elemento Benigno risponda Ai vostri desir.

Weht leiser, ihr Winde, sanft schaukle die Welle; seid freundlich und linde,

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

[7] 1

Pellestrina ist eine lange schmale Insel aus Sand, der im Lauf der Jahrhunderte zu bebaubarem Grund wurde. Sie verläuft in Nord-Süd-Richtung von San Pietro in Volta bis Caroman und ist zwar zehn Kilometer lang, aber an keiner Stelle breiter als ein paar hundert Meter. An ihrer Ostseite beginnt die Adria, ein Meer, das nicht für seine Gutmütigkeit bekannt ist; ihre Westseite hingegen begrenzt die Lagune von Venedig und ist daher vor Wellen, Wind und Sturm geschützt. Der Sandboden ist unfruchtbar, so daß die Bewohner von Pellestrina, auch wenn sie säen, kaum etwas ernten können. Doch ändert das für sie wenig; über den Gedanken, von den Erträgen des Bodens zu leben, auch üppig zu leben, könnten die meisten von ihnen ohnehin nur die Nase rümpfen, denn die Leute von Pellestrina haben sich ihren Lebensunterhalt schon immer aus dem Meer geholt.

Man erzählt sich viele Geschichten über die Männer von Pellestrina, die Ausdauer und Kraft, die ihnen aufgezwungen wurden bei ihrem Bemühen, dem Meer ihre Lebensgrundlage abzuringen. Alte Venezianer erinnern sich an Zeiten, in denen es hieß, die Pellestrinotti schliefen auf dem Lehmboden ihrer Hütten statt in Betten, damit ihnen am frühen Morgen das Aufstehen leichter fiel und sie sich vom Ebbstrom in die Adria und zu den Fischen hinaustragen lassen konnten. Wie das meiste, was man sich über die gute alte Zeit erzählt und was die Menschen da alles ertragen haben sollen, ist auch dies wahrscheinlich ein Märchen. Wahr ist [8] hingegen, daß die Leute, soweit sie Venezianer sind, es glauben, denn sie glauben eben alles, was über die Härte der Männer von Pellestrina und ihre Gleichgültigkeit gegenüber Schmerzen oder Leiden, eigenen wie fremden, berichtet wird.

Im Sommer lebt Pellestrina auf, denn da kommen aus Venedig und vom Lido, oder über Chioggia vom Festland, die Touristen, um frische Meeresfrüchte zu essen und den herben, fast schon schäumenden Weißwein zu trinken, der in den Bars und Restaurants ausgeschenkt wird. Statt Brot bekommen sie bussolai vorgesetzt, harte ovale Kringel, die ihren Namen vielleicht von la bussola haben, dem Kompaß, der ebenfalls oval geformt ist. Zu den bussolai gibt es Fisch, der oft so frisch ist, daß er noch am Leben war, als die Touristen den weiten, beschwerlichen Weg nach Pellestrina antraten. Während sie sich aus ihren Hotelbetten schälten, kämpften die Kiemen der orata noch gegen das ihnen fremde Element Luft; während sie sich schon am Rialto nach einem frühmorgendlichen Vaporetto anstellten, zappelten die sardelle noch in den Netzen; während jene aus dem Vaporetto stiegen, den Piazzale Santa Maria Elisabetta überquerten und nach dem Bus Ausschau hielten, der sie nach Malamocco und Alberoni bringen sollte, wurde der cefalo gerade aus dem Meer gehievt. Oft verlassen die Touristen in Malamocco oder Alberoni kurz den Bus, um einen Kaffee zu trinken, sich auf dem Sandstrand die Beine zu vertreten und die gewaltigen Wellenbrecher zu bewundern, die sich weit in die Adria hinein erstrecken, damit deren Wasser nicht in die Lagune schwappt. In der Zwischenzeit sind die Fische alle tot, aber man kann von den Touristen [9] nicht erwarten, daß sie das wissen oder sich überhaupt dafür interessieren, also steigen sie wieder in den Bus, bleiben für die kurze Überfahrt mit der Fähre über den schmalen Kanal darin sitzen und setzen ihren Weg per Bus oder zu Fuß nach Pellestrina fort, wo ihr Mittagessen sie erwartet.

Im Winter sieht es völlig anders aus. Allzu oft weht da der Wind aus dem ehemaligen Jugoslawien über die Adria hinüber, treibt Regen oder leichten Schnee vor sich her und beißt sich jedem in die Knochen, der sich im Freien aufzuhalten versucht, und sei es auch nur kurz. Die im Sommer überfüllten Restaurants sind geschlossen und werden es bis ins späte Frühjahr bleiben; Touristen, die dennoch kommen, müssen sich selbst versorgen.

Unverändert aber liegen an der Innenseite der schmalen Insel in langer Reihe nebeneinander die vongolare, wie die Muschelfänger heißen, die – unbeirrt von Touristen, Regen, Kälte oder Hitze – das ganze Jahr über auslaufen, ungeachtet auch aller Legenden über die noblen, fleißigen Männer von Pellestrina und ihren unablässigen Kampf, der gnadenlosen See einen Lebensunterhalt für ihre Frauen und Kinder abzutrotzen. Diese Boote haben klangvolle Namen: Concordia, Serena, Assunta. Dick und hochnäsig liegen sie da und sehen ein bißchen aus wie die Boote in Kinderbüchern. Wenn man in der strahlenden Sommersonne an ihnen vorbeigeht, möchte man den Arm ausstrecken und ihre Nasen streicheln, wie man es bei einem ausnehmend netten Pony oder einem besonders liebenswerten Labrador täte.

Auf das ungeschulte Auge wirken diese Boote alle mehr oder weniger gleich mit ihren ehernen Masten und den metallenen Sieben am Bug, die in die Luft ragen, wenn das Boot [10] im Hafen liegt. Die viereckigen Rahmen der Siebe sind mit Draht bespannt, starkem Draht, weil er Steinen und allen möglichen anderen Hindernissen auf dem Meeresboden standhalten muß, natürlich auch dem Meeresboden selbst, den er aufgräbt, wenn er sich unter die Muschelkolonien schiebt und die Schalentiere kiloweise aus dem Wasser holt, große und kleine, gefangen auf diesem Tablett, während Sand und Wasser durch das Sieb zurückplatschen in die Lagune.

Die sichtbaren Unterschiede zwischen den Booten sind unbedeutend: Mal ist das Muschelsieb größer, mal kleiner als an dem Boot nebenan; Rettungsbojen schreien nach einem neuen Anstrich oder glänzen satt von frischer Farbe; hier ist ein Deck so sauber, daß es in der Sonne funkelt, daneben ist eines voller Rostflecken an den Kanten. Tagsüber schaukeln die Boote von Pellestrina nebeneinander in gemütlicher Promiskuität. Ihre Besitzer wohnen in ähnlicher Nähe zueinander in den niedrigen Häusern, die sich vom einen Ende des Dorfes bis zum anderen und von der Lagune bis zum Meer erstrecken.

Anfang Mai brach gegen halb vier Uhr nachts in der Kabine eines dieser Boote, der Squallus, ein kleines Feuer aus. Besitzer und Kapitän des Bootes war Giulio Bottin, der in der Via Santa Giustina 242 wohnte. Die Männer von Pellestrina sind nicht mehr ganz und gar von der Kraft der Winde und Gezeiten abhängig und darum auch nicht mehr darauf angewiesen, bei günstigen Bedingungen auszulaufen, aber jahrhundertealte Gewohnheiten sterben nicht so leicht aus, und so stehen die meisten Fischer früh auf und legen im [11] Morgengrauen ab, als bestimme noch immer der Morgenwind darüber, wieviel Fahrt sie machen. Es blieben noch zwei Stunden, bis die Fischer von Pellestrina – die jetzt zu Hause und in ihren Betten schliefen – aufstehen mußten, und so lagen sie alle noch im tiefsten Schlaf, als auf der Squallus das Feuer ausbrach. Die Flammen breiteten sich gemächlich über den Kabinenboden aus und erreichten die hölzernen Seitenleisten und das Steuerpult aus Teakholz. Teak ist ein hartes Holz und brennt langsamer als weichere Holzarten, aber bei höherer Temperatur, und die Flammen, die am Steuerpult hinaufkrochen, am Kabinendach emporzüngelten und zum Deck vordrangen, breiteten sich mit beängstigendem Tempo aus, kaum daß sie diese weicheren Hölzer erreichten. Sie brannten ein Loch ins Kabinendach, brennende Holzteile fielen in den Maschinenraum, eines davon auf einen Haufen ölgetränkter Lappen, die sofort aufloderten und den Brand zuvorkommend in Richtung Kraftstoffleitung weiterreichten.

Langsam fraß sich das Feuer an die dünne Leitung heran, langsam verbrannte es das umgebende Holz, und als dieses zu Asche zerfiel, schmolz eine kleine Lötstelle durch, und es entstand eine Öffnung, aus der Kraftstoff lief und den Flammen Nahrung gab, worauf sie sich mit rasender Geschwindigkeit in Richtung Motor und Doppeltank ausbreiteten.

Keiner von denen, die in dieser Nacht in Pellestrina schliefen, ahnte etwas von der Ausbreitung des Feuers, aber sie alle wurden hochgeschreckt, als die Tanks der Squallus explodierten, ein greller Lichtschein die Nacht erhellte und Sekunden später die Luft von einem so lauten Knall [12] erzitterte, daß am nächsten Tag sogar Leute im fernen Chioggia behaupteteten, sie hätten ihn gehört.

Feuer macht angst, überall, aber aus irgendeinem Grund ist es noch furchterregender auf See, oder überhaupt auf dem Wasser. Die ersten Leute, die aus ihren Schlafzimmerfenstern schauten, sagten hinterher, sie hätten das Boot in dicken, öligen Rauch gehüllt gesehen, der sich lichtete, als das Wasser den Brand löschte. Inzwischen aber hatten die Flammen Zeit gehabt, sich durch den Rumpf der Squallus zu fressen und auf die beiden Boote überzugreifen, die daneben lagen und schon zu schwelen anfingen, und die explodierenden Tanks hatten ihren Inhalt in tödlichen Bögen ausgespien, nicht nur auf die Decks der Nachbarboote, sondern auch auf den Anlegeplatz davor, wo drei Holzbänke in Brand gerieten.

Auf den Knall aus den Treibstofftanks der Squallus folgte ein Augenblick bestürzter Stille, dann war ganz Pellestrina auf den Beinen. Türen flogen auf, und Männer rannten in die Nacht hinaus; einige hatten ihre Hosen kurzerhand über den Pyjama gezogen, andere waren nur im Schlafanzug, ein paar hatten sich die Zeit genommen, sich anzuziehen, zwei waren splitternackt, was aber niemand weiter beachtete, so sehr dachten alle nur daran, ihre Boote in Sicherheit zu bringen. Die Besitzer der beiden Boote, die rechts und links von der Squallus lagen, sprangen fast gleichzeitig von der Mole aufs Deck, obwohl der eine aus dem Bett der Frau seines Vetters hatte springen müssen und von doppelt so weit herkam wie der andere. Beide rissen die Feuerlöscher aus ihren Halterungen an Deck und begannen die Flammen zu besprühen, die dem brennenden Öl gefolgt waren.

[13] Die Besitzer der Boote, die weiter weg von dem nun leeren Liegeplatz der Squallus auf dem Wasser dümpelten, ließen ihre Motoren an und entfernten sich eiligst von der Brandstelle. Einer von ihnen vergaß in seiner Panik, die Leine loszuwerfen, und riß ein meterlanges Holzstück aus der Reling seines Boots. Doch auch noch als er zurückblickte und an seinem vormaligen Liegeplatz das zersplitterte Holz im Wasser treiben sah, fuhr er weiter, bis er mindestens hundert Meter fort vom Land und den Flammen war.

Während er noch zurückschaute, wurden diese Flammen auf den Decks der anderen Boote kleiner. Zwei weitere Männer, jeder mit einem Feuerlöscher, kamen aus den umliegenden Häusern gerannt, sprangen auf das eine Boot und begannen in die Flammen zu spritzen, die schnell unter Kontrolle und schließlich erstickt waren. Ungefähr im selben Moment gelang es auch dem Besitzer des anderen Bootes, das nicht soviel Kraftstoff abbekommen hatte, den Brand unter Kontrolle zu bringen und mit dickem weißem Schaum zu ersticken. Noch lange nachdem von den Flammen nichts mehr zu sehen war, sprühte er immer noch hin und her, hin und her, bis der Schaum alle war; dann erst stellte er den Feuerlöscher aufs Deck.

Inzwischen drängten sich über hundert Menschen auf der Mole und versuchten sich schreiend zu verständigen: mit denen, die ihre Boote aus dem Hafen hatten bringen können; mit denen, die auf ihren Booten über die Flammen gesiegt hatten; und mit denen, die um sie herum standen. Alle brachten ihr Entsetzen zum Ausdruck, ihre Sorge, und alle stellten bange Fragen nach den möglichen Ursachen des Brandes.

[14] Die Frage jedoch, die alle zum Schweigen brachte, als breitete sich Stummheit um sie herum aus wie eine Infektion um eine ungereinigte Wunde, diese Frage stellte als erste Chiara Petulli, Giulio Bottins Nachbarin. Sie stand in der ersten Reihe, kaum zwei Meter von dem großen Eisenpoller entfernt, von dem noch das versengte Tau herunterhing, das die Squallus an ihrem Liegeplatz festgehalten hatte. Sie wandte sich an die neben ihr stehende Frau, die Witwe eines Fischers, der erst vor einem Jahr tödlich verunglückt war, und fragte: »Wo ist Giulio?«

Die Witwe blickte sich um. Dann wiederholte sie die Frage. Jemand, der neben ihr stand, griff die Frage auf und gab sie weiter, in Sekundenschnelle hatte sie sich durch die ganze Menge fortgepflanzt, war aber unbeantwortet geblieben.

»Und Marco?« fügte Chiara Petulli hinzu. Diesmal hörten alle die Frage zugleich. Da lag das Boot im seichten Wasser, kaum daß die versengten Masten noch herausragten, doch von Giulio Bottin war nichts zu sehen, auch nicht von seinem Sohn Marco, achtzehn Jahre alt und schon Teileigner der Squallus,

[15] 2

Nun begann das Geraune, denn alle versuchten sich zu erinnern, wann sie Giulio oder Marco zuletzt gesehen hatten. Giulio spielte gewöhnlich nach dem Abendessen Karten in der Bar; hatte ihn gestern abend jemand gesehen? Marco hatte eine Freundin in San Pietro in Volta, aber der Bruder dieses Mädchens stand mit in der Menge und sagte, sie sei mit ihren Schwestern auf dem Lido ins Kino gegangen. Niemandem fiel eine Frau ein, mit der Giulio Bottin hätte zusammensein können. Jemand kam auf die Idee, einen Blick in den Hof neben Bottins Haus zu werfen; beide Autos standen dort, aber im Haus war es dunkel.

Ein seltsames Widerstreben, so etwas wie Takt im Angesicht gegebener Möglichkeiten, hielt die Menge von Spekulationen darüber ab, wo sie wohl sein mochten. Renzo Marolo, der schon seit über dreißig Jahren im Haus nebenan wohnte, fand den Mut zu tun, was sonst niemand zu tun gewillt war, nämlich den Ersatzschlüssel aus dem Versteck zu holen, das dem ganzen Dorf bekannt war: unter dem Topf mit rosa Geranien auf dem Fenstersims rechts von der Eingangstür. Unter lautem Rufen öffnete er die Tür und ging in das ihm vertraute Haus. Er knipste das Licht in dem kleinen Wohnzimmer an, und als er dort niemanden sah, ging er weiter zur Küche und warf auch dort einen Blick hinein, obwohl er nicht hätte sagen können, warum er das tat, denn der Raum war dunkel, und Marolo hielt sich gar nicht erst damit auf, Licht zu machen. Weiter die Namen der beiden [16] Männer wie einen unmelodischen Gesang vor sich hin rufend, stieg Marolo die kurze Treppe hinauf ins obere Stockwerk und ging dort den Flur hinunter zu dem größeren der beiden Schlafzimmer.

»Giulio, ich bin’s, Renzo«, rief er, wartete einen Moment, ging dann in das Schlafzimmer hinein und knipste das Licht an. Das Bett war leer und unberührt. Beunruhigt überquerte er den Flur und knipste das Licht in Marcos Zimmer an. Auch hier waren, obwohl ein Paar Jeans und ein leichter Pullover zusammengefaltet auf einem Stuhl lagen, Bett und Zimmer leer.

Marolo ging wieder hinunter, zog von draußen leise die Haustür zu und legte den Schlüssel an seinen Platz. Zu den wartenden Leuten sagte er: »Sie sind nicht da.«

Irgendwie beruhigt durch den Umstand, daß sie zu mehreren waren, begaben sie sich gemeinsam zurück zum Wasser, wo die meisten Bewohner Pellestrinas inzwischen auf der Mole versammelt waren. Einige der Boote, die im tieferen Wasser Schutz gesucht hatten, kamen nun langsam zurück und nahmen ihre angestammten Plätze ein. Nachdem sie alle wieder an der riva vertäut waren, wirkte die von der Squallus zwischen den beiden beschädigten Booten zurückgelassene leere Stelle größer denn je. Einzig die Masten der Squallus in der Mitte des leeren Liegeplatzes ragten seltsam schief aus dem Wasser.

Marolos Sohn Luciano, sechzehn Jahre alt, kam und stellte sich neben seinen Vater. Irgendwo in der Ferne rief ein Wasservogel. »Was meinst du, papà?« fragte der Junge.

Renzo hatte seinen Sohn in Marco Bottins Schatten – oder Kielwasser, um einen seemännischeren Ausdruck zu [17] gebrauchen – aufwachsen sehen: Marco, ihm in der Schule immer um zwei Jahre voraus, war Gegenstand der Bewunderung und Nachahmung gewesen.

Luciano hatte sich, vom Rufen seines Vaters geweckt, eine abgeschnittene Jeans angezogen, für ein Hemd blieb keine Zeit. Jetzt ging er näher ans Wasser und gab seinem Vetter Franco, der mit einer großen Taschenlampe in der linken Hand vorn in der Menge stand, ein Zeichen. Franco, den es verlegen machte, die Blicke aller versammelten Pellestrinotti auf sich zu ziehen, trat zögernd vor.

Luciano streifte seine Sandalen ab und hechtete links neben der gesunkenen Squallus in die Fluten. Franco richtete den Strahl seiner Taschenlampe ins Wasser, wo sich der Körper seines Vetters so selbstverständlich wie ein Fisch bewegte. Eine Frau trat vor, dann noch eine, und zuletzt stand die ganze vorderste Reihe der Leute an der Kante der Mole und starrte nach unten. Zwei Männer, die ebenfalls Taschenlampen bei sich hatten, drängten sich nach vorn und halfen Franco beim Leuchten.

Nach einer guten Minute, die einem wie eine Ewigkeit vorkam, tauchte Lucianos Kopf aus dem Wasser auf. Er schüttelte sich die Haare aus den Augen und rief seinem Vetter zu: »Leuchte mal nach hinten, zur Kabine«, und schon war er wieder verschwunden, untergetaucht mit der Behendigkeit einer Robbe.

Die drei Taschenlampenstrahlen wanderten am Rumpf der Squallus entlang. Hin und wieder blitzte unten etwas Weißes auf: Lucianos Fußsohlen, das einzige an seinem Körper, das nicht von der Sonne fast schwarz gebrannt war. Ganz kurz verloren sie den Jungen, dann tauchten dessen [18] Kopf und Schultern aus dem Wasser auf, und schon war er wieder fort. Noch zweimal kam er nach oben, um seine Lungen zu füllen und gleich wieder hinunterzutauchen zu dem Wrack. Endlich kam er ganz herauf, drehte sich auf den Rücken und schnappte keuchend nach Luft. Die Leute mit den Taschenlampen richteten diese von ihm weg und ließen ihn in Ruhe wieder zu Atem kommen, angeleuchtet nur noch von der Neugier der Zuschauer und dem heller werdenden Himmel.

Dann plötzlich warf Luciano sich auf den Bauch und kam nach Hundeart zur Mole gepaddelt, was bei einem so guten Schwimmer wie ihm komisch wirkte. Sowie er die dort angenagelte Leiter erreichte, zog er sich daran nach oben.

Die Menge teilte sich vor der Leiter, und genau in diesem Augenblick tauchte die Sonne aus dem Wasser der Adria empor. Als sie ihre ersten Strahlen über den Damm und die Halbinsel schickte, fielen diese auf Luciano, der soeben auf der obersten Leitersprosse innehielt, und verwandelten den Fischersohn in eine Art Gottheit, die schimmernd den Wassern entstieg. Allen zugleich stockte für einen Augenblick der Atem, als wüßten sie sich in der Gegenwart übernatürlicher Mächte.

[19] 3

Die Mitteilung des Jungen sorgte kaum für Überraschung bei den Leuten auf der Mole. Wer nicht von dort war, hätte wohl anders auf die Eröffnung reagiert, daß da im Wasser zwei Tote lagen, aber die Leute von Pellestrina kannten Giulio Bottin seit dreiundfünfzig Jahren; viele von ihnen hatten schon seinen Vater gekannt; einige sogar noch seinen Großvater. Die Männer aus der Familie Bottin waren schon immer als hart und gnadenlos bekannt gewesen, Männer, deren Charakter von der Grausamkeit der See vielleicht geformt, bestimmt jedoch beeinflußt worden war. Sollte Giulio ein Opfer von Gewalt geworden sein, so hätte das nur wenige gewundert.

Manche hatten Marco als anders empfunden, vielleicht eine Folge davon, daß er als erster und einziger aus der Familie Bottin länger als ein paar Jahre zur Schule gegangen war und mehr gelernt hatte, als nur ein paar Worte zu lesen und eine krakelige Unterschrift zu produzieren. Hinzu kam der Einfluß seiner Mutter, die nun schon fünf Jahre tot war. Sie, die ursprünglich von Murano stammte, war eine sanftmütige, liebevolle Frau gewesen, die vor zwanzig Jahren Giulio geheiratet hatte, weil sie, wie einige glaubten, etwas mit ihrem Vetter Maurizio gehabt hatte, der sie verließ, um nach Argentinien zu gehen; andere meinten, ihr Vater, der ein Spieler war, habe bei Giulio hohe Schulden gehabt und ihm zur Begleichung derselben seine Tochter zur Frau gegeben. Die wahre Vorgeschichte dieser Ehe war [20] nie richtig bekannt geworden, aber vielleicht gab es da auch gar nichts zu erzählen. Hingegen hatten alle im Dorf schon immer gewußt, daß zwischen den Eheleuten keinerlei Liebe oder auch nur Sympathie bestand, und die umlaufenden Geschichten waren nichts weiter als Versuche, aus diesem Nichtvorhandensein von Gefühlen schlau zu werden.

Aber wie auch immer Bianca zu ihrem Gatten gestanden hatte, ihr Sohn war ihr ein und alles gewesen. Flinke Zungen hatten darin den Grund für Giulios Verhalten ihm gegenüber gesehen: kalt, hart, unnachsichtig, ganz in der Tradition der männlichen Linie der Bottins. An diesem Punkt der Geschichte rissen die Leute meist die Arme hoch und sagten, jene beiden hätten nie heiraten dürfen – unweigerlich sagte daraufhin jemand anders, dann hätte es auch nie einen Marco gegeben, und man müsse doch sehen, wie glücklich er Bianca gemacht habe; man brauche ihn ja auch nur anzusehen, um zu wissen, was für ein guter Junge er sei.

Das würde nun nie mehr einer in der Gegenwartsform sagen, ab sofort nicht mehr, denn Marco lag tot auf dem Grund des Hafens im ausgebrannten Boot seines Vaters.

Je heller es wurde, desto weniger wurden die Leute auf der Mole: Nach und nach begab man sich in aller Stille wieder nach Hause. Bald waren die meisten verschwunden, doch dann kehrten die Männer zurück, die man den Platz überqueren und zu ihren Booten gehen sah. Bottin und Sohn waren tot, aber das war kein Grund, auf die Muschelernte eines Tages zu verzichten. Die Saison war so schon kurz genug bei den vielen Vorschriften, die besagten, was man wo und wann überhaupt durfte.

Schon eine halbe Stunde später lag nur noch ein Boot an [21] der Mole, nämlich der linke Nachbar der gesunkenen Squallus, deren Treibstofftank mit solcher Gewalt explodiert war, daß eine Eisenstange die Seitenwand der Anna Maria etwa einen Meter über der Wasserlinie durchschlagen hatte. Ihr Kapitän, Ottavio Rusponi, hatte zuerst geglaubt, er könne es riskieren und mit den anderen zu den Muschelbänken hinausfahren, doch dann sah er die Wolken, hob die linke Hand in den Wind und entschied sich doch lieber anders, denn dieser Wind kam von Osten auf und wurde stärker.

Erst um acht Uhr morgens, als Kapitän Rusponi den Versicherungsagenten anrief, um den Schaden an seinem Boot zu melden, kam jemand auf den Gedanken, die Polizei zu benachrichtigen, und dieser Jemand war der Agent, nicht der Kapitän. Alle, die später gefragt wurden, warum sie es unterlassen hatten, die Behörden zu verständigen, beriefen sich darauf, daß sie geglaubt hätten, jemand anders habe das bereits getan. Und das Versäumnis, den Tod der beiden Bottins auch nur zu melden, wurde von vielen als ein Zeichen dafür gewertet, in welchem Ansehen die Familie bei den übrigen Bürgern von Pellestrina stand.

Es dauerte geraume Zeit, bis die Carabinieri, die mit einem Boot von ihrer Station auf dem Lido kamen, endlich da waren. Offenbar hatte es auch Mißverständnisse bei der Meldung der Todesfälle gegeben, denn die Carabinieri kamen in voller Uniform und hatten niemanden mitgebracht, der zu dem Wrack tauchen konnte, weil ihnen niemand gesagt hatte, wo die Leichen sich befanden. Die daraufhin einsetzende Diskussion war sowohl juristischer als auch administrativer Art, denn niemand wußte so genau, welcher Arm des Gesetzes für einen verdächtigen Tod im Wasser [22] zuständig war. Endlich beschloß man, die Stadtpolizei einzuschalten und Taucher von der Feuerwehr anzufordern. Nicht der unbedeutendste Grund für die Entscheidung war der Umstand, daß die beiden Carabinieri, die als Taucher arbeiteten, sich an diesem Tag im illegalen Unterwassereinsatz hinter Murano befanden, denn dort hatte man kürzlich eine Stelle entdeckt, an der im sechzehnten Jahrhundert mißglückte oder beim Brennen zu Bruch gegangene Keramik versenkt worden war. Der Lauf der Zeit hatte aus wertlosem Ausschuß kostbare Fundstücke gemacht, und die Sopraintendenza ai Beni Culturali, der die Entdeckung der Fundstelle vor zwei Monaten gemeldet worden war, hatte diese auf die Liste der archäologisch wertvollen Stätten gesetzt, an denen das Tauchen verboten war. Bei Nacht sollte sie wie auch andere Stellen in der Lagune, an denen Reliquien aus der Vergangenheit im Wasser ruhten – abgeriegelt werden. Tagsüber konnte es aber durchaus vorkommen, daß man in dem Gebiet ein Boot vor Anker liegen sah, das mit dem Emblem irgendeiner Strafverfolgungsbehörde geschmückt war. Und wer hätte die fleißigen Taucher, die allen Anschein erweckten, in amtlichen Geschäften da zu sein, zur Rede stellen wollen?

Die Carabinieri kehrten mit ihrem Boot zum Lido zurück. Nach über einer Stunde näherte sich ein Polizeiboot von hinten der Flotte von Pellestrina, die jetzt wieder vollzählig und wohlbehalten an der Mole lag, alle Kapitäne zu Hause.

Der Bootsführer verlangsamte seine Fahrt, als er auf ein Boot zukam, das die Embleme der Feuerwehr trug und hinter dem einzigen freien Platz in der langen Reihe [23] festgemachter Boote ankerte. Er schaltete kurz in den Rückwärtsgang, um anzuhalten. Sergente Lorenzo Vianello trat an die Reling und sah ins Wasser hinunter, das den freien Platz füllte, aber die Sonne funkelte so hell darauf, daß er nur die Masten sah, die schräg aus dem Wasser ragten. »Ist es das?« rief er zu den beiden Männern hinüber, die in schwarzen Taucheranzügen an Deck des Feuerwehrbootes standen.

Einer der Taucher rief etwas zurück, was Vianello nicht verstand, und wandte sich wieder der Schwimmflosse zu, die er sich gerade an den linken Fuß zog.

Paolo Montisi, der Führer des Polizeiboots, kam aus seiner kleinen Kabine herauf und blickte zu dem gesunkenen Boot hinunter. Er hob die Hand, um seine Augen gegen die gleißende Sonne abzuschirmen, und folgte Vianellos Blick. »Das muß es sein«, sagte er. »Der Anrufer hat gesagt, es ist in Brand geraten und gesunken.« Er warf einen Blick zu den Booten rechts und links von dem leeren Liegeplatz und sah, daß ihre Seitenwände und Decks stellenweise angekohlt waren.

Neben ihnen hantierten die beiden Taucher mit ihren Masken und zurrten die Riemen fest, mit denen sie sich die Preßluftflaschen auf den Rücken geschnallt hatten. Dann steckten sie sich die Atemregler in den Mund, atmeten probeweise ein paarmal durch und traten an den Rand ihres Boots.

Vianello stand groß und breitschultrig neben seinem kleineren Kollegen und blickte noch immer ins Wasser hinunter. Mit einer Kopfbewegung zu den Tauchern fragte er Montisi: »Würdest du in dieses Wasser gehen?«

Der Bootsführer zuckte die Achseln. »Ist nicht so [24] schlimm hier draußen. Außerdem sind sie geschützt«, sagte er mit einem Blick auf die schwarzen Taucheranzüge.

Der erste Taucher trat über den Bootsrand und stieg, behutsam die Fersen seiner Schwimmflossen auf die Sprossen der Außenleiter setzend, mit dem Rücken zum Boot ins Wasser, wohin der andere ihm unverzüglich folgte.

»Lassen die sich nicht immer rückwärts hineinfallen?« fragte Vianello.

»Nur bei Jacques Cousteau«, antwortete Montisi, dann ging er in seine Kabine zurück. Sekunden später war er mit einer brennenden Zigarette in der hohlen Hand wieder da. »Was hat man dir sonst noch gesagt?« fragte er den Sergente.

»Die Carabinieri vom Lido«, begann Vianello, worauf Montisi ihn mit einem stimmlosen »Sauhunde« unterbrach, das Vianello überhörte, »die haben angerufen und gemeldet, hier lägen zwei Tote in einem gesunkenen Boot, wir sollten Taucher schicken, die mal nachgucken.«

»Sonst nichts?« fragte Montisi.

Vianellos Achselzucken sollte heißen: Was kann man von Carabinieri schon erwarten?

Schweigend sahen die beiden den Luftblasen zu, die jetzt vor ihnen aus dem Wasser aufstiegen. Langsam zog der Ebbstrom ihr Boot nach hinten fort. Montisi ließ das ein paar Minuten geschehen, dann ging er in die Kabine, schaltete den Motor an und lenkte das Boot wieder hinter die Lücke. Er stellte den Motor ab, kam wieder an Deck, hob eine Leine vom Deck auf und warf sie mühelos zu dem Feuerwehrboot hinüber, wo sie sich beim ersten Versuch um eine Klampe legte, so daß er ihr Boot an dem anderen [25] festmachen konnte. Unter ihnen sahen sie Bewegungen, aber es war immer nur ein kurzes Aufschimmern, dem sie nichts entnehmen konnten. Montisi rauchte seine Zigarette zu Ende und warf die Kippe einfach über Bord, völlig gedankenlos wie die meisten Venezianer. Die beiden Männer sahen den Filter zwischen den aufsteigenden Luftblasen an der Oberfläche tanzen, sich schließlich losreißen und fortschwimmen.

Nach etwa fünf Minuten kamen die Taucher nach oben und schoben ihre Masken zurück. Graziano, der ranghöhere von beiden, rief den Männern auf dem Polizeiboot zu: »Zwei Männer sind da unten.«

»Was ist passiert?« fragte Vianello.

Graziano schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Sind anscheinend ertrunken, als ihr Boot unterging.«

»Das sind doch Fischer«, sagte Montisi ungläubig. »Die würden nicht mit einem sinkenden Boot untergehen.«

Grazianos Arbeit war Tauchen, nicht Nachdenken über das, was er da unten fand, also sagte er nichts. Als Montisi weiter schwieg, fragte der andere, der neben Graziano an der Oberfläche trieb: »Sollen wir sie raufbringen?«

Vianello und Montisi wechselten einen Blick. Sie hatten beide keine Ahnung, wie es zugegangen war, daß zwei Männer mit ihrem Boot versunken waren, aber eine derartige Entscheidung mochten sie nicht treffen, weil die Gefahr bestand, dort unten eventuell vorhandene Beweise zu vernichten.

Schließlich sagte Graziano: »Die Krabben sind schon dran.«

»Also gut, rauf damit«, sagte Vianello.

[26] Graziano und sein Partner setzten ihre Masken wieder auf, steckten sich die Atemregler in den Mund, reckten nach Entenart die Hinterteile in die Höhe und verschwanden. Der Bootsführer ging in seine Kabine hinunter, klappte eine der Sitzbänke hoch und holte darunter irgendein kompliziert aussehendes Geschirr hervor, an dessen Ende eine doppelte Schlaufe aus Segeltuch hing. Er kam wieder nach oben und stellte sich neben Vianello. Dann hob er das Geschirr über die Reling und ließ es ins Wasser hinunter.

Eine Minute später tauchten Graziano und sein Partner wieder auf, zwischen sich den kraftlosen Körper eines Dritten. Mit so routinierten Bewegungen, daß Vianello beim Zusehen ganz unbehaglich wurde, steckten sie die Arme des Toten durch die Schlinge, die Montisi ihnen hinuntergelassen hatte; dann tauchte einer kurz unter, um ein Seil zwischen den Beinen des Mannes durchzuziehen, und klinkte es in einen Haken vorn an der Schlaufe ein.

Er gab Montisi ein Zeichen, und die beiden Polizisten hievten den Toten hoch, überrascht, wie schwer er war. Vianello fragte sich dabei unwillkürlich, ob daher wohl der Ausdruck »totes Gewicht« stamme, und verdrängte diesen Gedanken beschämt gleich wieder. Sowie die Leiche aus dem Wasser war, mußten die beiden Männer an Deck sich weit hinauslehnen, damit sie nicht gegen den Bootsrumpf schlug. Ganz verhindern konnten sie es nicht, aber schließlich vermochten sie den Toten über die Reling zu wuchten und aufs Deck zu legen. Seine blinden Augen starrten in den Himmel.

Bevor sie sich den Toten näher ansehen konnten, hörten sie unten ein Platschen und beeilten sich, die Schlaufe [27] loszumachen und wieder ins Wasser zu lassen. Noch vorsichtiger diesmal, damit der Leichnam nicht wieder gegen die Bootswand schlug, hoben sie nun auch den zweiten Toten an Deck und legten ihn neben den ersten.

Zwei Krabben hingen noch in den Haaren des ersten Toten, und Vianello war über den Anblick so entsetzt, daß er nichts weiter tun konnte als hinstarren. Montisi pflückte die Tiere ab und warf sie lässig ins Meer zurück.

Die Taucher kamen über die Leiter auf das Polizeiboot gestiegen. Sie schnallten ihre Preßluftflaschen ab und legten sie vorsichtig hin, dann streiften sie ihre Masken und zuletzt die schwarzen Gummikapuzen von den Köpfen.

Die vier Männer standen an Deck des Polizeiboots und blickten auf die Leichen zu ihren Füßen. Vianello ging in die Kabine hinunter und kam mit zwei Wolldecken zurück. Die eine klemmte er sich unter den Arm, dann gab er Montisi ein Zeichen und schüttelte die zweite aus. Der Bootsführer bekam das andere Ende zu fassen, und gemeinsam ließen sie die Decke auf die Leiche des älteren Mannes hinunter. Vianello nahm die andere Decke, und sie wiederholten das Ganze bei dem Sohn.

[28] 4

Vianello hatte die Knochensplitter in der blutleeren Wunde am Kopf des Älteren schimmern sehen, am Körper des Sohnes aber auf den ersten Blick keine Spuren von Gewalt entdeckt. Er bestätigte mit einem Kopfnicken die Ansicht des Tauchers, nahm sein telefonino aus der Tasche, wählte die Nummer der Questura und verlangte nach seinem Vorgesetzten, Commissario Guido Brunetti. Während er auf die Verbindung wartete, stiegen die beiden Taucher auf ihr eigenes Boot um. Endlich meldete sich Brunetti, und der Sergente sagte: »Ich bin auf Pellestrina, Commissario. Wie es aussieht, ist hier einer gewaltsam ums Leben gekommen.« Und damit nur ja kein Mißverständnis aufkam, da die Männer ja scheinbar bei einem Unfall gestorben waren, stellte er klar: »Ich meine, ermordet.«

»Wie?« fragte Brunetti.

»Der ältere hat einen Schlag auf den Kopf bekommen – das heißt, ihm wurde der Schädel eingeschlagen. Bei dem anderen, dem Sohn, weiß ich es noch nicht.«

»Wissen Sie mit Bestimmtheit, wer die beiden sind?« fragte sein Vorgesetzter.

Vianello hatte diese Frage erwartet. »Nein. Das heißt, bisher hat noch niemand die Leichen offiziell identifiziert, aber laut dem Mann, der die Carabinieri angerufen hat, handelt es sich um die Besitzer des Bootes, Giulio Bottin und seinen Sohn. Wir sind einfach mal davon ausgegangen, daß es so ist.«

[29] »Sorgen Sie dafür, daß Sie noch eine Bestätigung bekommen.«

»Ja, Commissario. Noch etwas?«

»Das Übliche. Fragen Sie ein bißchen herum, hören Sie, was die Leute erzählen, vor allem was sie von sich aus über die beiden sagen.« Ehe Vianello nachfragen konnte, fuhr Brunetti schon fort: »Lassen Sie sich durch Ihr Verhalten nicht anmerken, daß es noch etwas anderes als ein Unfall sein könnte. Und reden Sie mit den Tauchern. Die sollen auch nichts ausplaudern.«

»Was glauben Sie, wie lange das vorhält?« fragte Vianello mit einem Blick zu dem anderen Boot, auf dem die beiden Männer inzwischen ihre Taucheranzüge abgelegt hatten und gerade wieder ihre normalen Uniformen anzogen.

»Schätzungsweise zehn Minuten«, antwortete Brunetti, und sein kurzes Schnauben hätte man unter anderen Umständen vielleicht für ein Lachen halten können.

»Am besten schicke ich sie zum Lido zurück«, meinte Vianello, »dann dauert es etwas länger.« Ehe Brunetti dazu einen Kommentar abgeben konnte, fragte der Sergente: »Was haben Sie vor, Commissario?«

»Ich möchte so lange wie möglich nicht bekannt werden lassen, daß die beiden ermordet wurden. Fangen Sie schon einmal an, sich vorsichtig umzuhören, inzwischen komme ich zu Ihnen raus. Falls hier ein Boot zu haben ist, dürfte ich in ungefähr einer Stunde draußen sein, vielleicht sogar früher.«

Vianello war erleichtert. »Gut. Soll Montisi die Toten ins Krankenhaus bringen?«

»Ja, sobald sie identifiziert sind. Ich rufe dort an und sage [30] Bescheid, daß er kommt.« Auf einmal gab es nichts weiter zu reden, keine weiteren Anweisungen zu geben. Brunetti wiederholte, daß er herauskommen werde, sowie es ihm möglich sei, und legte auf.

Er warf erneut einen Blick auf seine Uhr und sah, daß es schon nach elf war. Gewiß war Vice-Questore Giuseppe Patta, sein Chef, mittlerweile an seinem Schreibtisch. Brunetti ging nach unten, ohne sich erst telefonisch anzumelden, und trat in das kleine Vorzimmer, das in das viel größere Dienstzimmer des Vice-Questore führte.

Pattas Sekretärin, Signorina Elettra Zorzi, saß an ihrem Schreibtisch, vor sich ein aufgeschlagenes Buch. Es überraschte ihn, sie im Dienst ein Buch lesen zu sehen, denn er war es gewohnt, sie vor Zeitungen und Illustrierten anzutreffen. Da sie das Kinn auf die Handballen gestützt und die Finger über den Ohren hatte, sah er erst, als sie bei seinem Eintreten den Kopf hob, daß sie sich die Haare hatte schneiden lassen. Sie waren kürzer als sonst, und wenn ihre runde Gesichtsform und das Vermillon ihrer Lippen nicht so ausgesprochen weiblich gewesen wären, hätte dieser Haarschnitt streng auf ihn gewirkt, beinah maskulin.

Er wußte nicht, wie er auf ihr neues Aussehen hätte eingehen können, und da er wie alle anderen Leute in einer Stadt, in der es seit drei Monaten nicht mehr geregnet hatte, die Frage satt hatte, wann es wohl wieder einmal regnen werde, fragte er, indem er mit dem Kopf in Richtung Buch deutete: »Mal etwas Seriöseres als sonst?«

»Veblen«, antwortete sie, »Theorie der feinen Leute«. Er fühlte sich geschmeichelt, als sie ihn nicht erst fragte, ob er das Buch kenne.

[31] »Ist das nicht ein bißchen schwer verdaulich?«

Sie bejahte und meinte dann: »Hier kommt man ja nie dazu, einmal etwas Seriöses zu lesen, wenn man dauernd gestört wird.« Sie schürzte die Lippen und ließ ihren Blick durchs ganze Vorzimmer schweifen, über das Telefon und den Computer bis hin zu Pattas Tür. »Aber es hat sich ja einiges geändert, so daß ich meine Zeit jetzt besser nutzen kann.«

»Gut zu wissen«, meinte Brunetti, um mit einem Blick auf das Buch hinzuzufügen: »Seine Ansichten über Rasenanlagen haben mich fasziniert.«

Sie lächelte zu ihm auf. »Ja, und über Zeitvertreib.«

Er konnte nicht widerstehen. »Und wenn Sie das ausgelesen haben?«

»Danach habe ich noch nichts vor.« Plötzlich strahlte sie. »Vielleicht kann ich mir ja vom Vice-Questore einen Rat geben lassen.«

»Recht so«, versetzte Brunetti. »Übrigens will ich zu ihm. Ist er da?«

»Noch nicht. Er hat vor ungefähr einer Stunde angerufen und gesagt, daß er in einer Besprechung ist und wahrscheinlich erst nach dem Mittagessen kommt.«

»Ah«, machte Brunetti, den nicht die Mitteilung als solche überraschte, sondern nur, daß Patta es für nötig befunden hatte, deswegen anzurufen. »Wenn er kommt, sagen Sie ihm bitte, daß ich nach Pellestrina gefahren bin.«

»Zu Vianello?« fragte sie sofort, allwissend wie immer.

Er nickte. »Einer der beiden Männer in dem Boot wurde anscheinend ermordet.« An dieser Stelle unterbrach er sich, nicht sicher, ob sie das nicht auch schon wußte.

[32] »Pellestrina, aha«, meinte sie, und es klang, obwohl es so gemeint war, nicht fragend, sondern mehr nach einer bloßen Feststellung.

»Ja. Diese Leute sind doch eine einzige Plage, wie?«

»Nicht so schlimm wie die Chiogiotti«, antwortete sie mit einem Schaudern, das weder geziert noch künstlich wirkte.

Chioggia war eine Stadt auf dem Festland, in Reiseführern unverdrossen als »getreue Tochter Venedigs« bezeichnet, denn sie war der Serenissima, solange ihre Herrschaft währte, durchaus immer treu gewesen. Ständige Reibereien und Gewalttätigkeiten gab es erst jetzt, seit die Fischer beider Städte sich um die immer kleineren Fänge in Gewässern stritten, die zunehmend von den Auflagen des Magistrato alle Acque betroffen waren, denn in immer größeren Teilen der Lagune war der Fischfang verboten.

Der Gedanke, daß die jüngsten Todesfälle etwas mit diesem Konkurrenzkampf zu tun haben könnten, war Brunetti durchaus schon gekommen, und keinem Venezianer wäre es anders ergangen. Es hatte in der Vergangenheit schon Kämpfe gegeben, bei denen auch Schüsse gefallen waren, aber so etwas wie jetzt war bisher noch nicht passiert. Es waren Boote gestohlen und angezündet worden, auch waren schon Männer bei Kollisionen auf dem Wasser umgekommen, aber kaltblütig gemordet hatte bisher noch keiner.

»Una brutta razza«, erklärte Signorina Elettra mit jener Geringschätzung im Ton, die alle, deren Familien schon seit den Kreuzzügen Venezianer sind, für alle Nichtvenezianer hegen, gleich welcher Herkunft diese sind.

Brunetti übte sich in der gebotenen Zurückhaltung, [33] indem er seinen zustimmenden Kommentar für sich behielt, und überließ Signorina Elettra wieder ihrem Veblen und seiner Analyse der Probleme und unausbleiblichen Laster des Reichtums. Er ging in den Bereitschaftsraum, wo er nur einen von den Bootsführern antraf, Rocca, dem er sagte, daß er nach Pellestrina müsse. Roccas Gesicht leuchtete bei dieser Mitteilung auf: eine weite Fahrt, ein herrlicher Tag und frischer Wind aus Westen.

Auf der ganzen Fahrt stand Brunetti an Deck und blickte zu den Inseln hinüber, die sie passierten: Santa Maria della Grazia, San Clemente, Santo Spirito, selbst das kleine Poveglia, bis er links von ihnen die Häuser von Malamocco sah. Brunetti hatte zwar einen Großteil seiner Jugend auf Booten und in der Lagune verbracht, aber nie gelernt, selbst ein Boot zu steuern, und so hatte sich seinem Gedächtnis nie eine Skizze der direktesten Routen zwischen verschiedenen Punkten der Lagune eingebrannt. Er wußte, daß Pellestrina voraus lag, etwa in der Mitte dieses schmalen Streifens Land, und er wußte auch, daß sie mit ihrem Boot genau zwischen den schräg aus dem Wasser ragenden Holzpfählen bleiben mußten, aber wären sie vom Weg abgekommen und in das weite Wasser zu ihrer Rechten geraten, es wäre ihm beschämend schwergefallen, sicher wieder nach Venedig zu finden.

Rocca, dessen junges Gesicht simple Freude darüber ausstrahlte, an so einem schönen Tag draußen und in Aktion zu sein, rief seinem Vorgesetzten über die Schulter zu: »Wohin fahren wir, Commissario?«

»Zum Hafen. Da sind Vianello und Montisi. Eigentlich müßten wir sie schon sehen.«

[34] Links von ihnen standen Bäume; hin und wieder rauschte ein Auto vorbei. Vor ihnen erkannte Brunetti jetzt Boote, eine lange Reihe von Booten, wie es schien, und alle mit dem Bug an einer betonierten Mole. Er suchte die stumpfen Hecks ab, sah aber nirgendwo das Polizeiboot. Sie kamen an eine Lücke in der Bootsreihe, und da erblickte er Vianello, der nur ein paar Meter entfernt am Ufer in der Sonne stand und sich die eine Hand schützend über die Augen hielt.

Brunetti winkte, und Vianello wandte sich sogleich nach rechts, auf das Ende der Bootsreihe zu; seine Geste bedeutete, daß sie ihm folgen sollten. Als sie endlich die freien Plätze am Ende der Mole erreichten, legte Rocca an, und Brunetti sprang ans Ufer, einen Moment ganz überrascht, wie fest sich der Boden unter seinen Füßen anfühlte.

»Ist Montisi zurückgefahren?« fragte er.

»Einer der Nachbarn ist auf unser Boot gekommen und hat sie identifiziert. Unsere Vermutung war richtig: Es sind Giulio Bottin und sein Sohn Marco. Ich habe sie von Montisi ins Krankenhaus bringen lassen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zu Rocca, der damit beschäftigt war, eine Leine an einem der Poller festzumachen. »Ich kann ja mit Ihnen zurückfahren.«

»Was weiter?« fragte Brunetti.

»Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen, und alle haben mir so ziemlich das gleiche erzählt: daß sie gegen drei Uhr morgens vom Knall des explodierenden Treibstofftanks aufgewacht sind. Bis sie draußen an der Mole waren, stand das Boot in Flammen, und ehe sie etwas unternehmen konnten, war es schon gesunken.«

[35] Vianello machte kehrt und ging auf die Reihe niedriger Häuser zu, die das Dorf Pellestrina bildeten. Brunetti nahm neben ihm Schritt auf. »Und dann der übliche Murks«, fuhr Vianello fort. »Niemand hielt es für nötig, die Carabinieri zu rufen, weil alle dachten, jemand anders hätte das schon getan. Folglich wurden die Carabinieri erst am Vormittag verständigt.« Vianello blieb abrupt stehen und blickte zu den Häusern, als könnte er nicht glauben, daß darin Menschenwesen wohnen sollten. »Es ist doch nicht zu fassen: Da kommen zwei Männer durch eine Explosion ums Leben, und keiner ruft uns an, keiner ruft überhaupt irgendwen an.«

Er setzte sich wieder in Bewegung. »Also, die Carabinieri sind jedenfalls herausgekommen und haben sofort uns angerufen, weil sie meinten, für so etwas wären wir zuständig.« Er zeigte zu der Lücke zwischen den Booten. »Die Taucher haben sie heraufgeholt.«

»Sie sagen, der Vater hatte eine Kopfwunde?«

»Ja, schrecklich. Schädel eingeschlagen.«

»Und der Sohn?«

»Messer«, sagte Vianello. »In den Bauch. Ich nehme an, er ist daran verblutet.« Ehe Brunetti nachfragen konnte, fuhr er schon fort: »Er sah aus, als wenn ihn einer regelrecht geschlachtet hätte. Das Messer unten in den Bauch gestoßen und hochgezogen. Sein Hemd war darüber, als die Leiche heraufgeholt wurde, aber als sie dann hier lag, haben wir es gesehen.« Vianello blieb wieder stehen und blickte über die stillen Wasser der Lagune. »Er muß in Minutenschnelle verblutet sein, aber«, fügte er eingedenk seiner Stellung gleich hinzu, »das wird die Autopsie wohl klären.«

[36] »Mit wem haben Sie gesprochen?«

Vianello klopfte an seine Jackentasche, in der er das Notizbuch hatte. »Die Namen stehen hier drin. Überwiegend Nachbarn. Ein paar Bootseigner, die mit ihnen gefischt haben – das heißt, die mit ihnen ausgefahren sind, denn ich habe nicht den Eindruck, daß der Fischfang für diese Leute eine Gemeinschaftsaufgabe ist.«

»Hat Ihnen das jemand so gesagt?«

Vianello schüttelte den Kopf. »Nein, gesagt hat überhaupt niemand etwas, jedenfalls nicht direkt. Aber immer hatte man dieses Gefühl, daß sie sich zum Reden zwingen mußten, als fühlten sie sich einerseits zur Loyalität untereinander verpflichtet, weil sie doch alle Fischer sind, während sie nach meinem Eindruck auf der anderen Seite jeden wegputzen würden, der irgendwo fischen will, wo sie selbst gerade fischen wollen oder wo sie irgendwelche Ansprüche zu haben glauben.«

»Wegputzen?« fragte Brunetti.